Josef Hofmiller
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Josef Hofmiller

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Maeterlinck

(1904)

1

Im August des Jahres 1890 erregte ein Artikel des Figaro einiges Aufsehen. Octave Mirbeau pries darin das erste Drama eines gänzlich unbekannten Verfassers; es stehe über jedem, gleichviel welchem, von Shakespeares unsterblichen Werken (»supérieur à n'importe lequel des immortels ouvrages de Shakespeare).

Der junge Dichter, der auf diese Weise gleich als belgischer Shakespeare in die Weltliteratur eingeführt wurde, hieß Maurice Maeterlinck, und sein Drama nannte sich La Princesse Maleine.

Allein schon die Zusammenstellung der Schauplätze seiner fünf Aufzüge vermag eine unbestimmte Vorstellung von der Eigenart dieses Dramas zu erwecken. 1. Schloßgarten; Gemach im Schlosse; Wald; gewölbtes Turmgemach. 2. Wald; Saal im Schlosse; Dorfstraße; Gemach im Schlosse; Gang im Schlosse; Gehölz im Park. 3. Gemach im Schlosse; Prunksaal; vor dem Schlosse; Zimmer im Hause des Arztes; Schloßhof. 4. Garten; Schloßküche; Maleines Gemach; Gang im Schlosse; Maleines Gemach. 5. Friedhof vor dem Schlosse; Saal vor der Schloßkapelle; Gang im Schlosse; Maleines Gemach. Ein leiser Schauder weht aus diesem Szenarium, kühl, wie aus alten Gewölben, und bange, wie aus alten Märchen.

Ein germanisches Märchen ist es denn auch, das uns die herzbewegende Sage von der Königstochter Maleine berichtet. Ihr Vater ließ die Unfolgsame in einen Turm einmauern, den nie ein Strahl von Sonne oder Mond durchdrang. Im drittletzten der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (Nr. 198) steht wundertreuherzig beschrieben, wie die Jungfer Maleine mit dem schwachen Brotmesser die Mauer durchbricht und durch das enge Loch mit dem lieben Sonnenlichte zugleich ein traurig verwüstetes Reich schaut; wie sie beim geliebten Prinzen als Aschenbrödel dient; wie sie die Stelle der häßlichen Prinzessin beim Gang zur Hochzeit vertritt; wie sich endlich alles froh wendet: »und sie küßten einander und waren glücklich für ihr Lebtag. Der falschen Braut ward zur Vergeltung der Kopf abgeschlagen«. Denn das Märchen ist, im Gegensatze zum Mythus und zum Drama, unverbesserlich optimistisch, wenigstens in der Regel: die blonde Prinzessin bekommt ihren Herzallerliebsten und ihr Krönlein, und die falschen Hexen rumpeln und rollen im Faß voller Schlangen und spitzer Nägel ins tiefe Meer.

Andere Vorstellungen sind es, die durch das Personenverzeichnis bei Maeterlinck wachgerufen werden: Hjalmar und Marcellus, holländische Könige; Angus, Freund des jungen Hjalmar; Stephano und Vanox, Offiziere des Marcellus; Godelive, des Marcellus Gattin; Uglyana, Tochter der Königin von Jütland; ein Arzt; ein Narr; drei Arme; ein Hirte; ein Krüppel ohne Beine; Pilger, Bauern, Bettler, Landstreicher; Maleinens Amme; sieben Beghinen; ein großer schwarzer Hund... Das alles erinnert leise an Hamlet. Der Eindruck wird verstärkt, wenn in der ersten nächtlichen Gartenszene Vanox und Stephano die Wache beziehen und in beklemmend-dunklen Reden vom alten Könige Marcellus berichten, von der bleichen Maleine, die dem jungen Hjalmar vermählt werden soll, und vom alten König Hjalmar, der trotz seiner siebenzig Jahre noch die unheimliche verbannte Königin Anna von Jütland sündhaft liebt. Ein Komet steigt auf über dem Schlosse; Sternschnuppen schneien funkelnd hernieder; der Himmel wird ganz schwarz; wunderlich rot und traurig glüht der Mond. Da plötzlich klirren Fenster, wirres Schreien gellt in die Nacht, mit aufgelöst flatternden Haaren stürzt die weinende Maleine vorüber, König Hjalmar verläßt unter wilden Verwünschungen und Drohungen das Schloß. Die Handlung schreitet sehr rasch fort. In der zweiten Szene trotzt Maleine ihrem Vater Marcellus, der ihr die Liebe zu dem jungen Hjalmar ausreden will; in der dritten sprechen Prinz Hjalmar und sein Vertrauter schon von dem niedergeäscherten Schlosse, vom Tode des Marcellus und all seiner Anhänger, und von der Unauffindbarkeit Maleinens; daneben äußert Hjalmar ein unerklärliches Grauen vor der schlimmen, schönen Jütländerin und ihrer Tochter Uglyane. In der vierten Szene arbeiten Maleine und ihre Amme, die im Turme eingemauert sind, den ersten Stein heraus und ahnen die Verwüstung. Hier treten zum ersten Male gewisse Manieren des Dialoges schärfer hervor:

Maleine. II n'y a plus de maisons le long des routes!

Nourrice. II n'y a plus de maisons le long des routes?

Maleine. II n'y a plus de clochers dans la campagne!

Nourrice. II n'y a plus de clochers dans la campagne?

Maleine. II n'y a plus de moulins dans les prairies!

Nourrice. Plus de moulins dans les prairies?... Tout a brûlé! tout a brûlé! tout a brûlé!

Maleine. Tout a ...?

Nourrice. Tout a brûlé, Maleine! tout a brûlé! –

Im Walde, beim Kreuzweg zu den vier Judassen, treffen Maleine und die Amme auf drei Bettler, die ihnen den Weg ins Dorf weisen. Im Schlosse oben umarmt die falsche Anna den alten König und wärmt gleich darauf die eisig kühlen Hände des jungen Hjalmar, der ob der Berührung erschaudert. Im Dorfe schlagen und stechen sich die Bauern im Blauen Löwen wegen des fremden Mädchens. – Maleine ist als Magd bei Prinzessin Uglyane eingetreten; sie geht anstatt Uglyanen zum Stelldichein mit Hjalmar. Er küßt sie. Da sagt sie ihm, wer sie ist:

Hjalmar: A quoi songez-vous?

Maleine: Je suis triste. H.: Vous êtes triste? à quoi songez-vous, Uglyane? M.: Je songe a la princesse Maleine.

H.: Vous dites?

M.: Je songe à la princesse Maleine.

H.: Vous connaissez la princesse Maleine?

M.: Je suis la princesse Maleine.

H.: Quoi?

M.: Je suis la princesse Maleine.

H.: Vous n'êtes pas Uglyane?

M.: Je suis la princesse Maleine.

H.: Vous êtes la princesse Maleine! Vous êtes la princesse Maleine! Mais elle est morte!

M.: Je suis la princesse Maleine.

Im selben Augenblick gluckst der Springbrunnen sonderbar auf und versiegt.

Hjalmar eilt zu seinem Vater und verkündet ihm, er habe seine liebe, echte Braut wiedergefunden; nie werde er sich mit Uglyane vermählen. Zitternd bittet ihn der Alte, doch vorerst der schlimmen Jütländerin nichts zu sagen. – Im Tanzsaale sind Anna, die Jütin und ihre Tochter Uglyane, und die beiden Hjalmar; der Alte murmelt voll Ahnung entsetzlicher Zukunft in sich hinein; der Junge ergeht sich in spitzen Reden und Preziositäten wie Hamlet gegenüber Ophelien. Da spricht der Alte sehr laut: Je crois que la mort commence à frapper à ma porte. Alle zittern. Die Musik hört mitten im Stück auf. Im selben Augenblick klopft es, und herein tritt Prinzess Maleine. Unter allgemeiner Aufregung fällt der König ohnmächtig zu Boden. – Vor dem Schlosse beraten der alte König und die Jütin, wie man sich Maleinens in aller Stille entledigen könnte. Da kommt sie selbst, blaß und müde, neben dem jungen Hjalmar. Ein Irrsinniger tritt auf, deutet grinsend auf sie und bekreuzigt sich unter blödem Stammeln. Vom Friedhof her durch den Nebel schreiten langsam die sieben Beghinen. Dazu läutet bang die Abendglocke, Raben kreisen krächzend um die Liebenden, und Irrlichter tanzen gespenstig über die Sumpfwiese in den Friedhof hinein.

Königin Anna wird ungeduldig: das schleichende Gift tötet Maleinen viel zu langsam. Der greise Ehebrecher verblödet mehr und mehr; er lallt nur noch Worte des Schreckens, sieht Symbole des Todes um sich und spricht alles nach, was er von den andern hört. In der Schloßküche hockt das Gesinde in dumpfer Gewitterfurcht; Aufträge kommen: die Amme dürfe Maleinens Zimmer nicht betreten, sie wolle schlafen; man solle das Mahl um eine Stunde früher anrichten; man brauche heute nacht nicht auf die Königin zu warten; man solle alle Lampen in ihrem Gemach anzünden; man solle noch mehr Wasser auf ihr Zimmer bringen.

In ihrem Schlafzimmerchen liegt fiebernd die kleine Maleine. Ein großer, schwarzer Hund kauert in einem Winkel und zittert. Den ganzen Tag ist niemand zu Maleine gekommen, und sie fürchtet sich, daß ihr das Herz zerspringen möchte. Da fängt der Hund an zu winseln: vor dem Zimmer flüstern der alte König und Anna und tasten nach dem Schlüsselloch. Die sieben Beghinen ziehen vorüber und murmeln die letzten Responsorien der Allerheiligenlitanei. Der König und Anna ringen um den Schlüssel, den der vom Gewissen gefolterte Alte nicht herausgeben will. Aber Anna entreißt ihn ihm: sie treten ein, der Hund entflieht, Maleine liegt wie gelähmt vor Angst auf ihrem Bett und horcht, horcht, horcht. Der Sturm heult. Ihr Herz klopft wie rasend. Sie kann nicht mehr sprechen vor Angst. Sie zittert so, daß das leichte Holz des Bettes mitzittert. Es wirft sie vor tobender Angst. Heuchlerisch redet ihr die Königin zu, sanft legt sie ihr die dünne Schnur um den Hals. Da springt Maleine aus dem Bett:

Maleine. Ah! qu'est-ce que vous m'avez mis autour du cou?

