Josef Hofmiller
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Josef Hofmiller

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Augsburger Kalender aus den vier Jahrhunderten

(»Sammler«, 1893)

Seit ein paar Jahrzehnten hat die Geschichtliche Forschung die großen Hauptstraßen und Prunkpromenaden der Vergangenheit weniger besucht, als die kleinen und versteckten Gäßchen und Winkel, in denen sich eine Fülle altertümlichen Krams in heimlichem und gemütlichem Behagen eingenistet hatte. Man hat gelernt, das Kleinleben der Zeit als gleichberechtigten Gegenstand der Forschung neben die großen Haupt- und Staatsaktionen zu stellen, gleichsam als einen bunten und reichen Hintergrund voll emsigen Gewimmels und durcheinanderlaufender Arabesken, von dem sich dann die höheren Gestalten des Vordergrunds wirkungsvoller und kräftiger abheben. Man hat unser Volkstum an der Quelle aufgesucht, aus derben und witzigen Flugblättern die großen Literaturdenkmale, aus Skizzen und Holzschnitten die alten Maler, aus Volksliedern und Madrigalen unsere Musiker, und aus all dem insgesamt unser deutsches Volk besser begriffen. So kam es auch, daß auf einmal eine sehr untergeordnete Literaturgattung, die bisher höchstens der Kuriosität halber so nebenher laufen durfte, etwas genauerer Besichtigung gewürdigt wurde: Das Kalenderwesen. Riehl war der erste, der mit jenem wunderbaren Quellenfinderinstinkte, der ihn vor allen deutschen Kulturhistorikern auszeichnet, auch die tiefen Brunnen dieser alten Kalenderliteratur aufzeigte und uns verstehen lehrte, neben wunderlichem und mystisch tollem Alräunchenwirrwarr seien auch köstliche Funde und einleuchtende Schätze da drunten zu holen.

Durch einen glücklichen Zufall wurde ich mit fast zwei Dutzend alter Augsburger Kalender bekannt, deren erster im Jahre 1490 gedruckt wurde und die in fortlaufender Reihenfolge bis 1769 eine ziemlich übersichtliche Und sehr interessante Geschichte der Augsburger Kalenderliteratur darstellen.

Der erste dieser alten Drucke gehört zu den wertvollen Inkunabeln der Münchener Staatsbibliothek. »Das ist der teutsch Kalendari mit den Figuren. Gedruckt zu Augspurg von Hannsen Schönsperger und vollendet am Montag vor sant Katharinatag.« Die erste Seite dieses Kalenders faßt in ihrer Inhaltsangabe fast alles zusammen, was der gemeine Mann damals von seinem Kalendermacher verlangte: »In disem teutschen kalender vindet man gar hübsch nacheinander die zwelff zeychen und die zwelff planeten wie jeglicher regieren sol. Darnach vindet man die guldin Zal und wie man den suntaglichen Buechstaben suechen sol und zue wolicher Adern man sol lassen.« Aderlassen und Planetenhokuspokus, – Volksmedizin und Volksaberglaube, – Geheimniskrämerei und Radikalkuren nach dem Rezept des gelehrten Herrn Dr. Eisenbarth – das ist der Inbegriff aller Kalender bis zum-Anfang unseres Jahrhunderts. Und auch in dieses hat sich noch viel mehr aus jener Zeit der Scharlatane und Blutabzapfer herübergeflüchtet, als wir anzunehmen geneigt sind. Zwar stehen jetzt gewöhnlich Annoncen, wo damals das Aderlaßmännlein zu finden war, die Schröpftafel ist in keinem Kalender mehr gedruckt, wir sind nicht mehr so vollblütig, daß wir alle Jahre ein paarmal dem allzu »jachen« und hitzigen Blute aus bloßer Vorsicht ein Pförtlein öffnen müßten; aber noch »glauben« wir an die Unglückszahl 13, noch unternehmen wir am Freitag höchst ungern eine Reise, noch haben wir einen gruseligen Respekt vor dem 1. April, dem größten Unglückstag des ganzen Jahres, an dem sich ja Judas erhängt haben soll, wie eine selbstverständlich unanfechtbare Tradition uns erzählt; wir haben mit kleinem Schrecken auf den Ostersonntag des Jahres 1886 gewartet, an dem ja die Welt untergehen sollte; wir holen uns noch beim »Hundertjährigen« Rat, wie das Wetter wohl zu unserm nächsten Ausflug ins Gebirge ausfallen wird, wobei der naivere Glaube, alles wörtlich aufzufassen, der etwas raffinierteren Auslegung derjenigen gegenübersteht, die immer genau das Gegenteil des Orakels erwarten; wenn wir aufgeklärt sind. halten wir uns mehr an den Ergoldsbacher, und wenn wir gar wissenschaftlich uns geberden, studieren wir mit erbaulicher Andacht die Prophezeiungen Falbs, mit sorgfältiger Unterscheidung zwischen kritischen Tagen dritter, zweiter und erster Ordnung; rumpelt es dann irgendwo »weit hinten in der Türkei«, so nehmen wir von dieser Tatsache mit schwarzsehender Befriedigung Notiz und gratulieren uns, daß die Erde doch ziemlich groß ist. Anders ist es mit unseren astrologischen Reminiszenzen; die gestehen wir uns nicht nur stillschweigend ein, o nein, wir drucken den »Jahresregenten« groß und feierlich auf die erste Seite unserer modernen Kalender, ein Kind, das im Krebs oder Skorpion geboren ist, scheint uns einer nicht so ganz reinlichen und einwandsfreien Zukunft entgegenzuwachsen; an unseren Zeitungskiosken und in den mächtigen ledernen Umhängetaschen unserer Zeitungsfrauen finden sich für 10 Pfennige neben den unsterblichen Briefstellern für Liebende, neben dem illustrierten Bericht über den neuesten Raubmord und der »einzigen authentischen Aufklärung über den Panamaprozeß« auch die »Planeten für Knaben und Mädchen nebst einer Zusammenstellung der wichtigsten Glücks- und Unglückstage des ganzen Jahres«. Und die besorgte Amme, die in einem dieser Werke die Zukunft ihres Pfleglings lesen will, würde sich sicherlich schönstens bedanken, wenn ihr ihre Geistesverwandte aus dem Jahre 1490 verständnisinnig die Schwesterhand drücken würde, nachdem sie aus dem »teutschen Kalendari mit den Figuren« folgendes schauderhafte Prognostikon entnommen: »Würde ein kindt geboren im widder, das kindt gewünne rot krauß dick haar und ist jächzornig und böß und sein natur ist rauben brennen stechen morden hencken. alle boßheyt treybt es mitt Gewaltt und man mueßs im Überseen von seiner bösen natur willen, und ist nichts guets an im und stirbt eines bösen tods als ein wüettender hundt.«

