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(1907)
»Madame, so ist's recht: schreiben Sie immer, selbst wenn es nichts zu schreiben gibt. Ebenso werde ich Ihnen antworten, wenn ich Ihnen nichts mitzuteilen habe, und das wird schließlich eine sehr interessante Korrespondenz werden.«
2. Okt. 1769
»Sie müssen alle meine Briefe sammeln wie die Blätter der Sibylle, Gott weiß, was darin stehen mag, wenn sie einmal gesammelt sind.«
26. Mai 1770
Als der zweiundzwanzigjährige Ferdinand Galiani sich als Verfasser des erstaunlich frühreifen Buches Della Moneta bekannte, erhielt er die Pfründe des Bistums Centola und der Abtei San Lorenzo. Um rechtlich in ihren Genuß zu treten, bequemte sich der junge Adelige zu den niederen Weihen. Papst Benedikt IV. verlieh ihm den Titel Monsignore und den Rang eines Infulierten, aber der Name, unter dem ihn die Welt kennt, ist Abbé Galiani. Nietzsche nennt ihn mit einiger Übertreibung den tiefsten, scharfsinnigsten und vielleicht auch schmutzigstenWie Nietzsche dazu kam, Galiani den schmutzigsten Menschen seines Jahrhunderts zu nennen, darüber eine Vermutung. Seite XLII der Notice sur l'Abbé Galiani, die der ersten Ausgabe von Asse vorangesetzt ist, findet sich folgender Satz: Cet Italien était d'une salacité qui surpassait tout ce qu'on a connu en France en ce genre. Das Wort salacité (Geilheit) erweckte in Nietzsche die beiden Vorstellungen sagacité (Scharfsinn) und saleté (Schmutz). Menschen seines Jahrhunderts. Jedenfalls war er einer der geistreichsten, unabhängigsten und unzeitgemäßesten. Er hat einige volkswirtschaftliche Werke, geistvolle Dialoge und ein Buch über den neapolitanischen Dialekt verfaßt. Dies ist alles mehr oder weniger vergessen. Er hat an seine Freunde in Paris einige hundert Briefe geschrieben, die zum Schatze der reichen französischen Quellenliteratur über das galante Jahrhundert gehören. Sie sind, von Heinrich Conrad zum ersten Male vollständig übersetzt und von Wilhelm Weigand eingeleitet, vor kurzem herausgekommen. Wir verdanken Herrn Weigand sehr wertvolle Aufsätze über Frankreich und die Franzosen. Leider sind seine Essays (über Voltaire, Rousseau, Sainte-Beuve, Taine, Amiel, Baudelaire usw.) seit fünfzehn Jahren vergriffen, die feinen Seiten über Stendhal in einer wenig bekannten Sammlung versteckt und die Einleitungen über Rabelais und Galiani durch den hohen Preis der betreffenden Werke schwer zugänglich. Gesammelt erregten diese Studien allgemeineres und noch lebhafteres Aufsehen, als einst der schmale Band der Essays bei einer kleinen Gemeinde anspruchsvoller Leser hervorrief. Wenige unserer Mitlebenden verbinden mit gleicher Kenntnis der französischen Literatur die Gabe, sie in ihren feinsten Äußerungen nachzuempfinden und nachzuschaffen, bei aller zärtlichen Neigung für seltene und umfängliche Naturen ihr Wertvolles und Vergängliches mit Gelassenheit zu scheiden, Menschen und Werke einer versunkenen Schönheitswelt in ihrem besonderen Lichte zu zeigen und dabei die eigene Persönlichkeit zu wahren. Kenntnis ohne gelehrtes Brüsten, Hingabe ohne Selbstverlust, Feinheit ohne Empfindelei: durch solche Vorzüge wirkt der Herausgeber in dem glänzenden Kulturbilde, das er den Briefen vorangesetzt hat. An Tatsachen bringt Weigands Einleitung nichts Neues. Dies ist begreiflich, da die beiden französischen Ausgaben von Galianis Briefen in ihren Notices so ziemlich alles Material zusammentragen: die eine von Eugène Asse (Charpentier), die andere von Perey und Maugras (Calman Lévy); die erste bietet ausgezeichnete Anmerkungen, aber nur die zweite gibt einen korrekten Text. Nach ihr ist die vorliegende Übersetzung angefertigt, während die Noten auf beiden Ausgaben fußen, mit Bevorzugung der von Asse. Leser, die sich für Galianis nationalökonomisches Hauptwerk interessieren, die Dialoge über den Getreidehandel (auch Dialoge über die Regierungskunst betitelt), seien auf die Übersetzung Franz Bleis verwiesen (Bern, Wyß), als die einzig vollständige, deren Wert durch eine knapp hundert Seiten starke Studie des Übersetzers erhöht wird. Auch dieser Einleitung verdankt Weigand für die seine manches Tatsächliche. Die Dialoge sind so spannend geschrieben, daß sie auch heute noch aufs lebhafteste fesseln und ihre Neuherausgabe ein Verdienst wäre.
»Der Abbé«, berichtet Marmontel, »war der hübscheste kleine Harlekin, den Italien hervorgebracht; aber auf den Schultern dieses Harlekins saß der Kopf Macchiavells.« Wir besitzen nicht viele, und darunter keine vorzüglichen Bilder von ihm. Sie zeigen einen typisch süditalienischen Kopf guter Rasse: das Auge groß, rund und lebhaft; die Brauen kräftig gewölbt, der Mund voll Ausdruck, Nase und Kinn robust, die Stirn hoch und gerade, der Schädel stark ausgebildet, das Ohr zierlich, alles in allem ein auffallend geistvoller und lebendiger Kopf. Allein das treueste Bild bleibt starr und stumm, wenn es sich um den flüchtigen, niemals festzuhaltenden Reiz eines improvisierenden Plauderers und Anekdotenerzählers handelt. In diesem Sinne sind seine Briefe bezeichnender für ihn, als jedes Porträt sein könnte. Man muß sie allerdings beim Lesen übersetzen, sich im lebhaftesten Gespräch vorgespielt denken, überreich an eindringlichen, ablehnenden, beteuernden, ironisch pathetischen, verbindlichen Gebärden, begleitet von koketten Blicken, schalkhaftem Spiel des Mundes, bewegten Lippen, burlesk gerunzelter Stirne, alle Töne und Register des Vortrags und jedes Tempo meisternd, zärtlich und zögernd, leicht dahintanzend, gravitätisch schreitend, in toller Ungezogenheit wirbelnd, presto con molto brio: Monologe eines mutwilligen Neapolitaners, der, unfähig nur eine Sekunde lang still zu sitzen, sich an seinen eigenen Gesten, Worten, Witzen steigert, bei dem unbewußte und bewußte Schauspielerei nie zu trennen sind, der bei aller Keckheit zu höflich ist, sich je ganz zu geben, bei aller Schamlosigkeit zu schamhaft, der unter den waghalsigen Zynismen, die er mit graziöser Frechheit gleich bunten Raketen emporzischen läßt, eine hochmütige und melancholische Seele verbirgt, irgend ein ingrimmiges Mißtrauen, irgend einen unversöhnlichen Haß, irgend einen tapfern, trockenen Galgenhumor. Mit Stendhal teilte Galiani die Neigung zum Pseudonym und zur Maske; nur war seine neugierige Eitelkeit naiver als der gallige Stolz des Grenoblers, der seine Abstammung aus der häßlichen Provinzstadt mit dem schönsten sehnsuchterregenden Hochgebirgshintergrunde nie ganz verleugnen kann. Es ist eine hübsche Pointe, sich den Abbé Galiani und den Abenteurer Casanova an einem Tische sitzend vorzustellen, wie es wirklich mehrmals der Fall war: beide keck sinnliche Naturen, weltmännische Italiener, die ihr Vaterland verlassen hatten, um in Paris die Befriedigung ihrer feinsten wie ihrer gröbsten Triebe zu finden. Man mag sich als Widerpart Galianis im Gespräche denken, wen man will, unwillkürlich spielt der Abbé die bedeutendere Rolle. Dies ist immerhin etwas.