Anne. Rien! rien! ce n'est rien! ne criez pas!

Maleine. Ah! ah!

Anne. Arrêtez-la! Arrêtez-la!

Le Roi. Quoi? Quoi?

Anne. Elle va crier! elle va crier!

Le Roi. Je ne peux pas!

Maleine. Vous allez me ...! oh! vous allez me ...!

Anne (saisissant Maleine). Non, non!

Maleine. Maman! Maman! Nourrice! Nourrice! Hjalmar! Hjalmar!... Attendez! Attendez un peu! Anne! Madame! roi! roi! roi! Hjalmar! Pas aujourd'hui! Non! non! Pas maintenant!

Da zieht die Königin die Schlinge zu – Maleine röchelt. Der König sinkt auf einen Stuhl. Anna befiehlt ihm, Maleine fest zu packen, denn die Arme zappelt im Todeskampfe mit den Füßen. Wütender Hagel prasselt an die Scheiben; Maleinens Augen brechen. Ein Fenster fliegt klirrend auf und reißt eine Lilie in einer Vase auf den Boden; der Irrsinnige grinst ins Gemach, der König schlägt ihn mit dem Schwerte nieder. An der Türe scharrt und heult der Hund.

Man muß ähnliche Szenen auf der Bühne gesehen haben, um zu ermessen, mit welchem Raffinement hier Situation, Wort, Vorgang, Dekoration und Elementarmaschinerie zusammenwirken, um den Eindruck des ungeheuersten Grauens zu erzeugen. Das Grauen, das von dieser Szene ausgeht, kann nicht leicht mehr übertroffen werden. Darum wirkt auch der letzte Akt matter, trotz der Weltuntergangsstimmung der ersten Auftritte, trotz der Hamletartigen Lösung durch Mord und Selbstmord, trotz der schauerlichen allgemeinen Verwüstung des Schlusses, der einem entsetzlichen Traume gleicht.

2

»L'Intruse« (1891), »Les Aveugles« (1891), »Interieur« (1894) und »La Mort de Tintagiles« (1894) bilden eine Gruppe für sich. Gemeinsam ist ihnen die methodische, überlegte Langsamkeit, mit der das Schreckliche vorrückt, Zoll um Zoll, wie jener bewegliche Betthimmel englischer Schauernovellen, der sich langsam senkte und das schlummernde Opfer mit der infamen Sicherheit eines Mechanismus zerquetschte.

Der Eindringling: Um einen Tisch herum sitzen der alte blinde Großvater, der Vater, der Onkel, die drei Töchter und reden von der Wöchnerin, die nunmehr außer Gefahr ist. Was sie sprechen, ist alltäglich, die Bemerkungen des Onkels sogar von ziemlicher Gereiztheit, besonders wenn er sich gegen den Blinden wendet. Man erwartet eine Schwester der Kranken, die nachts noch eintreffen soll. Mond liegt auf den weißen Gartenwegen. Da erhebt sich ein schwaches Säuseln im Laub: es ist, als ob die Bäume zitterten. Die Nachtigallen singen nicht mehr: ist vielleicht jemand in den Garten gekommen? Aber man hört nichts. Was haben denn die Schwäne im Teich, daß sie so erschreckt auseinanderfahren? Und alle Fische tauchen in die Tiefe! Sollte es vielleicht die Schwester sein, die von der Reise gekommen ist. Warum nur bellt kein Hund? Es streicht kühl ins Zimmer. Sonderbar, wie schwer heute die Flügeltür sich schließt; gerade, als ob etwas dazwischen wäre. Wer wetzt denn um diese Zeit noch eine Sense? Es wird wohl der Gärtner sein, der morgen, am Sonntag, nicht mähen will; man kann ihn nicht recht sehen, es ist so dunkel. Auch im Zimmer ist es dunkel; die Lampe brennt düster, obwohl man sie erst heute aufgefüllt hat. Horch – Schritte! Das wird die Schwester sein! Man ruft die Magd; man hört ihren Schritt, zugleich noch einen zweiten Schritt; kein Zweifel, es ist die Schwester! Wie, es ist nur die Magd? Aber es ist doch jemand gekommen? Wir haben ja doch das Geräusch am Haus deutlich gehört! Die Magd sagt, sie habe eben das Tor geschlossen. Ja, war es denn offen? Ganz bestimmt, es war offen; es wird noch jemand hereingegangen sein. Was hat denn die dumme Magd, daß sie so gegen die Türe drückt? Aber sie drückt ja gar nicht! Sie ist drei Schritte von der Tür entfernt! Der Blinde wird unausstehlich unruhig: er bildet sich ein, am Tische sitze ein Fremder, den man ihm verheimlichen wolle. Warum alle auf einmal mit ganz anderer Stimme sprächen? Was es in der Ecke zu flüstern gäbe? Was flackert denn die Lampe? Wie, sie erlischt? Es schlägt zwölf: wer ist denn gerade aufgestanden vom Tische? Da fängt im Nebenzimmer der Säugling an, ängstlich zu weinen. Man hört schwere, eilige Schritte, dann Stille: die Zimmertür geht auf, die barmherzige Schwester tritt aus dem Gemach der Wöchnerin, sehr ernst, und weist die Sehenden mit leiser Gebärde ins Sterbezimmer. Jammernd und hilflos bleibt der Blinde zurück.

Die Blinden: In nächtlichem Walde, unter funkelnden Sternen kauern zwölf Blinde: blind Geborene, blind Gewordene, Greise, Junge, eine närrische Blinde, die ihr Kind an der Brust hält. Schweigsam sitzen sie da, ohne heftige Gebärden, ohne jäh den Kopf zu wenden. Sie bergen das Antlitz in bleichen Händen und stützen die Arme auf müde Knie. Eiben und Trauerweiden stehen regungslos in der Runde; starr recken die Zypressen sich in die Höhe; auf bleichen Asphodelosbüschen schimmert mattes Mondlicht. In der Mitte der Blinden sitzt der priesterliche Greise ihr Führer, der einzige, der sieht. Der einzige, der sah. Denn er ist soeben lautlos verschieden. Aber die Blinden wissen es nicht. Sie glauben, er habe sich nur ein wenig entfernt. Sie sprechen von ihm, anhänglich, freundlich die einen, mit schmähender Spitalbissigkeit die andern. Nachtvögel kreisen im Gezweig. Drüben, überm Deiche, rauscht das Wasser. Die blind Gewordenen erzählen sich von der Zeit, da sie noch sahen, die Sterne, die Sonne sahen, vor urlanger Zeit, wie sie noch Kinder waren. Jetzt hören sie Sonne und Sterne. Mit ungläubigem Hohn vernehmen die Blindgeborenen das alles. In der Ferne schlägt es Mitternacht. Oder ist es Mittag? Die Blinden wissen es nicht. Zugvögel kreischen vorüber; am Deiche frißt und brüllt die Woge. Es schneit in großen Flocken. Da entdecken sie, daß der Führer tot ist. Es dünkt ihnen, ein Fremder sei unter ihnen. Wer ist in ihre Mitte getreten? Keine Antwort. Nur das Kind schluchzt und, in drohender Nähe, donnert das Meer gegen den allzuschwachen Deich.

Drinnen: Ein nächtlicher Garten, in dem ein Haus steht. Die Fenster des Erdgeschosses sind hell erleuchtet. Friedlich sitzt die Familie um den runden Tisch: zunächst dem behaglichen Feuer der Vater; nachdenklich blickt die Mutter ins Weite; an ihren Arm geschmiegt schlummert ein Kind; die Schwestern sticken, lächeln sich an und träumen. Der Greis und der Fremde treten in den Garten, behutsam und ängstlich: sie wollen nicht gesehen werden. Denn sie bringen böse Botschaft: die Schwester von den zwei lächelnden Stickerinnen da drinnen ist tot. Wem soll man es zuerst sagen? Dem Vater? Aber er ist alt und kränklich. Die Mutter auch. Und die Schwestern sind zu jung. Ah, wie ist diese Tote geliebt worden! Gab es je ein glücklicheres Heim? Wie soll man es ihnen nur beibringen? Schonend? mit einleitenden, vorbereitenden Worten? Aber sie werden den Greis sogleich fragen, warum er so durchnäßt sei, und den Fremden, woher der Schlamm komme an seinem Gewände. Gestern, um diese Zeit, saß sie noch mit am Tische und lächelte auch, stickte auch, träumte auch. Wie friedlich das Kleine atmet und schlummert! Da sitzen sie drinnen, die Ahnungslosen: alle Türen haben sie wohl verschlossen, alle Fenster klug vergittert, alle Riegel sorglich vorgeschoben; draußen aber lauert das Schreckliche und kommt immer näher. Bald werden sie die Leiche bringen: schon sind sie an den letzten Hügeln; das ganze Dorf kommt mit, sie tragen Lichter und Fackeln. Der Greis darf nicht mehr zögern, er geht hinein ins Haus. Man sieht, wie er sich setzt, sich den Angstschweiß von der Stirne wischt, wie die Mutter zittert und ahnt, wie alle im Zimmer plötzlich aufstehen, eine Frage auf den totenblassen Lippen, wie der Greis traurig bejahend nickt.