Die »Figuren«, die den »teutschen Kalendari« so berühmt gemacht haben, daß er ganz einfach sich nur die Apposition »mit den Figuren« beizulegen brauchte, um sich um Haupteslänge von allen anderen zu unterscheiden; diese seltsamen holzgeschnittenen Männlein bei jedem Monat lassen uns schon durch ihre Namen einen tiefen Blick in die deutsche Kulturgeschichte tun: Alle Völker und Zeiten geben sich hier Rendezvous, Orient und Occident müssen herhalten, um dem gemeinen Mann seine Lebensweise und Diät während der einzelnen Monate zu diktieren. Da erscheint gleich im Januar ein Araber: »Der meister Almansor spricht daz man in dem Genner (= jänner) guetten Wein nüechteren trinken soell und dei Latwerg sol seyn Dialatenus.

Genner bin ich genannt
Trincken und essen ist mir wohl bekannt.
In diesem Monat ist nit guet
Von dem Menschen lassen das Bluet«

Im Februar wird der Schatten des Hypokrates beschworen: »Der meister Ypokras spricht: man sol sich in dem hornunge warm halte daz man nit reüdig werd; kytzenfleysch sol man nit essen.«

So folgen die »zwölf weisen Meister« monatlich auf einander: Da kommt im März der Meister Galienus, im April der Meister Johannes, im Mai Avizenna, dem im Juni Averrois folgt; die beiden letzteren, die berühmten arabischen Philosophen Ibn Sina und Ibn Rosch'd waren in der Phantasie des fünfzehnten Jahrhunderts längst schon sagenhafte, mit geheimnisvollen Zauber- und Wunderkräften ausgerüstete Fabelwesen geworden, aus deren Munde jede Vorschrift mit scheuer Ehrfurcht hingenommen wurde. Dasselbe gilt in noch höherem Grade von Plato, der den Dezember abschließt. (Die dazwischen liegenden Monate haben Rasis, Seneka, Isaias, Constantinus und Mesue als »Medizinmänner«.) Der Kalenderleser von anno 1490 wußte wohl nicht, wer und wes Landes Platon gewesen sei; vielleicht wußte es der Kalendermacher ebensowenig: Der »Meister Platon« war ein mächtiger Zauberer, der vielleicht jetzt noch existierte, in Deutschland auf seinem Zaubermantel herumfuhr, jedenfalls hielt er alljährlich geheime Zwiesprache mit dem Kalendermann auf dessen Hexenküche, um ihm in die Feder zu diktieren, was die lieben Deutschen im Monat Dezember tun und lassen sollten. Und der Kalendermacher selbst, der mit so geheimnisvollen und nicht ganz geheuren Herren zu tun hatte, galt als eine Art Hexenmeister, zum mindesten als Seher und Prophet. Das wußte er auch recht gut, und darum liebte er es, sich mit seltsamem Dunkel zu umhüllen, etwa sich aus einem Hans Schwartz in einen Joannes Nigrinus umzutaufen; er schmückte sich wenigstens mit allerhand wirkungsvollen lateinischen Prädikaten, die hochtönend klangen und wissenschaftlich aussahen, wie z. B. der Augsburger Johann Gabriel Sperber sich D. (was aber beileibe nicht Doktor heißt) mathematicum et astronomumschelten ließ; oder, wie Georg Domfeld: L. L. A. A. cultorem, was einfach heißt »Liebhaber der freien Künste«. War aber einer zu ehrlich, den geneigten Leser mit lateinischem Prestige zu mystifizieren, oder reichte ihm das Latein nicht ganz dazu, so nannte er sich wenigstens wie Johann Georg Freund im Augsburger Kalender von 1675: »Der astronomischen Wissenschaft ergebenen« oder wie Jakob Holderbusch »der göttlichen Wahrheit Liebhaber«.

