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Am nächsten Morgen besaß Gotthold einen Katzenjammer, doch nicht der schlimmsten einen, sondern in vernünftigen Grenzen, wie ihn ein anständiges Getränk erzeugt. Er fühlte sich immer noch sehr gehoben und glücklich. Es war Sonntag, und das war ihm lieb.
Als er aufgestanden war und sich seinen Kaffee über der Spiritusflamme gebraut hatte, bemerkte er auf dem Tisch ein Paar alter Handschuhe, die sich bei näherer Durchforschung als sehr sorgsam geflickt erwiesen.
Da ergriff ihn eine Rührung. Er wußte, wer dieses Werk der Barmherzigkeit vollbracht hatte. Er hatte Helene lange vernachlässigt, und das reute ihn jetzt. Ihre ehrliche Freundschaft hatte eine bessere Aufmerksamkeit verdient. Freilich hatte sie seit langem ein gewisses madonnenhaftes Wesen angenommen, das ihr nicht stand und das ihm nicht behagte. Ein kleiner Heiligenschein schien beständig ihr schönes Haupt zu umschweben. Seit wann eigentlich? Unverkennbar seit dem Tage, da er in Fräulein Leinemanns Institut den großen Triumph gefeiert. Warum gönnte sie ihm den nicht? Bloß weil sie das Gegenteil vorausgesagt und ihn vor dem Schritte gewarnt hatte, der ihn nun 108 seinem höchsten Glücke entgegenführen sollte? War sie so eitel auf ihre Klugheit, so rechthaberisch? Er mußte immer wieder den Kopf schütteln; diese Eigenschaften paßten noch weniger zu ihrem Wesen als der Heiligenschein.
Jedenfalls fühlte er heute das herzliche Bedürfnis, ihre Freundschaft wieder zu suchen, sich mit ihr auszusprechen, sie vielleicht ganz ins Vertrauen zu ziehen. Eine gewisse Unklarheit der Empfindungen, die sich trotz aller Siegesfreude immer wieder heimlich geltend machte, ließ ihn nach einem teilnehmenden Herzen verlangen. Und er selbst fühlte sich heute so weich und feierlich gestimmt, daß er bereit war, jedes Vertrauen zu geben.
Zu geeigneter Vormittagsstunde machte er den Damen seinen Besuch. Die Mutter wirtschaftete in der Küche; er fand Helene allein.
Sie sah aus, als ob sie ihren Heiligenschein für den Sonntag frisch geputzt habe, vornehm, mild, zurückhaltend. Das verstimmte ihn, und er verlor sofort die Vertrauensfreudigkeit, die ihn hergetrieben hatte. Es prickelte ihn sogar, sie zu ärgern, zu demütigen, ihr zu erzählen, daß er gestern Herrn von Bodungen kennen gelernt habe und wie flott derselbe Fräulein Alma den Hof gemacht. Dabei kam er selbst sich merkwürdig erhaben vor, daß er so gar keine Eifersucht gegen den gefährlichen Nebenbuhler verspürte; er fühlte sich seiner Sache offenbar mathematisch sicher.
Indem er nach einer schicklichen Anknüpfung suchte, erinnerte er sich des Gesprächs, das er mit jenem gehabt über Pistolen und Duelle, und der 109 unverständlichen Bemerkung über Schießübungen hinter dem Hause.
»Sagen Sie, Fräulein Helene,« begann er schnell »ich wollte Sie schon immer fragen: pflegt hier jemand auf Ihrem Hof oder sonst in nächster Nähe mit Pistolen oder Flinten zu schießen? Ich hörte es oft und wurde gestern noch besonders aufmerksam gemacht durch Herrn – durch einen Herrn –«
Er stockte doch und brachte den Namen nicht über die Lippen. Er schämte sich seiner boshaften Anwandlung. Er schämte sich auch noch aus einem andern Grunde: warum mißgönnte er es ihr denn, daß sie jenen Mann geliebt hatte, vielmehr noch liebte? War das etwa eine anständige, ehrliche Eifersucht? Machte er selbst denn etwa Ansprüche? War das etwas andres als der gemeine, niedrige Neid der Eitelkeit? Er begriff sich selbst nicht und schämte sich sehr.
Helene war bei seiner Frage offenbar sehr verlegen geworden. So sah er sie zum erstenmal; der Heiligenschein war zerflossen wie ein Regenbogen; sie machte ein sehr menschliches, sehr mädchenhaftes, schuldbewußtes und doch zugleich halb schelmisches Gesicht. Sie gefiel ihm ausgezeichnet so. Merkwürdig, ja, sie erinnerte ihn mit dieser Miene gerade an Alma. Das war es, darum gefiel sie ihm offenbar jetzt so gut.
»Ach Gott,« stotterte sie, »das wäre ja schändlich. wenn hier jemand schösse – aber ich denke, es wird wohl der Deckel von unserm Ausguß sein, der knallt ganz hörbar, wenn man ihn zufällig zuklappen läßt. Aber bitte, sagen Sie das nicht weiter, nein?«
»Warum denn nicht?« fragte er verwundert.
110 Sie ward noch verlegener.
»Ich meine nur – es ist ja ganz gut, wenn die Leute denken, man schießt hier, Sie zum Beispiel – wir sind dann sicherer vor Dieben.«
Er war nicht ganz überzeugt; ihre Unsicherheit machte ihn stutzig.
»Ich weiß nicht,« sagte er nachdenklich und sah dabei sehr grimmig aus, »ich habe manchmal das Gefühl, als ginge hinter meinem Rücken etwas vor, irgend etwas ganz Unklares, wie ein Raunen und Zischeln, das ich nicht höre und doch auf geheimnisvolle Weise wahrnehme, ohne es gleichwohl zu begreifen . . .«
»Das ist ohne Zweifel nur eine Einbildung Ihrer erregten Phantasie,« entgegnete Helene schnell.
»Ich möchte es selbst gern glauben,« sagte er, »und doch – erstens habe ich noch nie eine sehr lebhafte Einbildungskraft bei mir beobachtet; wie käme ich auch als Mathematiker zu solcher Neigung? Und dann – was veranlaßt zum Beispiel selbst den Herrn Bürgermeister, den alle Welt als sackgrob verschreit, mich, einen neuangestellten, völlig unbedeutenden Schullehrer, mit der ausgesprochensten Höflichkeit zu behandeln?«
»Ei,« rief sie, »das ist doch ganz einfach: der Herr Bürgermeister fürchtet sich genau so wie alle seine Untertanen vor Ihrem bösen Gesicht.«
Gotthold blickte ernst und unruhig vor sich hin.
