Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Doktor Gotthold Belling machte nachmittags mit seinem Hunde einen Spaziergang auf der städtischen Promenade längs der alten Stadtmauer. Eine Art Trotz hatte ihn hierher geführt, wo er aller Welt begegnen mußte. Er konnte nicht zweifeln, daß die 160 Kunde von seiner pädagogischen Niederlage längst durch einige hundert Kanäle in aller Ohren gedrungen sei und daß er infolgedessen in der öffentlichen Schätzung tief gesunken sein müsse. Was kann denn auch an einem Lehrer sein, der sich von den Schülern aus der Klasse jagen läßt! Er beschloß, diesem Wetterumschlag der Volksstimme die Stirn zu bieten; die Nadelstiche konnten ihm wenig anhaben, dazu war sein Herz zu tief und ernsthaft erschüttert. Darum ging er mutig den spöttischen Blicken der Menschen entgegen.
Molly machte nach seiner Gewohnheit die Vögel darauf aufmerksam, daß ihr Reich die Luft sei und nicht die Erde.
»Warum jagst du mich nicht auf, Molly?« fragte er bitter. »Ich bin ja nun auch wieder ein Vogel ohne Heimatrecht auf der Erde; und du bist es, der mich darum gebracht hat!«
Zu seiner eignen Verwunderung aber war in den Blicken und Grüßen der ihm begegnenden Spaziergänger wenig Veränderung zu bemerken; sie zeigten alle noch die gleiche scheue Ehrerbietung wie immer, nur daß für seinen durch Mißtrauen geschärften Blick die ducksame Scheu vielleicht die freie Ehrerbietung um ein merkliches zu überwuchern schien. ›Die haben noch etwas auf dem Herzen,‹ dachte er; ›die Legende von mir ist auch durch die vernichtende Kritik meiner Tertia noch nicht beseitigt worden!‹ Er dachte an das letzte Gespräch mit Helene. Es überkam ihn eine selbsthöhnende Lust, den nutzlos gewordenen Nimbus gewaltsam vor aller Augen zu zerstreuen; wenn er nur gewußt hätte, wo er ihn fassen sollte, der, ihm 161 selber unbekannt, in der Luft um ihn schwebte! Er war in der Stimmung, alles, was für ihn selbst noch etwas Gutes bedeuten konnte, mit eigner Hand in Stücke zu schlagen. Er wollte sein wie der Vogel in der Luft und auch nicht einen Zweig mehr haben, auf den er sich setzen könnte! Er sehnte sich danach, den Punkt zu erreichen, den er doch erreichen mußte, auf dem ihm nichts, gar nichts mehr zu hoffen übrigbliebe, wo es nicht mehr schlechter mit ihm werden konnte, also auch nichts zu fürchten mehr bliebe. Darum vermied er es, Helene aufzusuchen, gerade weil eine seltsame Ahnung ihm sagte, daß er bei ihr irgendeinen Trost finden würde. Woher kam ihm diese Ahnung? Was konnte sie ihm helfen, auch wenn sie wollte, die kühle Heilige? Nein, er wollte in der Welt von keinem Freunde mehr wissen, außer von seinem Hunde, und auch von dem nur, weil er sein wahrer Feind gewesen.
Endlich ward er doch der neugierigen Augen müde und bog von dem Promenadenweg seitwärts ab auf eine Chaussee, die zur Stadt hinausführte und ziemlich menschenleer zu sein pflegte. Als er die letzten Häuser hinter sich hatte, holte er einen hochbepackten Kohlenwagen ein, dessen gemächlicher Bewegung er nun folgte, sich dicht hinter ihm haltend, um sich den Ausblick in die Welt vor ihm zu verdecken. »Der Vogel Strauß, wie er im Buche steht!« bemerkte er selber. »Wer doch im Leben immer beruhigt hinter so einem plumpen Kohlenwagen hertrotten könnte! Die meisten Menschen können es; warum gerade ich nicht?«
Doch er sollte erfahren, daß auch ein so 162 ausgedehntes Schutzdach nicht vor unliebsamen Begegnungen schützt.