Doch kehren wir zu unserm Schweinsleder von 1490 zurück und sehen wir zu, wie sogar der Kalendermann seinen erhabenen Ernst um ein paar Töne heller stimmt gegenüber dem »wunderschönen Monat Mai«:

»Hye kumm ich stolczer mey
Mit kluegen bluemen mangerley;
In disem monat man auch baden fol,
Tanezen singen springen und minnen wol.«

Merkwürdig ist, wie in den diätetischen Lebensregeln für die einzelnen Monate uralter Aberglaube und Pflanzensymbolik sich mit wirklichen physiologischen Ahnungen zu einem kunterbunten Durcheinander von Vernunft und Unsinn seltsam vermischt, wie in der Vorschrift für den Juni: »man süll in dem brachmonat all morgen nüechtern Brunnenwasser trincken; latich mit eßig solt du essen; schlaffe nit zue vil; fisch, hertte eyer, schweynenfleisch, hertt käß und alles gebraten fleysch ist nit gesund zu essen, dein tranck sey salvaybluemen und rauten. hollerblüe solt du auch nuechttre essen.«

Im Dezember schließt dann der Meister Plato mit einer echtdeutschen Mettwurstreminiszenz:

»Mit würsten und mit braten
Will ich meyn hauß wol beraten.
Also hat das jar eyn ende.
Gott uns in seyn ewig Reych sende.«

Der zweite Teil des Kalenders ist astronomischer Halbwissenschaft und astrologischer Mystik gewidmet: »Got hat es also geordnet wölcher planet einem stern allernächst geet von dem selben stern empfahet er sein natur. Etlich sind kalter natur etlich nasser etlich truckener etlich heißer. Die selbe natur zeühet der mensch von de gestirn. Der mond ist der mindest von de siben planeten. Cameta (= Komet) ist ein stern der nymer erscheint denn so sich daz reich verwandlen wil.« Die hier zum Ausdruck kommende Idee von den verschiedenen Temperamenten der Gestirne ist eine uralt-germanische, die bis ins deutsche Heidentum hinaufreicht. In einer Sage aus der Grafschaft Mark wird, wie Riehl berichtet, dem nachherigen Mann im Mond, als ihn der Herr für seine knechtliche Arbeit am Sonntag bestrafen will, die Alternative gestellt, ob er in der Sonne verbrennen oder im Mond erfrieren wolle. Er meint, das Erfrieren tue nicht so weh, und so läßt er sich in den kalten Mond setzen.

Von diesem deutschen Kalender sind noch drei Jahrgänge auf der Staatsbibliothek: Der eine von 1496, auch in Augsburg gedruckt, aber bei »Hansen Schawren« mit bedeutend schlechteren Lettern und auf miserablem Löschpapier. Dagegen die beiden von 1497 und 1522, wieder bei Schönsperger gedruckt, sind Prachtexemplare, der letztere ist sogar sehr originell koloriert. Im Inhalt sind die drei ganz genaue Abdrücke jenes ersten von 1490, des ältesten Augsburger und wohl des ältesten deutschen Kalenders überhaupt.

Es dauert lange, bis uns wieder ein aus dem Strom der Jahrhunderte ans Ufer geworfenes Dokument begegnet: Erst im Jahre 1668 erscheint der Newer und alter Schreibkalender sampt der Planeten Aspekten Lauff und Zustand nebenst fernerer Beschreibung aller Römischen Kayser, wer sie gewesen, wie sie regieret und aufeinander gefolget. Für den gemeinen Mann sehr lustig zu lesen. Gedruckt zu Augsburg durch Johann Schultz.« In diesem Kalender steht die alte julianische und neue gregorianische Zeitrechnung ganz friedlich nebeneinander, z. B. der 31. Mai neben dem 10. Juni, so daß für jedermanns Geschmack Sorge getragen ist.

Der »neue und alte Schreibkalender« ist sozusagen von den vielen und durchwegs abergläubigen alten Herren der allerabergläubigste. Schon bei der Erklärung der Zeichen wird jedesmal eine besondere Hieroglyphe gesetzt, wann gut Haarabschneiden sei, so langsam wächst, wann solches, so bald wächst; wann ferner gut »aderlassen, schrepffen, baden, säen, pflanzen, artzneyen insgemein, artzneyen mit Pillulen, artzneyen mit Tranck, wann Kinder entwehnen, wann Bauholz fällen.« Aus denselben mythologisch-natursymbolischen Gründen, aus welchen weise Frauen dem gegen Cäsar ins Feld ziehenden Ariovist geboten, daß er beileibe nicht vor Neumond angreifen solle (etwas ganz Ähnliches erzählt ja auch die griechische Geschichte von den Spartanern, die um eines Neumondes willen die Schlacht bei Marathon versäumten), aus demselben Grunde gebot vor zweihundert Jahren der Herr Kalenderschreiber dem »gemeinen Mann«, vor Neumond beileibe nicht zu purgieren und zu arzneien. Denn da das wachsende Licht Fülle und Gesundheit mit sich führt, das abnehmende dagegen Zerstörung und Untergang, werden alle positiven Geschäfte (wie Säen, Pflanzen usw.) in die Zeit des wachsenden, die negativen (Holzfällen, Haarschneiden) in die des abnehmenden Mondes verschoben.

Haarsträubend genaue Vorschriften bringt dieser Kalender auch für die geringsten Geschäfte, z. B. Stahl und Blei kaufen, Nägel abschneiden, Ehhalten dingen, Gesellschaft machen, Kinder in die Schule und zu subtilen Handwerken tun, mit alten Leuten handeln, mit Prälaten, Richtern, Frauen handeln, und last not least heiraten, wobei aber wieder ein ganz genauer und peinlicher Unterschied gemacht wird, je nachdem man ein junges Mädchen oder eine Witwe heiratet.