Sein äußeres Leben ist bald erzählt. Er ist am 2. Dezember 1728 in Chieti geboren, am 30. Oktober 1787 in Neapel gestorben. (Goethe, der damals in Rom weilte, hat ihn offenbar nicht gekannt, obgleich die in Venedig erworbene Ausgabe des Vitruv, da sie von Galianis Bruder Bernardo besorgt war, ihm den Namen auffällig machen mußte.) Früh zeigte er Neigung für volkswirtschaftliche Fragen, las in der Akademie der Emuli sogar eine sicher sehr gelehrte Abhandlung über den Zustand des Münzwesens zur Zeit des trojanischen Krieges vor. In einem pompösen Trauergedicht auf den Tod des Scharfrichters Jannacone parodierte er den akademischen Stil ebenso sicher, wie er in seinem Buche Della Moneta den Stil eines reifen Mannes spielend nachahmte. Gefeiert in Florenz, Padua, Venedig, Turin, sich als gelehrter Liebhaber mit Geologie, Archäologie, Münzenkunde beschäftigend, lief er Gefahr, eine jener lokalen, höchstens nationalen Koryphäen zu werden, die man rasch und gründlich vergißt, als er plötzlich im Frühjahr 1759 der neapolitanischen Gesandtschaft in Paris beigegeben wurde. »Er wird es bei Hofe zu nichts bringen«, bemerkte die kühle Madame Necker, »er denkt zu hoch und spricht zu niedrig.« »Ich bin nur das Muster ohne Wert eines Sekretärs, er selbst kommt nach«, so stellte sich der geistreiche, ein wenig bucklige Zwerg vor, als man ihn bei Hof auslachte. Er fühlte sich unglücklich, unelegant, linkisch, ehe er mit den Enzyklopädisten und durch sie mit den Salons bekannt wurde, in deren Kreis er ein glückseliges Dezennium verlebte, bis er 1769 einer unerwarteten diplomatischen Konstellation geopfert und abberufen wurde. Seine Vaterstadt Neapel ward sein Exil. Er wurde nacheinander Sekretär des obersten Handelsgerichts, Vorsitzender der Domänenverwaltung, Advokat des Staatsschatzes, Beisitzer des obersten Finanzrates, hatte Einfluß und Macht eines Ministers, aber nichts konnte ihm Paris ersetzen. Es macht einen rührenden Eindruck, wenn er mit befreundeten ausländischen Diplomaten Paris spielt. Halb scherzhaft, halb ernst schildert er seine Lage: »Mangel an Vergnügungen, an Gesellschaften, an Freunden, an Schülern, an Diners, an Soupers, an Geld, an Gesundheit, an Fröhlichkeit, an angenehmen Geschäften, an Liebe; aber dafür hab ich die Freundschaft des Ministers, den Ärger der Neider, die Gefahr der Verleumdungen, die unabsehbare Schar der langweiligen Menschen, die Prozesse, den Palast, den Hof, auf den Straßen die Dudelsäcke und an den Füßen die Hühneraugen.« Man vergleiche mit dieser komischen Arie eine andere Schilderung, die der Präsident Charles de Brosses in seinen Lettres familières écrites d'Italie gibt (die Briefe, seit 1858 vergriffen, sind vor kurzem neu abgedruckt worden): »Nach meinem Geschmack ist Neapel die einzige italienische Stadt, die wirklich wie seine Hauptstadt aussieht. Der Verkehr, das Hin- und Herwogen der Menge, die erstaunliche Anzahl und das unaufhörliche Gerassel der Kutschen, ein respektabler, sogar ziemlich glänzender Hof; die Eleganz und das großartige Auftreten des Adels, all das trägt bei, der Stadt jenen lebhaften und bewegten Charakter zu geben, den Paris und London haben, und den man in Rom vergebens sucht.« So schrieb De Brosses zwanzig Jahre vor Galianis Abberufung aus Paris; allein De Brosses war Provinzler, der geistreichste Mann von Dijon, und Galiani war Pariser: »Die Pflanzen verändern ihre Natur, wenn sie in andern Boden versetzt werden, und ich war eine Pariser Pflanze.« »Das einzige gute Wort, das mir dieser langweilige Herr Sterne gesagt hat, war dieses: Es ist besser in Paris zu sterben, als in Neapel zu leben.« »Ach, ich bin in Neapel! Das will sagen: im Lande der Langeweile, der Schwerfälligkeit, der Traurigkeit.« Die Briefe, durch die er diesen drei Mächten zu entrinnen trachtete, sind alles andere als langweilig oder schwerfällig, und ihre gelegentliche leise Traurigkeit unterbricht wie ein kurzes dunkles Adagio die geistreiche Heiterkeit, die ihr eigentliches Element ist. Gewiß sind nicht alle lesenswert; mit Herrn Pellerin z. B. unterhält er sich fast nur über die Vermehrung seiner Münzsammlung und die Verminderung seines Augenlichtes. Aber als Ganzes genommen sind sie unvergleichlich. Daß sie ein wenig für ein größeres Publikum geschrieben sind (»Meine Briefe gelten wie die des heiligen Paulus, Ecclesiae quae est Parisiis«), läßt sich nicht bestreiten, aber es lag seit Madame de Sévigné im Charakter des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, seine Korrespondenz an einen ganzen Kreis von Freunden und Bekannten zu richten, wie es im Charakter des neunzehnten lag, mit seinen Tagebüchern vor dem Spiegel und vor der Nachwelt zu posieren. Was diesen Briefen, wie der ganzen Art ihres Verfassers einen besonderen Reiz gibt, empfand schon der Wahlpariser Grimm, Madame d'Epinays Geliebter: »Sein Stil, sein Wesen, seine Weltanschauung, seine Ideen, – nichts erinnert an die Ferneysche Mache.« Um Galianis Unterscheidendes zu erfassen, genügt es, einige der charakteristischen Flachheiten Voltaires im Dictionnaire philosophique zu lesen, z. B. den Artikel Versu. Die Probleme Galianis scheinen untergeordneter Art: die Getreideausfuhr; die Gesundheit seiner Angorakatzen; die billigste Art, seine und Madame d'Epinays Briefe zu befördern; billigen Kattun für seine Hemden, billige Taschentücher, gute Tinte zu bekommen; die Meinung der Pariser über seine Dialoge zu erfahren. Dies alles nimmt in den Briefen einen breiten, für ungeduldige Leser allzubreiten Raum ein. Aber ungeduldige Leser verdienen auch nicht, daß man ihnen hübsche Briefe schreibe. »Notabene, ich habe in Geldsachen immer ein bißchen Eile ... ich möchte mein Geld wieder haben... Ich lege Ihnen ans Herz, mich immer zu lieben und mir mein Geld wieder zu verschaffen: Das ist das Gesetz und die Propheten.« Wer so an eine Dame schreibt, ist kein Poseur, keine schöne Seele. Dabei war er alles andre als geizig. Um die Gründe seines chronischen Geldmangels gefragt, antwortete der Inhaber so vieler Pfründen: »Weil ich alle Laster habe.« Sein Testament begann mit den Worten: »Die meine Art zu leben kannten, werden nicht erstaunt ein, daß ich so wenig Geld und Gut hinterlasse.« Ebenso naiv ist seine Eitelkeit: »Eine Verdienstmedaille, ein Brief, ein bemerkbares Lob, das man veröffentlichen kann, würde mir genügen«: wie wohlriechend ist diese Eitelkeit, verglichen mit der des moralischen Pfauen Rousseau! »Die Medaille trifft nicht ein«: Dieser Schmerzensschrei ist ehrlich! Und welch naives Entzücken, zu vernehmen, »daß die beiden größten Wesen der Welt zu Mohiloff von einem kleinen Einwohner Neapels gesprochen haben, den alle zwei niemals gesehen haben« (Katharina II. traf in Mohilow mit Joseph II. zusammen): erst in Nietzsches Briefen vom April 1888 an, nachdem er von den Vorlesungen Brandes' erfahren hat, vernimmt man wieder diese naive Freude am Ruhm, die für den Menschen der Renaissance natürlich war, und die der moderne Mensch vor sich und anderen vergebens zu verhehlen sucht.
Seine Hauptsorge in Neapel war, seinen drei Nichten Männer zu verschaffen, und es ist ergötzlich, ihn seufzen zu hören: »Meine Nichten, meine gottverfluchten Nichten fesseln mich an diesen grausamen Pfahl«. »Ich habe just zwei von meinen drei Nichten verheiratet. Die Dritte, die bucklig ist, wird viel schwieriger zu verkaufen sein. Wenn ich es so machen würde, wie Ihr Kattunhändler, könnt' ich sie gegen die zweite vertauschen, die ich eben verheiratet habe und die hübsch ist ... Warten Sie nur, bis ich das Weibzeug aus meinem Haus hinausgefegt habe!« »Ich muß mit meiner unverheirateten Nichte und ihrer Mutter ins Theater gehen: ist das nicht sehr unterhaltend? Eine andere ist gestern mit einem Mädchen niedergekommen. Welche wahrhaftige Freude ist doch die Geburt einer Menge von künftigen Dummköpfen beiderlei Geschlechts, die ich ebenfalls werde verheiraten müssen. Ah, welche Wonne im Schoß der Familie!« »Ich bin im Begriff, die dritte zu expedieren, nachdem ich die Witwe meines Bruders wieder verheiratet habe. Wenn das so fortgeht, wird man klatschen, wenn ich im Theater in meiner Loge erscheine.« Dieser Mann posiert wirklich nicht; er prahlt weder mit den Tugenden, die er nicht besitzt, noch mit Lastern, die ihn besitzen, wie der eitle Verfasser der Confessions. Er war bewußter Egoist, wenngleich er verschmähte, sich wie Stendhal als solchen zu formulieren und vorzustellen. »Man hat für das Leben eines anderen nur so viel Anhänglichkeit, wie man für sein eigenes hat«: damit hätte er Voltaires Artikel Vertu in Bausch und Bogen abgelehnt. »Ich liebe die Monarchie, weil ich mich der Regierung näher fühle als dem Pflug. Ich habe fünfzehntausend Livres Einkünfte, die ich verlieren würde, um Bauern zu bereichern. Mach es ein jeder wie ich, und spreche er so wie es seine Interessen erfordern, so wird man sich auf der Welt nicht mehr streiten. Der Sprachwirrwar und der Lärm kommen daher, daß ein jeder für die Sache der andern redet und niemals für seine eigene. Abbé Morellet deklamiert gegen die Priester, Helvetius gegen die Finanzleute, Boudeau gegen die Faulenzer, und alle reden zum Besten des Nächsten. Die Pest hole den Nächsten! Es gibt keinen Nächsten. Sagt, was ihr braucht, oder schweigt!«
