Hans Hoffmann
Iwan der Schreckliche und sein Hund
Hans Hoffmann

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6

Am nächsten Vormittag herrschte in der Untertertia während der Pause vor der Mathematik eine auffallend erregte Stimmung.

»Hurra, Kinder,« rief eine prahlerische Stimme, »wir machen einen Aufstand wie die Samniter –«

»Ach, das ist nichts, die mußten nachher durchs Joch gehen,« antwortete ein andrer, »das tun wir nicht!«

»Nein, das tun wir nicht! Niemals!«

»Niemals! Niemals!«

»Na, denn also wie die Cherusker. Gruber heißt ja auch Hermann, das ist famos; Gruber ist ja doch der Anstifter!«

141 »Famos! Hermann Gruber, der Cherusker, hoch!«

»Wieso? Wie hat er angestiftet?« fragte eine etwas ängstliche Stimme im Hintergrunde.

»Na, hast du denn nicht gehört? Seine Schwester hat ihm gesagt, Iwan wär' eigentlich gar nicht so eklig, wie er aussähe; wir sollten nur mal stramm aufmucken, da würd' er schon klein werden; sie hätt' selbst gesehen, daß ihm sein Hund nicht parierte, und er hätt' den Köter doch nicht gehauen. Und sie selbst parierte ihm auch nicht mehr.«

»Das hat sie gesagt!« bestätigte Hermann Gruber wichtig.

»Uns haut er am Ende doch.«

»Ich weiß überhaupt nicht, warum wir uns von Grubers Schwester aufhetzen lassen sollen,« bemerkte ein unnatürlich verständiger Knabe.

»Au, du, die ist ja riesig hübsch!« belehrte ihn ein andrer, und dieser Grund schlug durch.

»Wenn einer anfangen will, meinetwegen, ich trommle mit, aber anfangen tue ich nicht.«

»So 'n feiger Hund! Ich tu's gleich!« rief Hermann Gruber stolz. »Man muß den Stier bei den Hörnern fassen!«

»Du kannst es auch am besten, dir tut er nichts, nämlich von wegen deiner Schwester –«

»Ach, Unsinn; meine Schwester ist ja böse mit ihm, glaub' ich.«

»I wo, dann tut er nur so; weißt du, was mein großer Bruder gesagt hat, der bei den Husaren?«

»Na?«

»Er ist verliebt in Alma Gruber.«

142 »Aaah!«

Ein ungeheures Staunen ging über die Klasse und eine Entrüstung über die unglaubliche Schwachheit eines bisher so geachteten Lehrers. Iwan der Schreckliche verliebt! In wenigen Sekunden sank der Respekt vor ihm in wahrhaft gefahrdrohender Weise.

»Donnerwetter, wer hätte das gedacht?« rief einer nach allgemeinem Schweigen. »Aber dann ist's richtig, Gruber, dann tut er dir nichts; wenn man verliebt ist, ist man immer so gegen die Brüder; du kannst es riskieren.«

»Ja, ja, Gruber muß voran, er hat auch angefangen mit dem Aufhetzen!«

»Will ich auch!« rief Gruber trotzig. »Ich will's ihm schon zeigen. Aber wenn ihr nicht mittrommelt, nutzt es nichts, und ich muß es nachher allein ausbaden.«

»Er tut dir ja nichts; denk doch an den Köter, den er auch nicht gehauen hat, und der ist doch so 'n freches Biest, wie du noch lange nicht bist.«

»Nein, noch lange nicht!«

Hermann Gruber fühlte sich sehr geschmeichelt und ermutigt.

»Aber natürlich trommeln wir alle mit!«

»Aber nach Noten!«

»Wißt ihr was, Jungens?« schlug einer vor. »Ich hab' Murmeln bei mir – das ist 'ne Dynamitpatrone – die muß Gruber ihm um die Beine schmeißen.«

Gruber erblaßte. »Das ist aber zu glupsch!«

»Ach wo! Famos ist es! Weißt du, sie fallen dir ja natürlich ganz zufällig aus der Tasche.«

143 »Gruber, wenn du feige sein willst, gibt es Keile!«

Um ihm jeden Zweifel an der Tatsächlichkeit dieses ihm drohenden Schicksals zu benehmen, wurde er gleich von einem Dutzend munterer Fäuste bearbeitet während ihm von andern die Taschen voll Lehmkugeln gestopft wurden. Er wehrte sich wie ein Löwe, und durch dieses Vorpostengefecht wurde sein Kampfesmut so befeuert, daß er jedes Zagen vergaß und die unerhörtesten Heldentaten gegen Iwan den Schrecklichen in Aussicht stellte.