Er vernahm hinter sich den Hufschlag eines leichttrabenden Pferdes und erkannte, zurückblickend, die kraftvolle Gestalt des Herrn von Bodungen. Es war ihm doch peinlich, gerade von diesem Mann als melancholisches Anhängsel eines Kohlenwagens gesehen zu werden, und er trat seitwärts auf die freie Straße. Mit Schrecken aber bemerkte er nun ziemlich nahe vor sich zwei ihm nur zu bekannte Erscheinungen, die Frau Kommerzienrätin Gruber und Fräulein Alma.
Eine Flucht nach rückwärts war angesichts des nahenden Reiters ohne Aufsehen nicht mehr zu bewerkstelligen; so blieb nichts übrig, als, zwischen beide Teile eingekeilt, seine Schritte möglichst zu verlangsamen und die Damen ihren Vorsprung vergrößern zu lassen.
Inzwischen hatte der Husar ihn bald genug eingeholt.
»Gut bekommen gestern, Herr Doktor?« fragte er mit der ihm eignen nachlässigen Liebenswürdigkeit; »oder auch kleiner Katzenjammer? Man hat Sie freilich bei der Nachtkneipe vermißt. Ging etwas toll her. Heute sogar kleiner Anschnauzer vom Oberst wegen allgemeiner Schlappheit im Dienst – kann Ihnen natürlich nicht passieren – und doch hier auch in nachdenklicher Einsamkeit –«
Belling wußte nicht recht, ob er volle Harmlosigkeit oder einen deutlichen Spott in diesem Worten suchen sollte; doch ehe er eine für beide Fälle passende Antwort fand, hatte sich Molly bereits energisch in die 163 Sache gemischt. Er hatte bisher ein so unerschöpfliches Feld der Tätigkeit in der Ermunterung der Wagenräder gefunden, daß er an keinen andern Unfug denken konnte; jetzt überließ er dieselben ihrer unüberwindlichen Trägheit und stürzte sich mit namenloser Leidenschaft zwischen die Beine des Pferdes.
Das edle Tier scheute bei dem ohrenzerreißenden Gekläff des häßlichen Ungeheuerchens und machte einen unerwarteten Seitensprung. Der Reiter schwankte stark im Sattel und verlor einen Bügel; allein er hielt sich mit sicherer Kunst und ließ die Reitgerte wuchtig auf den Hals des schreckhaften Pferdes niedersausen; da holte es wild aus und trug ihn in wenigen Sätzen bis dicht in die Nähe der beiden Damen, die erschrocken seitwärtsprallten.
Jetzt aber konnte er es wieder fest in den Zügel nehmen und ließ es im Kreise herumtanzen, während Molly seinem Unwillen über den unordentlich herumschlotternden Steigbügel einen tobenden Ausdruck lieh und das Pferd immer heftiger aufregte. Es drehte sich wie im Wirbel eines Waldbaches, während der Reiter mit kaltblütig herrschender Hand ruhig gemessene Hiebe niederfallen ließ; die Augen des armen Tieres quollen hervor, die Flanken flogen, der Schaum floß stromweise aus seinem Maul, die Nüstern blähten sich und stießen heiße Ströme Dampfes aus. Der Reiter sah wundervoll aus in diesen stürmischen Augenblicken, eine Heldengestalt voll Schwung, Feuer, Kraft, Siegesruhe und unerbittlicher Härte.
Gotthold sah mit einem Seitenblick, wie Almas Auge in bebender Bewunderung an ihm hing.
164 Jetzt schien er das gequälte Tier wieder fest in die Faust zu bekommen; mehrere Sekunden lang stand es wie versteinert, nur daß es am ganzen Leibe zitterte. Plötzlich aber machte es abermals einen ganz unvermuteten Sprung nach rückwärts, warf den Reiter aus dem Sattel und blieb dann nach wenigen weiteren Sätzen regungslos stehen.
Den Stürzenden verließ auch jetzt weder Geistesgegenwart noch Gewandtheit; trotz der Gewalt des Schwunges kam er gerade auf die Füße zu stehen, drehte sich wie im Wirbelwind zweimal um sich selber und taumelte dann heftig gegen einen Baum.