Kommen wir ihm allmählich näher, diesem Zyniker und Tatsachenmenschen? entdecken wir den Ernst hinter diesen Scherzen, den Philosophen hinter dem Briefschreiber, den Macchiavell hinter dem Harlekin? »In politischen Dingen erkenne ich nur den reinen, unverfälschten, rohen, grünen Macchiavellismus an. Abbé Raynal wundert sich, daß wir den Negerhandel in Afrika betreiben; warum wundert er sich nicht auch, daß man Maultiere von Guyenne nach Spanien verhandelt? Gibt es etwas Scheußlicheres, als Tiere zu kastrieren, Pferden den Schwanz zu stutzen usw.? Das Kalbfleisch von Pontoise wird zu Aas; also essen Sie es doch nicht! Der Tanz führt zur Müdigkeit; also tanzen Sie nicht! Liebe macht melancholisch; also lieben Sie nicht! Der einzige gute Handel besteht darin, daß man Stockhiebe austeilt und dafür Rupien erhält. Es ist der Handel des Stärkeren. Da haben Sie mein Buch! guten Abend!« Man liest zwischen den Zeilen der Übertreibung die Abneigung gegen alles, was Vertu heißt, man hört den harten Ton des Realpolitikers: das ist nicht achtzehntes Jahrhundert, das könnte Napoleon ebenso gesagt haben! Hier zeigt sich der Abkömmling eines andern Klimas und einer andern Rasse. In natürlichen Dingen vollends ist dieser Südländer von einer Natürlichkeit, die uns unmöglich scheint, besonders wenn man sich vorhält, daß er an eine Dame schreibt: »Um Sie als Prinzenerzieherin hierher berufen zu können, müßte man zuerst unsere Königin schwanger machen. Ich arbeite daran durch die Gebete, die ich zum Himmel sende, und durch meine aufrichtigsten Wünsche. Wäre unsere Königin die Frau eines Privatmannes, so würde ich trachten noch wirksamer daran mitzuarbeiten.« »Dieser Strohsessel ist Grimms Tod! Wenn man den ganzen Tag ein großes Viereck am Hintern hat, wie kann man sich dann einbilden, durch so ein Ding hindurch sich ordentlich auszuleeren? Um Gottes willen, ordnen Sie an, daß ihm überall freie Öffnung gemacht wird, daß man ihn sogar wie ein Kind mit offenem Höschen auf der Straße herumlaufen läßt. Er kann ja sagen, es sei das Zeremonienkleid der deutschen Barone, die keine Baronie haben, und deren Lehenseinkünfte von den Gütern des heiligen römischen Reiches nicht genügen, um Hosenböden zu bezahlen.« »Ist es nicht unwürdig, daß man einen Papst (Clemens XIV.) mit Rattengift umbringt? Daß man einen Pontifex Maximus vergiftet, ist ganz einfach, ganz natürlich, und ich habe nichts dagegen einzuwenden. Aber es gibt Gifte für alle Stände, und Pater Ricci, der Jesuitengeneral, der eine Apotheke und eine vollständige Serie davon besaß, hätte schon etwas Kostbareres wählen können. Rattengift wäre höchstens für einen Kapuzinerguardian gut genug gewesen. Es einem Papst zu geben! solch eine Knickerigkeit!« »Da das Rockaufheben Mode geworden ist, so ist es an der Zeit, die Strumpfbänder zu verbessern. Ich möchte solche mit mehrfach durchlöcherten Silberschnallen, um sie weiter oder enger machen zu können; denn unsere Schenkel sind verteufelt dick.« »Die Verse Marmontels sind köstlich; schade, daß er sie auf seine eigene Frau gedichtet hat. Man muß hoffen, daß er davon abkommen wird. Unbeständigkeit ist ein physisches Gesetz bei allen Tierarten. Ohne sie keine Fruchtbarkeit, keine Mannigfaltigkeit, keine Vervollkommnung.« Der Stammgast der Straßen Fromentin, Saint-Honorée, Champfleury, Tiquetonne und der Place Butty spricht hier durchaus nicht im Scherze. (Wenn er übrigens auf Liebesabenteuer ausging, verkleidete sich der Abbé als Diplomat, während er im gewöhnlichen Leben ein Diplomat war, der sich als Abbé maskiert hatte.)
Hier ist vielleicht der geeignetste Moment, uns von unserem Erstaunen über diesen Abbé zu erholen, der scheinbar zu den Salonabbés gehört, während er tatsächlich über alle Salons und Abbés erhaben ist. Man lese in Taines klassischem Werk über das Ancien Régime das Kapitel, das von der Entchristlichung der Geistlichen handelt, und man wird manches begreifen. Der Abbé des achtzehnten Jahrhunderts ist undenkbar ohne den Salon; er ist der feinste Domestik des Salons, sein unentbehrlichstes Möbel. Der Salon ist seine Luft, in der allein er atmen, das heißt frivole Witze machen kann. Er lebt im Salon, er lebt vom Salon, er stirbt mit dem Salon. Er ist unterwürfig wie ein Lakai, diskret wie eine Zofe, indiskret wie ein Barbier. Sein antiker Vorfahr ist der römische Klient: Schmeichler, Neuigkeitskrämer, Schmarotzer. Noch herrscht im Salon die Kunst des Plauderns, des feinen, leichten, raschen Dialogs, in der die Franzosen Meister sind. Ein Bonmot macht die Runde von Salon zu Salon; der bittere Chamfort notiert es und macht es unsterblich. Das Bonmot entschädigt für den Verfall der Institution, den es geißelt. Die Chanson macht den Unfug vergessen, gegen den sie sich richtet. Man applaudiert der Hochzeit des Figaro, ahnungslos, daß das Rasiermesser dieses revolutionären Barbiers mit märchenhafter und unheimlicher Raschheit sich zum Messer der Guillotine auswachsen wird. Man lebt in den Tag mit vollkommener Gedankenlosigkeit: denn die Zeit der vollendeten Fäulnis, die ihr Ende wittert, ist noch nicht da. Das zierlichste Chinesentum, das die Welt je gesehen, lebt sich zu Ende. Noch ist der Geschmack rein, wenn auch raffiniert, die Kunst unbeeinflußt, wenn auch der feinste Maler kein Franzose und von den beiden Rivalen der Oper der eine Italiener, der andere Oberpfälzer ist: der nationale Geschmack ist noch stark genug, sich alles Fremde zu assimilieren. Die Melancholie des Abends und Abschieds ruht für uns Spätgeborene auf dieser übermütig heitern Zeit, das schwermütige erblassende Rot des letzten Herbsttages: der letzte Baustil, der letzte Stil überhaupt in Sprache, Kunst, Mode: was nachher kommt, ist Kopie oder Durcheinander oder Barbarei. Nichts ist wichtiger, nichts notwendiger für diese Zeit, als das Überflüssige. Man ist höflich, verbindlich, liebenswürdig selbst beim Duell. Man ist ernst mit Anmut, debattiert mit Geist, philosophiert mit Witz. Da ist der Salon Holbachs, in dem Diderot, Rousseau, Helvetius, Marmontel aus- und eingehen, dessen Besuch Hume, Garrick, Sterne, Franklin nicht unterlassen. »Roux und Darcet entwickeln ihre Erdtheorie, Marmontel die Prinzipien seiner Elemente der Literatur, Raynal berechnet auf Heller und Pfennig den Umsatz des spanischen und englischen Kolonialhandels, Diderot improvisiert über Moral, Kunst, Metaphysik, Galiani bietet den Salonatheisten Trotz, schlägt ihre Lobeserhebungen mit seinen Wortspielen, wirft seine Perrücke in die Luft, reitet auf seinem Sessel und beweist mit burlesken Gleichnissen und Kalauern, daß die Enzyklopädisten nicht um ein Haar besser sind als die Theologen.