»Schade, daß ich meine Spieldose nicht bei mir habe,« rief er prahlerisch, »das wär' fein! Da sollte er 'ne Musik hören!«

»Na, zum Musikmachen können wir auch Stahlfedern nehmen.«

Das leuchtete allen ein; augenblicklich wurden von einem halben Hundert Federn die Spitzen abgebrochen und in das Holz der Tische gebohrt; auf so einfache Weise wurden ohne Zeitverlust die zierlichsten Instrumentchen hergestellt, die zwar zur Ausführung komplizierterer Tonsätze weniger geeignet schienen, aber doch einen zarten, harfenähnlichen Ton hervorbrachten, der den zeitigen Anforderungen vollkommen genügte.

Diese kriegerischen Vorbereitungen erhitzten den Mut und Eifer zu fieberhafter Höhe. Von der Kriegsmusik ging man zur Anfertigung von Waffen selbst über. Aus Gummischnürchen, Zwirnfäden, Fischbeinen, Streichhölzern, Federhaltern und andern Gegenständen des friedlichsten Gebrauches wurden mit rüstiger Arbeitskraft höchst verwickelte Schußwaffen zusammengesetzt, Schleudern, Bogen, Ballisten und Katapulte; 144 wären Frauen zugegen gewesen, sie hätten wie einst die Karthagerinnen ihr Haar zur Anfertigung von Bogensehnen hergegeben. An Munition fehlte es nicht; Papierkügelchen wurden in Masse bereit gehalten, von kannibalischen Gemütern sogar mit dem schwarzen Gift der Tinte getränkt. Der Krieg mußte nach Partherart aus der Ferne – eminus – geführt werden, denn im Nahkampf – cominus – hatte der schwerbewaffnete Lehrer offenbar zu viele Vorteile für sich; das war gemein von ihm, feige und heimtückisch, aber es war nicht zu ändern, die Lehrer sind einmal so von Gott erschaffen.

Der junge Gruber saß mit finster entschlossenem Antlitz da, ein neuer Decius Mus und Winkelried, zum Opfer geweiht und sich seiner Weihe bewußt.

Die Tür ging auf, und Iwan der Schreckliche schritt herein. Hermann Gruber, noch eben hochrot von den vorhergegangenen Faustkämpfen, ward bleich wie Kalk und wäre am liebsten nicht nur unter den Tisch, sondern gleich unter die Diele verschwunden; doch sein Heldensinn bestand die furchtbare Probe; er blieb stramm sitzen und kroch nicht unter die Diele.

Eine unheimliche, fast grauenhafte Stille trat ein.

Jetzt drehte der Schreckliche der Klasse den Rücken, um seine geometrischen Figuren an die Tafel zu malen. Da ward hinten in der Ferne eine ganz feine Kriegsmusik angestimmt, so zart und leise wie ein Engelgesang über Wolken, für ein sterbliches Ohr kaum vernehmbar; doch der junge Decier hörte sie, und durch das erhebende Gefühl der Rückendeckung ward sein Mut gestählt. Er zog eine Lehmkugel aus der 145 Tasche und ließ sie zur Erde fallen. Allerdings gebrauchte er die Vorsicht, die Hand dabei so dicht über den Fußboden zu halten, daß ein Geräusch durchaus vermieden wurde, aber die Kugel rollte doch einige Fingerbreit fort und hätte beinahe den freien Raum vor dem Tisch erreichen können.

Es war immerhin ein erster Versuch, wohl geeignet, die Kühnheit zu wecken, da er keinerlei üble Folgen nach sich zog.

Eine zweite Kugel ward abgelassen; man vernahm ein hörbares, wenn auch immer noch äußerst zartes Rollen. Auch die Kriegsmusik im Hintergrund begann ein wenig anzuschwellen. Noch immer erfolgte nichts Schreckhaftes auf diese verwegenen Herausforderungen.