Alma stieß einen gellenden Angstschrei aus und streckte die Hände vor, wie um ihn aufzufangen; die Kommerzienrätin hatte sich mit geschlossenen Augen abgedreht und wimmerte kläglich, Gotthold war verwirrt und doch nicht nahe genug, um sogleich zuzuspringen. Molly aber fand sich sofort in die veränderte Sachlage, fuhr auf den abgeworfenen Reiter los und ermahnte mit Tönen, die einen Toten hätten erwecken können, sich aus der Betäubung aufzuraffen und sich wieder als Helden zu zeigen.
Auch erreichte er sehr schnell seinen Zweck, jedoch zu seinem bitteren Schaden. Der Offizier zog kaltblütig einen kleinen Revolver hervor, spannte den Hahn, zielte kurz und knallte das kläffende Vieh nieder. Dann wandte er sich, ohne sein Opfer noch zu beachten, mit ritterlicher Artigkeit zu den Damen.
Gotthold sprang zu seinem Hunde; der lag steif auf dem Rücken, nur die Vorderpfoten bewegten sich in leisen Zuckungen; die Augen hingen fest an dem 165 Gesicht seines Herrn, wie es schien, in unerschütterlichem Vertrauen auf dessen Hilfe. Diese kleinen, häßlichen, fast tückisch funkelnden Augen, wie rührend sie blicken konnten, gleich stillen Kinderaugen, ohne Vorwurf und ohne Klage, nur ruhig die heilende Hand erwartend.
»Bitte, Herr von Bodungen, Ihren Revolver, schnell!« rief Gotthold hastig mit rauher Stimme in befehlendem Ton, und als jener sich fragend herumwandte, entriß er ihm die Waffe, die derselbe eben wieder einzustecken im Begriff stand. Er setzte die Mündung dem Hunde ans Ohr und schoß ihn durch den Kopf. Dann stand er einige Sekunden schaudernd, totenblaß. Es war die erste Pistole, die er in seinem Leben abgeschossen hatte.
Jetzt erst bemerkte Alma den Doktor Belling; sie wurde dunkelrot und schlug verwirrt die Blicke zu Boden.
»Alle Wetter, Herr Doktor,« rief der Husar, als ihm jener den Revolver ruhig zurückgab, »ist doch nicht Ihr Köter gewesen? Aber ich glaube wahrhaftig – erkenne jetzt die kleine Giftkröte. Tut mir auf Ehre leid, glaubte, es wäre so ein Bauernvieh, sieht genau so aus – das heißt, will Sie nicht kränken, aber seine Rasse war's nicht – bedaure trotzdem aufrichtig – hoffe indes, Sie werden sich trösten – immerhin ehrenvoller Tod auf dem Schlachtfelde und obendrein letzter Gnadenschuß von der Hand des eignen Herrn – ungeschickt genug von mir, ihn nicht gleich abzutun; bin übrigens zu jedem Ersatz bereit. Habe zufällig einen Wurf junger Teckel, famose 166 Rasse; werde mir zur besondern Ehre schätzen, wenn Sie sich eines der Köterchen zulegen wollen – bitten Herr Doktor, keine Ablehnung, ich verlange das von Ihnen als Zeichen, daß Sie's nicht übelnehmen. Bitte übrigens tausendmal um Entschuldigung, gnädige Frau, gnädiges Fräulein, Sie erschreckt zu haben; bedaure unendlich –«
Noch während dieser höflichen Worte sprang er zurück zu seinem harrenden Pferde und zog es am Zügel heran; doch begann es nun sogleich wieder unruhig zu werden und nervös zu tänzeln. Alma schlug die Augen nicht auf, die Mutter kämpfte noch mit ihren Nerven. Belling verbeugte sich stumm gegen den Offizier und die Damen; er vermochte kein Wort hervorzubringen. Ganz mechanisch nahm er den toten Hund vom Straßenstaube auf, legte ihn auf seinen Arm und wollte gehen.