Da ist denn doch der Kalender von 1670 ein liebenswürdigerer und heitererer Geselle. Hören wir nur, wie drollig und naiv sogar die folgende Pegnitzschäferei in seinem Munde klingt, und wie durch den steifen alexandrinischen Faltenwurf der lenzlustige und liederjauchzende Kopf eines Walther von der Vogelweide oder Neithardt von Reuenthal schelmisch und neckisch hervorlugt; der Mai tritt auf und hält eine feierliche Begrüßungsrede »an sein Volk«:

»Ist auch ein Mond im Jahr, der lustiger zu nennen,
Als ich? Der tret' herfür und geb' es zu erkennen!
Jetzt wird die gantz' Natur in's Innerste beweget;
Das, was gar leblos lag, sich allgemachsam reget;
Der Früchte Laub und Gras in Garten und in Feldern,
Der Tier und Vögel Schaar zu Hauß und in den Wäldern
Bezeugen dieses klar. Auch Corydon thut machen
Mit seiner Schäferpfeiff die Schäferin jetzt lachen.
Die Milchwerk, Butter jetzt am allerbesten schmeckt
So wie's die Bäuerin ausruft und rundum träckt.
Nun, Hans, thu Deine Gret zum grünen Meyen geleiten,
Trink Wein, iß gute Speiß, Salat auch laß bereiten;
Und hat der Hans nicht Wein, so braucht er kein'n zu trincken,
Mit einen Trünklein Bier mag er der Grete winken.«

Man sieht, – sie dürfen sich noch so verkleiden und Schäfer spielen und sich Corydon und Phyllis umtaufen, zum Schluß kommt doch nichts anderes zum Vorschein als – Hans und Grete. Darum wollen wir es dem guten Kalender von 1670 auch zugute halten, wenn er auf einmal sich feierlich zu geberden anfängt, sich mit einem sternbesäten Magiermantel majestätisch drapiert, und uns unter allerlei verrücktem Hokuspokus und Abrakadabra in seine alchimistische Hexenküche führt. In diesem unheimlich dämmerigen Laboratorium wird er uns sofort nicht mehr und nicht weniger geben als ein Rezept, blitzblankes Silber zu fabrizieren: »Nimm gepurifiziert Bley ein Pfund, thus in ein irden Gefäß, thu dazu zwey Untzen Salarmoniak und eine halbe Untz Sal Elebrot, und ein Untz Salpeter, setz es also in ein stark Feuer, laßs zwo Stunden darinnen stahn, heb es dann ab, so hast Du feyn Silber.«

Im Jahre 1675 erscheint dann die »Aquila austriaca, das ist neuer und alter österreichischer Fürstenkalender, an das Licht gegeben durch Georgium Domfeld, C. C. A. A. Cultorem, gedruckt zu Augspurg bei Koppmayer«. Dieser hat bereits große Ähnlichkeit mit unseren modernen Kalendern, indem er eine gedrängte Übersicht der politischen Ereignisse des Vorjahres bringt. Die Art und Weise nun, wie hier Zeitgeschichte repetiert wird, insbesondere aber die Vorgänge, welche man damals dem guten Kalenderleser als politische Ereignisse hinstellte, haben den Vorzug, zum mindesten originell zu sein. Die Art und Weise insofern, als die Rankesche Schule der Geschichtsschreibung hier bereits in wunderlicher Weise in nuce vorgebildet ist: Die Ereignisse werden nur erzählt, es fehlt sowohl der geringste Versuch, die Ereignisse und ihren Wert kritisch festzustellen, noch ferner liegt der Gedanke einer Einwirkung auf das Volk; und, was insbesondere Rankes Eigentümlichkeit ist, nur die Haupt- und Staatsaktionen in ihre feinsten Fäden zu zerlegen, und sich um Kulturgeschichte nicht zu kümmern, das hat der Kalenderschreiber von 1675 auch schon gekonnt: Von der damaligen Zeit wurde die Idee des Volkes und des Staates nur insoweit begriffen, als sie sich in der Erscheinung von Fürst und fürstlichem Hofe verkörperte. Doch machen gerade die Augsburger Kalender eine merkwürdige und beachtenswerte Ausnahme von der allgemeinen Beschränktheit und Kleinigkeitskrämerei. Die mit Holzschnitten illustrierten langmächtigen Beschreibungen von Krönungen und Heiraten, Prinzentaufen und fürstlichen Leichenfeierlichkeiten sind hier auf ein Minimum zusammengedrängt. Ihre Stelle vertreten historische Berichte, die zwar sehr knapp gehalten sind, aber nur durchaus Glaubwürdiges überliefern. Der alte Augsburger ließ sich gerne von den Cäsaren erzählen – der Kalender von 1763 bringt eine Fortsetzung der »historischen Beschreibung aller Römischen Kayser, vom Caje Julio Caesare« an; die Tradition des römischen Reiches deutscher Nation wurzelte damals noch tief im Volke; und für den Augsburger hatte das alles noch einen ganz anderen und tieferen Sinn: Er fühlte sich sozusagen persönlich als Erben und Sprossen dieser römischen Imperatoren; den Namen des ersten unter ihnen trug ja seine Vaterstadt, in alten Wällen und Gräben schaute er römische Bollwerke, und zudem hatte er seinen Staat ganz nach römischem Muster organisiert. Doch davon später.