Da ergriff den Schützen ein trunkener Todesmut gleich dem taumelnden Verzweiflungskampf des Selbstmörders, und die Augen zukneifend ließ er mit ungeheurem Entschluß eine ganze Faust voll Kugeln polternd nach dem Katheder hinsausen.

Dann hing er mit geschlossenen Augen über den Tisch, totenbleich, als säßen ihm zwanzig Feindesspeere in der Brust, das Ende aller Dinge erwartend. Alle fünfzig Köpfe der Klasse sanken mit einem Ruck tief auf die Tische herab, und lange Sekunden hindurch war kein Atemzug zu vernehmen. Jeder einzelne erwartete unter Stoßgebeten eine nie dagewesene Katastrophe. Wenn der Gewaltige jetzt wie Simson das Haus über sich und der meuterischen Klasse zusammengestürzt hätte, keiner hätte sich gewundert und keiner die Strafe zu hart gefunden.

146 Iwan der Schreckliche fuhr von der Tafel herum; nie hatten seine Augen so furchterregend geflammt. Mit einem Blick hatte er die Sachlage erfaßt; er wußte, daß die ganze Klasse gegen ihn verschworen war.

›Das ist dein Schicksal!‹ dachte er, ›Diese Unmündigen werden deine Richter sein.‹

Er wußte auch ganz genau, wer dem Attentat die ausführende Hand geliehen; auf dem entstellten Gesicht des jungen Gruber stand ja eine ganze Speisekarte ungeheurer Sünden geschrieben.

Wenn er diesen jetzt ohne Zaudern herausgriff und als Sündenbock für aller Vergehen schlachtete, so konnte mit ein paar gesunden Ohrfeigen die Sache abgetan und seine Herrschaft auch für die Zukunft wieder befestigt sein. Das war ihm zweifellos klar.

Aber er fand im entscheidenden Augenblick nicht den Entschluß, danach zu handeln. Zehn Bedenken sprachen dagegen.

Er konnte sich ja irren, Gruber war vielleicht ganz unschuldig, seine Schuld war nur geahnt, nicht bewiesen. Durfte der gerechte Lehrer sich der Gefahr aussetzen, durch die vorschnelle Züchtigung eines Unschuldigen einen moralischen Justizmord zu begehen? Und daß es gerade der junge Gruber war!

Und wenn der rasche Griff auch der richtige war – er zweifelte doch wirklich nicht – war denn der Ausführende strafwürdiger als die Anstifter? War er nicht im Gegenteil nur der Mutigere, Noblere, der zu handeln wagte, wo die Feigen sich tückisch duckten? Und dieser Bessere sollte büßen und die Lumpen 147 straflos ausgehen? Und daß es gerade der junge Gruber war!

Und während der wenigen Sekunden solcher Billigkeitserwägung war auch der volle Ernst seines Zorns schon gebrochen; zuletzt war das ganze ein kindischer Spaß, ein harmloser Übermut, keines Aufhebens wert, und wenn er nun diese fünfzig angstversteinerten Köpfe sah, die samt und sonders aussahen, als ob sie bereits auf dem Block lägen, wie sollte er sich da eines innern Lachens erwehren? Es ward ein rührend komischer Anblick und weiter nichts.

Diese versäumten Sekunden bedeuteten die Entthronung Iwans des Schrecklichen.

Er beschloß am Ende, sich mit einer allgemeinen Strafrede zu begnügen, die zwar sehr zornig klingen sollte, aber nicht innere Kraft der Wahrheit genug besaß, die Gemüter wahrhaft zu erschüttern, ihnen vielmehr nur die Muße gewährte, sich von ihrer Zerknirschung zu erholen. Es war ein Sturm, der über ihre Köpfe brauste, während sie sicher im windstillen Tale saßen.

