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Der Damenkaffee des folgenden Tages war in voller Fahrt.
»Sie meinen also wirklich?« fragte die Wirtin, Frau Amtsgerichtsrätin Wippermann.
»Positiv,« bestätigte die Gymnasialdirektorin, »mein Mann sagt's.«
»Was will er werden?« fragte die harthörige Frau Mühlenbesitzer Ingenohl, das spitze Gesicht weit vorstreckend.
»Nichts will er – er wird Schulrat werden, der Herr Direktor sagt's,« schrie ihr Frau Oberlehrer Knorz heftig ins Ohr.
»Ah, wird er?« fragte jene, entzückt darüber, daß sie etwas ganz verstanden hatte.
»Ja, er ist in der Tat ein außerordentlicher Pädagoge!« sagte Frau Knorz mit tiefer Bewunderung.
»Jedenfalls verdiente er wohl, dereinst Schulrat zu werden,« bestätigte die Wirtin.
»Etwas Unheimliches hat der Mann dabei doch,« meinte Frau Polizeileutnant Sommerlatte.
»Das haben alle Schulräte,« belehrte die Direktorin.
»Ja, er hat etwas Unheimliches, etwas ganz Unheimliches!« klang es von verschiedenen Seiten.
»Man sagt, er habe nie gelacht,« sagte dumpf die 37 Gattin des Historikers Quade – eine Behauptung, die ihr Mann von Tilly, Alba, Torquemada, Moltke und vielen andern historischen Größen aufzustellen pflegte.
»Schrecklich!« seufzte Frau Nachbar Jansen; ihr Mann wurde in Ermanglung eines andern Titels von aller Welt Nachbar genannt.
»Es ist ordentlich, als wenn er etwas auf dem Gewissen hätte,« flüsterte die Frau Polizeileutnant mit einem Schauder.
»Was hat er?« fragte Frau Ingenohl.
»Etwas auf dem Gewissen!« hauchte Frau Knorz.
»Schrecklich!« seufzte Frau Nachbar Jansen.
»O – ja,« sagte breitgezogen Frau Professor Heding, »ich könnte mir schon vorstellen, daß dieser Herr ein Menschenleben –«
»Bitte, reden Sie auf meinem Kaffee nicht von Menschenleben, liebe Frau Professor, bitte, bitte, es ist so schrecklich,« hauchte die Wirtin ängstlich.
»Schrecklich!« rief Frau Nachbar Jansen.
»Oh, das ist nicht schlimm!« sagte die Frau Polizeileutnant.
»Das sagen Sie so, Frau Sommerlatte, Sie gehören zur Polizei, aber wir –«
»Vorstellen kann man sich's,« bestätigte die Historikerin.
»Menschenleben! Menschenleben! Menschenleben!« klagte Frau Wippermann.
»Das heißt im Duell, ja, das wäre möglich!« sagte Frau Rittmeister von Funk.
»Nun, natürlich,« rief die Professorin sehr laut, »ich spreche doch nicht von Raubmord.«
38 »Raubmord!« schrie die Harthörige fürchterlich auf.
»Versteht sich, daß es ein Duell gewesen ist!« sagte die Historikerin mit Überzeugung.
Der Aufschrei der Frau Ingenohl lockte noch einige Damen aus dem Nebenzimmer herbei. »Was ist geschehen?« fragten sie.
»Unser neuer Mathematiker Belling soll ein Duell gehabt haben.«
»Der neue Mathematiker hat ein Duell gehabt,« gab man im Nebenzimmer weiter.
»Also darum nennen sie ihn Iwan den Schrecklichen!« rief ein junges Fräulein, dessen Bruder der Untertertia angehörte.
»Was heißt das: Iwan der Schreckliche? Wer war Iwan der Schreckliche?«
Aller Augen wandten sich hilfesuchend an die Historikerin. Diese wurde sehr rot, räusperte sich, rührte mit einem Stück Kuchen in ihrem Kaffee und sagte endlich überlegen lächelnd:
»Bekanntlich ein grausamer Herrscher in Hochasien.«
»Hat der so viele Duelle gehabt?« fragte Frau Knorz.