Riehl teilt die Kalender dieser Zeiten in drei Sorten, je nach ihren Titeln; die einen, das seien die martialischen und gruseligen, die anderen die tiefsinnigen und mysteriösen, die dritten endlich die bombastischen und reklamehaften. Der, mit dem wir uns jetzt zu beschäftigen haben, gehört offenbar zur dritten Sorte. »Europäische Kriegstrompete und Friedensposaune mit einem Anhang: Die große Practica.« Er hat einen hübschen Kupferstich als Deckblatt; auf einem Forum mit Häusern im Renaissancestil befinden sich verschiedene Gruppen: Astronomen, Mathematiker, Geographen, lernende Kinder, unterweisende allegorische Frauenzimmer; ganz im Vordergrund ein Gelehrter, der dem in der Augsburger Galerie befindlichen alttestamentlichen Propheten von Hermann tom Ring aufs Haar ähnlich sieht. Sogar eine große Hornbrille trägt er, wie jener, auf der Nase. Neu und eigenartig ist in diesem Kalender die Methode, wie die Vorgänge der Planetenwelt dem Leser mitgeteilt werden, nämlich durch Gespräche. In diesen Dialogen treten auf: Theophilus, ein Geistlicher, Ptolemäus und Copernikus, zwo Sterngucker, Adam, ein Bürger und Simplex, ein Schäfer. Doch ist diese an sich außerordentlich glückliche Idee nicht in humoristischer Weise verwertet, sondern die Personen reden alle sehr gelehrt und ernsthaft, als ob sie insgesamt Sterngucker wären.

Auch »Küchen- und Kellerkalender« wurden damals in Augsburg gedruckt, so einer aus dem Jahr 1678. Derselbe enthält bei jedem einzelnen Monat Vorschriften für Aufbewahrung und Behandlung des Weins und je drei Kochrezepte: Ein feines Tafelgericht, ein Hausmannskostrezept und ein nahrhaftes Wöchnerinnenessen. Beim Durchlesen dieses Kochbuches möchte einem manchmal, wie man zu sagen pflegt, das Wasser im Munde zusammenlaufen; denn unsere Alten verstanden das Kochen schon ganz exzellent und wußten ihre Rezepte riesig appetitlich zu redigieren; als Probe mag Folgendes dienen: »Ein gebraten Ferkel oder Spansäulein: Brühet und bereitet das Spanferkel, wie es sein soll, salzt es dann wohl in einer Multer, füllts mit einer Fülle von Eierbrod, Rosinen, Weinbeer und Mandeln, wohl gewürzt und mit Safran gegelbt, steckts dann an den Spieß, brechet ihm den Rucken in der Mitten, daß es nicht krumm werd, bratets bei einem hellen und lustigen Feuer, schmierts tüchtig mit Speck oder Butter, sonst wirds blässigt, gebts geschwind, wanns vom Spieß kommt, aufn Tisch, weil die Haut fein rösch ist; man kann in den Rüssel einen Apfel oder Bomerantzen geben.«

Anno 1679 erscheint der »Neue und alte Schreibkalender«, dessen Verfasser Herr Georg Galgenmeyer ist, »gewester Pfarrer zu Hausham«. Doch würde man sich sehr täuschen, wenn man des geistlichen Herrn Verfassers wegen in diesem Opus einen religiösen Erbauungskalender etwa von der Art der streitbaren Schriften Alban Stolzens vermuten wollte; derselbe ist im Gegenteil durch nichts von den gleichzeitigen unterschieden und behält auch die Planetenmystik und die Aderlaß-Erwählungen ganz gemütlich bei.

Eine literarische Kuriosität ist des Redelius Kalendarium chronorhythmicum ad annum 1692. Augusta Vindelicorum. Bei jedem Tage des ganzen Jahres steht ein lateinisches Chronostichon, in dem der betr. Heilige oder das gerade fallende Fest gefeiert werden. Die innerhalb des Verses groß gedruckten lateinischen Buchstaben geben, addiert, jedesmal wieder die Jahreszahl 1692.

Ebenfalls nur eine Spielerei, aber mit prophetischer Grandezza auftretend, daher zur zweiten Riehischen Kategorie gehörig, ist »William Hanemanns verwunderlicher englischer Wahrsager, worinnen

des Krieges Weh zu Land und See

der Welt vor Augen gelegt werden«. (Augspurg, bey Kaspar Brechenmacher.) Dieser gute Herr Hanemann scheint ein Vorfahr von Gottfried Kellers Herrn Kohl gewesen zu sein, der sich statt Hans Kohl John Kabys schelten ließ; denn er war ein ganz ehrliches Augsburger Kind trotz des lordmäßigen William; und er hielt seine lieben Augsburger und die benachbarten Gegenden mit seinen politischen Prophezeiungen weidlich zum Narren. Mit dieser Weissagung pro domo ist Herr Hanemann wirklich kein falscher Prophet gewesen: Wenn wir nach seinen Nachdrucken fragen, siehe, so sind sie dahin und nirgends zu finden; der verwunderliche englische Wahrsager des William Hanemann aber grünet heute noch, als eines der üppigsten Gewächse, so jemals ein närrischer Kauz im großen Park der Literatur gepflanzt hat.