»In diesem Fall,« sagte er nach einer Pause, »wäre es offenbar meine Pflicht, die Leute über meine unfreiwillige Maske aufzuklären.«
»Eine solche Pflicht kann ich durchaus nicht 111 einsehen. Ebensogut könnten Sie sich verpflichtet fühlen, Ihren Schülern zu sagen: Kinder, ich bin gar nicht der strenge Despot, für den ihr mich haltet; wenn ihr Lust habt, könnt ihr mir getrost auf der Nase herumspielen.«
»Das ist doch etwas andres. Den Kindern gegenüber ist eine gewisse Verstellung sogar einfach Pflicht; die ganze Erziehungskunst beruht zuletzt auf dem großen Schwindel, daß wir alten, erwachsenen Schlingel mit unsern brutalen Fehlern, Dummheiten, Sünden uns der lieben Jugend mit bewußter Heuchelei als fleckenlose Vorbilder sittlichen Wandels, als unbeschränkte Meister alles Wissens, kurz, als möglichst ideale Wesen hinstellen; diese Lüge übt jeder Vater, jeder Erzieher und muß es tun, will er nicht die Pietät und den Gehorsam im Keim ersticken. Soweit also bin ich vollkommen in meinem Recht; aber mich von den Erwachsenen mit Bewußtsein in einem falschen Licht sehen zu lassen, streift denn doch hart an die Rolle eines Betrügers.«
»Und wenn die Erwachsenen sich nun selbst zu Kindern machen?« rief sie eifrig. »Oder sind sie nicht rechte Kinder, wenn sie sich vor einem strengen Gesicht fürchten und dahinter auch gleich allerlei Abenteuer vermuten? Wahrhaftig, Herr Doktor, es ist mein voller Ernst, Sie wären ein Pedant und ein Tor, wenn Sie den Nimbus selbst zerstören wollten, der Ihnen so wohltätig ist und nach Ihrem eignen Geständnis Ihnen erst Ihre Lebensstellung sicher gegründet hat.«
»Und doch wußten Sie es einst warm zu rühmen, 112 daß ich Ihnen gegenüber meine Maske sogleich abnahm.«
»Weil ich darin einen Beweis eines edeln Vertrauens erblickte,« versetzte sie warm, »dessen würdig zu sein ich mich seither ehrlich bemüht habe – durch Schweigen.«
»Sie trauen also andern nicht die gleiche Schweigsamkeit zu?«
Helene senkte betroffen den Blick.
»Es war wohl sehr hochmütig,« sagte sie leise, »zu glauben, daß Sie uns durch Ihr Vertrauen ein Zeichen besonderer Freundschaft geben wollten.«
»Nein, wahrhaftig, das war kein Hochmut und kein Irrtum,« rief er ganz gerührt, »es war so die Meinung, und sie kam aus dem Herzen. Und Sie haben recht; eine übertriebene Ehrlichkeit wäre Torheit; ein derartiges Vertrauen ist eine freie Gabe, auf die niemand Anspruch hat – oder glauben Sie, daß irgend jemand von Haus aus berechtigt wäre, eine solche Offenherzigkeit von mir zu fordern – etwa mein Direktor? Mein Schulrat? Meine Kollegen?«
Helene dachte ernsthaft nach. Dann sagte sie bestimmt:
»Ich wüßte nur einen Fall, in dem jemand ein Recht auf Ihre ganze Offenheit hätte –«
Sie brach leicht errötend ab. Belling verstand sie auf der Stelle, und das Blut stieg ihm heiß ins Gesicht. Das war es, was ihm unklar auf der Seele gelegen, was gestern bei aller Begeisterung und Leidenschaft seinen Mund verschlossen, seinen Fuß 113 gehemmt hatte! Daß ihm das nicht von selbst ins Bewußtsein gekommen war! Daß dieses junge Mädchen erst der gute Genius sein mußte, der die Erinnerung an eine so einfache Pflicht in seiner Seele löste! In diesem Augenblick fühlte er eine grenzenlose Verehrung für sie, jetzt schien sie ihm wirklich einen Heiligenschein zu haben, aber einen andern, einen echten – er suchte mit dankbarem Blick ihr kluges, treues Auge.
Doch nein, da war plötzlich wieder der alte, unangenehme stilwidrige Heiligenschein! Ganz urplötzlich, ohne daß er ein Wort gesprochen. Fort war die anmutige Schelmerei, fort die frische Offenheit, fort auch das mädchenhafte Erröten – gerade als wenn es von seinem eignen tieferen Erglühen verscheucht wäre – was übrig blieb, war kühnes vornehmes Wohlwollen.
Er fühlte sich wahrhaft peinlich berührt von diesem unklaren, launenhaften Wesen; war es doch gerade die Klarheit und Festigkeit gewesen, die er an ihr – irrtümlich – so hoch geschätzt! Wie stand auf einmal Almas Gestalt so bezaubernd vor seinem Geiste! Dort immer die gleiche Demut, Kindlichkeit, Frische, Offenheit, Schalkheit, Anmut, und hier – kühle Klugheit. Und er war fast im Begriff gewesen, ihr sein ganzes volles Herz zu öffnen!
Er sprach noch allerlei gleichgültige Dinge und empfahl sich mit mattem Händedruck.
Als nicht lange danach die Frau Rechnungsrätin hereintrat, fand sie Spuren von Tränen in den Augen ihrer Tochter.
114 »Aber Lenchen, was ist dir?« rief sie betrübt. »Ich denke, unser Herr Doktor war hier – er ist doch nicht etwa unartig gegen dich gewesen?«
Helene schüttelte kräftig den Kopf und versuchte zu lächeln.
»Dann ist's also richtig wieder der unglückselige Bodungen!« rief die Mutter entsetzt. »Oh, dieser . . . Und ich Ärmste hoffte, du würdest endlich Vernunft annehmen und unsern lieben Herrn Doktor schätzen lernen statt jenes Unwürdigen!«
»Mutter,« rief Helene heftig, »solch ein Wort kann ich nicht dulden! Wenn ich Herbert auf die Dauer nicht genügte, so ist das wahrlich kein Grund, ihn zu schmähen. Ich fürchte, er war nur zu sehr in seinem Recht. Zehnfach aber würde ich ihm erst recht geben, wenn ich ihm jemals in meinem Herzen die Treue bräche und einen andern liebte. Und das mußt du doch einsehen, daß gerade dann Herr Doktor Belling selbst mir seine Achtung entziehen müßte; und ohne Achtung keine wahre Liebe.«
»Das wäre freilich eine verzweifelte Zwickmühle, wenn nur alles so stimmte! Aber unser Herr Doktor ist viel zu verständig –«
»Mutter, glaubst du, daß er jemals seiner ersten Liebe untreu werden würde? Dann denkst du geringer von ihm, als ich, und dann würde ich ihn nicht mehr wahrhaft achten und also auch nicht wahrhaft lieben können. Deine Zwickmühle steht also wirklich von beiden Seiten offen. Übrigens kann ich dir zu deiner Beruhigung mitteilen, daß Herr Doktor Belling nicht von weitem an uns denkt – er ist für uns zu vornehm geworden.«
115 »Wieso? Was heißt das?«
»Er verkehrt – sehr intim, wie mir scheint – in der Familie des Herrn Kommerzienrats Gruber.«
Helene sprach in einem spitzen und pikierten Ton, der ihr sonst nicht eigen war.
»Nu, was ist das denn Großes?« rief die Mutter. »Erstens: Rat ist Rat, und Kommerzienrat ist nichts besseres als Rechnungsrat, denn er verdient sein Brot auch bloß mit Rechnen und nichts Besserem, der Unterschied ist bloß, daß der eine für seine eigne Tasche rechnet und der andre für den Staat, und da ist das letztere doch viel anständiger. Übrigens weißt du, ein Mathematiker hat es im Grunde doch auch nur hauptsächlich mit Rechnen zu tun und könnte ganz gut auf deutsch Rechnungsrat heißen, und er rechnet auch für den Staat und wahrhaftig nicht für sich, denn sonst würde er natürlich auch die Taschen voll Geld haben, wie so ein Herr Kommerzienrat, und also paßt er viel besser zu uns als zu den Grubers – die übrigens sehr gute Leute sein mögen,« setzte sie eifrig hinzu, um ihr Gewissen wegen der Gehässigkeit ihrer Rede zu beruhigen.