In diesem Augenblick sah er, wie Almas Blick von dem Husarenoffizier zu ihm selbst herüberglitt und nun einen sonderbaren Ausdruck annahm – einen nasenrümpfenden Ausdruck, ganz ohne Zweifel.
Plötzlich überkam ihn selbst mit aller Macht das Bewußtsein, welch einen Anblick er darbieten mußte, er mit dem blutigschmutzigen Hundekadaver auf dem Arm, im Gegensatz zu dem jungen Krieger, der dort mit graziöser Kraft sein edles Roß bändigte!
Ein jäher Grimm erfaßte ihn bei diesem Gedanken. Was war moralisch besser, ein harmloses Gottesgeschöpf in brutaler Gelassenheit niederzuknallen und dann in seiner Todesqual sich unbekümmert winden zu lassen oder sich des sterbenden zu erbarmen und 167 das tote nicht wie ein gemeines Aas am Wege liegen zu lassen? Und doch . . .
Aber sein Grimm richtete sich nicht gegen den schneidigen Offizier – was ging der ihn an? – sondern gegen das gedankenlose junge Ding da, das jetzt die Nase über ihn zu rümpfen wagte, nachdem es ihn erst durch übermütige Koketterie aus dem sicheren Stilleben seiner Seele herausgelockt, um zuletzt in einer jähen Laune sein ganzes Lebensschicksal aus den Fugen zu reißen. Ein leidenschaftlicher Haß überwältigte ihn ganz, ein ungerechter Haß im Grunde, das fühlte er selbst, ein Haß, der nur das letzte, wilde Aufzucken der zerstörten Liebesleidenschaft war; aber ein unwiderstehlicher Haß, der sich mit Notwendigkeit auf irgendeine Weise nach außen entladen mußte.
Jetzt endlich fand er eine Erwiderung auf die entschuldigende Rede des Offiziers.
»Ich habe Ihnen wohl kaum etwas zu verzeihen, Herr von Bodungen,« sagte er laut. »Sie waren vollkommen in Ihrem Recht; es wäre meine Aufgabe gewesen, das Tier in besserer Zucht zu halten; ich hätte wissen müssen, daß Hunde und Menschen, die ihnen gleichen, nur durch Furcht in Ordnung zu halten sind. Es war also alles meine Schuld. Ihr freundliches Anerbieten aber muß ich dennoch dankend ablehnen, denn dieser Hund war mir immerhin ein Freund, und einen toten Freund ersetzt man doch nicht ganz so schnell, wie eine Dame von einem Tag auf den andern etwa ihre Haartracht oder ihren Geliebten wechselt –«
Gott sei Dank, nun war es heraus, das Gift!
168 Er atmete tief auf und fühlte sich wie von einer Krankheit befreit. ›Beim Himmel,‹ dachte er, ›wie gut haben es die alten Weiber, die mit etlichen Schimpfreden sich so schnell ihrer Schmerzen entlasten können!‹
Alma aber war heftig aufgefahren; ihre Augen funkelten und warfen einen Blick voll zorniger Frage auf Herrn von Bodungen; dieser verstand ihn, ließ sein Pferd los, eilte dicht an Belling heran und fragte in ruhigem und durchaus höflichem Ton:
»Ich will hoffen, mein Herr, daß Sie mit Ihren letzten Worten nicht irgendeine Dame zu beleidigen gedachten; auf jeden Fall darf ich Sie wohl um eine ausdrückliche Erklärung bitten!«
Gotthold ward von dieser stillen Drohung weder überrascht noch erschreckt; er übersah seine Lage mit vollkommener Klarheit und nahm sie mit Gleichgültigkeit hin. ›Auch gut,‹ dachte er bloß, ›das gibt ein bequemes Ende für mich!‹ Mit dem Haß meinte er auch den letzten Lebenstrieb hinausgeworfen zu haben.
»Wenn irgendeine Dame Grund hat,« entgegnete er kalt mit lauter Stimme, »sich durch meine Worte beleidigt zu fühlen, so mag sie sich für beleidigt halten.«
»Mit dieser Erklärung beleidigen Sie mich!« rief Bodungen schnell.