Der spanische Erbfolgekrieg war zu Ende, und die allgemeine Roheit verlangte immer nach derberer Kost, das beweist unter anderm auch der »Zigeuner-Calender« aus dem Jahre 1719, der mit Zigeunern nichts zu tun hat, sondern nur eine Sammlung der greulichsten Mordtaten und Mißgeburten ist. Das wäre also Nummer Eins Riehlscher Kategorien; nur etwas für starke Nerven, wie die besonderen Kabinette unserer Jahrmarktswachsfiguren-Panoptiken. Mit demselben Gänsehautsbehagen, mit dem heutigentags die Romane vom bayerischen Hiesel, Schinderhannes, Gänswürger verschlungen werden, ließ der Kalenderleser von anno dazumal seine stärkeren Nerven mit unerhörten Greuel- und Bluthistorien in angenehme Vibrationen versetzen. Ganz dasselbe, wie wenn in Paris Baroninnen und Komtessen bei interessanten Raubmördern in Mazas Audienz nachsuchen, oder das Berliner Vorstadtpublikum ins Ostendetheater strömt, um in einem Stücke, das ein und denselben Scharfrichter zum Verfasser und zum »Helden« hat, das Gruseln zu erlernen. Der Geschmack der Menge bleibt sich ewig gleich, ob siebzehntes oder zwanzigstes Jahrhundert, löschpapierener Kalender oder Leihbibliothekenroman. Professor Krafft-Ebing in Wien würde ihn sicherlich unter die unheilbaren Opfer der paranoia politica gerechnet haben. In diesem Kalender werden nämlich alle Ereignisse des Jahres, der größeren Wirkung halber natürlich möglichst viel Krieg und Pestilenz, haarklein prophezeit, und da das Jahr 1705 mitten in den spanischen Erbfolgekrieg fiel, so mag auch manches davon eingetroffen sein, wodurch natürlich des Herrn Hanemanns Einbildung betreffs seiner sibyllinischen Begabung nicht wenig gewachsen sein mag. Was aber der tiefe und sinnreiche Humor davon ist, ist die charakteristische Manier, die Staatsprognostika ebenso wie das Wetter nach den Mondwechseln zu berechnen, das ist wahrlich unbewußte Weisheit für eine Zeit, in der das fürstliche Regiment noch wie ein Donnerwetter ob den Häuptern der Untertanen dräuete, das man in demütiger Einfalt als vom Schicksal zusammengebraute Witterung hinnahm. Es scheint aber, daß andere Leute auch so pfiffig waren, mit tiefsinnigen mythologischen und heraldischen Orakelsprüchen Zukunftspolitik »in höherem Stil« zu treiben; wenigstens beklagt sich Mister William bitter über die Nachdrucke und Nachahmungen und empfiehlt seine politischen Schweizerpillen als die allein echten und wirksamen; ja, er wendet in einem köstlich arroganten Epilog auf diese unbefugten Nachdrucker den siebenunddreißigsten Psalm an: »Ich habe gesehen einen Gottlosen, der war trotzig und breitete sich aus und grünete wie ein Lorbeerbaum; da man vorüberging, siehe, da war er dahin, ich fragte nach ihm, da war er nirgends zu finden.« In dasselbe Jahr 1719 fällt der »Augspurgische Geographische Weltkalender«, der besonders dadurch bemerkenswert ist, daß hier zum erstenmal eine schüchterne Polemik gegen den astrologischen Schnickschnack versucht wird. Die »Geographie« beschränkt sich einzig und allein auf ein Kapitel »Von den merkwürdigen Höhlen, unterirdischen Gängen und Krüfften des Erdbodens«. Unter den Gefahren, welche den harmlosen Wanderer hier bedrohen, meint der nicht abergläubische Kalendermann, nachdem er die schlechte Luft, Erdspalten usw. erwähnt: »Was aber noch erschröcklicher ist, so meldet man, es seye nicht leichtlich eine unterirdische Höhle zu finden, welche nicht von grausamen Gespenstern bewohnet sei.«

Die zwei nun folgenden Kalender sind die interessantesten, sowohl kulturgeschichtlich, wie insbesondere als wertvolle Dokumente zur Geschichte der Reichsstadt Augsburg.

Der erste derselben, der mir durch die Güte des Herrn Theodor Kraus in Augsburg mitgeteilt wurde, ist der »Augspurgische Neu- und Verbesserter Stadt- und Raths-Kalender, Auf das Jahr nach der Geburt unseres Heylandes 1763. Allda druckts und verlegts, Andreas Brinhaußer, Stadt-Buchdrucker«. Er hat als Deckblatt einen prächtigen Kupferstich mit dem Reichs- und Stadtwappen, eine reizende Darstellung der Stadt von Lechhausen aus, unten die allegorischen Darstellungen des Lechs, der Wertach und der Singold. Der Lech ist ein schilfbekränzter, graubärtiger Mann, dessen Nase etwas sehr kräftig schattiert ist, die Wertach eines der herkömmlichen mythologischen Frauenzimmer, das die Singold mütterlich umarmt.

Der Kalender enthält 41 Wappen derjenigen Mitglieder der Geschlechter, die ein öffentliches Amt bekleideten oder im großen Rat saßen. Aus dem Beamtenverzeichnis nun, das sich am Schlusse befindet, läßt sich die ganze reichsstädtische Verfassung Augsburgs rekonstruieren, jenes »stolze Bürgergemeinwesen, das in allen seinen öffentlichen und privaten Einrichtungen eine bürgerliche Vornehmheit sondergleichen an den Tag legte.« (W. Vogt, Elias Holl Bayerische Bibliothek, Bd. 7.) Es geht ein Zug römischer Größe durch die Verfassung und Geschichte dieser aristokratischen Handelsrepublik, derselbe monumentale Zug, der auch aus den öffentlichen Bauten der alten Reichsstadt spricht; ein strenger und stolzer Zug, – nichts von Grazie und doch harmonisch, nichts von Formenreichtum und doch überwältigend, kurz, großer Stil: »Das höchste Gefühl von Macht und Sicherheit kommt in dem zum Ausdruck, was diesen großen Styl hat. Die Macht, die keinen Beweis mehr nötig hat, die es verschmäht, zu gefallen, die schwer antwortet, keinen Zeugen um sich fühlt, in sich ruhend, ein Gesetz unter Gesetzen, – das redet als großer Styl von sich.«

Da sind die beiden Konsuln (Duumviri, Stadtpfleger), in diesem Jahr Herr Marx Christoph Koch von Gailenbach, Sr. jetzo Glorreichest-Regierenden Kayserl. und Königl. Majestät FRANCISCI I. würcklicher Rath, und Herr Frantz Joseph Ignati Remboldt. Es folgen die fünf »Geheimen«, die sechs Bürgermeister, von denen je zwei in jedem Dritteljahr amtieren; je drei Einnehmer, Baumeister, Zeug- und Proviantmeister, je vier Steuermeister und Umgeldherrn, zwei Oberrichter, sechs Verordnete zum Handwercksgericht, je vier Deputierte zum Kreis, Münzwesen, Landquartierwesen, zum engern Ausschuß, für das Notariatsexamen, zur Bücherzensur, ebenso vier katholische und vier protestantische Oberschulherrn; je zwei Bibliothekare, Forstamtsdeputierte, Deputierte fürs Hochzeits-, Zucht- und Strafamt, über die Sturmglocken und zum Sanitätswesen usw.