»In dem einen Punkt hast du recht, Mutter,« sagte Helene still, »daß wir uns für nichts Schlechteres zu halten brauchen als reiche Leute, aber eben darum – und nun gib mir einen Kuß, mein kleines Mutterchen, und laß mich zufrieden mit deinen Hoffnungen und Wünschen, aus denen doch nichts werden kann.«
Und sie fiel ihr um den Hals und fing dort plötzlich laut zu schluchzen an ohne jeden vernünftigen Grund, wie es der Frau Rechnungsrätin scheinen 116 wollte. Das hielt diese jedoch nicht ab, sie zärtlich zu streicheln und nach Kräften zu trösten.
Ungefähr zur gleichen Stunde hatte Fräulein Alma eine lebhafte Unterredung mit ihrem Vater, dem Kommerzienrat Gruber, in dessen Arbeitszimmer. Sie sah etwas übernächtig, aber sehr hübsch aus.
»Papa, ich habe eine Bitte,« sagte sie gelassen.
»Das brauchst du nicht erst zu sagen, wenn du hierher kommst,« entgegnete er noch gelassener. »Ist's diesmal ein Kleid oder ein Schmuck?«
»Keins von beiden.«
»Also etwas noch Kostspieligeres, versteht sich.«
»Versteht sich. Ich bitte um ein kleines Fest.«
»Was – nach dem gestrigen fürchterlichen Ball noch ein Fest? Nein, Almchen, das geht über die Hutschnur.«
»Aber so laß mich doch erst ausreden. Es handelt sich um ein ganz andres Fest, viel billiger und origineller. Wir brauchen nichts als ein Dutzend Schlitten und ein bißchen Proviant, Punsch, Wein und dergleichen für höchstens hundert Menschen, dazu etwas Kostüm, viele Blumen und Grün und sonstige Kleinigkeiten –«
»Und wozu diese ganze Kleinigkeit?«
»Ich will ein Eisfest veranstalten, kostümiert, mit allerhand Zauber. Denke doch, Papa, ist es nicht eine reizende Idee? Wir kostümieren uns als neapolitanische Lazzaroni und feiern so ein nordisches Eisfest zu Schlittschuh. Ist das nicht großartig?«
»Versteht sich, versteht sich. Die etwa hundert Kostüme kosten auch gar kein Geld. Oh, versteht sich!«
117 »Ach, Papa, das ist furchtbar einfach. Wir setzen bloß phrygische Mützen auf und binden eine rote Schärpe um, das genügt für den Eindruck. Das ist billig zu beschaffen, ich schreibe sofort nach Berlin. Überhaupt besorge ich alles, du hast gar keine Umstände davon.«
»Bloß Kosten, versteht sich.«
»Nun ja, aber diesmal lohnt es sich auch. Dies Fest hat seine besonderen Gründe.«
»So? Und welche?«
»Es wird mein Verlobungsfest.«
»Himmlischer Vater! Du willst dich verloben?« rief der Papa, entsetzt zurückfahrend.
»Mit Herrn Doktor Belling, zurzeit Lehrer am hiesigen Gymnasium, künftig Provinzialschulrat oder vortragender Rat im Ministerium –«
»So? Von deinen Gnaden, versteht sich. Aber das ist ja eine ganz merkwürdige Überraschung.«
»Für mich gar keine, Papa.«
»Also, du hast schon lange so ein kleines Verhältnis mit diesem Herrn Schulmeister?«
»Schulmann sagt man, Papa. Und ich habe kein andres Verhältnis zu ihm, als daß ich ihn zu heiraten wünsche.«
»Die Herren Eltern werden natürlich gar nicht gefragt, oh, versteht sich!«
»Aber, Papa, ich frage dich doch zu allererst.«
»So, das nennst du fragen? Auch gut! Und die Mama, was sagt die dazu?«
»Die ärgert sich natürlich. Aber das ist gerade mein Hauptspaß dabei, und deiner doch sicher auch. Das heißt, heiraten würde ich ihn, auch wenn sie sich 118 nicht ärgerte. Aber sie findet natürlich, es sei keine passende Partie für mich.«
»Offen gestanden, liebes Kind, das finde ich auch. Allen Respekt vor dem Herrn, aber ich hätte wirklich nicht gedacht, daß du, gerade du dir einen gewöhnlichen Schullehrer aussuchen würdest –«
»Schulmann, Papa! Außerdem einen ungewöhnlichen! Und dann – was bildest du dir eigentlich ein? Was bist du denn Großes? Du hast doch wahrhaftig nichts als dein bißchen Geld, das du mühselig zusammengescharrt. Wenn du das nicht hättest, wärest du nicht mehr als der Krämer am Markt oder dein Buchhalter. Welcher Offizier würde dann mit dir verkehren? Ich zum Beispiel schon gar nicht. Und auch kein einziger Schulmann. Ein Schulmann aber verkehrt mit uns und sonst mit der guten Gesellschaft, auch wenn er gar kein Geld hat. Folglich ist er in Wahrheit viel mehr als du, und wenn er erst obendrein reich ist, braucht er dich eigentlich gar nicht mehr anzusehen.«
»Ein netter Schwiegersohn, den du mir in Aussicht stellst. Der Hochmut scheint ihn allerdings schon so ein wenig zu plagen.«
»Das gefällt mir gerade an ihm, daß er so ist. Ich sage dir, er ist furchtbar forsch, Papa.«
»Das fürchte ich. Aber noch eins, mein Töchterchen: hat er sich dir denn schon erklärt?«
»Nein, das soll er ja eben auf dem Eisfest tun.«
»So? Also er soll? Versteht sich, oh, versteht sich! Nach seinem Willen wird er so wenig gefragt wie Papa und Mama.«
119 »Na, aber er muß doch fragen und nicht ich. Und das wird er schon tun, sei ganz ruhig. Man muß ihm nur eine richtige Gelegenheit geben. Und die findet sich gerade auf dem Eise famos. Daß ich ihn haben will, muß er gestern schon gemerkt haben –«
»Und daß er da sogleich zugreift, ist ja selbstverständlich.«
»Ach, tue doch nicht so, Papa! Daß ich eine gute Partie bin, weißt du doch auch.«
»Ich denke wohl, daß ich es allenfalls wissen könnte.«
»Und er ist schließlich nur ein einfacher Schulmann –«
»Na, weißt du, viel Logik scheint er dir mit seiner Mathematik aber nicht gerade beigebracht zu haben – da ist Fräulein Leinemann gründlich auf den Holzweg geraten.«
»Ach, zum Heiraten braucht man auch gar keine Logik! Und übrigens, laß mich nur ausreden. Daß er mich nämlich gern hat, weiß ich auch – oh, du glaubst nicht, was er gestern für ein entzückendes Gesicht gemacht hat! Ich kann dir sagen: der nimmt mich!«
Der Kommerzienrat strich sich nachdenklich das Kinn.