Der Tod des Tintagiles: Zwischen den Bergen, unter morschen Bäumen, steht das schwarze Schloß. Ygraine und Bellangère wohnen darin, die Schwestern. Das Schloß verfällt, die Mauern klaffen, trotzig und dräuend steht nur der dicke Turm, in dem die alte Königin haust. Niemand sieht sie, niemand weiß, was sie tut; selbst ihre Mägde gehen nachts nur aus. Argwöhnisch ist sie und eifersüchtig, herrschgierig, halb wahnsinnig. Ihre Befehle werden ausgeführt, ohne daß ein Mensch ahnt, wie. Nun hat sie den kleinen Tintagiles kommen lassen. Aber die Schwestern werden ihn treulich vor ihr behüten; nur darf er sich nie von ihnen oder vom alten Aglovale entfernen. Schon sind die Schwestern ängstlich; Bellangère hat sich bis zum Turme gewagt; sie sah unheimlich gewundene Gänge, niedrige Galerien ohne Ausgang; sie hörte die Mägde der Königin von einem Kinde und einer goldenen Krone sprechen; wie böse sie dazu lachten! Soll vielleicht der kleine Tintagiles auch so spurlos verschwinden wie seine älteren Brüder? Machtlos ist man gegen die Königin; sie vergiftet das Schloß mit ihrem Schreckensatem; ihre Gegenwart lähmt, zermalmt, erwürgt; es gibt keinen Widerstand gegen ihre Bosheit. Drei Türen führen zu den Korridoren der Königin. Die Schwestern und der Alte halten Wache davor. Warum klopft das Herz des kleinen Prinzen so? Man hört schlürfende Tritte, Flüstern, Schleichen. Ein Schlüssel knarrt im rostigen Schlosse. Der Alte fährt mit dem Schwert in die Toröffnung neben den Rahmen, wo er die Feindinnen vermutet; wie Glas zersplittert das Schwert, langsam öffnet sich das Tor, man sieht niemanden, man hört nichts, dann schließt es sich dröhnend. – Es ist Abend. In müder Umarmung schützen die Schwestern den kleinen Prinzen. Leise gleitet das Tor auf: die vermummten Mägde der Königin holen Prinz Tintagiles aus den Armen seiner schlafenden Schwestern. – Vor der eisernen Tür des unterirdischen Gewölbes steht Ygraine und schlägt sich die Hände blutig daran; hinter der Tür klopft Tintagiles mit dünnen Fingerchen und ruft schwach: »öffne, Schwesterchen, öffne, schnell, schnell, sie ist da, ich muß sterben, wenn du nicht aufmachst, ich bin ihr entlaufen, hörst du denn nicht? Sie kommt, sie kommt! Um Gottes willen, mach auf!... Jetzt packt sie mich an der Kehle!« Da ist es plötzlich still. Ygraine schreit ihren Jammer der eisernen Tür zu; sie bittet und fleht. Demütig kniet sie sich nieder, um das alte Scheusal zu erweichen; sie fleht mit aufgehobenen Händen: »Er ist so klein, so klein! Tut ihm nichts! Mit mir tut, was ihr wollt! Nur ihn schont! Nur ihn laßt leben!« – Grauenvolles, unerbittliches Schweigen. Da sinkt sie gebrochen zu Boden und schluchzt, und das helle Blut rinnt von ihren kraftlosen Händen.

3

Der Tod des Tintagiles leitet über zu den Märchenspielen, zu denen er nach seinem äußerlich dekorativen Apparat zu reihen wäre, wenn ihn nicht die schauerliche Grausamkeit des Stoffes als verspäteten Nachkömmling der Maleinestimmung, die überlegte Technik der Nervenfolter als Seitenstück zu den drei Alltagsdramen erscheinen ließe.

Les Sept Princesses (1891): Das Dekorative erinnert an Intérieur; hier wie dort eine stumme Gruppe in einem Gemache, draußen vor den Fenstern die sprechenden Personen; drinnen unheimliche Ruhe, draußen ebenso unheimliche Geschäftigkeit. Ein großer Marmorsaal, in dem Lorbeerbäume stehen, Lavendel duftet, und Lilien in feinen Gefäßen welken. Auf den sieben Stufen der Marmortreppe schlummern die sieben Prinzessinnen. Weiß ist der Marmor, weiß die Gewänder der Mädchen, weiß die schlanken Arme, die auf blassen Seidenkissen ruhen, weiß und blaß das Licht, das aus der silbernen Ampel schimmert. Durch die Fenster, die bis zu den kühlen Fliesen reichen, blickt eine traurige Sumpflandschaft herein, und unbeweglich und schwarz ein Kanal. Ein Schiff kommt, dem Prinz Marzellus entsteigt. Mit Wehmut begrüßt er das alte Königspaar, aber seine Sehnsucht drängt ihn zu einer der sieben Prinzessinnen. So gebrechlich und zart sind diese Wesen, daß schwer zu sagen ist, ob es schlimmer sei, sie jäh zu wecken oder sie in unnatürlich tiefem Schlafe zu lassen. Darum geht Marzellus den unterirdischen Gang, an dessen Ende man zu der Grabplatte mitten im Saale emporsteigt. Sechs Prinzessinnen fahren aus ihren Träumen auf, wie der blasse Ritter mit der Lampe unter ihnen steht, die siebente aber, zu der ihn die Sehnsucht zog, bleibt starr und unbeweglich auf dem blassen Pfühl. Während draußen der König und die Königin jammernd um Hilfe schreien, während Diener, Soldaten, Bauern, Weiber mit Fackeln und Laternen herbeieilen und in wilder Angst an Pforte und Fenstern pochen, heben die sechs Schwestern den weißen Leichnam auf und betten ihn auf die oberste der Stufen.

Pelleas et Melisande (1892): Pelleas und Golaud sind die Enkel des Königs Arkel von Allemonde. Golaud findet auf der Jagd Melisanden, die mit langem, wundervollem, aufgelöstem Haar am Rande eines Brunnens sitzt und weint. Obwohl sein Haar schon an den Schläfen grau wird, nimmt er das Kind zum Weibe; aber nach sechs Monden weiß er nicht mehr von ihr als am ersten Tage. – Pelleas und Melisande weilen am alten Brunnen im .verwilderten Park; Melisande wirft spielend den Ring, den Golaud ihr gab, in die Höhe: da fällt er ins Wasser. Wie ihr Mann sie darum fragt, lügt sie, sie habe ihn in der Grotte am Meer verloren. Warum lügt sie? – In der Dämmerung schweigen Pelleas und Melisande sich gegenüber; da kommt Golaud mit seinem Söhnchen Yniold aus erster Ehe. Der kleine Yniold leuchtet den Zweien ins Gesicht: warum haben sie geweint? – Golaud überrascht Pelleas, wie er jubelnd die Haare Melisandens liebkost. Mit finsterem Ernste gebietet er ihm, sie zu meiden. Aber fortan zermartert er sich Herz und Hirn mit Argwohn. Er fragt den kleinen Yniold aus, und das kindische Geplauder verrät ihm zu wenig und zu viel zugleich. Er überrascht die beiden, wie sie sich umarmen, und stößt in jäher Wallung den Bruder nieder. Melisande gebiert ein schwächliches Kind, dann legt sie sich zum Sterben, schuldlos in Schuld verstrickt, »das arme, kleine, geheimnisvolle Wesen«.

Alladine et Palomides (1894): Alladine, die arkadische Sklavin, wird vom alten Könige geliebt. Palomides soll die Tochter des Königs heiraten, aber ihn bezwingt die Liebe zur schönen Alladine. Der König läßt das Paar in die unterirdischen Grotten werfen. Aber der unbestimmte Widerglanz von blauem Meer und heller Sonne verwandelt den Kerker in ein smaragdenes Paradies voll tiefen Leuchtens und sanfter Glut, und schon sind beide willig, den seligen Liebestod in solch wunderherrlicher Entrücktheit zu sterben, da wanken die Felsen: die Retter kommen, und mit ihnen, grell und grau und öde, die kalte Klarheit des nüchternen Tages. Feucht und klebrig sind nun die nassen Felsen anzusehen, und als widrige Algen und schmierige Flechten zeigt sich, was den Liebenden in zarter Dämmerung wie Rosenketten erschimmert war. Rasch siechen die Befreiten dahin, Kammer an Kammer nebenan, und wunderlich klingt ihre fromme Sehnsucht nach der Zaubergrotte den andern, die nicht wissen, daß von den Gipfeln der Seligkeit kein Weg ins graue Leben zurückführt. Sie sterben leicht: nichts bindet sie mehr an diese Welt.