»Kinder, er tut nichts,« flüsterte es in einem fernen Winkel, »er hat den Köter auch nicht gehauen!«

Und diese Ermunterung lief wie ein tröstliches Prophetenwort blitzschnell von Mund zu Mund. Die erblaßten Wangen bekamen ihre derben Farben langsam wieder, die Stirnen hoben sich vorsichtig, und die Augen spähten wieder mit scheuer Keckheit nach neuen Taten umher. Wohl richteten sie ihre Blicke mit heuchlerischer Demut auf den wohlwollenden Redner, der sich mit mild gemäßigtem Tadel über ihr Unrecht 148 erging, ihre Ohren aber lauschten weit gespannter auf die summenden Harfenklänge, die im Hintergrund schon wieder anzuschwellen begannen.

Das Gefühl persönlicher Sicherheit wuchs mit jeder Minute in jedem einzelnen. Mochte selbst noch eine Strafe kommen, sie traf dann alle, was schadete sie dem einzelnen? Eine Strafe für alle ist eine Ehre für den einzelnen. Vor allen aber hob sich des jungen Gruber Brust von freudigem Stolz; jetzt fühlte er sich als der bekränzte Sieger und Held des Tages.

Der Lehrer schloß seine gütige Ermahnung mit der versöhnenden Zusicherung, es solle diesmal alles vergeben und vergessen sein als ein Torenstreich, der keinen bösen Willen bekunde; er hoffe, ja, er wisse, daß etwas Derartiges nie wieder vorkommen werde.

Kaum hatte er diese herzgewinnenden Worte gesprochen, als etwas Weißes wie ein schnelles Insekt durch die Luft geschwirrt kam und dicht an seinem Kopfe vorüberblitzte.

Auch jetzt war er sich vollkommen klar darüber, was dies bedeutete, und sein Zorn kochte heftiger empor. Von dem Täter hingegen hatte er diesmal keine Ahnung, er konnte also nun erst recht nicht daran denken, aufs Geratewohl einen Unschuldigen abzustrafen. Überdies, juristisch sicher war er seiner Sache im Grunde doch nicht, einen Eid hätte er nicht darauf ablegen können; es konnte wirklich ein Insekt oder sonst etwas Zufälliges gewesen sein.

Es schien ihm das beste, vorerst gar nichts gesehen zu haben; erst eine Wiederholung konnte beweisen. Und wenn es ihm dann gelang, den nichtsnutzigen 149 Schlingel auf der Tat zu ertappen, dann gnade dem Gott!

Er legte sich heimlich auf die Lauer, und während er scheinbar ganz in seinen geometrischen Erklärungen aufging, wanderten seine Augen so scharf beobachtend über die Klasse, als gälte es eine trigonometrische Aufnahme derselben.

Doch je angestrengter er aufpaßte, desto unsicherer wurde sein Blick; überall glaubte er verdächtige Fingerbewegungen zu entdecken, überall ein verdächtiges Zwinkern und Zielen der Augen, und doch war es nirgends etwas Sicheres, Greifbares; schon begann ihn ein leichter Schwindel zu befallen.

Dazu vernahm er nun ein unheimlich schwirrendes Klimpern, aber auch das nur halb, nur in unbestimmter Ferne, nur wie eine Möglichkeit; es konnte auch draußen von der Straße, etwa von einer fernen Drehorgel, kommen; es konnte auch gar nur ein Klingen seines überreizten Gehörnervs sein. Freilich wurde es stärker und stärker, aber das war noch kein Beweis; freilich stand seine subjektive Überzeugung, daß es eine neue Bosheit war, vollkommen fest, aber was half das? Einen objektiven Tatbestand zu finden, darauf kam es an.

Er spannte seine Aufmerksamkeit bis zum äußersten an, es schwirrte ihm vor den Augen, es brauste ihm vor den Ohren; sein Blut pulsierte wie im Fieber. Das lange Lauern und der unterdrückte Ingrimm hatten seine Nerven fürchterlich erregt.

Da fühlte er plötzlich etwas wie einen leichten Schlag gegen den Kopf; er griff hinauf und faßte ein Papierkügelchen, das in seinen Haaren saß.