»Hm, hm,« brummte er, »ich dachte eigentlich, der Bodungen – weißt du, der hätte eigentlich viel besser für dich gepaßt. Eine leichtsinnige Fliege ist er zwar, und seine Majorsschulden wird er lange voll haben, indessen –«
»Ich mache mir aber nicht viel aus ihm. Er ist so zudringlich.«
120 »Das finde ich in solchen Fällen der Situation nur angemessen.«
»Ich finde aber Herrn Doktor Bellings Manier viel vornehmer. Na, kurzum, Papa, ich schwöre dir, ich heirate ihn, und wenn du dich auf den Kopf stellst.«
»Das werde ich bleiben lassen. Mir kann es ja übrigens ganz recht sein, wenn ich keine Schulden zu bezahlen brauche. Wie du aber mit Mama fertig werden willst – nun, das ist deine Sache. Verlange von mir nur nicht, daß ich mich da weiter hineinmische – etwa gegen Mamas Wunsch –«
»Aber, Papa, wie könnte ich so pietätlos sein! Verlaß dich ganz auf mich. Ich mache alles. Also das Fest ist bewilligt?«
»Meinethalben, meinethalben. Was hilft es mir auch, wenn ich es nicht bewillige? Dann wird es ja erst recht veranstaltet, und ich ersticke nachher in Rechnungen. So habe ich wenigstens noch eine leise Hoffnung, daß diese Laune von selbst wieder verraucht.«
»Keine Illusionen, Papa!« rief Fräulein Alma und verschwand.
Eine Stunde später wurden die Einladungen versandt.
*
Der Tag dieses großen Festes war gekommen. Strahlend, wolkenlos, in milder Kälte stieg er empor. Als Gotthold in die blitzende Winterherrlichkeit hinausschaute, überkam ihn die feierlich wonnevolle Stimmung, mit der er als Kind in den Weihnachtstag hineingeschritten war, jene Stimmung, die mitten in der Hoffnung auf hundert köstliche Dinge sich halb 121 in ein heimliches Zagen vor dem Glück verliert, als ob es ganz unglaublich sei, daß das erträumte Glück trotz seiner sicheren Nähe wirklich werden könne.
Als die Stunde des Aufbruchs herankam, ward sein Benehmen so sonderbar, seine Bewegungen so unruhig und hastig, daß Molly aufmerksam wurde, in eine wachsende Aufregung geriet und zuletzt in ein klägliches Winseln ausbrach.
Sein Herr nahm das kleine Ungeheuer auf den Arm und streichelte es mit besonderer Rührung; er kam sich vor wie ein Vater, der seinem Kinde eine Stiefmutter zu geben im Begriff steht. Als er ging, übergab er den Hund Helene mit der Bitte, ihn zu versorgen und festzuhalten, da seine Begleitung auf dem Eise unbequem sei. Alma hatte ihm neulich verraten, daß sie das Tier abscheulich finde.
»Glückliche Fahrt!« sagte Helene zum Abschied mit einem sonderbaren Blick, dessen Bedeutung ihm nicht klar ward, obgleich er ihn bis an sein Ziel verfolgte. Es hatte eine große Herzlichkeit darin gelegen, ohne Zweifel; aber noch mehr: war er nicht ein wenig scheu, ein wenig besorgt, ein wenig traurig gewesen?
Wenn er sich zu einer Nordpolfahrt aufgemacht hätte, wäre das ganz begreiflich. Aber so? Doch dies Mädchen war ihm ja lange schon unverständlich geworden.
Mit mathematischer Pünktlichkeit erschien er an der ihm bezeichneten Stelle, an der sich die Festgenossen versammeln sollten. Der Fluß bildete hier eine breite Ausbuchtung, die eine herrliche Fläche für eine Fülle von Schlittschuhläufern bot; von da an aufwärts 122 verengte er sein Bett, war aber weiter oberhalb stark über die Uferwiesen getreten und hatte die besondere Liebenswürdigkeit für die Menschenkinder, jeden Abend von neuem dies Gebiet ein wenig zu überschwemmen und so für jeden neuen Morgen eine neue Bahn von tadelloser Glätte zu bereiten, während die schneebedeckte Landstraße an seiner Seite den Schlitten die leichteste Fahrt gestattete.
Gotthold war der erste auf dem Plan. Er legte die Schlittschuhe an und probierte seine Fertigkeit. Er war ein kräftiger Läufer, wenn auch wenig geübt in feineren Kunststücken und ohne besondere Zierlichkeit. Es kam ihm heute zum erstenmal die Frage, wie er bei dieser Art Bewegung sich ausnehme, von der er sonst eben nur empfand, daß sie wohltuend, erfrischend und stählend war.
Einige Schlitten sausten prächtig heran; er erkannte die bunten Mützen der Husarenoffiziere, die ihm meistens vom Ball her flüchtig bekannt waren. Sie begrüßten ihn mit großer Höflichkeit und begaben sich ebenfalls sogleich aufs Eis und probierten ihre Fertigkeit auf dem Stahlschuh. Als der beste Läufer war leicht Herbert von Bodungen zu erkennen. Die Geschmeidigkeit und männliche Anmut seiner Bewegungen war unvergleichlich, und er vollführte die gewagtesten Drehungen, Sprünge und Wirbelzüge ohne merkbare Anstrengung und ohne Koketterie, leichthin und wie selbstverständlich, wie etwa ein jugendlich starkes Pferd zwecklose Sprünge voll unbewußter Grazie macht. Gotthold bewunderte ihn und staunte über die feurige Schönheit des Mannes.
123 Jetzt scholl ein kräftiges Klingeln von der Seite der Stadt her. Alles wandte sich um und glitt dem Ufer zu. Das waren die Schlitten der Festgeber.
Glänzend geschmückt glitten sie daher, purpurne Decken wallten mächtig gebläht über den ausgreifenden Rappen, auf deren Köpfen bunte Federbüsche schwankten, dahinter sah man kostbare Pelze und Decken, farbige Kleider, eine Fülle von Blumen und Kränzen, flatternde rote Bänder. Einem Königszug glich die Auffahrt, alles Pracht, Freude, strahlende Farbenglut, doppelt frisch erglänzend über dem tonlosen Weiß und Grau der Ebene, unter dem mattfreundlichen Blau des nordischen Winterhimmels. Es ging eine ansteckende Fröhlichkeit von diesem Schlittenzuge aus, all dies übermütige Klingeln, Stampfen, Wehen und Sichblähen übte eine freudig aufregende Wirkung auch auf den ruhigsten Zuschauer.
Die frühergekommenen Herren drängten sich um Almas Platz. Sie saß behaglich in ihrem Pelz und grüßte lachend nach allen Seiten: ihr schönes Köpfchen war fast verdeckt durch eine Fülle von Rosen und Sträußen, die in verschwenderischer Zahl über den Schlitten gestreut waren; so sah sie aus wie eine Frühlingsfee mitten in dem starrenden Winter.
Während aber die Herren sich wetteifernd bemühten, ihr beim Aussteigen behilflich zu sein, schüttelte sie plötzlich Pelze und Blumen von sich, sprang leichtfüßig nach der andern Seite hinaus und war im Nu hinter dem Schlitten herum auf das Eis geschlüpft.