Aglavaine et Sélysette (1896): Sie stirbt leicht: nichts bindet sie mehr. Denn Selysette, das scheue Seelchen, ist in demütiger Liebe zur Heldin geworden, und der Augenblick ihres Todes ist zugleich der Augenblick, da ihre reine Seele am höchsten und am gütigsten aufglänzt. Vier Jahre lang hat sie als Gattin Meleanders gelebt, schön, liebevoll und sanft; sie hat ihre Blumen begossen, ihre Meervögel vom alten Turm aus gefüttert und die lahme Großmutter gepflegt, und war allzeit fröhlich wie ein Kind. Da tritt die Witwe ihres Bruders in ihr Leben, jene schöne und weise Aglavaine, von der es wie ein Schimmer strahlender Wahrhaftigkeit ausgeht; vor der alle Seelen sich willig öffnen; vor der weder Verstellung noch Kleinlichkeit bestehen kann. Aglavaine und Meleander ziehen sich zauberhaft an; sie lieben sich, weil sie sich lieben müssen, weil eins sich selbst ohne das andere nicht denken kann, eins nur im andern sich weiß, fühlt, liebt, im andern sich selbst und in sich selbst nur das andere wiederfindet; sie lieben sich, als hätten sie ihr ganzes bisheriges Leben auf einander gewartet, ihre Seelen in alten, alten Zeiten sich längst gekannt, ehe ihre Blicke sich trafen. Sie lieben auch Selysette, aber die Arme, Geduldete benetzt heimlich mit Tränen die Brosamen der Liebe, die man ihr großmütig übrig läßt; sie weiß, wie überflüssig die bemitleidete kleine Selysette ist, die man nur hastig küßt, während doch jedes geheim an das andere denkt. Aber da sie Aglavainen am Rande des tiefen Wassers eingeschlafen findet, weckt sie die Nebenbuhlerin sanft auf. In wundervoller Offenheit kündet Aglavaine der ängstlichen und schüchternen Seele ihres tiefsten Wesens Geheimnis, und beide lernen sich zu lieben, die zu früh Gekommene und die zu spät Gekommene. Aber dennoch, so sehr die drei in makelloser Reinheit ihre Liebe heilig halten wollen, die beiden Frauen fühlen, daß jede der andern im Wege ist. Selysette blickt bewundernd auf zu Aglavainens Hoheit, diese aber erkennt, daß Selysettens reine Kindesseele das Schönste, Größte und Herrlichste auf Erden ist: »sie braucht sich nur zu neigen, um unerhörte Schätze in ihrem Herzen zu finden, und bietet sie so zagend an, wie eine junge Blinde, die gar nicht weiß, daß sie lauterstes Gold und köstlichster Perlen Zier in ihren Händen hält«. Und so trägt jede sich mit dem Gedanken, der geliebten andern um des geliebteren Mannes willen Platz zu machen. Ein Heldengedanke keimt in Selysettens traurigem Herzen: sie lockert die Steine auf ihrem alten Turme, so daß man glauben muß, es habe nur ein Quader nachgegeben, als sie sich zu weit hinauslehnte. Aber da sie zu Mittag auf der hohen Warte steht und in unendlicher Bläue das Meer sich dehnen, in namenloser Festlichkeit jede Näh und Ferne aufglühen sieht, goldener die Sonne, grüner Gärten und Gras als je, alles in ruhigem, heitern, tiefen Glücke strahlend, da vermag sie es nicht. Noch einmal geht sie müden Schritts hinunter zur lahmen Großmutter und sagt ihr liebe, herzliche Worte, dann nimmt sie ihr Schwesterchen wieder mit auf den Turm. Es ist Abend geworden, versunken die Sonne, alles grau und kühl und bleich. Sie umhüllt schützend das Kind und redet eindringliche, zärtliche Worte zu ihm, Worte, die schwer sind von Tränen; denn irgend jemanden möchte sie doch bei sich haben in ihrem letzten Stündlein, damit das Überlebende den zwei andern sage, es sei nur ein Unglück gewesen, sie habe nicht geweint, gewiß, sie habe nicht geweint; nur ein Unglück war's, nur der Stein gab nach, als sie sich zu weit hinauslehnte. – Aber der armen kleinen Selysette soll gar nichts erspart bleiben: man findet sie, noch lebend, am Fuße des hohen Turmes; man bettet sie weich und sanft. Aglavaine und Meleander knien vor der Sterbenden und flehen sie an, doch die Wahrheit zu sagen, ob sie habe sterben wollen. Sie aber lächelt innig und lügt tapfer, denn sie will das Glück der Überlebenden nicht durch einen Vorwurf trüben, und nur, wenn die Schmerzen sie so quälen, daß sie fürchtet, sie möchten ihr die Wahrheit entpressen, bittet sie Aglavaine, ihr den Mund zuzuhalten. Ihr letztes Wort aber ist: »Nur der Stein gab nach, wie ich mich zu weit hinauslehnte«.

4

Ariane et Barbe-Bleue (1901) und Soeur Béatrice (1901): Zwei Texte für Singspiele, die der Dichter nur als Gelegenheitsarbeiten gelten lassen will. Ariane entdeckt in Blaubarts Schloß die fünf, die vor ihr gegen den Befehl die siebente Türe geöffnet haben. Sie befreit sie aus ihrem Kerker, und die erbitterten Bauern schleppen unter wildem Siegesheulen den gefesselten Blaubart herein. Nun können die Frauen sich rächen. Aber Ariane zerschneidet die Fesseln, und als sie die Zauberburg verläßt, folgt ihr keine der andern fünf. Sie bleiben treu bei dem furchtbaren Blaubart.

Schwester Beatrix, die Pförtnerin, folgt, da der Liebe Sehnsucht übermächtig in ihr wird, dem Werben Ritter Bellidors, nur legt sie ihr Klostergewand vor die Statue Mariens, ehe sie flieht. Die seligste Jungfrau steigt vom Sockel herab, zieht Kutte und Schleier an und läutet zur Hora. Die Nonnen sehen, daß durch Beatricens Unachtsamkeit das Marienbild verschwunden ist, und wollen die vermeintliche Pförtnerin züchtigen, aber da fangen die Gewänder der Jungfrau an zu leuchten, die Engel am Altare neigen sich, alle Heiligen beugen sich inbrünstig, die steinernen Statuen an den gotischen Pfeilern fallen auf die Knie, Engeljubel durchbraust himmlisch die Kirche, Blumen schweben duftend nieder – Schwester Beatrix ist eine Heilige! – Nach fünfundzwanzig Jahren kehrt die wahre Beatrix zurück. Müde sind ihre Füße und wund, mit Staub und Schmutz ist sie bedeckt, und auch ihr Herz ist müd und wund, und ihre Seele ist durch Staub und Schmutz gegangen. Mit zitternder Hand tastet die Heimgekehrte nach Gürtel und Schleier, hüllt sich, denn die Arme friert erbärmlich, ins reine klösterliche Gewand und bricht ohnmächtig zusammen. Die greisen Schwestern wanken herein, finden die heilig verehrte Beatrix, finden die wieder an alter Stätte thronende Schirmherrin, gnadenvoller, lächelnder und schimmernder anzusehen denn je zuvor. Mit liebender Ehrfurcht stützen sie Beatrix und sehen, wie fürchterlich die Arme gealtert ist: wie welk die Haut, wie erloschen der Blick, wie grau die wirren Strähnen, wie gebrochen die einst so Strahlende. In wilden Selbstanklagen enthüllt Beatrix die traurige Vergeudung ihres Lebens und das namenlose Elend jener fünfundzwanzig Jahre: als Dirne klagt sie sich an, deren Leib jedem feil stand, nachdem Bellidor sie verlassen; als Erwürgerin ihres jüngsten Kindes, nachdem ihr die drei älteren in grauenhafter Not gestorben, – sie war wahnsinnig, und der Wurm schrie vor Hunger. Erschüttert lauschen die greisen Schwestern der schrecklichen Beichte. Sie glauben kein Wort davon, wissen sie doch, wie heiligmäßig Schwester Beatrix diese langen Jahre vor ihren Augen gelebt hat. Nur seine Heiligen läßt Gott, als letzte Prüfung vor der ewigen Seligkeit, so schwer und bitter versuchen! Da legt die müde Beatrix das Haupt nieder zum langen, bitter genug verdienten Todesschlafe. In der Welt hat die Arme nicht Ruh noch Rast gekannt vor der Bosheit und dem Hasse der Menschen, nun wird ihr letztes Stündlein von eitel Liebe und Güte verklärt. Sie neigt das Haupt und stirbt.

5

Es lebte in der Stadt Pisa Madonna Giovanna, eine ebenso tugendhafte wie schöne Dame, vermählt mit dem Capitano der Stadt, Guido Colonna. Sie rettete Leben und Besitz der Bürgerschaft, als die Florentiner den Ort scharf bedrängten, indem sie dem Begehren des feindlichen Anführers Prinzivalle gehorchte, nackt, nur mit einem Mantel bekleidet, auf eine Nacht in sein Zelt zu kommen, Durch eine wunderbare Laune des Geschickes, wie nicht minder durch die erstaunliche und großmütige Enthaltsamkeit des Feindes geschah es, daß er Monna Vanna nicht berührte, sondern sie mit der ehrerbietigen Liebe eines Bruders die Nacht hindurch bei sich behielt und mit ihr von sonnigeren Tagen der Kindheit sprach, da sie beide in Venedig zusammen gespielt hatten. Aber weil die unbegreifliche Schonung Pisas den Prinzivalle als einen längst Verdächtigen und halb in Ungnade Gefallenen der Rache der Florentiner ausgeliefert hätte, floh er mit Giovanna in die gerettete und mit Lebensmitteln und Geschossen versorgte Stadt. Vannas Gemahl aber, der von unadliger und argwöhnischer Gemütsart war, und unfähig, den Edelmut des Prinzivalle zu begreifen, verschloß sein Ohr gegen die Schwüre der Frau, daß sie als eine Reine und Unschuldige ihm zurückkehre, und befahl, den Prinzivalle allsogleich zu einem grausamen Tode zu führen. Da wußte sich die edle Dame in bitterer Herzensnot keinen andern Rat mehr, als daß sie log, jener habe sie berührt und sie ihn mit Liebkosungen listig nach Pisa gelockt; und vor aller Augen überhäufte sie den Gefesselten mit den glühendsten Küssen, um zu zeigen, wie schlau sie ihn betört habe, und befahl, ihn aufs beste zu bewachen, denn ihrer Rache gehöre er nunmehr. Also geschah es, daß eine tugendhafte Dame in Liebe zu einem edlen Jünglinge entbrannte, weil ihr Gatte zu klein für die Großmut des Feindes und die Wahrheit des Weibes sich erwies.

 

Monna Vanna entpuppte sich als ein Kassenstück ersten Ranges. Wer nie vorher auch nur eine Zeile von Maeterlinck gelesen hatte, ließ den Namen nunmehr wie ein Bonbon auf der Zunge zergehen, schmatzte und schmunzelte, verdrehte mit weihevoller Lüsternheit die Äuglein und sprach den Namen grundsätzlich falsch aus. Was war geschehen? Welches Unglück war geschehen?

6

Aber damit beginnen die Fragen der Kritik. Ohne Unterbrechung, ohne jedes Dreinreden wurde der Inhalt dieser Dramen erzählt; so, daß ihr Eigentümliches ruhig und deutlich hervortrat; so, daß der Leser, auch wenn er das Werk nicht kannte, nun darüber orientiert ist. Orientiert in dem Sinne, daß er nunmehr eher einen Hymnus, als eine Ablehnung erwartet. Immerhin aber so genau orientiert, daß er Hymnus sowohl wie Ablehnung selbst nachprüfen und berichtigen kann. Das ist sein Recht. Ich aber habe Lust, nach so vieler Feierlichkeit, zu der meine Aufgabe mich zwang, ab und zu ein wenig zu lachen. Das ist mein Recht.

Zuvor jedoch sei dem Dichter noch einmal das Wort erteilt.