150 Gott sei Dank, ein corpus delicti hatte er in der Hand! Wenn er jetzt den Täter auch nur ahnte, dann wehe dem!

Prüfend ging sein Blick über die Reihen – eine schuldbewußte Miene hätte ihm jetzt als Beweis genügt – doch was er sah, waren lauter ehrliche, unschuldige, reine Knabengesichter, voll rührenden Vertrauens auf den Lehrer gerichtet; nicht ein einziges trug die geringste Spur eines schlechten Gewissens, einer Tücke, eines hämischen Triumphes oder ähnlicher unschöner Gefühle; alles war Friede, Liebe, Ehrfurcht, Treuherzigkeit.

Da erst schwoll ihm der heiße Zorn mächtig in der Brust empor; die niederträchtige Heuchelei dieser jungen Seelen raubte ihm ganz die Fassung, und ohne weiteres Besinnen fuhr er auf den ersten besten los, ihn mit Donnerstimme der Tat beschuldigend und mit beiden Händen schüttelnd.

Nun hatte aber dieser erste beste wirklich die letzte Kugel nicht abgeschossen; er hatte die vorher bereitgehaltene vielmehr soeben ganz unschädlich zur Erde fallen lassen, und das stolze Bewußtsein dieser wunderbaren Gewissensreinheit gab dem armen Opfer den ganzen Trotz des ungerecht Gekränkten, und mit aller Heftigkeit eines edlen Zornes legte er gegen die Anklage Verwahrung ein.

Diese Heftigkeit wirkte in der Tat überzeugend; der Lehrer bekam das Gefühl, einen Unschuldigen gefaßt zu haben, ward unsicher und dachte heimlich über einen ehrenvollen Rückzug nach; da kollerte ihm von einer andern Richtung her eine volle Ladung 151 polternder Lehmkugeln um die Füße, und die geheimnisvolle Musik schwoll von allen Seiten zugleich zu schauerlichem Dröhnen an.

Nun ließ er sein erstes Opfer los und stürzte sich blindlings auf einen beliebigen andern Schüler, der einen Anflug von Heiterkeit im Gesicht zu haben schien. Er gab ihm eine schallende Ohrfeige.

Was aber vor einigen Minuten sein Heil gewesen wäre, ward jetzt das Signal zum offenen, allgemeinen Aufstand. Die Würde der Tertia war beleidigt von einem, der sich nicht durch absolute Furchtbarkeit ein Recht dazu erworben hatte. Seine Furchtbarkeit hatte soeben schon einen Riß bekommen.

Die schwirrende Musik der Federspitzen ward übertönt von einem wirren Schurren und Klappern, vermischt mit einem dumpfen Brummen, das sich nur erst unsicher aus festgeschlossenen Lippen hervorwagte.

Als aber weder der Himmel noch die Zimmerdecke einstürzte, kein Blitz aus blauem Himmel niederfuhr, Iwan der Schreckliche selbst aber weder einen Revolver noch eine Dynamitpatrone aus der Tasche zog, sondern nur in hilflosem Grimm bleich mit starren Blicken vor der aufgeregten Masse stand, da kam ein Taumel der Wut über sie alle, daß sie sich so lange hatten knechten lassen von dem da – dem da, der sie bloß betrogen hatte mit seinem finstern Gesicht, dem da, vor dem sie sich so wenig zu fürchten brauchten, wie sein Hund sich fürchtete, dem da, der sich in die Schwester eines ganz gewöhnlichen Tertianers verlieben konnte und also jedenfalls auch gefühlvolle Gedichte machte 152 und überhaupt eine sanfte, gute Seele war, denn wie hätte er sich sonst verlieben können?

Ein immer wüsteres Poltern, Trampeln, Pochen, Rasseln, Scharren und Trommeln erhob sich, dazwischen sogar einmal ein gellender Pfiff und ein Heulen und Winseln – das war der große Racheschrei der geknechteten Untertertia wider ihren Tyrannen.

Jetzt aber ging plötzlich mit dem besiegten Tyrannen eine auffallende Veränderung vor. Sein Gesicht verlor den starren Ausdruck, sein Auge glitt ganz ruhig und gelassen über die aufgeregte Schar hin, und etwas wie ein mitleidiges Lächeln spielte um seine strengen Lippen.