»Meine Herren,« rief sie, ihre zierlichen Schlittschuhe hoch in der Luft schwingend, »wer zuerst den 124 Pfahl dort oben an der Flußbiegung erreicht, wird die Ehre genießen, mir die Schlittschuhe anzuschnallen. Ich bitte die Herren, die sich an dem großen Wettlauf beteiligen wollen, sich in eine Linie zu stellen und zu warten, bis ich das Zeichen zum Ablauf gebe.«
Alle anwesenden jungen Männer eilten herbei und ordneten sich gehorsam. Alma zählte – eins – zwei – drei, und klatschte in die Hände, und dahin sauste die ritterliche Schar wie ein aufgescheuchtes Volk Hühner über das schurrende Eis hinweg.
Nach sehr kurzer Zeit schon zeigte sich unverkennbar, daß Herr von Bodungen der schnellfüßigste Läufer war und zweifellos als der erste das Ziel erreichen mußte; er fuhr den andern weit voran, als wenn er seine Schwadron zum Angriff führe. Mit stiller oder lauter Bewunderung folgten die Blicke der Zuschauer am Ufer seinen schönen und kraftvollen Bewegungen; mitten im stürmischen Wettlauf konnte er noch eine rasche Drehung machen und, eine Zeitlang rückwärts laufend, den ihm folgenden Schwarm wie ein musternder Feldherr überblicken, ohne seinen Vorsprung wesentlich zu verringern. Sein Sieg war so unzweifelhaft, daß die andern bereits in freiwilliger Entsagung lässiger dahinglitten; nur Gotthold stürmte noch, blind hoffend, mit voller Wucht weiter und gelangte dadurch ein gutes Stück über die ziemlich gleichmäßige Reihe der übrigen hinaus.
Da geschah etwas Unerwartetes. Der sichere Sieger schien nicht weit vom Ziel plötzlich von einem tollen Übermut ergriffen zu werden; er bog von der geraden Bahn ab, machte allerlei graziöse Kapriolen, Kurven 125 und wirbelnde Umdrehungen, und so geschah es, daß Belling wider aller Erwartung an ihm vorüberschoß und als erster das Ziel erreichte.
Es war unmöglich zu verkennen, daß Bodungen absichtlich den Siegespreis aufgegeben hatte. Obgleich Fräulein Alma mit dem durch seine Selbstverleugnung erzielten Ergebnis durchaus zufrieden war, ärgerte sie sich doch. So seine Überlegenheit zu zeigen und dann den gebotenen Preis wie etwas Wertloses zu verschmähen, das war mindestens ungeschliffen, bei genauer Betrachtung war es empörend. So ein hochmütiger Mensch! Bildete er sich denn auf seine Schönheit und Kraft, die allerdings unleugbar waren, so viel ein, daß er glaubte, sie würde sich etwas aus seiner zur Schau getragenen Gleichgültigkeit machen! Du lieber Himmel, als ob der Wert des Menschen nach dem Schlittschuhlaufen zu schätzen wäre! Sich darüber zu ärgern fiel ihr im Traum nicht ein! Im Gegenteil, sie war ihm selbstverständlich nur von Herzen dankbar!
Diese Dankbarkeit verriet sich dem unglücklichen Leutnant freilich nur in einer äußerst unliebenswürdigen Miene, und als er darauf mit einem harmlos-freundlichen Lächeln antwortete, drehte sie ihm zornrot den Rücken. Das triumphierende Aufblitzen seiner schwarzen Augen sah sie nicht.
Doktor Belling freilich fand nun Gelegenheit, durch die eingehende Betrachtung zierlicher Pelzstiefelchen und zierlicher Knöchel sein ungeschultes Auge zu bilden; ihr jedoch war dieses kleine Vergnügen halb verdorben.
126 Während dieses aufregenden Zwischenspiels war der große Gepäckschlitten angelangt. Im Handumdrehen war im Rund ein kleiner Wald von Tannenbäumen auf dem Eise aufgestellt, über und über mit goldroten Orangen behangen, die aus dem dunkeln Grün mit wundervoller Leuchtkraft hervorstrahlten. Mitten hinein ward ein Tisch getragen und hurtig mit Tassen, Gläsern, Kannen und mehreren ernstlich dampfenden Maschinen besetzt, in denen neben dem Kaffee für verwegene Charakter bereits Punsch in verschiedenen Mischungen eingebraut wurde, um jedem Geschmack und jeder Begabung zu genügen.
Während die beschlittschuhten Gäste hier vergnüglich ihre Stimmung regulierten, ward von Alma ein Kästchen niedergesetzt, das ganz mit neapolitanischen roten Fischermützen und Schärpen gefüllt war, erstere an ihrem Zipfel mit einer klingenden Schelle versehen. Diese Abzeichen verteilte sie an die herzudrängenden Festgenossen, und bald tummelte sich auf dem Eise eine sonderbare Schar rotmütziger Lazzaronie, mit lustigem Klingeln die festliche Narretei verkündend, Herren und Damen in der gleichen einfachen Weise ausstaffiert.
Wiederum trat Alma heiter vor die schwankende und gleitende Versammlung und sprach:
»Meine Herrschaften! Erstens ergeht hiermit ein allgemeines strenges Verbot, am heutigen Tag irgend etwas Ernsthaftes und Vernünftiges zu reden, zu tun oder zu denken. Wer gegen dieses Gebot sündigt, wird öffentlich für einen Philister erklärt. Und zweitens, damit von vornherein alle ernsthaften 127 Gemütserregungen, Neid, Eifersucht, Strebertum, falsche Hoffnungen und dergleichen gänzlich ausgeschlossen seien, soll jetzt die notwendige Zusammenfügung der Paare der Entscheidung eines gütigen Zufalls anheimgestellt werden. Ich schlage dazu das folgende, eigens von mir erfundene Bocciaspiel vor: Jeder pflückt sich eine Apfelsine von diesen Bäumen und ritzt die Anfangsbuchstaben seines Namens oder sonst ein sicheres Zeichen in die Schale. Hier diese Zitrone lege ich als Lecco aus, jeder wirft seine Kugel danach; derjenige Herr, dessen Zeichen die dem Lecco am nächsten gekommene Apfelsine aufweist, bildet die Spitze des Festzugs mit der Dame, deren Kugel der Zufall ihm in die engste Nachbarschaft geführt hat, und die folgenden reihen sich nach den gleichen Gesetzen daran. Wie gefällt Ihnen meine neue Kotillontour?«
Allgemeiner Jubel belohnte ihren Einfall, und man öffnete ihr eifrig die Bahn, ihren Lecco auszusetzen. Wie sie so dastand, die mächtige Zitrone in der Hand wiegend wie eine junge Spartanerin den Diskos, den linken Schlittschuh fest ins Eis stampfend, den rechten Fuß keck vorgesetzt, das Auge feurig die Bahn bemessend, die Lippen im Eifer zusammengepreßt, das dunkle Haar phantastisch mit der phrygischen Mütze geschmückt, sah sie so fremdartig schön aus, daß ein Flüstern der Bewunderung durch die Reihen ging und selbst einige ältere Herren die Versuchung fühlten, es noch einmal mit dem Eislauf zu wagen, wenn es an ihrer Seite geschehen könnte.