Maeterlinck hat sich zweimal über das Drama vernehmen lassen. Der ersten Gesamtausgabe seiner kleinen Dramen hat er ein Vorwort mit auf den Weg gegeben. Er spricht darin mit lächelnder Nachsicht von seinem Erstlingswerke, der Princesse Maleine, dessen gefährliche Naivitäten er ebensowenig verkennt, wie die vielen dramatisch überflüssigen Auftritte, die wunderlichen Wiederholungen, durch die seine Personen wie schwerhörige Schlafwandler erscheinen, welche jäh aus bangen Träumen gerissen worden sind. Er schaut zurück auf die größere Reihe der Todesdramen: Was er in ihnen zu erwecken unternahm, war das Gefühl von der Gegenwart »ungeheurer Mächte, unsichtbar zugleich und fürchterlich, deren Absichten keiner kennt, die aber all unserm Tun feindlich zu sein scheinen, feindlich dem Lächeln, dem Leben, dem Frieden, dem Glücke. Unschuldige, aber wider Willen feindliche Geschicke schürzen und lösen sich, und Alle gehen zugrunde, und traurig blicken die Weiseren: sie sehen das Kommende voraus, aber können nichts ändern an all dem grausamen und unerbittlichen Spiel, das Liebe und Tod mit den Lebenden spielen. Liebe und Tod und die andern Mächte alle üben in diesen Stücken eine Art tückischer Ungerechtigkeit aus, deren Strafen (denn Belohnungen kennt diese Ungerechtigkeit nicht) vielleicht nur Launen des Schicksals sind ... Fast stets erscheint dies Unbekannte in der Gestalt des Todes ... Das Problem der Existenz wird durch das Rätsel ihrer Vernichtung beantwortet. Dieser gleichgültige unerbittliche Tod, blindlings tappend und tastend, holt sich am liebsten die Jüngsten, die am wenigsten Unglücklichen, ... kleine, zerbrechliche, schaudernde Geschöpfchen, die tatlos grübeln; und all ihrer Worte und all ihrer Tränen Bedeutsamkeit liegt darin, daß Worte und Tränen in den Abgrund fallen, an dessen Schneide sich das Drama abspielt, und daß sie wunderlich darin verhallen, im Bodenlosen gleichsam, denn dumpf nur klingt und trüb verworren der Schall.«

In einem kleinen Aufsatze hat Maeterlinck seine Ansicht vom modernen Drama im allgemeinen niedergelegt. Seine Ästhetik ist, wie die der meisten Künstler, eine Formulierung dessen, was er kann, als gut, und dessen, was ihm versagt ist, als schlecht. Das erste dünkt ihm der Weg der Zukunft; das, was er nicht kann, ist veraltet und abgetan. Als das Wesentliche erscheint ihm beim modernen Drama das Verkümmern der äußeren zugunsten der inneren Handlung; gewalttätige Konflikte, tragische Erschütterungen, blutige Lösungen, wie das antike Drama und das der Renaissance sie liebte, seien fortan unmöglich, weil unser modernes Leben zu nüchtern, zu kühl rechnend und besonnen geworden sei. Anzustreben sei ein neues Theater, ein Theater des Friedens, des Glückes, der Schönheit ohne Tränen.

7

Als man anfing, aufmerksamer hinzuhören, wenn Maeterlincks Name genannt wurde, da war man in Deutschland eben der Offenbarung von vorgestern ein wenig müde geworden. Man hatte sich mit der schalen Kost des Berliner Naturalismus den Magen verdorben und verlangte nach künstlerischerer Würze, nach schärferen Reizen. Bot sich ein Narkotikum, so auserlesen konzentriert, künstlich und berauschend zugleich, wie die ersten kleinen Dramen des Belgiers? Wer die letzten Jahre hindurch mit offenem Auge die Entwicklung der Malerei verfolgt hatte, sah eine neue Mode schon von längerher kommen: die graue Milieumalerei, die sozial-pathetische Schilderung, die lebensgroßen Kohläcker waren eines schönen Tags wie weggezaubert: man schwelgte in holdester Märchenzartheit, malte symbolische Gedichte, philosophierte mit Pinsel und Ätznadel, badete sich in Schönheit. Nie vorher hatte man so unheimlich schön gemalt. Der unter spöttischen Nekrologen begrabene Realismus hatte übertriebenen Respekt vor dem Modell. Die Neu-Romantik (denn um dieselbe Zeit prägte man dieses sehr schöne Wort und setzte es vorsichtig in Umlauf) entband von solch unbequemer Forderung: man durfte wieder nach Herzenslust auswendig malen! Der Naturalismus hatte nur das Triste, Peinigende, Sinnlose, Gemeine der Realität erfaßt und dargestellt. Die Neu-Romantik beschränkte sich auf einen kleinen Umkreis fahler mondübergossener Halde, auf der bleiche hysterische Jungfräulein sich zu blassen rachitischen Knaben niederneigten und Babygefühlchen im Babyjargon stammelten. Drüben aber, jenseits des vergoldeten Gitterzäunchens, blühten und dufteten wie in den alten Tagen die reichen Gärten des Lebens, in denen hell und heiß die liebe Sonne schien und Vögel sangen und kühle Brunnen rauschten und kecke Winde wehende Wipfel umspielten. Die deutsche Romantik vom Anfang des Jahrhunderts war der frische und übermütige Ansturm eines jungen Geschlechts gegen die klassizistische Hochburg gewesen, die Neu-Romantik war der vorsichtige Tastversuch einer Handvoll Literaten, wieder Fühlung mit den zahlungsfähigen Kreisen des deutschen Bürgertums zu gewinnen, die man durch den ungebärdigen Naturalismus vor den Kopf gestoßen hatte.

Man soll nie vergessen, von wem Maeterlinck entdeckt worden ist: von Octave Mirbeau! Man soll auch nie vergessen, wann und wo Maeterlinck von Octave Mirbeau entdeckt worden ist: im August, in den Hundstagen! Weiß man aber auch, was Hundstage in Paris bedeuten? Die Stadt ein stauberfülltes glühendes Gefängnis; Bäume und Rasen wie verbrannt; der weiche Asphalt stinkt zum weißlichblauen Himmel; man lechzt nach Amer Picon, und Piperminthe á l'eau dünkt dem verstocktesten Alkoholiker ein trinkbares Getränk; keine Linderung in den Nächten, keine Abkühlung durch ein frisches Schwimmbad. In solcher Höllenqual ist man rührend empfänglich für jegliche Suggestion, wunderlich dankbar für jede Sensation. »Ein belgischer Shakespeare!« Warum nicht? Man glaubt gern alles, man widerspricht bei gar nichts, hält Octave Mirbeau für einen kompetenten Kritiker und Maurice Maeterlinck für ein naives Genie. Ein belgischer Shakespeare! Man hat schon seit langem keinen literarischen Messias mehr gefeiert: wie hübsch von Octave Mirbeau, einen zu entdecken, lá-bas ... Was den Franzosen geographisch über den Horizont geht, nennen sie lá-bas; was sie literarisch nicht mehr verstehen, brouillard du Nord. Auch Shakespeare, den die Franzosen trotz Taine, trotz Paul de Saint-Victor nie verstanden haben, ist für einen Mirbeau lá-bas, und was er schreibt brouillard du Nord; ein ebenso nebulöses wie schleierhaftes Genie. Aber – im übrigen – welch gefundener Titel für ein Feuilleton in den Hundstagen: »Ein belgischer Shakespeare«. Wer erdreistete sich, den Belgier anzuzweifeln? Nun wohl, so mochte der Shakespeare nebenherlaufen! Mirbeaus Artikel wurde gedruckt, ein paar Camelots schrien ihn aus, ein paar Boulevardiers lasen ihn, alle Welt vergaß ihn. In Frankreich wenigstens. Ganz anders in Deutschland. Niemals hatte der leichtsinnige Mirbeau einen folgenschwereren Witz gemacht. Daß ein Feuilleton des Figaro für den Tag geschrieben und berechnet ist, kam den feierlichen Deutschen nicht in den Sinn. Was keinem von Mirbeaus Romanen, keinem seiner Dramen jemals vorher oder nachher passierte, geschah seinem Artikel: er wurde ernst genommen.

Die Berliner bekamen damals eine Dramatik vorgesetzt, so naturalistisch, daß die ganze Poesie zum Teufel ging. Wohlan, hier war soviel Poesie, daß die ganze Natur zum Teufel ging. Man hatte sich bei Hauptmann tödlich gelangweilt, hatte unter Gähnen applaudiert, unter Applaus gegähnt. Nun hatte man wieder einen Dichter. Nein, man hatte mehr, unendlich mehr: ein dankbares Objekt für geistreichelnden Tiefsinn, einen Dichter, der eigentlich ein Philosoph war, einen Philosophen, der zum mindesten als Bienenzüchter einiges verstand. Sehr bald war der belgische Shakespeare in Kreisen, die von Goethe nur wußten, daß er himmlisch unpassende Sachen geschrieben und den Goethebund gestiftet habe, eine gegebene und absolute Größe, die man als unerforschlich ruhig verehrte. Jedwedes sacrificum intellectus wurde ihm, soweit dies nötig oder möglich war, inbrünstig gebracht. Daneben aber, abseits von den Maklern der Literaturbörse, stand damals und steht noch heute eine kleine Anzahl Kenner, durchaus nicht geneigt, Maeterlinck so schnell abzulehnen. Wie konnte es geschehen, daß Maurice Maeterlinck nicht nur die Armen am Geiste verführte? Daß er nicht nur Kindern und Unmündigen das Gruseln lehrte?