« (Memoiren des Abbé Morellet und Taine a. a. O.) Dieselbe Gesellschaft trifft sich Sonntags bei Grimms Dîner de garçon, Freitags bei Madame Necker, ganz zwanglos bei Grimms Freundin und Galianis nachmaliger Hauptkorrespondentin Madame d'Epinay, Montags und Mittwochs bei der klugen Bourgeoise Madame Geoffrin, jeden Dienstag bei Helvetius und wieder ganz zwanglos bei der Freundin d'Alemberts, Julie de Lespinasse. Wir können uns kaum mehr einen Begriff machen von der seligen Heiterkeit dieser Kreise. Erst wenn wir uns in irgend eines der klassischen Dokumente der Zeit langsam und geduldig einlesen, – in die Briefe der Lespinasse, die Memoiren der Madame d'Epinay, die Briefe Galianis – dann steigt es von den vergilbten Blättern auf wie leichter zarter Nebel, eine erlesene Gesellschaft wird wie durch dünne Schleier sichtbar, bewegt sich vor unsern Augen, plaudert, lächelt, liebelt, spiegelt sich in den zahlreichen geschliffenen Spiegeln der Zimmer, gleitet zierlich über das glänzende Parkett, und von den hellen, weißen Wänden spotten aus goldenem Arabeskenwerk oder zwischen geschweiften Gittern dralle Liebesgötter in den verwegensten Stellungen, Faune und Satyre grinsen verständnisvoll aus halbrunden Nischen, die ganze Existenz duftet wie ein Parfüm, girrt wie die Kantilene einer Viola d'Amour, ist flüchtig und welk wie Rosenblätter, die ein zärtlicher Wind vom schlanken Stamme weht, wundersam leicht, beschwingt, aufgelöst in Anmut, alles ist Dekoration geworden, Dekoration der Mensch, das Leben selbst. So schwer es für uns auch ist, bei Betrachtung dieser Zeit je der kommenden Revolution zu vergessen, von der aus gesehen ihre Leichtlebigkeit und Heiterkeit erst die fahle und scharfe Beleuchtung empfängt, so notwendig ist es, uns stets vorzuhalten, daß die Pariser Gesellschaft vor dem Regierungsantritt Ludwigs XVI. sich durchaus nicht als ein Ende empfand, eher als einen neuen Anfang einer Epoche der Vernunft, Duldung, Beglückung. Einer der Wenigen, die in dem reizenden Wirrwarr von Philosophie und Anthitheologie ganz klar sehen und ganz kühlen Kopf behalten, scheint Galiani. Es ist bezeichnend, daß er, trotzdem er Gesandtschaftssekretär war, den Hof vermied und die Salons suchte. Aber er wahrte sich auch im Salon die Überlegenheit des gescheiten Kopfes, der zuviel weiß, um all diesen Geist und Witz ernst zu nehmen. Er, der später in Neapel sich so sehr als Pariser fühlte, empfindet diesen Franzosen gegenüber durchaus als Italiener: »Sie sind ihrem Wesen nach Plauderer, Klugsprecher, Spaßmacher. Ein schlechtes Bild ruft eine gute Broschüre hervor, das ist bezeichnend. Ihr Franzosen werdet stets besser über die Kunst sprechen, als sie ausüben.« »Ein Franzose, und sei er noch so klug, kann sich niemals einen Begriff von einem Lande machen, das anders ist als Frankreich.« »In Paris ist der Begriff der Natur beim weiblichen Geschlecht völlig verwischt.« »Wenn auch der französische gute Geschmack von anderen Nationen angenommen werden kann, den guten Ton werden sie sich nie zu eigen machen; das ist eine echt pariserische Krankheit, wie den Polen der Weichselzopf eigentümlich ist.«
Er bewahrt diesen philosophisch und politisch aufgeregten Ideologen gegenüber einen Konservatismus, der erstaunlich ist: »Die Veränderung einer Verfassung ist eine sehr schöne Sache, wenn sie gemacht ist, aber eine sehr häßliche, wenn sie erst noch gemacht werden soll. Sie macht zwei oder drei Generationen ganz gewaltigen Verdruß und verschafft nur der Nachwelt Annehmlichkeit. Unsere Nachkommen aber sind nur mögliche Wesen, und wir sind wirkliche.« »Ich leide unter Frankreichs Unglück«, schreibt er achtzehn Jahre vor Ausbruch der Revolution, »es ist zu alt, um einem derartigen Stoß widerstehen zu können, seine Heiterkeit wird auf ewig dahin sein.« Er durchschaut den Grundfehler der Franzosen als Politiker: ihren Radikalismus im Zerstören: »Sie selbst, Madame, die Sie im Begriff sind, ein Haus zu kaufen, würden den Architekten, der die Löcher verstopft und leichte Umbauten vornimmt, viel höher schätzen als den berühmten Perrault, der es Ihnen niederreißen würde, um es nach einem prächtigen Plane wieder neu aufzubauen. Denn Sie wollen eine Wohnung haben. Sie fühlen, daß das Leben kurz ist.« Der heitere Menschenverächter findet auch die Formel für den besten Typus Staatsmann: »Ich glaube, nachdem ich lange darüber nachgedacht habe, daß der flachköpfigste Mensch der größte Mann unseres Zeitalters wäre, da er alle Übel bestehen ließe, was notwendig ist, indem er sich in einemfort den Anschein gäbe, als wolle er sie heilen, was ebenfalls notwendig ist.« Im Gegensatze zu eitlen Politikern des augenblicklichen Effektes war er weitschauend: »Ein Gewitter bricht los und entwurzelt die Weinstöcke im Nu; man macht einen politischen Fehler in bezug auf den Weinhandel, und man muß zwei oder drei Generationen abwarten, um zu sehen, daß dieser politische Fehler mehr Weingärten entwurzelt hat, als alle Gewitter zusammen.« Paris schwelgte in tönenden Allgemeinheiten und Schlagwörtern, Galiani aber verglich sarkastisch den von der Hand in den Mund lebenden Landwirt, der Zwiebeln und Salatköpfe anbaut, mit dem weiter blickenden, der Eichen- und Kastanienbäume pflegt, die er nicht gepflanzt hat und deren Ende er nicht mehr erleben wird: »Weisen Sie weit von sich und von der Politik die sinnlosen großen Worte! Wir und unsere Kinder – das ist alles. Der Rest ist Träumerei.« Es ist unheimlich, was dieser Realpolitiker alles vorausgesehen und in seinen Briefen vorausgesagt hat: die französischen Hungersnöte nach 1770, den Widerruf des Edikts über die Getreideausfuhr, die Wiederherstellung des Jesuitenordens, das Scheitern der Reformpläne Ludwigs XVI., den baldigen Sturz Turgots, den Erfolg des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, um nur das Wichtigste zu nennen; dabei saß er unten in Neapel und empfing von seinen Freunden nur subjektiv gefärbte Berichte: »Wer nicht die Imponderabilien in Anschlag zu bringen weiß, taugt nicht zum Regieren«, sagt er einmal.
Ein Werk, das ihn längere Zeit in Gedanken beschäftigte, war eine Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Auch hierin erwies er sich als der geniale Seher, der sich nur in Einzelheiten täuschte: »Wir werden in hundert Jahren viel mehr Ähnlichkeit mit China haben als jetzt. Es wird zwei scharf voneinander unterschiedene Religionen geben: die Religion der Vornehmen und wissenschaftlich Gebildeten, und die Religion des Volkes. Priester und Mönche werden zahlreicher sein als jetzt; sie werden leidlich reich, unbeachtet und ruhig sein. Der Papst wird nur noch ein erlauchter Bischof sein, aber kein Fürst mehr; man wird ihm nach und nach seinen ganzen Staat weggeschnappt haben. Es wird große stehende Heere geben und fast gar keine Kriege. Die Truppen werden wundervolle Parademanöver machen, aber Offiziere und Soldaten werden weder grausam noch tapfer sein. Sie werden schöne Tressen haben, sonst nichts. Überall wird Despotismus herrschen, aber ein Despotismus ohne Grausamkeit, ohne Blutvergießen. Ein Beamtendespotismus, der sich auf die Auslegung alter Gesetze, auf Juristenweisheit und Advokatenkniffe stützt. Und dieser Despotismus wird nur die Finanzen der Privatleute im Auge haben. Glücklich alsdann die Robenträger, die unsere Mandarinen sein werden. Sie werden alles sein, denn die Soldaten werden nur zu Paradezwecken da sein. Die Gewerbe werden überall blühen. Die Modewissenschaften jener Zeit werden Physik, Chemie und Alchemie sein, vermischt mit viel Geometrie. Aus der Verbindung wahrer Wissenschaften wird man eine Afterwissenschaft ableiten, die nur aus hohlen Worten besteht, oder aus Gemeinplätzen, die durch große Worte dunkel gemacht worden sind. Was die Rechtswissenschaft anbelangt, so werden alle Nationen Europas ihr besonderes Gesetzbuch haben, und das römische Recht wird abgeschafft sein. Indessen wird man über den Geist der Gesetze so gründlich disputieren, daß man die Gerichtspraxis aus den wunderbarsten Quellen ableiten wird. Es wird viele Soldaten und wenig Tapferkeit geben; viel Fleiß und wenig Genie; viel Volk und wenig Glückliche. Die Republiken werden in Europa verschwinden, sie können mit den Monarchien nicht Schritt halten, bleiben zurück und werden verschlungen. Das beweist Ihnen das Beispiel Polens; das gleiche Unglück werden in spätestens hundert Jahren die italienischen Republiken haben.« Man bedenke, daß die meisten dieser Prophezeiungen den sowohl prahlerisch eingestandenen wie den vorsichtig verhehlten Tendenzen der Zeit schroff zuwiderliefen, und man wird einen Begriff von dem unzeitgemäßen Politiker Galiani haben.