Jetzt flog die gelbe Kugel erst in langen niederen Sprüngen, dann blitzschnell rollend über die graue 128 Fläche, bis sie endlich in ansehnlicher Entfernung mitten auf dem Eise zur Ruhe kam.
»Jetzt werfen wir alle gleichzeitig,« rief sie, in die Hände klatschend, »damit um Gottes willen keine Durchstecherei geschieht! Nur der lustige Zufall soll heute König sein!«
Im selben Augenblick aber raunte sie lachenden Auges dem Mathematiker, an dessen Seite sie sich zu stellen gesorgt hatte, zu:
»Ich werfe ganz abseits vom Lecco nach dem schwarzen Pfahl dort am Ufer, ich habe eine ganz dunkle Blutapfelsine, die Sie leicht von allen andern unterscheiden können. Werfen Sie später als ich und zielen Sie sorgfältig!«
Ein süßer Schreck durchzitterte ihn. ›Jetzt ist's entschieden,‹ dachte er, ›die Stunde des Glücks ist da!‹
Nun kollerte ein tolles Durcheinander von goldigen Kugeln über die blanke Bahn, sich mengend und überholend, abprallend und sich schiebend, bis sie sich in weiten Abständen um das gelbe Ziel gelagert hatten.
Nur Herbert von Bodungen hatte absichtlich seinen Wurf verspätet. Mit einem übermütigem Blick sagte er zu Alma:
»Sehen Sie, gnädiges Fräulein, ganz seitwärts dort liegt eine prachtvolle dunkelrote Orange und eine andre nicht weit davon; die erste gefällt mir merkwürdig, ich will doch sehen, ob ich den Nachbar nicht übertreffen kann, man rühmt doch sonst meine Kunst zu zielen.«
Alma wurde rot und wagte nicht über die 129 Vertragsverletzung zu protestieren. Er warf, aber so ungeschickt, daß sein Ball nach einer ganz andern Richtung flog.
Der Fehlwurf war wieder unzweifelhafte Absicht. Alma merkte es und mußte sich schon wieder ärgern. Ein abscheulicher Mensch! Geradezu ungezogen! Mit keinem Blick wollte sie ihn heute mehr ansehen! Merkwürdigerweise sah sie freilich doch, wie er jetzt sehr unbetrübt lächelte, sich den Schnurrbart strich und mit ungebeugter Kraft über das Eis seine eleganten Kreise zog.
Nunmehr ward durch zwei wohlbeleumundete ältere Herren eine strenge Kontrolle über die ausgeworfenen Glückskugeln geübt und durch Vorlesen der eingeritzten Buchstaben die Paare gefügt und der Zug geordnet, wie sich gerade Männlein und Fräulein zusammenfanden. Doktor Belling und Alma bildeten ordnungsgemäß das letzte Paar.
So setzte sich der fröhliche Haufe stromaufwärts in Bewegung; ihm voran ein beweglicher Wald lustig schwankender Tannenbäume, von gemieteten Fischern getragen. Auf dem beschneiten Uferweg fuhren die Schlitten, die lange Kette der rüstigen Paare mit schmetternder Musik in gleichem Zeitmaß begleitend.
Gotthold und Alma liefen mit verschränkten Armen in glücklichem Schweigen nebeneinander, beide in selig banger Erwartung des Kommenden. Von Zeit zu Zeit warfen sie einander scheue Blicke zu. Alma fand, ihren Begleiter kleide die blutrote Mütze prachtvoll, sein Gesicht bekam durch dieselbe einen Zug wilder Größe. Masaniello!
130 Langsam, ganz allmählich blieben sie ein wenig zurück und erweiterten unbewußt wollend den Abstand vom nächsten Paare. Schon hätten sie ziemlich laut miteinander reden können, ohne von einem Unberufenen verstanden zu werden. Aber sie schwiegen noch immer.
Gotthold rang mit ernsten Gedanken. Jetzt war der Augenblick gekommen, da er der Erwählten seines Herzens das Geständnis von der Sonderheit seines Wesens machen mußte, da er sie einweihen mußte in sein Schicksal und den Irrtum aufklären, in dem sie wie alle andern befangen war. Allein dies Geständnis ward ihm unendlich schwer. Warum war es ihm einst vor Helene so leicht geworden? Er schwieg noch immer. Er zitterte davor, die Ruhe des süßen, gleitenden Glücks an ihrer Seite zu unterbrechen.
Und doch, er mußte sprechen, ehe er an das letzte Ziel seines Glückes rührte. Er mußte! Sie hielt ihn für einen andern Menschen, als er seinem inneren Wesen nach war, ob für einen besseren oder schlechteren, gleichviel, jedenfalls für einen andern. Es war gewissenlos, ihr Herz zu überrumpeln. Sie hatte das Recht, ihn ganz zu kennen, ehe sie ihm ihr Herz ganz ergab. Und warum nicht? Warum zauderte er? Konnte dadurch ihr Herz, ihre Liebe zu ihm gewandelt werden? Unmöglich! Die Liebe fließt aus tiefen Quellen und ist durch eine Erkenntnis des Verstandes nicht zu verstören.
Und dennoch zauderte er und schwieg. Ein seltsames Bangen umfing ihn mit schwerer Dumpfheit.
Der kurze Wintertag ging schon zu Ende, die 131 Sonne war gesunken, und die Farben über der breiten Landschaft begannen zu verblassen. Die beiden waren schon weit genug zurückgeblieben, um das tiefe Schweigen der winterlichen Dämmerung um sie her zu empfinden. Unwillkürlich drängten sie sich ein wenig näher aneinander. Alma war ganz selig; sie dachte an nichts als an den kommenden Augenblick des letzten Glücks, der ihr sicher war. Gerade sein Schweigen war ja beredt genug.
Sie waren jetzt an einer Stelle angekommen, wo der Fluß eine scharfe Biegung machte und sich eine schmale Landzunge, mit Gestrüpp bewachsen, weit vorspringend zwischen sie und die bunte Schar der Festgenossen schob; mit einem heimlichen Aufjauchzen sagten sich beide heimlich: »Jetzt sind wir allein, ganz allein in der Welt! Von niemand gesehen, von niemand gehört!«
Vom gleichen dunkeln Gefühl bestimmt hielten beide die Schritte an und glitten mit unbewegten Füßen langsamer vorwärts. Dies sanfte Hingleiten war unsäglich schön; sie sanken miteinander leise dem sicheren Glück entgegen. Alma schloß die Augen wie berauscht und lehnte den Kopf ein wenig zurück, die Lippen öffneten sich leise und atmeten tief.
Er sah und wußte, jetzt war sie sein; wenn er sich nur über sie beugte und diesen heißen Mund küßte, war sie ganz sein ohne Kampf. Seine Hände zitterten, es flimmerte ihm vor den Augen, ohne es zu wissen, neigte er seine Lippen dem holden Antlitz näher und näher. Noch glitten beide ganz leise weiter; wenige Sekunden noch, und die verlangenden Lippenpaare mußten einander gefunden haben.
132 Da nahm die gleitende Bewegung ihr Ende, und sie standen still. Es gab einen winzigen, kaum merkbaren Ruck, doch er genügte, sie aus der süßen Versunkenheit heimlich aufzuwecken. Alma öffnete die Augen, und Gotthold fuhr halb erschrocken zurück. Ihr Blick hatte etwas Sonderbares, es schien ein heimlicher Vorwurf, eine zornige Frage darin zu liegen.