Das verblüffte sie für einen Augenblick, und der Lärm ließ ein wenig nach. Da sagte er mit einer stillen, sehr gleichmütigen, aber doch allen vernehmbaren Stimme zu ihnen:

»Wenn ihr wüßtet, was ihr mir heute angetan habt, die Besseren unter euch hätten sich vielleicht doch anders besonnen. Aber es ist nun einmal geschehen; und ich denke, wir haben uns nun wohl heute zum letztenmal gesehen. Ich gehe jetzt, dem Herrn Direktor Meldung zu tun.«

Ein jähes Verstummen antwortete dieser ruhigen Anrede; ein geheimnisvoller Gewissensschreck zuckte durch alle Gemüter, ein dunkles Schaudern vor einer halb unbekannten, schwerlastenden Schuld.

Der Lehrer hatte schon den Griff der Tür in der Hand; er kehrte sich noch einmal um, an das plötzliche Schweigen eine dunkle Hoffnung knüpfend; er sah verlegene, einige fast verstörte Gesichter; der junge Gruber 153 lag mit dem Kopf auf dem Tisch und schluchzte krampfhaft.

Da stieß einer, vielleicht nur um sich von dem quälenden Bangen zu lösen, ein kurzes Lachen aus, ein andrer antwortete etwas lauter und roher, und nun folgte als allgemeines Echo ein wüstes, brüllendes, zügelloses Gelächter. Es klang Iwan dem Schrecklichen nach draußen so widerlich gemein, wie wenn eine stumpfsinnige Horde über die letzten Zuckungen eines Gehängten johlt. Denn ihm war nicht viel besser als einem solchen Galgenvogel zumute.

Doktor Belling hatte jetzt mit seinem Direktor eine längere Unterredung, infolge deren dieser sich sehr erstaunt und sehr aufgeregt in das Lehrerzimmer begab, um hier ebenfalls eine allgemeine Aufregung und großes Erstaunen zu erregen.

»Hm, hm,« sagte der Professor Heding, »ich habe es längst gewußt, daß es so kommen würde. Allzu scharf macht schartig. Hochmut kommt vor dem Fall. Ein zu straff gespannter Bogen muß eben reißen. Der Krug geht solange zum Brunnen, bis er bricht. Hm, hm, ja, die Disziplin, die Disziplin!«

Mit sorgenvoll gefurchter Miene verließ er die Kollegen.

Eine Viertelstunde darauf saß Frau Professor Heding auf dem guten Sofa der Frau Doktor Quade; jetzt eben wurde sie erst mit dem Zuknöpfen der Handschuhe fertig.

»Wie es gekommen ist?« rief sie eifrig. »Ganz einfach. Der Hund ist die erste Veranlassung. Sie kennen doch den fürchterlich häßlichen Hund, der dem Herrn so ähnlich sieht?«

154 Frau Quade nickte mit einer Gebärde des Abscheus.

»Nun also, das Tier soll es gar zu toll getrieben haben. Überall hat es den greulichsten Unfug gestiftet, so zum Beispiel soll es gestern Fräulein Gruber auf einer Eispartie alle Kleider vom Leibe gerissen haben und aus Bosheit allen Schlittschuhläufern zwischen die Füße gestürzt sein, bis sie elend zu Falle kamen. Und sein Herr hat das ruhig mit angesehen und höchstens gelacht, statt das Viehzeug zu strafen. Und nun denken Sie doch bloß, liebe Frau Doktor, was so ein zügelloses Geschöpf alles für Unheil stiften kann und sicher auch schon gestiftet hat! Setzen Sie zum Beispiel den Fall, der Hund fällt ein wehrloses Kind auf der Straße an – wer kann wissen, ob es in diesem Augenblick nicht schon geschehen ist?«

»Ich schwöre darauf, daß es geschehen ist!«

»Sehen Sie wohl? – Ein wehrloses Kind gebissen, zerfleischt, in seinem Blut schwimmend – und obendrein so ein unglaublich häßliches Vieh! – und sein Herr steht gemächlich daneben und rührt nicht die Hand, das Ungeheuer zurückzuhalten und das Kind zu retten.«

»Furchtbar! Das muß ich aber sofort der Frau Polizeileutnant erzählen, sofort, sage ich, die wird mit ihrem Manne reden – o Gott, ich selbst habe Kinder!«