8

Wer in Deutschland zuerst Maeterlinck Hoffnung und Sympathie entgegenbrachte, das waren alle vom Naturalismus Enttäuschten. Diese kleinen Dramen erweckten unbestimmte, sehnsüchtige Erinnerungen an geliebte Bilder: Mädchen mit todestraurigen und wundersam tiefen Augen, Gestalten, auf deren zarte Schultern eine unsichtbare und ungeheure Schwermut wie eine allzu gewichtige Bürde gelegt schien, schlanke Prinzessinnen, wie man in heimlichen Knabenträumen sie geliebt hatte, jugendliche Ritter in matten Harnischen, kleine sonderbare Häuser, die wie verzaubert in Abendglut flammten, seltsame Blumen im lichten Grase, ein wunderlich rührender Himmel darüber ausgespannt und auf Näh und Ferne ein schmerzlich sanfter Schimmer. Die ganze Melancholie des Jahrhundertendes duftete schwer und betäubend aus diesen Dichtungen. Man mußte an Rossetti denken und an Burne Jones, wenn man die rätselhaft holdseligen Gestalten der Dichtung sich im Bilde vorstellen wollte. Ein eminent musikalischer Reiz sprach aus jeder Situation. Süße Traurigkeit quoll aus den dunkeln Märchen und machte das Herz unruhig und schwer.

Eins hatte dem Parvenü Naturalismus gefehlt: Stil. Maeterlinck hatte Stil. So vielfach die Einflüsse waren, denen dieser junge Dichter sich hingegeben hatte, so verräterisch manche Wendung an Shakespeare, manche Replik an den späten Ibsen, mancher Gedanke an Emerson erinnerte, – das Ganze hatte Stil. Dazu kam, daß Maeterlinck ganz bescheiden auftrat: »kleine Dramen für Marionetten«; »kleine Singspiele«. Man konnte nicht anspruchsloser sein. Wie wohl das tat, nach all der basarmäßigen Reklame, mit der einem in Berlin neue Richtungen aufgeschwätzt wurden! Dieser Maeterlinck schien so recht für die Gourmets der Literatur gekommen zu sein. Die großen Bilder auf den Kunstmärkten waren erbärmlich, zugegeben; hier aber war wenigstens ein feines Talent, dessen phantastische Radierungen man bei sich zu Hause genießen konnte, Blatt um Blatt zärtlich am Rande fassend und sorglich wendend, hier vom melodischen Rhythmus sanfter Linien, dort von der raffinierten Einfachheit der Schattenverteilung, dort wieder von der atembeklemmenden Phantastik des Vorgangs aufs stärkste künstlerisch gefesselt.

Ach! Es gibt keine Feinschmeckerwerke der Literatur mehr! Es gibt keine Literatur der Wenigen für die Wenigen mehr! Gegen die edelsten Werke wird man allmählich verrucht mißtrauisch wegen der verdächtigen Gesellschaft, mit der man ihre Bewunderung gemeinsam hat. Man revoltiert zum Schlusse nicht gegen diese Gesellschaft, sondern gegen die Werke selbst. Es scheint das Schicksal aller Götterbilder zu sein, daß sie durch ihre aufdringlichen Priester diskreditiert werden. Was aber besonders ein wahrhaftes Verhängnis für die literarische Bildung der Deutschen ist, das ist, daß seit mehr als zehn Jahren anstatt der großen, vielseitigen und mächtigen Talente allgemein fast nur mehr interessante Spezialisten importiert und gelesen werden. Gorki und Wilde sind hierfür typische Beispiele. Man schwärmt für Maxim Gorki, kennt aber Korolenko nicht, sein unvergleichlich genialeres Vorbild. Man gebärdet sich wie verzückt vor Wildes Salome und legt ihre Quelle, Flauberts köstliche Herodias, gelangweilt aus der Hand. Gewisse Werke wirken auf ein gewisses Publikum wie Baldrian auf brünstige Katzen in lauer Sommernacht. Am meisten gilt das vom Theater. Es darf die tiefste erzählende Dichtung erscheinen, ohne daß sie auch nur ernsthaft gewürdigt würde. Das lumpigste und ordinärste Theaterstück wird besprochen, sein Erfolg telegraphiert. Sein Erfolg! Wir wissen alle, bis zu welch staunenswürdiger Meisterschaft die moderne Fälschung gelangt ist: die Tiara des Saitaphernes ist noch in gebührender Erinnerung. Die meisten Dichterkronen der Gegenwart sind um kein Haar echter...

9

»Jede Niedergangserscheinung zeugt auch wieder von höherem Leben. – Sinnbildliches sehen ist die natürliche Folge geistiger Reife und Tiefe. – Wir wollen keine Erfindung von Geschichten, sondern Wiedergabe von Stimmungen; keine Betrachtung, sondern Darstellung; keine Unterhaltung, sondern Eindruck. – Eine Neubelebung der Bühne ist nur durch ein völliges Inhintergrundtreten des Schauspielers denkbar.« Diese Sätze wurden um dieselbe Zeit geschrieben, als unter dröhnendem Beifalle das gänzliche Gegenteil der in ihnen niedergelegten Anschauung über die deutschen Bühnen ging. Die sie schrieben, waren die Feinsten und Scheuesten unter den Jüngeren, die sich voll Ekel vor dem Literatur- und Theaterbetriebe der Zeit abgeschlossen hielten. Ihre Sehnsucht schien sich in Maeterlinck zu verwirklichen, der, müde und dekadent, eine neue seltsame Schönheit den Empfänglichen verkündete, der in unvergeßbaren Gestalten, Bildern, Vorkommnissen alles Lebens und Sehnens rätselvolle Tiefe zu versinnbildlichen und zu deuten versuchte, der aus alten Märchen wundersame Stimmung schöpfte, der entschlossen auf den Schauspieler gänzlich verzichtete und nur von Marionetten seine Spiele dargestellt wissen wollte. Über manchen Szenen dieser Dichtungen ruhte eine schmerzliche, milde Weihe, als ob eine unendliche Bedeutung hinter all den einfachen Worten und Vorgängen verborgen läge, ein faszinierender Zauber, etwas zugleich Primitives, Unschuldiges, und Spätes, Wissendes, ähnlich den Szenen des Wagnerschen Parsifal.

Die Literaturbetrachtung einer kommenden Zeit wird vielleicht von Maeterlinck am höchsten jene Werke schätzen, denen kein Bühnenerfolg beschieden war: Alladine und Palomides, Aglavaine und Selysette. Am niedrigsten wird sie die Todesdramen werten. Vor einigen Jahren wurde in den Hauptstädten Europas eine Pantomime gespielt, in der ein Mann am Telephon stand und die Ausraubung seiner Wohnung, den Hohn der Eindringlinge, den Todesschrei seines Weibes durch dies fühllose Instrument vernahm. Ob die Todesdramen des Belgiers ihrem künstlerischen Wesen nach höher stehen, ist fraglich. Es gibt keine niedrigere Art von Kunst als jene, die auf das Grauen spekuliert. Sie setzt ein Publikum voraus, das um masochistischer Sensationen willen ins Theater geht. Auch für Maeterlinck gilt das Wortspiel, das Victor Hugo bei seinem Eintritt in die Akademie nicht erspart blieb: Vous avez introduit l'art scénique (l'arsenic) dans le drame. Die Technik dieser Stücke wurde mit der jenes höllischen Betthimmels verglichen, der sich Zoll um Zoll senkte und den Schlummernden lautlos erstickte. Andere Vergleiche drücken das Wesen des Vorgangs vielleicht noch deutlicher aus. Vor dem amerikanischen Sklavenkriege wurden rebellische Nigger auf eine sinnreiche Art gezüchtigt: man band sie an einen Baum, so, daß sie den glattgeschorenen Kopf nicht rühren konnten, und ließ aus einem angebohrten hohlen Kürbis ganz langsam einen Tropfen Wasser nach dem andern immer auf dieselbe Stelle des Kopfes niederfallen; die armen Teufel brüllten vor Schmerz. Das eigentliche Geschehnis in diesen Stücken ist stets ein rein äußerliches accident, das durch eine auf die niedrigsten Hintertreppenwonnen der »Spannung« spekulierende Technik zum événement wird. Die Grausamkeit allerdings, mit der diese Schauergeschichten erzählt werden, ist keineswegs alltäglich. Der Autor schleppt ein retardierendes Motiv ums andere herbei; der Kern ist gleichsam japanisch eingeschachtelt: in jeder Schachtel wieder eine kleinere, bis in der letzten, winzigsten das petit fait als widerlicher Unhold dem erschreckten Öffner entgegengrinst.

Kürzer: neurasthenischer Sardou. Ein auf die Höhe der Modernität gebrachter Sardou. Der alte Sardou hatte, trotz seiner unleugbaren Geschicklichkeit, einen bösen Fehler gehabt: er hatte bei seinen Zuhörern geistige Mitarbeit verlangt. Nichts von dem bei Maeterlinck. Mag der Zuschauer so dumm sein wie der Chimborasso, Maeterlinck kommt ihm schon; er muß beklommen, nervös, überwältigt, erschüttert werden. Immer an demselben zuckenden Nerv zu zerren; eine Situation auszupressen wie eine Zitrone; ein Gefühl, das schon in einem Augenblick erwürgen möchte, erbarmenslos auf eine Stunde zu verlängern; durch klugen Stumpfsinn, raffinierte Wiederholungen den härtesten Hörer mürbe, den gesündesten krank zu machen: das alles hatte dem Belgier ein anderer, Größerer vorgemacht, der noch unvergleichlich virtuoser auf den drei Grundinstinkten der modernen Seele zu spielen verstand, auf dem Brutalen, dem Unschuldigen, dem Künstlichen. Nach brutalen Reizen verlangt der moderne Mensch, weil er müde, verlebt, abgearbeitet ist; er braucht Stimulantien, immer stärkere, schärfere, wilder peitschende Stimulantien, Nach unschuldig-idiotischen Reizen verlangt der moderne Mensch, weil ihm, nicht nur im Theater, der vornehm genießende Intellekt abhanden gekommen ist; er steht nicht mehr über den Dingen, er hat keinen Sinn für pragmatische Darstellung, für den feinen Reiz strenger Kausalverknüpfung, für den Ewigkeitsakzent, den eine hohe Weltanschauung alltäglichem Geschehen und Tun zu verleihen vermag. Nach künstlichen Reizen verlangt der moderne Mensch, weil er den Sinn für Einfachheit, Ruhe und Größe verloren hat. Die Art, theatralische Kunst zu genießen, nähert sich mit unheimlicher Raschheit und Folgerichtigkeit der spätrömischen Zirkusmanie. Die Grenzen zwischen Zirkus und Theater verwischen sich; ob eine gewisse Art von Spannung durch La Mort de Tintagiles oder durch Looping-the-loop erweckt wird, macht verdammt wenig Unterschied. Maeterlinck lief Gefahr, zum petit marchand de poison zu werden; das lauernde Spielen mit dem Tode gab seinen ersten Werken eine fatale Ähnlichkeit.