»Ich wiederhole meine Erklärung!«
»Zu welcher Stunde wünschen Sie meinen Abgesandten zu empfangen?« fragte Bodungen mit gedämpfter Stimme.
169 »Im Lauf des heutigen Abends zu jeder Stunde,« antwortete Gotthold ebenso.
Beide verbeugten sich kurz, aber höflich voreinander und trennten sich. Gotthold wandte sich mit der Leiche seines Hundes zur Stadt zurück. Der Oberleutnant grüßte die Damen hastig, sich jedem ferneren Gespräch mit ihnen entziehend, schwang sich auf sein Roß und sprengte in vollem Galopp die Straße entlang.
Die Damen kehrten nun ebenfalls um, ganz verstört und beide in scheuem Schweigen. Sie wußten ganz genau, was zwischen den beiden Männern im Werk war, aber sie hatten nicht den Mut, es einander auszusprechen.
Als Alma den schönen Offizier davonsprengen sah, durchschauerte sie ein Gefühl des Stolzes. ›Dieser Mann wird sich für dich schießen. Die beiden besten Pistolenschützen der Stadt werden um deinen Besitz tödliche Kugeln miteinander wechseln!‹ Sie war sich selbst eine ungemein wichtige Person geworden.
Über die Bedeutung des kleinen Wörtchens »tödlich« dachte sie vorerst nicht weiter nach; ihr genügte es, sich Herbert von Bodungen als ruhmgekrönten Sieger vorzustellen: wie herrlich er dastand, mit der rauchenden Pistole in der Hand, hoch erhobenen Hauptes in ritterlicher Kaltblütigkeit auf den gedemütigten Gegner herabblickend! Nur als Sieger vermochte ihre Einbildungskraft ihn anzuschauen.
Plötzlich aber senkte sich über das farbenhelle Phantasiebild ein grauer Gedanke. War der Gegner denn nicht Iwan der Schreckliche, der verrufene 170 Duellant, der grausamste Schütze, dessen Hand bereits von Menschenblut troff! Wenn er nun vielmehr – Gott im Himmel, der Gedanke war nicht auszudenken in seiner Gräßlichkeit! – wenn Herbert von Bodungen so daläge im Straßenstaub, blutig, beschmutzt, wie soeben der – nein, es war eine unmögliche Vorstellung. Ein namenloses Grauen befiel sie. Der entsetzliche Gedanke ließ sich nicht mehr bannen.
Sie wollte ihre Mutter ansprechen, sich von ihr trösten lassen. Allein sie brachte kein Wort über ihre Lippen. Sie fühlte, daß sie kein Vertrauen zu ihr hatte. Da wuchs ihre Angst. Sie fühlte sich schrecklich allein und verlassen. Wer sollte helfen? Ihr Vater? Ach, Unsinn! Aber geholfen werden mußte! Mußte! Man konnte das Gräßliche doch nicht ruhig geschehen lassen! Und es geschah, morgen schon in aller Frühe geschah es unfehlbar, wenn niemand half! Aber wer? Sie war allein, ganz auf sich selbst gestellt.
Da fühlte sie etwas wie Mut und Kraft in ihrer Brust. Was hinderte sie, selbst zu handeln? Ja, aber wie? Was konnte sie tun, ein beschlossenes Duell zu hintertreiben?
Den Duellanten auflauern, sich mit ausgebreiteten Armen zwischen die Streitenden werfen wie weiland die geraubten Sabinerinnen? Aber das war lächerlich und war unschicklich für ein junges Mädchen.
Herrn von Bodungen aufsuchen und ihn bitten, daß er die Beleidigung auf sich beruhen lasse und von seiner Forderung abstehe? Aber sie wußte, das durfte er als Offizier gar nicht mehr, selbst wenn er gewollt hätte, seine Ehre war bereits verpfändet. Und 171 überdies, wo sollte sie ihn finden? Sie konnte ihm doch nicht »auf die Bude rücken«, wie ihr Bruder sagen würde! Das war denn doch erst recht unschicklich, ja geradezu das Unschicklichste, was es gibt für ein junges Mädchen. Der junge Offizier wohnte ja natürlich ganz allein mit seinem Burschen. Das war alles nichts. Ja, dann, was blieb aber dann noch übrig? Sie schauderte. Wenn sie Iwan den Schrecklichen –
Nein, das war ja aber gerade das Allerunmöglichste!