»Das konnten unsre Gymnasiasten nicht länger mit ansehen! Sie haben sich empört gegen diesen Lehrer und ihm offen gezeigt, wie sehr sie sein Betragen mißbilligen. Sie haben ihn herausgetrommelt – mit blutendem Herzen haben sie es getan, ich bin davon 155 überzeugt, denn sie wissen, daß es an sich ein Unrecht ist und ein strafbares Vergehen gegen die Disziplin, aber die wackeren Knaben wollten lieber die grausamsten Strafen erdulden, als solche Dinge länger mit ansehen. Es ist schrecklich, die unschuldigen Knaben selbst zur Meuterei zu zwingen! Es tut mir zu leid, liebe Frau Doktor, daß ich nun aber gar keine Zeit mehr übrig habe, ich bin nur so heraufgesprungen auf einen Augenblick aus besonderer Freundschaft; ich bin eigentlich auf dem Weg zu Frau Wippermann und Fräulein Leinemann, Sie müssen mich schon entschuldigen, liebste Frau Doktor!«

Frau Doktor Quade entschuldigte sie gern; sie hatte selbst bereits Hut und Mantel angezogen, um zu Frau Polizeileutnant Sommerlatte zu fliegen.

*

Doktor Belling saß einsam auf seinem Zimmer und brütete verzweiflungsvoll vor sich hin. Er malte sonderbare Zeichen und Kreise auf ein Papier, die nicht die geringste geometrische Ordnung hielten, sondern wirr durcheinander tobten wie eine aufrührerische Rotte.

Da klopfte es sehr schüchtern an die Tür, und auf ein mehrmaliges Herein zeigte sich das angstvolle Gesicht des Tertianers Gruber.

Belling winkte ihm einzutreten und blickte ihm mit unsicherer Erwartung entgegen.

»Ich wollte – Sie um Verzeihung bitten,« stotterte der Knabe, »daß ich – so ungezogen – heute gegen Sie war –«

156 »Wer schickt dich her?« fragte Belling, von einem plötzlichen Gedanken ergriffen. Sein Herz klopfte heftig.

»Niemand,« antwortete jener bestimmt, »ich konnte es bloß nicht aushalten, weil – weil – ich der Schlimmste gewesen war – und alles zuerst angestiftet hatte – aber nun ist es so toll geworden –«

Der Lehrer war sehr überrascht und schwieg eine Weile. Dann sagte er mit stark bewegter Stimme:

»Du also warst der Anstifter dieser unverhofften Rebellion? Dein offenes und freiwilliges Geständnis ehrt dich; es freut mich, daß du dich deiner Tat schämst und fühlst, es war keine gute Tat. Es ist das die beste Sühne für dieselbe. Aber nun sage mir ebenso offen und ehrlich: was hat dich bewogen, mir so plötzlich eine heimtückische Falle zu stellen, gerade dich?«

Der Knabe blickte völlig zerknirscht mit nassen Augen zu Boden.

»Ich dachte ja nicht – daß es so – so schlimm werden würde – und ich dachte auch – es war bloß, weil Alma – weil meine Schwester –«

Belling zuckte zusammen und faßte hastig die Hand seines Schülers. »Was hat deine Schwester?« forschte er atemlos.

»Alma sagte, wir brauchten gar nicht solche Angst vor Ihnen zu haben; wir sollten nur 'mal versuchen, ob wir Sie nicht unterkriegten, Sie wären gar nicht so böse, wie wir dächten; Sie könnten nicht einmal Ihren Hund in Gehorsam halten, hat sie gesagt, also brauchten wir erst recht nicht zu gehorchen. Sie wären überhaupt nicht –«

157 »Nun?«

»Nicht so forsch, wie alle glaubten, und darum –«

»Darum hat sie sich den Spaß gemacht, den ihr dummen Kerle für so ernst genommen habt – nicht wahr, deine Schwester lächelte ein wenig, als sie dich zum Ungehorsam anstiftete, du wirst dich entsinnen, oder sie lachte gar?«