»Wie viele, das kann man nicht wissen,« entschied die Historikerin, »aber eins gewiß, und mehr sind von Herrn Belling doch auch noch nicht konstatiert.«
»Aber doch sehr wahrscheinlich, wenn es wirklich wahr ist, daß man ihn Iwan den Schrecklichen nennt.«
»Das ist unzweifelhaft.«
»Nun also!« rief Frau Professor Heding und blickte triumphierend im Kreise umher.
39 »Überhaupt werden diese schrecklichen Duelle doch oft so leichtsinnig unternommen,« sagte Frau Quade.
»Noch immer!« bemerkte Frau von Funk.
»Aber doch meistens so um ein reines Nichts, um eine bloße Redensart, wie wir sie uns alle Tage ins Gesicht sagen.«
»Aber, ich bitte doch, Frau Oberlehrer,« fiel die Amtsgerichtsrätin ein, »in meinem Salon wohl gewiß nicht.«
»Das sage ich ja eben, Liebe, in unsern Salons wird daraus nicht gleich eine Duellgeschichte.«
»Ja, ja, die Duelle! O die Duelle!« rief Frau Stabsarzt Wadepfuhl, die eben erst in den Kreis gerückt war, »sehen Sie, meine Damen, so geht das mit den Duellen bei diesen Leuten: erst bloß so ein bißchen gezankt und dann gleich geschossen, und dann – nun, ich sage ja gar nicht, daß einer mit voller Absicht gleich seinen Gegner totschießt, i bewahre, er zielt nur so aufs Geratewohl, aber das Unglück will es, er drückt los, und die Kugel trifft den andern mitten ins Herz.«
»Mitten ins Herz! Das ist ja aber schrecklich!« stöhnte Frau Nachbar Jansen.
»Mitten ins Herz?« fragte Frau Knorz entsetzt.
»Nun, wohin denn sonst, meine Liebe? Wissen Sie es vielleicht besser?« erwiderte Frau Wadepfuhl.
»Nein, o nein, gewiß nicht!« sagte Frau Knorz errötend.
»O Gott, da kann ich mir aber vorstellen, wie das den armen Doktor Belling mitgenommen haben muß, wenn er überhaupt ein Gewissen hat –«
40 »Das hat er! Das hat er! Jeder Mensch hat ein Gewissen.«
»Da ist es freilich kein Wunder, daß er immer ein so fürchterliches Gesicht macht!«
»Namentlich, wenn ihm das so oft passiert!«
»Das ist eben das Schreckliche!«
»Oh, wie muß dem zumute sein, dem bei Tag und bei Nacht die blutigen Leichname seiner Ermordeten vor Augen tanzen! Was mag solch ein Mensch für Träume haben!«
»Darüber könnte uns gewiß Frau Rechnungsrätin Gehrke die beste Auskunft geben!« rief plötzlich Frau Sommerlatte. »Ja, ja, die muß uns alles erklären und bestätigen können.«
Eine allgemeine Bewegung entstand, und Frau Gehrke ward samt ihrer Tochter nicht ohne Gewaltsamkeit in den Vordergrund gezogen. Die alte Dame war ganz blaß vor Ärger und Aufregung.
»Mutter,« flüsterte Helene ihr zu, »ich bitte dich, sage zu allem ja und laß sie bei dem Glauben.«
»Gestehen Sie uns, liebe Frau Rechnungsrätin,« begann Frau Sommerlatte zu inquirieren, »haben Sie bei Ihrem Mieter nicht eine nächtliche Unruhe bemerkt? Steht er nicht häufig aus dem Bett auf, wandert rastlos durch die Stube und stöhnt dabei? Redet er nicht laut mit sich selber? Bricht er nicht manchmal mitten in einer Unterhaltung ab, wird bleich und geht hinaus?«
»Schrecklich!« sagte Frau Nachbar Jansen.
Die Frau Rechnungsrätin stand wie eine arme Sünderin vor dem hohen Gerichtshof, nickte krampfhaft mit dem Kopf und stöhnte
41 »Ja! Ja!«
»Wenigstens spricht er nicht selten laut mit seinem Hunde,« bemerkte Helene mit einem unterdrückten Lächeln.