Wie denkt dieser schärfe, alles durchschauende Geist über die Möglichkeit der Vervollkommnung durch die Erziehung? Es ist wie eine spielende Vorwegnahme Taines, was er über Individuum und Milieu äußert: »Der Mensch wird stets so sein, wie er von jeher gewesen ist. Man muß die Natur einer Masse von Menschen von der Natur eines Individuums unterscheiden. Die Natur einer Menschenmasse nenne ich das Ergebnis alles dessen, was das Wesen des durch Örtlichkeit, Klima usw. beeinflußten Nationalcharakters ausmacht.« »Ein Mensch, der in Konstantinopel auf die Welt kommt, wird als Türke erzogen; in Rom als römisch-katholischer Christ; in Paris als Schöngeist, als ökonomisch-anglomaner Krautjunker; in London als Goddam-Kolonist usw. Alles, was uns umgibt, wirkt erzieherisch auf uns ein, und der Erzieher ist etwas unendlich Kleines, das die guten Rechner außer acht lassen.« Er nimmt, ebenso spielend, Gobineau vorweg: »Die Vervollkommnungsfähigkeit ist nicht eine Gabe des ganzen Menschengeschlechtes, sondern der einzigen weißen und bärtigen Rasse. Die Rasse ist alles.«
Er definiert einmal den Menschen als das einzige religiöse Tier, ein andermal als »das Geschöpf, das sich für frei hält: Die Überzeugung, daß wir frei sind, genügt, um Gewissen, Reue, Rechtspflege, Belohnungen und Strafen zu schaffen.« Ob man von seiner Freiheit überzeugt oder ob man wirklich frei ist, hat dieselben moralischen Wirkungen und ist genau soviel wert, wie die Freiheit selbst. Man vergleiche hier etwa Voltaires Artikel Liberté, um zu sehen, daß Galianis Probleme da erst eigentlich anfangen, wo der Horizont Voltaires endet. Galiani geht noch weiter: »Alles, was uns vom Tier unterscheidet, ist einzig und allein eine Wirkung der Religion: politische Gesellschaft, Regierung, Luxus, Ungleichheit der Stände, Wissenschaften, abstrakte Ideen, Philosophie, Mathematik, schöne Künste – mit einem Wort: Alles.« Man vergleiche wieder Voltaires Artikel Religion, eine Sammlung gesuchter Parallelen aus allen Völkern und schlecht versteckter Hiebe auf das Christentum: solch tiefer Einsichten, die Galiani bei passender oder unpassender Gelegenheit aus dem Ärmel schüttelt, war Voltaire gänzlich unfähig. Galiani geht immer vom Menschen, nie von der Institution aus; er verlegt die Frage sofort ins Innere; seine Fragestellung ist von vornherein tiefer. Wie erheiternd oberflächlich mag dem einsamen Epikureer der ganze Voltaire vorgekommen sein, wenn er auch zu klug war, den Götzen des Jahrhunderts jemals direkt anzugreifen. Daß er hingegen Rousseau nicht ertragen kann, das bemüht er sich nicht im geringsten zu verheimlichen. »Waren Sie jemals so rasend, an Rousseau und seinen Emil zu glauben? Zu glauben, daß Erziehung, Grundsätze, Reden irgend etwas zur inneren Einrichtung eines Kopfes beitragen? Wenn Sie daran glauben, – bitte, nehmen Sie einmal einen Wolf her und machen Sie einen Hund daraus, wenn Sie können!« In einem andern Briefe spottet er über die Manie der Franzosen, aus ihren Kindern durchaus »Etwas« machen zu wollen. Rousseau will die Menschen zur Natur zurückführen. Galiani ist zu sehr Tatsachenmensch, um die Antithese eines gefühlvollen Schwärmers ernst zu nehmen: »Es gibt auf der Welt mehr Natur, und es findet weniger Verletzung der Natur statt, als Sie glauben: man ist, was man sein muß.« Wie manche andere, tut er auch diese Frage mit einem zynischen Scherz ab: »Wir werden niemals große Männer haben, wenn wir nicht große Ammen haben. Arbeiten wir also mit aller Macht an den Ammen; ich werde mich nach besten Kräften bemühen.« Einmal erwähnt er einen Traktat über Erziehung, den er fertig habe. (Der Traktat war natürlich nur in seinem Kopfe fertig; ihn auszuführen, hatte der bequeme Genußmensch keinen zwingenden Grund, wie überhaupt alle Werke Galianis nur zufällige Äußerungen einer reichen Natur sind.) Was will alle Erziehung? fragt er. Antwort: zweierlei ertragen lehren, Ungerechtigkeit und Langeweile. Was tut ein Pferd in der Reitschule? Es lernt Schritt, Paß, Trab, Galopp nicht mehr gehen, wenn es will, sondern wenn der Reiter will; nicht mehr so lange es will, sondern solang er will. Ehrlicher ausgedrückt: Ungerechtigkeit und Langeweile. Was lernt das Kind in der Schule? Sich langweilen. Lateinisch, Griechisch, Französisch sind nur hervorragend geeignete Mittel zur Langeweile. Das an Langeweile und Ungerechtigkeit gewöhnte Kind ist dressiert, für die Gesellschaft tauglich. Es achtet Beamte, Minister, Könige, es beklagt sich nicht über sie. »Erziehung ist Beschneidung der natürlichen Talente, um an ihre Stelle die sozialen Pflichten zu setzen.« Der Satz ist so paradox, daß er von Bernhard Shaw sein könnte. Wenn die Erziehung ihre Pflicht versäumt, die Talente nicht verstümmelt, nicht beschneidet, ist das Resultat ein unmöglicher, ungezogener, lästiger Bohémien: ein Dichter, Maler, Haudegen, Harlekin: ein Original. Gerade das aber vermeidet die Erziehung instinktiv: das Original. Weg mit dem Original! Originale sind unbequem. Daher sind sie unnütz, schädlich. Das Ceterum censeo jeder Erziehung ist originalia esse delenda.
Auch hier, wie so oft bei Galiani, sind Ernst und Satire längst nicht mehr zu scheiden. Ohne Zweifel entspricht die von ihm vorgetragene Theorie der höfischen Tradition des Jahrhunderts, die er gegen Rousseau in Schutz nimmt. Ebenso ist manches trotz der paradoxen Einkleidung unbedingt richtig. »Der Despotismus in den Klöstern ist eine Folge der Härte des Noviziats.« Ein solcher Satz verrät den geborenen Psychologen. »Alle öffentliche Erziehung tendiert zur Demokratie, alle Privaterziehung zum Despotismus.« Der Satz ist so treffend, daß man ihn auch auf den Kopf stellen kann: Im Wesen der Demokratie liegt es, die Erziehung so öffentlich wie möglich zu machen, wie es im Wesen des Despotismus liegt, die Öffentlichkeit aus der Schule möglichst zu entfernen. Galiani führt seinen Gedanken bis zur letzten Konsequenz: »Alle angenehmen Methoden, um Kindern die Wissenschaften beizubringen, sind falsch und albern. Denn es handelt sich nicht darum, Geographie oder Geometrie zu lernen, sondern es an Arbeit, d. h. an Langeweile zu gewöhnen, seine Gedanken auf einen einzigen Gegenstand zu richten.« Wie wird daher ein gutes Buch über Erziehung aussehen? Es wird in allem genau das Gegenteil des Emile sein.In der Doktorpromotion der Götzendämmerung ist Nietzsche deutlich von Galiani beeinflußt: »Was ist die Aufgabe alles höheren Schulwesens?« – Aus dem Menschen eine Maschine zu machen. – »Was ist das Mittel dazu?« – Er muß lernen sich langweilen. – »Wie erreicht man das?« – Durch den Begriff der Pflicht. – »Wer ist sein Vorbild dafür?« – Der Philolog: der lehrt ochsen. – »Wer ist der vollkommene Mensch?« – Der Staatsbeamte.
Der Denker Galiani ist das vollkommene Widerspiel von Voltaire. Voltaire schreibt für das Dictionnaire philosopbique seinen Artikel Bêtes. Natürlich geht er vom Menschen aus. Natürlich ist hiermit der ganze Artikel eine amüsante Stilübung, sonst nichts. Umgekehrt Galiani: »Ich studiere in einem fort die Tiere. So sehr habe ich die Menschen satt.« Aus der Ähnlichkeit zwischen Mensch und Hund wollte er das Friedens- und Kriegsrecht, aus der Ähnlichkeit zwischen Mensch und Rind die Grundzüge des Familienrechtes entwickeln. Dabei ist ihm durchaus nicht scherzhaft zumute. Es ist ein fesselndes Bild, sich den einsamen Menschenverächter mit seinen Katzen vorzustellen. Denn die Katzen liebt er besonders; er liebt sie sogar mehr als er seine Nichten liebt. Zur Entschuldigung könnte er allerdings anführen, daß er seine Katzen nicht zu verheiraten braucht: sie besorgen das selbst. Man kann bei seinen Aussprüchen über die Katzen immer auf den Menschen exemplifizieren: »Meine Untersuchungen über die Gewohnheiten der Katzen haben in mir den starken Verdacht erweckt, daß sie vervollkommnungsfähig sind, aber erst im Verlaufe einer langen Reihe von Jahrhunderten. Ich glaube, alles was die Katzen können, ist das Werk von vierzig- oder fünfzigtausend Jahren. Eine Naturgeschichte gibt es erst seit einigen Jahrhunderten«. Er wollte ein Buch über die Katzen schreiben. Es blieb natürlich ungeschrieben. Nur den Titel und die allgemeinen Umrisse teilt er Madame d'Epinay mit: »Es wird heißen: Moralische und politische Belehrungen einer Katze an ihre Jungen. Aus dem Kätzischen ins Französische übersetzt von Herrn von Kratzerich, Dolmetscher der Katzensprache an der königlichen Bibliothek. Zunächst lehrt die Katze ihre Jungen die Furcht vor dem Menschgotte. Hierauf erklärt sie ihnen die Theologie und die beiden Grundprinzipien: den guten Menschgott und die bösen Hundsteufel. Sodann belehrt sie sie über die Moral: Bekämpfung der Ratten und Spatzen. Endlich erzählt sie ihnen vom Katzenjenseits und vom himmlischen Ratzusalem. In dieser Stadt bestehen die Mauern aus Parmesankäse, die Fußböden aus Kalbslunge, die Säulen aus Aalen usw. Sie flößt ihnen Ehrfurcht ein vor den kastrierten Katzen. Dies sind prädestinierte Katzen, vom Menschgott zu ihrem Stande berufen, um in dieser oder jener Welt glückselig zu sein, was man daraus erkennt, daß sie so fett sind; darum brauchen sie auch keine Mäuse zu fangen. Endlich empfiehlt sie ihnen, sich vollkommen in ihr Schicksal zu ergeben für den Fall, daß der Menschgott sie in diesen Stand der Vollkommenheit berufen sollte.«
Es vergehen über hundert Jahre, bis wieder eine ähnliche, zugleich sanfte und tiefe Parodie geschrieben wird. Herrn Bergerats Hund philosophiert: »Menschen, Tiere und Steine wachsen, wenn sie sich mir nähern, und werden ungeheuer groß, wenn sie mir nah am Leibe sind. Ich bleibe immer gleich groß, wo ich auch sei. Mein Herr hält mich warm, wenn ich hinter ihm in seinem Lehnstuhl liege. Das kommt daher, daß er ein Gott ist. Die Fliesen vor dem Kamin sind auch warm. Die Fliese sind göttlich. Ich rede, wann ich will. Auch vom Munde meines Herrn gehen Laute aus, die eine Art Sinn haben. Aber ihr Sinn ist nicht so deutlich wie der, den ich mit meiner Stimme ausdrücke. In meinem Munde hat alles Sinn. Eine Tat, für die man Prügel erhält, ist schlecht. Eine Tat, für die man gestreichelt wird, ist gut. Hundegeruch ist ein entzückender Duft.« Herrn Bergerats Hund ist philosophischer, seine Erkenntnistheorie stärker, seine Metaphysik schwächer als diejenige der Katze Galianis. Aber dafür liegt auch ein Jahrhundert philosophischer Spekulation zwischen dem Abbé und Anatole France.