Freilich, wenn der wollte, so konnte er alles wieder ausgleichen; er brauchte nur die Beleidigung zurückzunehmen, und die Sache war abgetan, mit einem einzigen guten Wort alle Gefahr beseitigt, alle Schrecknisse vermieden. Und er konnte es so leicht: er war ja nicht Offizier und seine Ehre nicht so über die Maßen zart! Kein Mensch würde ihm einen kleinen Widerruf verdenken, und es wußte ja auch kein Mensch! Denn natürlich, Herr von Bodungen mußte schweigen. Dafür wollte sie schon sorgen.
Wahrhaftig, es war noch eine Rettung möglich, wenn jener wollte.
Ja, aber . . . Das war ja eben das Unmögliche! Ihn darum bitten, ihn? Entsetzlich!
Es war nichts zu machen, es gab keinen Ausweg, das Duell mußte seinen fürchterlichen Gang gehen.
Und da lag Herbert von Bodungen mit durchschossenem Kopf, blutig, beschmutzt, im Straßenstaub.
Es mußte etwas geschehen, mußte, mußte, mußte!
Da – ein schwacher Stern in dunkler Nacht! Herr Doktor Belling wohnte bei zwei Damen, die sie 172 kannte. Jawohl, Fräulein Helene Gehrke kannte sie ganz gut – das heißt sehr flüchtig allerdings, mehr nur von Ansehen, vielleicht daß sie gelegentlich einmal ein paar Worte mit ihr gewechselt; aber was schadete das? Sie entsann sich, es war ein ganz nettes Mädchen, wirklich sehr nett und sogar hübsch – ja, ganz entschieden hübsch zu nennen. Sie fühlte auf einmal ein ganz merkwürdiges Vertrauen zu dieser netten und hübschen jungen Dame.
Ja, ja, so mußte es gehen, wenn sie deren Vermittlung anrief. Die mußte doch natürlich ihren Mieter näher kennen. Sie mußte auf ihn einwirken, ihm vorstellen, wie entsetzlich grausam es wäre, einen jungen, liebenswürdigen Offizier mit kaltem Blut ums Leben zu bringen – das mußte ja den verhärtetsten Massenmörder rühren! Und warum sollte die nette, hübsche Helene sich einem so guten Werk nicht unterziehen? Oh, ganz gewiß, sie tat es gern, und Alma konnte persönlich vielleicht ganz aus dem Spiel bleiben! Wenn aber nicht – nun ja, im letzten Notfall – wenn gar nichts übrigblieb – um Herbert von Bodungen zu retten, war sie sogar imstande, in Helenens Gesellschaft selbst zu Iwan dem Schrecklichen zu gehen, ihn um Gnade zu bitten, ihm zu Füßen zu fallen, wenn er es haben wollte! Aber freilich nur im Notfall! Es blieb doch ein schauerlicher Gedanke, ganz schauerlich! »Mama,« sagte Alma mit unsicherer Stimme, als sie ihre Haustüre erreicht hatten, »ich gehe noch in die Stadt, ich habe noch etwas zu besorgen – weißt du, ich sollte doch meinen neuen Morgenrock noch einmal anprobieren.«
173 »Ja, ja, ganz richtig, aber heute schon?« rief die Mutter mit wieder erwachendem Lebenstrieb. »Daß sie ihn aber um Gottes willen nicht wieder so weit in der Taille macht! Das wäre ja furchtbar! Und so ganz ohne Turnüre ist es wahrhaftig nicht schön, es sieht doch gar zu dürftig aus. Und der Kragen könnte um eine Idee niedriger sein, aber nur um eine Idee natürlich, nur um eine Idee!«
Alma schien mit allen Anordnungen ganz wider ihre Gewohnheit einverstanden; sie nickte pietätvoll und eilte davon.