Die für Augsburg hochwichtige Weberzunft, die Fleischbänke, Getreidemakler und auch die Meistersinger haben ihre eigenen Deputierten zur Aufsicht und Vertretung.

Jede Pfründe und Stiftung, Siechen-, Blattern- und Armenhaus hat ihre städtischen Beamten, sogar der Schlüssel des Perlachturmes ist nicht in profanen Händen.

Diese Verstadtlichung aller Einrichtungen zu einem exakt fungierenden Apparat ist ein Meisterstück städtischer Verfassung, wie es zu jener Zeit noch nicht viele deutsche Städte aufzuweisen hatten.

Eine ganz geniale Zusammensetzung ist auch die des großen Rates. Er zerfällt in den inneren Rat von nur vierzehn Mitgliedern, und zwar vier Patrizier, drei Kaufleute, sieben von der Gemeinde, und in den äußeren: neun Patrizier, siebzehn aus den alten, nichtadeligen Geschlechtern, siebenundfünfzig Kaufleute und zweihundert von der Gemein. Charakteristisch ist, daß bei den letzteren nicht mehr, wie bei den Kaufleuten, ein »Herr« vor dem Namen steht; – Augsburg wußte wohl, warum es gerade den Kaufleuten diese historisch und psychologisch begründete Ausnahmestellung anwies; denn da die Ratsmitglieder »von der Gemein« alternierten, konnten alle zum Aufblühen und Gedeihen der Stadt dienenden Gesetze durchgebracht werden; die Kaufleute nämlich hielten sich selbstverständlich zu den Patriziern, und so war für alle wichtigen Angelegenheiten eine Majorität sicher, und die demokratische Masse konnte nicht, wie bei den antiken Gemeinwesen, den Bestand des Staates langsam, aber sicher zerwühlen; auf dem Papier aber sah das Verhältnis gerade umgekehrt aus: 200 gegen 57   40. Darum ist diese Zusammensetzung ein geniales Stück staatserhaltender Weisheit; das ist noch die Tradition, durch die Augsburg groß und mächtig sich entwickeln konnte: Interessen-Solidarität zwischen Aristokratie und Handel.

Selbstverständlich waren auch die Ämter streng paritätisch verteilt, so daß in dieser Beziehung eine Gefährdung des inneren Friedens nicht zu fürchten war. Wenn auch jetzt nicht mehr die Schweineställe der Bäckerzunft in C (kath.) und A C (Augsb. Conf.) geteilt sind, auch nicht mehr die Kaffeehäuser, die Stadtgardenlieutenants usf. nach Konfessionen geordnet sind, ein Blick aufs Adreßbuch belehrt uns, daß noch immer die Hochzeitlader und Leichenbitter je zwei und zwei gravitätisch und paritätisch darin aufmarschieren.

Wir stecken noch im siebenjährigen Krieg; darüber belehrt uns der Absatz: »Vom Krieg und Welthändeln.« »Es wäre zwar auf der Welt nichts mehrers zu wünschen, als daß uns des Noä' Täublein dieses Jahr mit einem Oelzweig erfreuen und uns den edeln Frieden, auf den so viele Millionen Menschen mit großem Verlangen warten, bringen möchte; allein, irdische Aspekten drohen uns noch ferner des Krieges Ungewitter.«

Eine sehr überflüssige Partie enthalten alle diese Kalender vom Ende des 18. Jahrhunderts: Die Aderlaßtafeln. Denn schon zu jener Zeit hatte das periodische Aderlassen bei den mittleren Klassen längst aufgehört, nur einige ganz gegen allen Verkehr abgeschlossene Gaue mit den allerkonservativsten Bauern mögen es noch beibehalten haben. Es ist diese Fortführung der alten Vorschriften ein Beweis mehr für die oft wiederkehrende Tatsache, daß Sitten und Gebräuche noch existieren, nachdem die Voraussetzungen dazu schon längst zerfallen sind. Die Aderlaßtafel regelt sich nach dem Mondwechsel und jeder der dreißig Tage des Mondlaufs hat seinen für alle Monate und Jahreszeiten feststehenden guten oder schädlichen Charakter, z. B. wer an einem dritten zur Ader läßt, stirbt eines jähen Todes, wer am neunten, wird krätzig am ganzen Leib, wer dagegen am fünfundzwanzigsten, wird »klug und weise« wie der Bürgermeister von Saardam. Daß in den sogenannten Hundstagen das Aderlassen und Arzneien verboten wird, ist nicht so ganz unverständlich; warum dagegen das Baden, bedürfte wirklich näherer Begründung; es ist reizend, wenn man sich einen dicken, schwitzenden Privatier aus dem vorigen Jahrhundert vorstellt, wie er z. B. im Schmuttertale keuchend und pustend gegen das schöne Wirtshaus zum schwäbischen Himmelreich zu sich Bewegung macht, wie er gar zu gerne in dem kühlen Wasser ein wenig herumplätscherte, aber er darf nicht, weil es der Kalendermann nicht erlaubt; nun trinkt er wenigstens mehrere Krüge kühlen Bieres und tritt Abends etwa um sieben Uhr den Heimweg an, wobei er ein wenig perpendikulare Bewegungen zeigt; o weh, das rote Tor ist bereits geschlossen, – und will er nicht den Umweg nach dem Gögginger Tor machen, das bis 10 Uhr offen ist, muß er seine 4 Kreuzer Sperrgeld zahlen. Zu Hause angelangt, sieht er sofort in seinem Stadt- und Rathskalender die »Spörrordnung der allhiesigen Stadt-Thor« nach; dieselbe steht an derselben Stelle, wo in unseren Kalendern die Gebetläutordnung und es decken sich auch die Zeiten so ziemlich. Will nun unser Herr Privatier sich z. B. ein Fäßlein Seewein von Lindau schicken lassen, so geht er auf den Fischmarkt, wo der Lindauer Bote sein Lädlein hat; er kommt immer an am Donnerstag um 3 Uhr und fährt um 8 Uhr wieder nach Lindau ab. Die Herbergsväter dieser Boten haben auch ihre Spitznamen: Johann Adam Schmidtpeter ist Josephle, Joseph Gleich das Dilgerle benamset.