10

Alle Künstler sind zwei Gefahren ausgesetzt: Zuerst bildet der Künstler sich sein Publikum, dann erwartet das Publikum ganz bestimmte Sensationen vom Künstler; der Künstler schreibt bewußt für ein Publikum. Noch größer ist das zweite Verhängnis: was einem Künstler ein einmaliges, ungeheures Erlebnis war, mit dem er gewaltig ringen mußte, bis es endgültig gestaltet war, ist ihm selber schon das zweite Mal ein rein technisches Problem der Wiederholung, das er leichten Sinns und spielend löst; aber sogar andere, denen seine Voraussetzung fehlt, die nichts dergleichen erlebt, nie nächtelang um den künstlerischen Ausdruck gerungen haben, machen eben diesen Ausdruck leichten Sinns und spielend nach, weil sie ihn technisch beherrschen und nachmachen können. Alles Große jedoch ist etwas Einmaliges, ein απαξ λεγομενον. Wer seine höchsten Erlebnisse ein zweites Mal gestaltet, prostituiert sie. Es war wohl in diesem Sinne, daß der alte Böcklin einmal äußerte: »Wer immer dasselbe malt, ist ein Schweinehund«. Und daß er den berühmtesten Musiker des Jahrhunderts barsch abtat: »Nein, der ist nicht groß. Der hat keine Variation.«

11

Doch laufen wir nicht Gefahr, ernster zu werden, als es sich für den Anlaß schickt? Laufen wir nicht selbst Gefahr, von philosophischen Problemen zu reden? Es gibt nur ein Mittel, wie mit Faustens Zaubermantel in einem Nu meilenweit aus dem philosophischen Walde zu entschweben: retten wir uns zu Maeterlinck dem Philosophen! Besuchen wir ihn in seiner Idylle, wie sie Octave Uzanne beschrieben hat: »Bin ich denn noch in Frankreich? Am Ende der Allee steht ein helles, schlichtes, gefälliges Haus; halb batavischer, halb Directoire-Stil. Weiße Fenster mit grünen Läden leuchten aus Wänden, die goldgelb sind wie Butter. Wiesen und Obstgärten ringsum. Vorne ein reizender Garten, den ein weißer Zaun umgibt, voll von lauter bunten, simpeln Blumen; der reine Garten eines Pfarrhofs. Maeterlinck empfängt uns im Sportkostüm. Dieselbe feierliche Ruhe, von der seine letzten Schriften erfüllt sind, glänzt in seinem Gesichte. Eine ruhige, helle, glückliche Seele strahlt aus seinen Augen; der freie, offene Blick eines Kindes. Das Innere der Zimmer wirkt ganz geistlich einfach, ganz und gar harmonisch; lauter weiße Täfelung, leichte Vorhänge, keine Bilder, kein protziger Schmuck. Die Möbel im Salon einfach grün, im Eßzimmer rot lackiert. In Bauernvasen schlanke Blütenzweige auf den Wandbrettern. Im Arbeitszimmer, mitten auf dem Tisch, mitten zwischen Büchern, ein Bienenvölkchen, das sich gar nicht stören läßt. Ein Dutzend labt sich an etwas Honig, der offenbar absichtlich auf die Tischdecke ausgegossen worden ist.«

Was weiß er uns zu verkünden, der gütige Landpfarrer, Imker und Philosoph im Sportanzug? Er spricht vom innern Leben, wie der selige Thomas von Kempis; vom Schweigen in unserm Innern, das doch so beredt unser wahres Wesen ausspricht. Es ist wie der unterirdische Dialog, der in allen guten Dramen als bedeutsamer Grundton mitschwingt. Darum sind Blinde manchmal so hellsichtig, weil sie so konzentriert in sich hineinleben. Manchmal aber erkennt die Seele sich selbst; in äußerster Furcht, in innigstem Mitleiden, in höchster Liebe erkennen die Seelen sich wechselseitig. – Was sind wir schließlich? Die Götter lächeln über uns, wie wir lächeln, wenn wir junge Hunde auf einem Teppich herumspielen sehen. Wir wollen schweigen; wir wollen warten. Vielleicht hören wir balde die Götter flüstern. Ist denn der Unterschied so groß zwischen einem Aphorismus Marc Aurels und der Bemerkung eines Kindes, daß es kalt sei? Seien wir demütig!

Maeterlinck als Philosoph unterliegt gänzlich einer Gefahr, die sich vielleicht als »die Freude am Jargon« bezeichnen läßt. Er mischt eine bestimmte Anzahl von Abstrakten: Weisheit, Schicksal, Seele, Gerechtigkeit, Mysterien, Kräfte, Gesetze, Ursachen, Natur. Er legt diese Abstrakta vor uns aus wie ein Spiel Karten. Er manipuliert damit ebenso rasch wie elegant. Jeden Augenblick geraten wir in Versuchung zu glauben, das amüsante Spiel könne vielleicht am Ende doch noch irgendwelchen Sinn haben. Man kann auf diese Weise Essays schreiben bis das Papier ausgeht. Man kann auf diese Weise Bücher schreiben. Sogar mehrere Bücher. Sogar dicke Bücher. Ja, man kann sogar viel leichter solche Bücher schreiben, als sie lesen. Dies scheint Ihnen zu stark zu sein? Dies scheint Ihnen denn doch ungerecht zu sein? Nun wohl, hören Sie! Sie haben es selbst gewollt! »Wo will die Natur hinaus? Wonach trachten die Welten im Schöße der Ewigkeit? Wo fängt das Bewußtsein an, und kann es keine andere Form haben, als die, welche es in uns annimmt? Von wo ab sind die physikalischen Gesetze auch Moralgesetze? Ist das Leben bewußtlos? Kennen wir alle Eigenschaften der Materie und wird sie einzig und allein in unserem Gehirn zum Geiste? Und was ist schließlich die Gerechtigkeit, aus einer andern Höhe gesehen? Bildet die Absicht notwendigerweise den Mittelpunkt ihres Systems, oder gibt es auch Fälle, wo die Absicht gar nicht mitzählt?« (Der begrabene Tempel. S. 41.) Man kann das tiefsinnig finden. Man kann es auch pueril finden. Wenn Feuerbach von sich selbst sagte: »Keine Philosophie, ist meine Philosophie«, so kann mit ungleich mehr Recht Maeterlinck sagen: »Meine Philosophie ist keine Philosophie.« Die philosophischen Werke Maeterlincks lesen sich sehr oft wie eine höchst unfreiwillige Parodie auf Emerson, den er auch zum Teil übersetzt hat. Besonders in die dunkelsten von Emersons Essays hat er sich verliebt. Ohne Gegenliebe, wie es scheint: Self-Reliance, Compensation, The Over-Soul, Circles, Nature. So ist Le temple enseveli nur der mißverstandene und zum Erbarmen verwässerte und verspießbürgerlichte Essay Compensation. Man wäre beinahe versucht, einen Ausspruch von Oskar Wilde zu parodieren: Whatever is philosophical in Mr. Maeterlinck's big volumes, he owes to Emerson. Whatever is nonsense, he owes to himself. Ich mache mich anheischig, für jeden tiefen Gedanken, den man für Maeterlinck reklamieren möchte, die Vorlage bei Emerson nachzuweisen. Der allerneueste Band aber, Le double jardin, warum doch nennt er sich nicht lieber Le triple jargon? Denn es ist in der Tat keine schwache Tripelessenz von Jargon, mit der hier salbungsvoll über den Tod eines jungen Hundes und über den Zorn der Bienen, über Feldblumen und Chrysanthemen, über Automobilfahren und Duell gepredigt wird. Ich lege das Buch weg und schlage, um mich zu erholen, die neue Nummer der Woche auf: was muß ich finden? Von Maeterlinck einen Essay über den Landaufenthalt, genau in demselben Jargon, süß wie Saccharin, weich wie Butter, unaufhörlich murmelnd und plätschernd wie ein seichtes Wässerlein. Es ist fast wie eine symphonische Dichtung von Liszt. So gut es Liszt freistand, für jedes beliebige Werk der Weltliteratur sich orchestral zu echauffieren, ebensogut könnte sich Maeterlinck über jedes beliebige Thema philosophisch exaltieren, über den Cake Walk, das Diabolo, die selbstlose Tätigkeit des Psychologischen Verlags, Maggis Suppenwürze, Zeppelins Luftschiff und Isadora Duncan.