»Das ist dasselbe,« erklärte Frau Sommerlatte, »als wenn er mit sich selber spräche. Übrigens so ein furchtbar häßlicher Hund! Das ist doch auch verdächtig. Es ist erwiesen, daß Leute, die sich solche sonderbare Tiere halten, die jedem andern greulich sind – ich will mal sagen weiße Mäuse oder Ziegenböcke oder Affenpinscher –, dies nicht selten aus unglücklicher Liebe tun – und wenn man nun weiß, welch eine allgewaltige Leidenschaft die Liebe ist und wie leicht aus Leidenschaft und Eifersucht Duelle entstehen – sagen Sie noch eins, liebe Frau Rechnungsrätin, hält sich der Mann nicht Schießwaffen im Hause? Seien sie ganz unbesorgt, es bleibt alles unter uns, die Polizei erfährt amtlich kein Wort davon.«
»Ja, freilich,« rief Helene schnell, »sechs Paar Pistolen und eine ganze Kiste voll Patronen!«
Ein allgemeiner Aufschrei des Entsetzens folgte; die Frau Rechnungsrätin sah ihrer Tochter mit schweigendem Vorwurf ins Gesicht und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Was brauchen wir weiter Zeugnis?« sagte die Frau Polizeileutnant. »Die Kette meiner Beweise schließt sich damit zu einem ehernen Ring zusammen.«
»Ja, ja, wenn man nur von dieser Liebesgeschichte etwas Näheres wüßte!« bemerkte Frau Quade nach einer Pause.
»Aber, ich bitte Sie,« rief Frau Sommerlatte 42 eifrig, »wie leicht kann man sich das alles ausmalen! Wenn die Polizei nur immer so sichere Beweise den Verbrechern gegenüber hätte! Übrigens ist es besser, wir schweigen darüber, denn ich sehe, wir haben junge Mädchen unter uns –«
»Ach ja,« flehte Frau Wippermann angstvoll, »ich möchte doch sehr bitten, in meinem Salon nicht dergleichen zweifelhafte Dinge –«
»Behüte Gott,« unterbrach sie Frau Professor Heding, »übrigens verstehen wir uns ja auch ohne Worte vollkommen. Meinen Sie nicht zum Beispiel, liebe Frau Direktor –«
Und sie neigte sich zu ihrer Nachbarin und begann ein eifriges Flüstern. Die andern Damen folgten diesem Vorbild, und die allgemeine Verhandlung löste sich in geheimnisvolle Einzelgespräche auf. Als man sich trennte, war Iwan der Schreckliche ein vollkommen durchsichtiger Charakter geworden.
»Aber, Lenchen,« sagte Frau Rechnungsrätin Gehrke auf dem Heimweg aufgeregt zu ihrer Tochter, »ich verstehe dich nicht! Wie konnten wir nur alle diese Lügen dulden oder gar bestätigen! Ich sage dir, ich habe gezittert und gebebt vor Ärger und hätte ihnen am liebsten ihren Unsinn ins Gesicht geworfen! Ich bin ganz außer mich vor Entrüstung. Ich begreife überhaupt nicht, daß ich es so lange ausgehalten habe! Lenchen, und du lachst noch! Denke doch, so ein wehrloses Opfer wie unser Herr Doktor, das sich nicht einmal verteidigen kann! Lenchen, ich fange an zu glauben, daß du kein Herz mehr hast, sonst könntest du nicht lachen über ein solches Unglück.«
43 »Aber, liebstes Mütterchen,« sagte Helene vergnügt, »das taten wir doch nur, um unserm Doktor Belling einen guten Ruf zu bereiten.«
»Einen guten Ruf nennst du das?« rief die Mutter entsetzt. »Und das muß ich von meiner leiblichen Tochter erleben! Lenchen, du wirst mir mit keinem Fuß mehr ein Kaffeekränzchen betreten! Diese Gespräche sind ein schleichendes Gift für deine junge Seele. Übrigens werden wir uns auch von diesem Herrn Belling ein wenig zurückziehen müssen, denn wenn auch nicht alles wahr ist, was die Damen geredet haben, so werden die Leute doch dumm genug sein, es zu glauben– du weißt ja, wie fabelhaft leichtgläubig die Leute sind, wenn von einem Mitmenschen Schlechtes geredet wird – und das könnte denn zuletzt auch auf unsern Ruf nachteilig wirken, und das kann ich nicht dulden, Lenchen, kann ich auf keinen Fall dulden! Mit einem Manne von schlechtem Ruf darf ein junges Mädchen unter keinen Umständen verkehren, sie hat zuletzt immer den Schaden davon. Und schließlich muß man denn doch sagen, wenn das auch alles Unsinn war, was da geredet wurde, etwas muß denn doch daran sein, ganz aus der Luft greifen kann sich doch kein Mensch solche Dinge!«
Helene lachte hell auf.