Der siebenjährige Krieg ist zu Ende. Beim Abschluß des Hubertusburger Friedens kümmert sich der Kalenderschreiber nicht im geringsten um die politische Bedeutung dieses Friedens, er erzählt nur den Umzug, den der Friedensherold samt Gefolge in Berlin gehalten. »Der Herold aber trug einen römischen Helm, einen Küraß mit darüber geworfenem Tigerfell, kurze Hosen, und, wie der Kalender wörtlich berichtet, saubere weiße Strümpfe.« Ein Holzschnitt in einem andern Kalender zeigt uns das Schloß Hubertusburg, aus dessen Toren zwölf Postillone lustig blasend in die verödete Landschaft hinaussprengen, um den Frieden in alle Welt zu verkündigen, darüber aber schwebt ein Posaunenengel mit dem Spruch: »Des HErrn Gnade hat uns diesen Frieden geschenkt.«

Für das Jahr 1769 hat uns Andreas Brinhaußer wieder einen Kalender gedruckt: »Augspurgischer Compendiöser Hand- Schreib- und Sack-Calender.« Dieser ist der einzige, in dem eine Reihe von städtischen Vorschriften als Anhang sich finden: Da wird einmal gewarnt vor den schlechten französischen Laubthalern, dann wird »gesamter Burger und Innwohnerschaft beditten, daß, wer sich eine halbe Stund nach Läutung des Gebeths auf der Straß ohne Licht oder Latern betretten läßt, alsogleich, ohne Ansehen der Persohn, arretieret, und auf die Hauptwach gebracht, oder aber auf ihme, nach dreymalig vergeblichem Anruffen und wol gar ergreiffender Flucht, oder Widersetzung, Feuer gegeben werden solle.« Wie Figura zeigt, konnten die Juristen von anno 1769 ebenfalls schon Bandwurmsätze bilden, nur daß die ihrigen immer noch verständlich sind.

Diese Stilblüte ist einer ellenlangen Verordnung entnommen »von denen nächtlichen Diebstählen«. Die Unruhen des Krieges scheinen damals die öffentliche Sicherheit auf Jahre hinaus sehr nachteilig beeinflußt zu haben. Es folgen Ermahnungen an die säumigen Steuerzahler, an die Metzger, die zu schlecht wogen und übergroße Zuwagen hergaben, und endlich ein Mandat zur Ausrottung der Wilderer, Vaganten und herrenlosen Gesindels in der Markgrafschaft Burgau. Erlasserin desselben ist Maria Theresia, Markgräfin von Burgau, wie sie sich in diesem Mandat nennt. Diese »Markgräfin von Burgau« wäre auch ein Thema, für den Historiker noch mehr als für den Kulturgeschichtler.

Die Kalenderliteratur hat sich seitdem ins Ungeheure vermehrt: Unsere politischen Parteien geben Kalender heraus, oder machen sich wenigstens bereits bestehende dienstbar, um für ihre Ansichten Propaganda zu machen; die illustrierten Blätter veröffentlichen solche mit Romanen von den ersten Autoren und Illustrationen von den namhaftesten Künstlern; fast jeder Beruf, jeder Sport, jedes Gewerbe hat einen eigenen Kalender; für die Kinder sogar werden reizende und anmutige Büchlein verfaßt, und unsere Gymnasiasten erfahren durch Kalender, daß Goethe eigentlich ein ganz ordinärer Mensch gewesen sei; zum Glück glauben sie's nicht mehr so fest, wie in früheren Zeiten die Staatsprognostika geglaubt wurden. In deutschen und österreichischen Musenalmanachen werden Frühlingslieder gesungen, fast so schön wie im Kalender von 1675, – kurz, aus den rauhen, löschpapiernen Gesellen sind freundliche und gern willkommene alljährliche Gäste geworden, denen es niemand ansieht, aus welch blutdürstiger und abergläubischer Familie sie entstammen. Aber vergessen wollen wir darum jene alten, vergilbten Blätter doch nicht, – ist doch in ihnen ein gut Stück deutscher Vergangenheit begraben und ruht doch auf ihnen ein verklärender Vorzeitschimmer voll Derbheit und Aberglauben, aber auch voll träumender Ahnungen, voll urwüchsiger und schalkhafter Treue und Poesie.


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