12

Wenn man nicht scharf, nicht schneidend genug die rosarote Theosophie ablehnen kann, die uns Maeterlinck mit beharrlicher Sanftmut doziert, so muß man andrerseits dem Dichter geben, was des Dichters ist. Schon in Pelleas und Melisande glänzt es stellenweise auf wie die Vision einer seligen Märcheninsel, die hoch über den dumpfen Stubenschauern der Prinzeß Maleine, unendlich hoch über den kleinlichen Henkerkniffen der Todesdramen schwebt. Ein Hauch von der schwermütigen und ritterlichen bretonischen Sage, ein verwehter Klang vom alten Lied von Tristan und Isolden seufzt sehnsüchtig aus diesem Stücke. Man darf in der Weltliteratur suchen, bis man eine Szene findet, so zart leidenschaftlich wie diejenige, in der Melisande vom Söller aus auf Pelleas sich herabneigt, und ihr goldenes Haar sich löst, und die blonden Wellen den Abschiednehmenden umhalsen. Dies ist nur ein Beispiel für den außerordentlichen Sinn Maeterlincks für das Szenische. Seine Szenen sprechen ihre eigene, köstliche Sprache: sie können des dichterischen Wortes entraten. In der Szene, im Bühnenbilde, in der Attitüde liegt die Dichtung; das Wort dient nur sie zu verstärken, ihr Verweilen zu rechtfertigen, das neue Bild vorzubereiten. Nicht die Entwicklung ist das Entscheidende, sondern die Szene. Mägde öffnen in Morgenfrühe hohe Burgpforten. – An einem Brunnen sitzen, gegeneinander geneigt, zwei Liebende, die es noch nicht wissen, daß sie sich lieben. – Der Eifersüchtige hält auf dem Arme das Kind, das in das dämmerige Gemach hineinsieht, in dem zwei Liebende stumm träumen. – Eine Sterbende liegt im Abendscheine auf weißem Pfühl: da sinken plötzlich die alten Mägde in die Knie. – Das alles aber ist Oper, nicht Drama. Es sind lauter stillstehende Szenen, von denen solch wundersamer Reiz ausströmt. Nur Wagner hat einen ähnlichen Blick für das szenisch Hinreißende. Es ist weniger ein rein episches Verweilen auf ergreifenden Situationen, als ein lyrisches und ekstatisches Schwelgen. Dramatisch ist es nicht. Die Hauptpersonen bei Maeterlinck sind rührend schöne Opfer, die in edler Haltung den Todesstreich erwarten. Er kennt nicht die Tragödie des Wollens, des Kämpfens, sondern der duldenden Unschuld, der sanften Resignation, des vom Schicksal zermalmten wehrlosen, sich gar nicht wehren wollenden Einzelgeschicks. Er schreibt tragische Idyllen, verherrlicht eine rein passive Tragik, eine feminine Art von Tragik; nicht umsonst sind alle Hauptpersonen seiner Stücke junge, etwas kränkliche Frauen.

13

Letztes Problem: ist zwischen geläuterten Menschen noch eine Tragödie möglich? Ist das Theater der Güte, der Liebe, der Schönheit ohne Tränen möglich? Maeterlinck hat in Aladine und Palomides versucht, den neuen Weg zu beschreiten: es wurde ein Kompromiß zwischen dem alten und dem neuen Ideale; Korridorschauer, vermischt mit Tristanischer Entzückung. Auch in Aglavaine und Selysette scheint das Schicksal plötzlich die vom Dichter gewollte Richtung eigenwillig zu verlassen und stürmisch der Tragik, einer sehr tränenreichen Tragik sogar, zuzueilen. Bittre Tränen glänzen auch aus den Augen der armen Beatrix. Hier war Maeterlinck nicht glücklich von seiner Vorlage, der mittelniederländischen Legende Beatrijs, abgewichen; die alte Fassung ist dramatisch viel straffer als das opernhafte Mysterium, das er daraus gemacht hat. Dort ist vor allem Wunder und Fall begründet: Beatrix findet Gnade, weil sie auch in ihrem Welt- und Sündenleben die marianischen Tageszeiten betet. Sie sündigt nur, um ihre armen Würmer vor dem Hungertode zu bewahren, und da der Abt, dem sie ihre Schuld beichtet,

»vom Kloster schied mit Gruß und Segen,
da nahm er mit auf seinen Wegen
die Kinder zwei in Büßertracht,
hat gute Menschen aus ihnen gemacht«.

Gerade der letzte Zug ist echt mittelalterlich: hoffend und gütig. Cäsarius von Heisterbach kennt diesen Schluß ebensowenig wie die (auf der kaiserlichen Bibliothek in Wien befindliche) Übersetzung und ihre französischen Nachahmungen, wie auch Maeterlinck ihn nicht kennt. Gottfried Keller hatte die kraftvolle und heitere Innigkeit der mittelalterlichen Legende verstanden, und mit Rührung liest man in seinem Berichte, wie die alte Beatrix in dem eisernen Rittersmann und den acht jugendlichen Kriegern, schön wie geharnischte Engel und schlank wie junge Hirsche, den Gatten und die Söhne wiedererschaut, und alles Volk froh bekennt, sie habe der seligsten Jungfrau die köstlichste Gabe gebracht. Vor solch weltfroher und gütiger Weisheit verblaßt Maeterlincks zerknirschte Oper wie ein müder, böser Traum. Seine Schwester Beatrix ist im Grunde jenen erbarmenswürdigen Geschöpfen der neueren Russen verwandt, die, vom Leben befleckt und zertreten, in einem Winkel verenden, und über die bittere, lebensfeindliche Unfreudigkeit der Auffassung des Dichters täuscht nicht die prunkvollste, sinneberauschende Dekoration, nicht die feinste Stimmung, täuschen nicht Glockenklang und Rosenregen und Engelreigen den Schärferblickenden hinweg.

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Da überraschte Maeterlinck alle Welt durch das Drama, das ihm in Deutschland lärmenden Tageserfolg eintragen sollte. Was war Monna Vanna andres, als ein typischer Novellenstoff der italienischen Renaissance? Bot sich eine gleich lockende Gelegenheit, die Liebe in ihren verschiednen Formen mit spitzfindiger Leidenschaft zu preisen? Gattentreue, hoffnungslose Schwärmerei, unbewußt und zart keimende Neigung, wütende und blinde Eifersucht, fessellose, gewaltige Liebe? Wie aber kam Maeterlinck zur Renaissance? – Es geht ein zwingender und unwiderstehlicher Reiz aus von der großen Form. Zwischen drei ganz großen, gewissermaßen ewigen Formen sucht das Drama der Neueren zu vermitteln: zwischen hellenischer Tragödie, französischer Renaissancekunst und Shakespeare. Der Zauber der großen Form wird nur schwachen Geistern verhängnisvoll. Er zieht an wie ein Magnet. Man kann um die Form, in der eine künstlerische Epoche ihr Letztes und Vollendetstes aussprach, nicht herumkommen. Die Form erweist sich schließlich stärker als das künstlerische Individuum, aber den weise sich Unterwerfenden macht sie zum Lohne doppelt stark. Maeterlinck, der sich schon seit geraumer Zeit der jambischen Sprache genähert hatte, schrieb die Monna Vanna zum größten Teil in reimlosen Alexandrinern; so sehr ist er auch im Äußerlichen im Banne Racines. Denn Monna Vanna ist eine Nachblüte racinescher, wie Cyrano de Bergerac corneillescher Kunst. Freilich ist Maeterlinck nicht ungestraft ins klassische Theaterland hinübergesprungen; es ist durchaus nicht immer Racine, sondern auch ein wenig Sardou, dem er seine Wirkungen verdankt. Seien wir sicher, daß in zwanzig Jahren Sarah Bernhardt die Monna Vanna spielen wird. ... Was sonst noch an dem Stücke störte, war vor allem die wunderliche und geschwätzige Philosophie des greisen Marco, in der Tiefsinn und Banalität sich drollig vereinigten.

Um aber über eines keinen Zweifel zu lassen: wem Monna Vanna gefiel, das war am Ende gleichgültig; wem aber das Stück niemals und unter keinen Umständen gefallen durfte, verstand sich von selbst: dem deutschen Publikum. Nichts, was dem deutschen Geschmack entgegengesetzter war: schöne Reden, heldenhafte Gefühle, langes Verweilen auf psychologischen Nuancen, jäher Sinneswechsel, viel, allzuviel Reflexion, das alles in gepflegter, edler Sprache, in einer Sprache, die in ihrer eigenen Schönheit schwelgte, ihrer eigenen Köstlichkeit nicht müde wurde, die am Worte sich ekstasierte und göttlich trunken redete: wie war das alles romanisch! wie wenig entsprach das deutschen Wünschen, wie unverständlich mußte das einem deutschen Publikum sein! Und nun geschah das Wunder: Monna Vanna hatte in Paris und damit in Frankreich wenig, in Deutschland einen enormen Erfolg. Damit ist wieder die Frage fällig: Was war geschehen? welches Unglück?

Sudermanns Johannes verdankte seinen Erfolg dem halbnackten Schleiertanze der Salome. Was vorher etwa, an Originalem oder klug Nachempfundenem, in dem Stücke fesseln konnte, langweilte das Premièrenpublikum; aber als im fünften Akte Salome sich zum Hemisphärentanze rüstete, ging es wie ein Schauder durch das Haus: man atmete schwer und brachte das Binokel nicht mehr vom starren Auge; »da verstanden wir uns gleich ...« Auch Wildes Salome tanzte, aber sie ersparte den kunstsinnigen alten Herren vier langweilige Akte; man kam rascher zur Sache. Monna Vanna war die Weiseste: sie dekolletierte sich im zweiten Akte. So füllte sie zugleich den Abend und das Haus ...

Die Kühle, mit der Maeterlinck von Anfang an in Frankreich, vom Publikum sowohl wie von der Kritik, behandelt wurde, konnte stutzig machen. Der geringe Erfolg, den Monna Vanna bei den Franzosen fand, mußte sogar auffallen. Aber als das begabte Theatervolk, das sie sind, nahmen die Franzosen Anstoß an dem Aufwande von Gemüt und Reflexion, an dem Mangel an dramatischer Wucht. »Alle Personen sind um die Wette edelmütig«, spottete ein Kritiker; »warum bewirbt sich keine um den Prix Montyon?« Die Franzosen sind sehr empfindlich im Punkte der Sprache; der reimlose Alexandriner, in dem fast die ganze Monna Vanna geschrieben ist, ging ihnen auf die Nerven. »Warum, sagten sie, schreibt dieser Herr Maeterlinck Verse, die keine Verse sind? entweder er kann in unserm klassischen Dramenverse dichten, warum, zum Teufel, tut er es dann nicht? oder aber er kann es nicht, warum, zum Teufel, hält er uns mit seinen monotonen Jamben zum Narren?«

In beiden Punkten denkt der Deutsche anders. Er liebt die Verse, die eigentlich Prosa sind. Er liebt das »Gemüt« auf der Bühne. Wenn aber gar das Gemüt nichts anhat, als einen weiten Mantel, ist er vollends im siebenten Himmel ...


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