Da endlich faßte er Mut; jetzt mußte er reden, oder er unterlag dem Glück, das noch für ihn kein rechtmäßiges war.
»Mein verehrtes Fräulein,« sagte er nicht ohne eine steife Feierlichkeit, »bestatten sie mir, den kurzen Augenblick des Alleinseins mit Ihnen zu einer ernsthaften Aufklärung zu benutzen, die zunächst mich selbst und meine eigentliche psychische Struktur, wenn ich so sagen darf, betrifft –«
Sie blickte etwas verwundert auf; er machte ein so fürchterlich finsteres Gesicht, wie sie es noch selten von ihm gesehen hatte. Aber dennoch fürchtete sie sich heute nicht davor, heute zum erstenmal nicht.
›Herrgott, ist das aber ein Schulmeister!‹ dachte sie vielmehr respektlos, und laut rief sie: »Herr Doktor, bedenken Sie, daß ernste Reden heute strengstens verpönt sind!«
»Und dennoch, liebes Fräulein,« sagte er nach einem kurzen Schwanken hastig; »mir ist es sehr ernst zumute, ich muß mit Ihnen reden, ich bin Ihnen eine gewisse Erklärung schuldig –«
»Schuldig?« rief sie, mit dem Fuß kräftig aufs Eis stampfend. »Schuldig sind Sie mir wirklich 133 nichts – jedenfalls keine langen Erklärungen und Redensarten.«
Das klang ziemlich schnippisch, aber ihr Auge blitzte da so übermütig froh und schalkhaft herausfordernd, daß er völlig verwirrt wurde. Und dann ließ sie plötzlich seine Hände los und stand vor ihm mit gesenkten Blicken stumm und regungslos, als wollte sie sagen: »Da hast du mich! Nun umarme mich!«
Da kam es über ihn wie ein freudiger Trotz, und er dachte: ›Gut denn, wenn sie nicht hören will, dann . . .‹ Und in beseligtem Taumel breitete er die Arme aus.
In diesem Augenblick erscholl ziemlich nahe ein mißtöniges, widerwärtiges Gekläff und Gewinsel. Beide blickten erschrocken zur Seite – und siehe da, über das Eis patschte in den ungeschicktesten Sprüngen, immerfort stolpernd und ausgleitend, der Hund Molly, der häßlichste und gemeinste seines Geschlechts.
Dieser garstig-komische Anblick machte einen sonderbaren Riß in die erregte Stimmung der beiden Menschen; Alma rief mit halb zorniger, halb weinerlicher Stimme: »Pfui, das ist Ihr abscheulicher Hund, der da kommt!«
Auch sein Herr ward keineswegs freundlich gestimmt durch das unzeitige Erscheinen des Tieres.
»Ich hatte ihn eingeschlossen,« brummte er verlegen und ärgerlich, »er muß sich irgendwie frei gemacht haben.«
»Freilich muß er das,« rief Alma erzürnt, »aber so jagen Sie das greuliche Geschöpf doch fort! Lassen 134 Sie es nicht herankommen! Sehen Sie doch, es ist ganz schmutzig!«
In der Tat hatte das unglückliche Tier es auf irgendeine rätselhafte Weise fertiggebracht, sich auf dem glänzend sauberen Eise Bauch und Beine auf das gründlichste zu beschmutzen. Seinem Herrn ward die Lage sehr unbehaglich.
»Marsch, nach Haus!« rief er rauh und machte die Drohgebärde des Steinwerfens zugleich mit einer Miene, die einen Haufen Landsknechte in die Flucht geschlagen hätte; Molly aber ließ sich nicht verwirren noch einschüchtern, sondern strampelte sich unter verstärktem Freudengeheul näher und näher, obgleich er in seinem Eifer noch öfter als vorher ausrutschte.
Gotthold versuchte ein andres Mittel, um wenigstens Zeit zu gewinnen: er hob einen dürren Zweig auf, rief: »Apport!« und warf ihn so weit wie möglich über das Eis.
Doch auch diese List verfing nicht. Molly hatte im Rausch der Wiedersehensfreude alle Künste vergessen. Jetzt war er da und sprang glückselig winselnd und bellend an seinem Herrn empor, nicht ohne die ausgedehntesten Spuren seiner schmutzigen Pfoten auf dessen Kleidern zu hinterlassen.
»Das Vieh hat ja aber nicht den geringsten Appell!« rief Alma entrüstet. »Strafen Sie es doch!«
Aber das vermochte Gotthold doch nicht über sich. Trotz seines stillen Ärgers erschien ihm die rücksichtslose Freude des treuen Tieres gar zu rührend. Es für seine leidenschaftliche Ergebenheit noch zu schlagen, das konnte ihm nimmermehr zugemutet werden. Er 135 vergaß sich sogar so weit, ihm heimlich eine kleine Liebkosung angedeihen zu lassen. Diese aber trug schreckliche Früchte: sie steigerte Mollys Wonnetaumel bis zur Tollheit, aufjauchzend stürzte er sich nun auch auf die Gefährtin seines Herrn und versuchte dieser die Hände zu lecken, ohne die geringste Rücksicht auf den köstlichen Pelzbesatz ihres feinen Mäntelchens zu nehmen.
Sie schrie vor Entsetzen laut auf mit einem nicht sonderlich lieblichen Ton und gab ihm in der Angst mit ihrem zierlichen Füßchen einen Stoß, der kräftig genug war, ihn eine gute Strecke über das Eis zurückzuschleudern.
Das wirkte. Ziemlich bescheiden kam er zurück und benahm sich fortan mehr seinem Stande angemessen.
»Das begreife ich aber nicht, wie ein Mann nicht einmal seinen Hund in Zucht halten kann!« rief sie erbittert und betrachtete mit Schaudern ihr beschmutztes Kleid. »Ich weiß gar nicht, warum Ihnen dann eigentlich Ihre Schüler gehorchen!«
»Das ist's eben,« erwiderte er dumpf und finster, »sie würden es auch nicht tun, wenn sie klüger wären.«
Sie blickte ihn groß an, offenbar ohne ihn recht zu verstehen. Da wollte er die Gelegenheit benutzen, ihr seine große Offenbarung zu machen; doch kaum hatte er seine feierliche Miene wieder aufgesetzt und wollte seine Rede beginnen, als sie ihn ergrimmt mit den Worten unterbrach:
»Ach, Sie sind langweilig, Sie passen gar nicht zu uns.«
136 Er war ganz erstarrt über diese Worte.
»Sie mögen recht haben,« sagte er leise. »Ich passe wohl nicht zu Ihnen.«
Sie erschrak über den düsteren Ton seiner Stimme mehr noch als über die Worte und sagte beschwichtigend:
»Heute nicht. Heute sind Sie so sonderbar.«
Und plötzlich bückte sie sich nieder, raffte eine Handvoll Schnee zusammen, formte einen Ball, warf ihm den leicht ins Gesicht und wandte sich zur Flucht.