Überrascht es nach all dem, Galiani als einen der gründlichsten Skeptiker kennenzulernen? Un sceptique qui ne croit rien en rien sur rien de rien? Dessen letzte Weisheit lautet: x = Null? Er erkannte die Gefahr jeglichen Systems: breit und imposant auf einer Bêtise zu ruhen. »Alles was ist, ist in uns selbst mit Bezug auf uns.« (Vgl. Goethe: »Wir wissen von keiner Welt, als im Bezug auf den Menschen.«) »Immer durchscheinend, glaubt der Mensch etwas an und für sich zu sein, und ist doch nur ein Transparent.« »Die Welt ist ein Drahtspieß: wir glauben ihn zu drehen, und er dreht uns.« »Tatsachen sind immer erhaben.« Er verschmäht es zu überzeugen: »Fanatiker taugen nie etwas, man darf nicht seine Zeit damit verlieren, sie zu bekämpfen oder sie überzeugen zu wollen.« Welches sind die Fehler aller kleinen Sekten? »Kauderwelscher Jargon, System, Freude an Verfolgungen, Haß gegen die Andersdenkenden, Gekläff, Bösartigkeit, Kleinlichkeit des Geistes.« (Dies scheint mir, nebenbei gesagt, eine Parodie auf eine paulinische Stelle zu sein: Galater 5, 22.) Enthusiasmus ist nur eine euphemistische Ausdrucksweise für Fanatismus. Alles ist kompliziert. Die Ursachen sind verschieden, in ihrer Zusammensetzung verwickelt. Man sollte niemals aus Ursachen folgern: denn es kommt nur die Klugschwätzerei heraus: post hoc, ergo propter hoc; vollends »den Durchschnitt des Guten oder Bösen zu berechnen, geht über Menschenverständnis hinaus«. Unendlich, unermeßlich – »das sind bloß leere Worte für Dummköpfe. Viel Ruhe, viel Arithmetik: so muß man denken!« Schließlich ist alles so gleichgültig: »Alles in allem genommen, kommt es gar nicht darauf an, ob auf dieser Welt der eine recht bekommt oder der andere. Die Hauptsache ist, eine Entscheidung zu fällen. Denn schließlich muß man doch zum Mittagessen gehen, Richter sowohl wie Parteien.« Auf dem Konzil von Trient »berieten die Theologen, und die Väter, das heißt die Bischöfe, die von Theologie kein Wort verstanden, entschieden«. So ist es immer: »Die Dummköpfe machen den Text und die gescheiten Leute den Kommentar dazu.« »Der Mensch hat fünf Sinne, die eigens dazu da sind, ihm Lust und Schmerz anzuzeigen. Er hat keinen einzigen, der ihm zeigte, was an einer Sache wahr, was falsch ist. Er ist also nicht geschaffen, die Wahrheit zu erkennen oder durch Lügen getäuscht zu werden. Das ist gleichgültig. Er ist gemacht, um zu genießen oder zu leiden. Also genießen wir, und, wenn möglich, leiden wir nicht!«
Will man die Kosmogonie dieses pessimistischen Skeptikers? »Ihr Tölpel! Wißt ihr denn nicht, daß Gott diese Welt aus dem Nichts geschaffen hat? Also haben wir Gott zum Vater und das Nichts zur Mutter. Gewiß ist unser Vater etwas sehr Bedeutendes; aber unsere Mutter taugt ganz und gar nichts. Man schlägt dem Vater nach, aber man schlägt auch der Mutter nach.« Die Unvollkommenheit dieser besten aller unmöglichen Welten ist »der überzeugendste Beweis, daß sie geschaffen und einem vollkommenen Wesen untergeordnet ist. Gott war mit seiner Existenz unendlich zufrieden, aber das Nichts mußte in seiner Nichtigkeit sich unendlich langweilen. Infolge der dringenden und flehentlichen Bitten des Nichts ist die Welt geschaffen worden; das ist gar nicht sonderbar, denn es gibt auf der Welt viel mehr Mütter, die Kinder haben wollen, als Väter, die Kinder zeugen wollen. Die tödliche Langeweile unserer Mutter ist also die Ursache unserer Existenz. Sie langweilte sich, daß sie Nichts war, und darum langweilen wir uns alle in diesem Jammertale. Die Langeweile ist ein Muttermal, das wir im Schoß unserer Frau Mama erhielten, die an diesem Übel litt, als sie mit uns schwanger ging. Unser Vater kann gar nichts dafür; denn Gott langweilt sich bekanntlich niemals«.
Wie denkt dieser Abbé über die Abbés? »Man hat sehr unrecht, sie abschaffen zu wollen, und man wird in der Gesellschaft die Unbequemlichkeit spüren, wenn man einmal diese Zufluchtstätten für Faulenzer, Dummköpfe, Tölpel und Querköpfe aufhebt.«
Wie denkt er über die Jesuiten? »Jeder einzelne Jesuit war liebenswürdig, gut erzogen, nützlich; die ganze Gesellschaft, die doch nur die Summe der Einzelindividuen darstellte, war hassenswert, sittlich verdorben, schädlich.« Wie verhält sich der Abbé zum Papste? »Man hat soeben wieder einen Rezzonico zum Papst gewählt. Früher war der Papst der Kalif Europas, und alle Sultane der verschiedenen Provinzen interessierten sich für seine Wahl. Heut ist er nur der Beherrscher Roms, und die großen römischen Familien allein wählen ihn. Die Albani, Corsini, Borghese, Colonna tun sich zusammen und wählen zu ihrer größeren Bequemlichkeit einen Lakaien ihrer Häuser, der seine Rolle spielt. Caligula ernannte sein Pferd zum Konsul.« Wie ist seine Vorstellung von Rom? »Männer in Weiber verwandelt, Arme so feist wie Kanonikusse, Geistliche ohne Religion, eine Wüste im Süden, ein Palast im Norden.« Aber so wenig er die Abbés abschaffen will, ebenso sehr tritt er für die Feste ein: »Voltaires Eifern gegen die Feste ist abgeschmackt. Er hält sie für eine göttliche Einrichtung, und darum haben sie ihn verschnupft. Aber er täuscht sich, sie sind eine menschliche Einrichtung. Sie sind nicht für Gott, sondern für den Menschen gemacht, und darum sollte Voltaire sie achten. Er hat wieder einmal seinen Hintern mit seinen Hosen verwechselt.« Das stärkste aber, was der Abbé je gesagt hat, ist dieses: »Sie gedachten, Voltaires Statue mit vier gefesselten Affen zu schmücken, aber Sie haben keine gute Auswahl getroffen. Es mußten sein: Der Papst, der Jesuitengeneral, Moses und noch Einer.« Dies Zitat, das nicht fehlen darf, wenn das Porträt des Abbé nicht in einem wichtigen Punkte gefälscht sein soll, das ich aber eigentümlicherweise in keiner Studie über ihn gefunden habe, reißt mit einemmale den letzten Nebel von der tiefen Kluft, die uns vom achtzehnten Jahrhundert trennt. Ohne Zweifel war der Abbé gleich Goethe zu einer bestimmten Zeit seines Lebens ein »dezidierter Nicht-Christ«. Doch wäre Goethe zu jeder Zeit seines Lebens zu diesem Ausspruche unfähig gewesen. Oder ist das Wort nur sein frechster Witz? War er soweit Schauspieler, daß ihm der effektvolle Abgang über alles ging? So sehr Harlekin, daß er an einem nicht gemachten Witz erstickt wäre, selbst wenn der Witz gegen seine tiefste Überzeugung war? Jedenfalls hat er Momente in seinem Leben, in denen plötzlich ein ganz anderes Gefühl durchbricht. So, als seine Freunde die schmeichelhaftesten Unterschriften für sein Porträt vorschlugen, und er ihnen trocken erwiderte, sie sollten daruntersetzen: Peccavi, Domine, miserere mei. Literarhistoriker von der Schule Alexander Baumgartners, denen die Bekehrung auf dem Sterbebette nicht eine Erscheinungsform der Agonie, sondern ein Argument ist, werden erfreut sein, zu vernehmen, daß der Abbé beim Sterben die üblichen Dehors gewahrt hat, wenn ihm auch das Geschäft nicht tragisch genug erschien, um ihn zur Unterdrückung seiner witzigen Bemerkungen zu veranlassen.