»Du kommst mir auf kein Damenkränzchen mehr. Helene! Dein Gelächter zeigt mir, daß du heute schon Schaden gelitten hast. Ich habe ja doch nicht gesagt, daß alles wahr ist; ich bin zum Beispiel vollkommen überzeugt, das Liebesverhältnis, von dem die Rede gewesen, ist ein ganz unschuldiges gewesen, aber die 44 vielen Duelle sind und bleiben denn doch verdächtig, wenn man auch annimmt, daß er jedesmal provoziert worden ist –«
»Siehst du, liebste Mutter,« sagte Helene mit ungestörter Heiterkeit, »so gefällst du mir, so mußt du immer sprechen, wenn die Leute dich ausfragen wollen. Begreife doch, daß gerade der Ruf eines wilden Pistolenschützen ihm nur nützlich sein kann, weil sich die Leute und auch seine Schüler dann noch mehr vor ihm fürchten, als sie jetzt schon tun – und weiter braucht er ja nichts! Wir müssen, so viel wir können, dazu beitragen, ihn in Respekt zu setzen, Mutter. Siehst du, und dazu kommt das schauerliche Gefasel ganz wie gerufen.«
Die Frau Rechnungsrätin blickte ihrer Tochter unendlich verblüfft ins Gesicht und begnügte sich dann damit, leise vor sich hin zu seufzen.
Als sie zu Hause angekommen waren, begab sich Helene unverzüglich in den Hof, woselbst sich ein hölzerner Ausgußkasten mit beweglichem Deckel befand. Diesen Deckel hob sie auf und schmetterte ihn mit aller ihr verliehenen Kraft, die nicht gering war, wieder hinab, dadurch einen Knall erzeugend, der sich von einem mäßigen Kanonenschlag nicht wesentlich an Kraft unterschied. Dieses merkwürdige Spiel setzte sie in Pausen eine beträchtliche Weile fort. Voll Entsetzen erschien die Frau Rechnungsrätin im Küchenfenster und sah staunend die rätselhafte Leibesübung ihrer verständigen Tochter.
»Kind, unglückliches Kind,« rief sie hinab, »was treibst du für Tollheiten? Die ganze Nachbarschaft wird in Aufruhr geraten!«
450 »Das soll sie auch,« entgegnete Helene ruhig und ließ ihr Geschütz wieder knallen, »und wenn sie kommt, sagen wir: ›Der Herr Doktor übt sich im Pistolenschießen!‹«
Von diesem Tag an war der Ruhm Iwans des Schrecklichen in Stolpenburg fest begründet; vor allem bei den Schülern und den jungen Damen. Wenn die letzteren durch das tragisch Erschütternde und prickelnd Schauderhafte in seinen Schicksalen und Taten mit einem geheimnisvollen Schauer erfüllt wurden, so wirkte die Erkenntnis, daß dieser Mann des Zornes auch andrer Leidenschaften fähig sei, völlig überwältigend auf ihre Herzen. Vor der Phantasie der Schüler aber stand ein Duell als die äußerste Höhe des Lebens nach der dämonischen Seite hin; und zitternd fügten sie sich dem Gewaltigen, denn jeder hatte die geheime Angst, Iwan der Schreckliche würde ihm bei dem geringsten Ungehorsam eine Pistolenforderung schicken oder auch noch einfacher einen Revolver aus der Rocktasche ziehen, wie andre Leute ihr Taschentuch, und den Unbotmäßigen mit einer graziösen Handbewegung auf seinem Platz niederknallen. So hüteten sie sich wohl, seine Wut in Versuchung zu führen.