»Nein, doch nicht, Herr Doktor,« sagte der Schüler verwundert, »gewiß nicht. Sie war ja im Gegenteil ganz wütend, und machte so sonderbare Augen gestern abend, ganz sonderbare – wütend war sie wirklich, Herr Doktor; ich dachte erst, sie wäre verrückt, weil sie sich so hatte, aber das war sie nicht, und gelacht hat sie nicht ein bißchen, sondern sie stampfte mit den Füßen, und wie ich sagte: ›Hab dich doch nicht so gefährlich, Alma!‹, da sagte sie, sie wollte sich an Ihnen rächen. Und da dachte ich, Sie müßten ihr irgend etwas zu leid getan haben, und da –«

»Und da wolltest du als ritterlicher Bruder mir auch etwas zuleide tun – und siehst du, mein Sohn, das ist dir ja auch merkwürdig gut gelungen, diese frohe Kunde kannst du deiner armen Schwester bringen!«

Belling sprach mit sehr weichem Ton; jetzt sprang er von seinem Stuhle auf und ging mehrere Minuten lang im Zimmer auf und nieder, sehr stark atmend, daß es manchmal wie ein Stöhnen klang. Der zitternde Knabe wagte keinen Laut von sich zu geben noch sich zu rühren.

Endlich stand der Lehrer still, machte wieder ein so sonderbar gelassenes und kühles Gesicht wie zuletzt in der Klasse und sprach langsam und sehr dumpf:

158 »Sage deiner Schwester, ich sei ihr aufrichtig dankbar für ihre rasche Entscheidung unsrer Angelegenheit; sie habe recht getan, schnell zu handeln und einen Knoten zu zerhauen, der wirklich schwer zu lösen war; sie soll sich keinen Vorwurf machen, als habe sie mich zugrunde gerichtet, sie hat mir ja nur den Gnadenstoß gegeben, statt mich lange zu martern. Das war sehr human gedacht von ihr. Mein Glück war ja doch nur ein Kartenhaus, das jeder Windhauch umwerfen konnte; wer mag in einem solchen Hause wohnen? Es war das richtigste, daß sie selbst kam und blies und blies mit ihrem roten, lachenden Munde, bis es umfiel – grüße sie und sage ihr, daß ich ihr danke.«

Dem armen Jungen ward ganz unheimlich zumute, bei diesen Reden, von denen er wenig verstand. Eins aber begriff er doch, daß ein verhaltener großer Schmerz aus den fremdtönenden Worten sprach und daß er selbst unzweifelhaft diesen Schmerz verschuldet, und dann kam es ihm zum Bewußtsein, daß es doch immer Iwan der Schreckliche war, der hier so weich und seltsam traurig redete, wie es nie ein Mensch für möglich gehalten, und es ergriff ihn eine furchtbare Erschütterung; laut weinend küßte er ihm die Hand und bat noch einmal flehentlich um Vergebung.

Gotthold legte stumm die Hand auf seinen Kopf und streichelte ihn.

Da blickte der Knabe mit leuchtenden Augen zu ihm auf und rief:

»Herr Doktor, und wenn jetzt noch einer wagt, gegen Sie aufzumucken, der kriegt es mit mir zu tun. Und die andern haben Respekt von mir seit heute!«

159 Gotthold küßte ihn und entließ ihn.

Sobald der Besucher die Türe hinter sich geschlossen hatte, fuhr Molly mit wütender Miene aus seiner Ecke hervor und bellte wie rasend hinter ihm her. Es war das seine Art, den fliehenden Feinden goldene Brücken zu bauen, eine Art, die für beide Teile gleich angenehm und vorteilhaft war.

Nachdem er sich dieser Pflicht bis in ihre letzten Konsequenzen entledigt, stellte er sich mit schiefem Kopf und fragenden Augen vor seinen Herrn. Dieser blickte mit bitterem Lächeln auf ihn herab und sprach laut zu ihm:

»Du bist mein erster Feind in dieser Stadt gewesen, du warst der Verräter, an dem mein Glück zuschanden geworden, du hast es ihr verraten, daß man mich nicht zu fürchten braucht – und wen man nicht fürchtet, den braucht man auch nicht zu lieben – du warst mein erster Feind und sie meine erste Feindin, du aber bist auch mein letzter Freund und sie – –«

Er beugte sich nieder zu dem Tier, klopfte und streichelte es, das sich vor stolzer Freude winselnd krümmte.

 


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