Nichts ist wohlfeiler als Skeptizismus. Man ist noch gar nichts, wenn man nur Skeptiker ist. Skeptizismus kann ebensogut Unlust wie Unvermögen sein: Unlust, eine Entscheidung fällen zu wollen; Unvermögen, sie jemals fällen zu können; die Tapferkeit des tödlich getroffenen Tiers, das sich zum Verenden in seine Höhle und Skepsis geschleppt hat; die Feigheit eines Richters, der seine Entscheidung hinausschiebt, weil er sich vor beiden Parteien gleich sehr fürchtet; die Weisheit des Heiligen, der den Betrug dieser Welt erkannt hat; die Unschlüssigkeit des Esels zwischen zwei Heubündeln; bei einem philosophischen Kopfe die feinste Form, seine Unwissenheit zu bekennen, und die höflichste Manier, gegen die Probleme unhöflich und flach zu sein; bei Gelehrten, z. B. Historikern, nichts als eine Art intellektueller Kurz- und Schwachsichtigkeit; Anfang des Denkens und der Weisheit letzter Schluß; ein Narkotikum, und ein Stimulans; das wirkliche Gesicht des Denkers, und die Maske, hinter der sich sein letztes und bösestes Gesicht verbirgt. Es gibt eine Skepsis aus Müdigkeit, und eine Skepsis aus Mut und Über-Mut. Skepsis kann ebensogut die robuste Rauheit des Gesunden, Instinktsicheren sein, mit der er sich alles vom Leibe hält, was seine unbekümmerte Selbstfrohheit gefährden könnte, wie die verzweifelte Müdigkeit des Geschwächten, Kranken, der sich isolieren möchte vor irgend einer unausweichbaren, schlimmen Gewißheit. Es gibt Skeptiker aus Mangel an Glauben und Skeptiker aus einem Zuviel von Glauben; aus Not, aus Tugend; eine interessante Form des Skeptikers ist der Heautontimorumenos, der sich in seinen Dornen wälzt und an seinen eigenen Qualen weidet. Jede Oberflächlichkeit und jede Tiefe kann sich für Skeptizismus ausgeben. – Es gibt nur ein vieldeutigeres, vielsagenderes, nichtssagenderes Wort als das Wort Skepsis: das Wort System ...
Dieser Galiani z. B., Skeptiker und Epikureer zugleich, selbst Zyniker – sicher nur nicht Stoiker –, was ist er anders als ein Diplomat, der aus seinem alten Metier zwei Dinge gelernt und gerettet hat: ausweichende Antworten zu geben, und Kleinigkeiten wichtig zu nehmen? Das Kapital seiner Existenz ist sein Pariser Aufenthalt; was er in seinen Briefen davon abschneidet, sind nur die Kupons – und bei ihnen macht sich mit der Zeit eine deutliche Konvertierung bemerklich, nicht zu ihrem Vorteile. Wie ganz anders ist Stendhal! Was fehlt eigentlich all diesen unleugbar geistreichen Männern und Frauen des achtzehnten Jahrhunderts? Die Jugend! Das unterscheidet sie so sehr von den geistreichen Frauen und Männern der italienischen Renaissance. Diese letzteren fragen immer: Wie erfülle ich mein Dasein? Sie sind und fühlen sich unerhört jung, eine neue Welt beginnt mit ihnen, ein neuer Frühling, eine neue Freude am Leben. Jene fragen stets nur: Wie ertrage ich mein Dasein? Sie sind alt geboren, müde, bequem, und ihr ganzes Wollen konzentriert sich auf einen Luxus mehr, eine Behaglichkeit mehr, ein kleines, geschwätziges, niedliches Ding von Glück mehr. Diese Rosen duften welk, dieses Lächeln glänzt matt oder gezwungen, dieser Geist ist fein, aber dünn. Sie nehmen jedes sich selbst, und sich gegenseitig als Personen zu wichtig. Sie sind die Provinzialen der Hauptstadt, ihre Atmosphäre ist nur eine höhere und feinere Art von Klatsch. Künstlich, Dilettanten, oberflächlich, eitel, selbstsüchtig, ausgebrannt, mit einer Menge von kleinen Horizonten, sogar borniert – – –
»Halten Sie inne, mein Herr, mit Ihren Adjektiven und Urteilen! War nicht schon Taine in seinem Anciem Régime ungerecht genug mit mehr Geist? Denn welche Ungerechtigkeit, das achtzehnte Jahrhundert an der Renaissance, Galiani an Stendhal messen zu wollen! Gewiß nimmt Stendhal vieles vom Wertvollen dieser Zeit herüber, selbst noch als Genießender ist er tiefer, stärker, vielseitiger. Die Lebens werte des achtzehnten Jahrhunderts sind gering. Aber seine Lebens kunst war unvergleichlich. Es scheint, daß diese Art von Kultur durch eine gewisse spezifische Leichtigkeit bedingt war. Es gibt nur einen Maßstab für das achtzehnte Jahrhundert: es selbst. Es trägt sein Gesetz in sich, es erfüllt sein Gesetz. Haben diese feinen Köpfe nicht einen ganz andern Ausdruck, als alles, was vor ihnen war, alles, was nach ihnen kam? Hat nicht die letzte, unscheinbarste, gleichgültigste Äußerung dieser Zeit, ein Liebesbrief, eine Tabatière, die Art, Haarbänder zu flechten und seidene Röcke zu tragen, hat nicht dies alles eine Einheit des Stils, eine Sicherheit der Tradition, einen schwer zu fassenden und dennoch das stumpfste Auge entzückenden Zauber? Soll in der interessanten Suite, die von einigen Pedanten Weltgeschichte genannt wird, nur das revolutionäre und stürmische Allegro, nur das philanthropisch schwärmende Adagio, nur das Presto con molto, molto fuoco seinen Sinn und Wert haben? Ist nicht auch das gefällige Spiel, die anmutige Oberflächlichkeit »berechtigt«, nicht auch der leichte Schritt des Tanzes und Reigens, das kokette Lächeln, der geistreiche Übermut, der philosophische Bouffon, Galiani der Harlekin, Galiani – der Skeptiker ...?«
Der Aphorismus Siebenundzwanzig der Streifzüge eines Unzeitgemäßen in Nietzsches Götzendämmerung, der vom unbefriedigten Literatur-Weibe handelt, schließt mit einem Zitate, dessen Quelle Nietzsche absichtlich nicht angibt: je me verrai, je me lirai, je m'extasierai et je dirai: Possible que j'aie eu tant d'esprit? Die Stelle ist aus dem Briefe Galianis an Madame d'Epinay vom 18. September 1769. Nietzsche hat Galiani vermutlich in der zweibändigen Ausgabe von Eugène Asse kennen gelernt, die 1882 erschien (die kritische Ausgabe von Perey und Maugras kam erst 1890 heraus); sie findet sich in seiner Bibliothek. Er erwähnt ihn zum erstenmale in einem Briefe an Malwida von Meysenbug (datiert aus Nizza, 13. März 1885): »Es war den Winter über ein Deutscher um mich, der mich »verehrt«: ich danke dem Himmel, daß er fort ist! Er langweilte mich, und ich war genötigt, so vieles vor ihm zu verschweigen. Oh über die moralische Tartüfferie aller dieser lieben Deutschen! Wenn Sie mir einen Abbé Galiani in Rom versprechen könnten! Das ist ein Mensch nach meinem Geschmack. Ebenso Stendhal.« – Seiner Schwester schreibt er im Sommer desselben Jahres, daß zu seinen alten Freunden unter den Franzosen nur wenige neue dazugekommen seien, »z. B. Galiani und Taine, die du aber erst schätzen wirst, wenn du ein skeptisches altes Weibchen geworden bist«. Ein Aphorismus des Nachlasses (XIII, 806) lautet: »Die feinsten Köpfe des vorigen Jahrhunderts, Hume und Galiani, alle mit Staatsdiensten vertraut; ebenso Stendhal, Tocqueville.« Was Nietzsche so sehr an Galiani anzog, war – um es in seiner Art zu sagen – die Abwesenheit jeder moralistischen Naivität, jeder erbaulichen Hinterabsichten, jeder idealistischen Selbstbelügerei und Farbenblindheit. Pour être bon philosophe, il faut être sec, clair, sans illusion: der Satz Stendhals stand als Imperativ vor Nietzsche, der von Natur aus eher das Gegenteil von all dem war, und sich harte, spöttische, trockene und zynische Psychologen verordnete, wie er sich trockene, heitere Klimate und dünne, klare Luft verordnete. Er liebte Galiani, wie er den Gil Blas liebte: »ein angenehmes Land, in dem keine Deutschen vorkommen«; wie er Prosper Mérimée liebte: »ein noch angenehmeres: man stolpert nirgends über eine Tugend«. Er hatte selbst die Absicht, in einem zweiten Teile zur Genealogie der Moral auch Galiani zusammen mit Balthasar Gracian, Macchiavelli, Montaigne und – Pascal anderen Moralisten entgegenzustellen. Galiani ist sogar bis zu einem gewissen Grade von Einfluß auf den Schriftsteller Nietzsche gewesen, vor allem auf den Briefschreiber. Man kann an den noch allzu unbekannten Briefen Nietzsches (am besten an der veränderten Auflage des ersten Bandes) verfolgen, wie mit einemmale ein neues Vorbild des Briefstils als eines gesprochenen Stiles auf ihn wirkt, wie alles, was an Laune, Witz, Lebhaftigkeit, Esprit, an rascher und eleganter Gebärde des Stils im Keime vorhanden war, plötzlich aufsprüht und die persönlichen und glänzenden Briefe hervorbringt, deren Stil mehr und mehr zugleich der Stil von Nietzsches Büchern wird. Das ist nur eine Vermutung. Ich finde auch sonst Fäden, die zu Galiani hinüberführen. Der Vergleich seiner Schriften mit Bomben, die Zukunftsschilderung von einer zunehmenden Chineserei Europas sind Beispiele: »Bigis atque quadrigis petimus bene vivere, und so tragen wir überallhin Krieg, Zwietracht, unser Geld, unsere Gewehre, unser Evangelium usw.« – könnte das nicht aus dem Antichrist sein? »Ich weiß, daß ohne die Tugenden der Duldsamkeit, der Verzeihung von Beleidigungen und andere Mönchereien die Römer das größte aller Reiche gründeten. Ich weiß, daß mit ihren so ganz anderen Grundsätzen die Modernen überall Knirpse und Schweine geblieben sind.« Man hört die vibrierende Verachtung dieser Antithese Galianis von der Genealogie bis zur Umwertung. »Was ist denn der Geist im Vergleich zu dem Magen?« Nietzsche hätte der kecken Frage zugestimmt, – für seine Person sowohl wie für die anderen, wie er auch mit Schrecken an Freund Rohde einen Satz Galianis aus demselben Briefe sich erfüllen sah: »Wenn die Seele altert, taucht wieder irgend ein Glaube auf.« Vor allem aber mußte der Gegner aller Verächter des Leibes sich über die scheinbare Oberflächlichkeit skeptischer Scherze freuen: »Es ist wohl wahr, daß die Seele etwas vom Körper Verschiedenes ist: aber es ist wie der Unterschied zwischen Rahm und Milch, zwischen dem Schaum und der Masse der Schokolade, zwischen dem Schnaps und dem Wein: die Essenz des Körpers wird Geist«: wie mag Nietzsche gelacht haben, als er dies las, eingedenk der tausend alten und neuen Spekulationen über das Wesen der Seele, alle gleich tief und gleich richtig wie die Vergleiche Galianis. Zu allem Überfluß hatte auch Galiani eine merkwürdige Neugier hinsichtlich des Cesare Borgia, den er rein als prächtigen Kerl, ce gaillard, auffaßt. Aus Galianis Besitz stammt Cesares Prunkdegen mit der stolzen Aufschrift Cum Numine Caesaris Omen, den er der römischen Familie Gaetani vermachte.