Das war genau wie neulich der Blumenwurf, und doch stimmte es ihn ganz anders. Es erschien ihm als ein unerlaubter Übermut, fast fühlte er sich beleidigt. Als er ihr aber nachblickte und sie in den anmutigsten Schwingungen eilig über das Eis schweben sah, schlug er sich vor den Kopf und murmelte:
»Ich bin ein Frosch – oder besser, ein richtiges Schaf!«
Dann folgte er ihr langsam, indem er acht gab, daß der arme Hund auch Schritt halten könne.
Alma hatte bald den Zug der übrigen Paare erreicht. Hier gelang es ihr mit Leichtigkeit, eine allgemeine Verwirrung zu stiften. Sie tat einen absichtlichen Fall aufs Eis, das nächste Paar eilte hilfsbereit herzu und stürzte ohne Verzug über sie hinweg ebenfalls zu Boden, andre Läufer folgten getrennt oder paarweise dem Beispiel, und bald war der ganze schön geordnete Festzug zu einem wirren Knäuel zusammengeballt.
»Alle Büchsen rühren sich!« rief Alma laut, befreite sich aus dem Gedränge und schwebte allein über 137 die Bahn weiter. Herbert von Bodungen schoß hinter ihr her wie ein Raubvogel. Und diesmal machte er keine Volten noch Seitenzüge, sondern erreichte sie im geradesten Ansturm, ergriff mit einer prachtvollen Schwenkung ihre beiden Hände und riß sie in rasendem Lauf mit sich fort.
Das tat ihrem heiß erregten Blut wohl; das war Kraft, Leidenschaft, Wildheit, Taumel, wonach sie sich sehnte, das war Befreiung von einer drückenden Schwüle. Mit Begierde genoß sie die Lust des vollen Ausstürmens, des schwindeligen Wirbels; ihre Wangen glühten heißer, ihre Brust wogte, sie jagte so leicht dahin, als würde sie frei durch die widerstandslose Luft geschwungen; alle Glieder erschienen ihr selbst wie von einem mächtigen Rausch ergriffen, sie wollte aufjauchzen vor Lust, doch eine wonnevolle Angst schnürte ihr die Kehle zu; sie bog den Kopf zurück, schloß die Augen und ließ sich von der überlegenen Kraft des Mannes hinaustragen, wohin es gehen mochte. Warum hatte der andre sie nicht in so herrlichem Ansturm mit sich gerissen? Der hoffnungsselige Augenblick an der Landzunge lag jetzt weit hinter ihr wie ein Traum.
Herbert von Bodungen sprach kein Wort zu ihr; doch wenn sie aufblickte, hingen seine Augen voll stolzer Glut an ihrer Schönheit. Warum hatte der andre sie nicht so angesehen? Und warum konnte der andre nicht einmal seinen Hund beherrschen? Und so einen scheußlichen Hund!
Ein Wirtshaus am Fluß war das Ziel der reisigen Gesellschaft; dort empfing die Frostüberhauchten ein 138 geheizter Saal und dampfender Punsch. Der schlichte Saal ward durch die fruchtgeschmückten Tannen und durch Kränze und Bänder in wenigen Minuten zu einem prächtigem Festraum umgewandelt. An den Schlittschuhlauf sollte sich nach kurzer Rast ein Tanzvergnügen schließen; Ermüdung durften die jugendlichen Füße nicht kennen.
Als der Mathematiker eintrat, sah er Alma an Herrn von Bodungens Seite sitzen mit heiß erregten Wangen, die Augen unstet flackernd; sie war schön wie eine Bacchantin. Ihm warf sie einen kurzen Blick zu voll Zorn und fast voll Haß. Er fühlte sich unsäglich klein und wagte ihr nicht mehr zu nahen; seine Leidenschaft selbst schien ihm plötzlich stumpf geworden.
Alma tanzte mit wahrer Wildheit; ihr Blut, das durch jenen heiß erwartenden Augenblick an der Landzunge mächtig aufgeregt war, mußte sich austoben; immer wieder ließ sie sich von dem Arm des schönen Husaren umschlingen und in betäubender Hast herumwirbeln. Ihre Augen brannten wie im Fieber. Wie taumelnd schien sie sich an ihren festen Tänzer anzuklammern, sich hilflos hinzuschmiegen. Sie sah gefährlich schön aus in der wilden Grazie ihrer Bewegungen. Ihr Blick ward immer leerer und fieberhafter; wenn sie jetzt an Gotthold vorüberkam, sah sie ihn gar nicht mehr. Sie hing wie selbstverloren im Arm ihres Tänzers.
Ihm ward erstickend heiß bei diesem Anblick; er verließ auch heute das Fest lange vor seinem Ende. ›Ich gehöre nicht in diese Freuden!‹ dachte er verstört.
139 Draußen warf er die lustige Schellenkappe wild von sich und drückte seinen eignen breiten Schlapphut tief in die Augen. Er trat hinaus in die sternenklare, eisige Nacht; sein Hund begrüßte ihn freudig bellend, doch er beachtete ihn nicht. Er legte sich die Schlittschuhe an die Sohlen und fuhr einsam im Dunkel den Weg zurück, den er bei strahlender Sonne in der liebsten Gesellschaft gekommen war.
Der gleichmäßig schnelle Flug über das Eis beruhigte seine aufgestörten Gefühle; eine stumpfsinnige Ergebung begann ihn zu beherrschen. »Ich habe sie verloren,« sagte er zu sich, »denn es ist unabwendbar, daß ich sie verliere. Das Schicksal thront nicht über den Wolken, seine Blitze zu schmieden, sondern ich selbst bin das Schicksal, das mich erbarmungslos beraubt. Weil ich nicht anders sein kann, als ich bin, geschieht alles so, wie es geschieht. Ich selbst bin der gottgleich Unerbittliche, der das Glück zerstört, weil ich nicht anders sein will, mein Wesen nicht wandeln, mich selbst nicht vernichten will. Mit einer einzigen mühelosen Bewegung hätte ich, frei zugreifend, Liebe, Reichtum, Glanz, Ehre, alles zugleich gewinnen können, wenn ich das furchtsam grübelnde Gewissensbedenken nur eine Sekunde lang fahren ließ; allein dann war auch mein innerstes Wesen verwandelt, dann war ich nicht mehr ich, ich war tot, ich war nicht mehr eins mit dem Schicksal, nicht mehr der lenkende Gott auf dem rollenden Lebenswagen, sondern ich war der willenlose Sklave eines Glücks, das von außen zwingend wie ein goldenes Netz über mich geworfen war. Und war ich dann glücklich?«
140 In so hochgeflügelten Nachtgefühlen suchte er die Pein der stillen Selbstvorwürfe zu verflüchtigen. Und indessen sauste er weit ausgreifenden Schwunges über das Eis; nur das Schnurren seiner Eisen klang eintönig durch die Nacht und manchmal ein fernes Krachen oder ein schwermütiges Schlucken und Glucksen unter der Eisdecke. Die Bäume am Ufer huschten vorüber wie ängstliche Schatten, zuweilen auch ein matt erleuchtetes Haus, einem zerfließenden Traume gleich; alles flüchtete vorüber, rückwärts, dorthin, wo das verräterische Glück geblieben war. Nur die Sterne über ihm blieben unbewegt und unverändert.
›Das ist die Ruhe,‹ dachte er, ›die eherne Ruhe des Schicksals und des inneren Kerns der Dinge und der Menschen!‹