Ernsthafte Dinge auf eine paradoxe Weise ausdrücken; die Probleme so lange kitzeln, bis sie anfangen zu niesen; Erklärungen versuchen, die dem Stolze des Menschen zuwiderlaufen: das hat Nietzsche mit Galiani gemeinsam. Denn unter den stärksten Bouffonnerien des Neapolitaners verbirgt sich ein Ernst, der seine Tiefen und Tücken hat. Man könnte auf ihn anwenden, was von dem gleichfalls buckligen Spötter Lichtenberg einmal gesagt worden ist: daß überall, wo er einen Witz mache, ein Problem verborgen liege. Die Abwesenheit jeder Sentimentalität bei Galiani wirkt wohltätig wie Seeluft. Er war kein liebloser Mensch, als welcher er verleumdet worden ist, als welchen er sich selbst zu verleumden liebte: die feuchtwarmen Gefühlswinde, die von Genf in das heitere Frankreich hinüberzogen, gingen ihm so auf die Nerven, daß er lieber sich als gefühllos hinstellte, als daß er mit Jean Jacques schwärmte. Aber man lese einmal den Brief, mit dem er die Nachricht vom Tode der Frau von Epinay erwiderte (ich setze ihn französisch her, um doch einen Begriff von der Knappheit seines Stiles zu geben, die in der besten Übersetzung verliert): Madame d'Epinay n'est plus! j'ai donc aussi cessé d'être. Mon cœur n'est plus parmi les vivants, il est tout dans un tombeau. J'ai vécu, j'ai donné de sages conseils, j'ai servi l'Etat de mon maître, j'ai tenu lieu de père à une famille nombreuse, j'ai écrit pour le bonheur de mes semblables: et dans cet âge, où l'amitié devient plus nécessaire, j'ai perdu tous mes amis! j'ai tout perdu! on ne survit point à ses amis. Dies ist echtes Gefühl.
Und so blättert man durch diese Briefe, merkt sich eine Menge Stellen an, die beim ersten Lesen auffallen, notiert sich die Schlagwörter, gruppiert sie nach ihrer inneren Zusammengehörigkeit, sieht die charakteristischen Stellen sich häufen, der Reichtum wird zur Verlegenheit, das Bild Galianis beginnt sich zu runden, Teil um Teil seines literarischen Porträts sich zu beleben, eins das andre zu beleuchten, man glaubt dem Menschen näher zu kommen, und dennoch! dennoch: welch armer Versuch, dies Leben nachzukonstruieren, das einmal so unbeschreiblich reich gesprüht und gefunkelt hat, diesen Menschen nachzupausen, der ein Genie des Augenblicks und ein Improvisator im Leben und im Schriftstellern war! Am Ende sind es nicht einmal die geistreichen oder witzigen Stellen, die den Wert der Briefe ausmachen: diese Briefe sind als Ganzes zu nehmen, mit all ihrem Gewimmel von Einzelzügen, von alltäglichen Dingen und Sorgen, von den kleinen Tatsachen des Lebens, die alle einmal so köstlich interessant für diese längst toten Briefschreiber gewesen sind. Nur so vermögen die Briefe einem das zu werden, was Diderot über Galiani selbst geäußert hat: un tresor dans les jours de pluie.
(Ein apokryphes Blatt aus Goethes Italienischer Reise)
Neapel, 29. Februar 1787.
»Gestern macht ich die Bekanntschaft des berühmten Abbé Galiani, der eines besonderen Vertrauens, einer vorzüglichen Gnade des Königs und der Königin genießt. Ich fand ein klein bucklicht Männchen, das mir steif entgegen trippelte und mit artiger Lebhaftigkeit seine Medaillen, Kameen, alte Bronzen und derlei Sächelchen zeigte. Es sind viel gute Stücke drunter, aber auch viel kurioses Zeug, was blos er für kostbar hält. Ich konnt all die Zeit, es mochten zwei Stunden sein, kaum zu Wort kommen. Er redete unaufhörlich von der Kaiserin Katharina, von dem Buch über Horatius, welches er just vollendet hatte, von der Vorzüglichkeit und Aboriginität des neapolitanischen Dialekts, dazwischen erzählt er alte, unmäßig derbe Anekdoten. Ich bat, er solle mir seine Meinung über die Altertümer von Herkulanum sagen, und er regalierte mich mit der Geschichte vom Pfaffen und vom Mauleseltreiber oder vom Kardinal und seinem Sekretär. Da er endlich merkte, daß mich sein Geschwätz und Gezappel ennuyierte, stellt er sich mit einem ganz ernst und ruhig vor mich, läßt seine schwarzen Kugelaugen aufs lebhafteste rollen und prasselt ein Hagelwetter von Witzen und Verwünschungen über mein armes Haupt, teils im reinsten Italiänisch, teils mit Flüchen der Ruderknechte und mit französischen Brocken untermengt, so daß ich ganz betäubt da stund. »Was seid ihr herausgegangen zu sehen?« fing er an, gleich dem Täufer Johannes, und in dem Tone gings weiter, geistlich und weltlich, gereimt und ungereimt durcheinander. Ob er sich zum Affen seiner eignen Kollektionen müsse machen lassen, oder für jeden hergelaufenen Fremden gegen ein angemessenes Schaugeld seine Kunststücke aufführen, wie seine Angorakatzen umsonst täten (die liefen derweil im Zimmer herum, sträubten den Schwanz und krümmten den Buckel). Er, der Abbé, pfeif' auf alle durchkommenden Fremden und Herrschaften, sie sollten ihn in Ruhe lassen, denn er sei ein alter Mann, dessen die verstorbenen Freunde in der unteren Welt schon von länger her mit Verlangen harrten, da sie ohne ihn nicht einmal als Schatten zu leben vermöchten. Ich hab' die Verse behalten:
Tandis que j'ai vécu, on m'a vu hautement
Aux badauds effarés dire mon sentiment.
Je veux le dire encor dans le royaume sombre:
S'ils ont des préjugés, j'en guérirai les ombres.
Die Verse sind nicht von Galiani, sondern von Voltaire, der sie am Tage vor seinem Tode, 29. Mai 1778, dichtete.
Da er meine Verlegenheit sah, trieb ers noch ärger, bis er mir mitten im Satz mit artigster und höflichster Manier seine braune und behaarte Hand hinstreckte und mit rechtem Schelmenton sagte: Soyons amis! Ich schlug ein, und ließ mich selbst, betäubt wie ich war, zum Frühstück nötigen, das nur aus ein wenig Huhn, kühlem Obst und einer Art von römischem Käs bestand, den sie in Rom caccio cavallo nennen, dabei sich denn das Wortspiel cazzo von selber einstellt, welches sich auch der Abbé mit nichten entgehen ließ. Da ich den Mund nur zum Trinken auftun brauchte (es gab einen dunkeln, herben roten Wein), hatt' ich Muße, mir den Mann zu betrachten, dessen Ruhm vorzeiten die halbe Welt erfüllte, und der nun zahnlos vor mir saß, und ohne Aufhören klapperte, wie eine Mühle, wenn sie leer geht, deren Gestoße was Unheimliches hat. Unterdem wurd ich immer stiller, ließ den wunderlichen Greis seine Späße treiben, und dachte derweil, wie nah doch in einem bedeutenden Kopfe der Hanswurst und der würdige Mann beisammen wohnen, und wie sich der Mensch immer steilere und scheinbar unmögliche Ziele stecken muß, um das Leben überhaupt mit Anstand durchzuführen.
Behagliches Genießen des Gegenwärtigen ist nur fürs Animalische nützlich, schließlich notwendig, im Geistigen wirds geschwind zur Fratze seiner selber, und verdirbt.
Abends mit Hackert in Gesellschaft. Wir redeten auch von dem Abbé, und wurde mancher bedeutende Zug des Mannes vorgebracht, so daß ich mich schließlich glücklich pries, ihn kennen gelernt zu haben.«