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XIII.

Wir haben uns durch viele Wochen des Bangens und des Hoffens geschleppt.

Wir: die Arbeiter und Beamten der Fabrik und die Angehörigen der Arbeiter und Beamten, die Händler und Handwerker in unserem Orte, alle Bewohner des Ortes, alle Händler und Handwerker in den Nachbarorten und die Bauern der Umgebung.

Wir haben immer wieder uns an der Hoffnung aufgerichtet und uns an ihr aufrecht erhalten, daß die Fabrik gerettet werden wird und mit ihr die Menschen und die Zukunft unserer Gemeinde. Wir haben in den letzten Wochen nicht mehr bloß gehofft; wir haben geglaubt.

Nur ein Stab der Hoffnung war uns gereicht worden, aber wir haben ihn für eine Säule der Gewißheit gehalten.

Denn als wir von der Zusage der Regierung, die Stillegung des Betriebes nicht zu gestatten, durch den Mund unserer Vertrauensmänner erfahren hatten, waren alle Befürchtungen und alle Zweifel zerstoben und alle Herzen hatten wieder froh geschlagen und alle Gesichter waren wieder hell geworden und die eben noch so Niedergedrückten hatten sich wieder aufgerichtet und an neuen Zukunftsplänen zu formen gewagt.

Und jetzt ist alles wieder zerbrochen, und es ist schlimmer als vorher, denn nun kann niemand mehr Trost geben, niemand mehr Hoffnungen erwecken. Nun sind nur noch Kundgebungen möglich, an deren Wirkung man nicht zu glauben vermag, nur noch ein Schrei kann ausgestoßen werden, der der letzte ist und von dem man keinen Widerhall erwartet.

Alles ist zerbrochen, seit man weiß, daß die Fabrik doch stillgelegt werden wird, daß die Regierung zustimmen muß, weil die belgische Regierung sich die Wünsche des Internationalen Spiegelglaskartells zu eigen gemacht hat. Noch weiß man nicht genau, was geschehen ist und noch geschehen wird. Was wissen wir in unserem Orte, der nur für uns ein Lebensmittelpunkt ist und keines der großen Zentren der Welt, vom Weltgeschehen und von den kleinen Zügen und Gegenzügen internationaler Politik? Wir erfahren ja doch erst nach den Entscheidungen, daß sie auch für uns wichtig waren!

Noch wissen wir nichts Genaues. Aber es ist genug zu wissen, daß die Tore der Fabrik bald für immer geschlossen werden sollen!

In einer großen Versammlung, zu der die ganze Bevölkerung geladen werden soll, wollen unsere Arbeiter nochmals gegen den Mord an der Fabrik demonstrieren.

Die Vertrauensmänner glauben keineswegs, daß die Versammlung eine Schicksalswende herbeiführen könne. Aber sie solle doch noch einmal allen Verantwortlichen, solle der Regierung und solle den Herren des Internationalen Kartells noch einmal sagen, daß über lebendige Menschen entschieden wird, über ihr Sein oder Nichtsein! Und deshalb die Größe der Versammlung, das Zusammenführen aller, die – wenn auch auf dem Umwege über die Arbeiter und Beamten – von der Fabrik abhängig sind, mit ihr verbunden, um den Worten der Redner, den Anklagen der Arbeiter, den Forderungen der mit der Verstoßung ins Nichts Bedrohten größere Resonanz zu geben. Nicht ein Schrei von sechshundert oder achthundert Glasarbeitern – ein Schrei tausender, der Schrei der Bevölkerung einer ganzen Landschaft soll aufsteigen und die Oeffentlichkeit aufschrecken, aufreißen aus der Gleichgültigkeit gegen das Schicksal von Menschenbrüdern. Ein letzter Versuch.

Und man will doch auch nicht wehrlos untergehen!

So kämpft eine versprengte Truppe, die sich verloren weiß und keinen Sieg mehr erhoffen kann und nur noch kämpft, weil sie nichts anderes tun kann, – weil sie, solange sie noch ein paar Waffen hat, diese nicht unbenützt lassen will.

*

Hätte ich nicht mehr zu berichten als den Verlauf der Versammlung!

Es fiele mir nicht so schwer. Noch ein düsteres Bild den anderen anreihen, die ich früher zeichnete. Noch ein Blatt meiner Chronik der Leiden anfügen. Noch ein Kapitel der Geschichte meiner Erlebnisse schreiben, meiner kleinen und für mich großen Erlebnisse, die durch so viele feine Fäden mit den Erlebnissen anderer verknüpft sind. Ich habe mich sehr an dieses Niederschreiben und schreibend nochmalige Erleben alles mich miterfassenden Geschehens im Orte gewöhnt. Es hat mir manche stille Freude gegeben und mir oft geholfen, Leidvolles gefaßter und gesammelter zu tragen.

Aber um wie vieles leichter ist es, ein schmerzendes und selbst tragisches Ereignis, das liebe Menschen betroffen hat und das man mitleidvollen Herzens miterlitten hat, später betrachtend vor sich hinzustellen, wenn man nach der richtigen Art sucht, es darzustellen, als Allerschlimmstes, Allerschwerstes, das die tiefsten Tiefen der Seele traf, zu erzählen!

Mein lieber Freund Hermann!

Aber ich fühle, daß ich erst zu größerer Ruhe kommen muß, ehe ich zu dir und von mir sprechen kann. Vielleicht gewinne ich diese Ruhe, wenn ich als getreuer Chronist von der großen Versammlung erzähle und dann von der letzten Begegnung mit dir …

Damit halte ich auch die Reihenfolge der Ereignisse fest.

Die Versammlung war wirklich die größte, die es je in unserem Orte gab. Alte Arbeiter, die von vielen und von denkwürdigen Versammlungen zu erzählen wissen, behaupten es.

Die Fabrik hörte um zehn Uhr zu arbeiten auf. Die Sirene schrillte und das große Tor öffnete sich und die Arbeiter marschierten, so wie sie die Werkstellen verlassen hatten, auf den Ortsplatz.

Es war nicht schwer, die Zustimmung der Fabriksleitung zur Einlegung zweier Feierstunden zu bewegen. Was liegt daran, wenn ohnehin so wenig zu tun ist! Wenn der Betrieb in ein paar Wochen für immer gesperrt werden soll, – warum ihn nicht heute auf zwei Stunden schließen, wenn die Arbeiter es wollen? Warum die Arbeiter jetzt noch durch ein Verbot verbittern?

Die Sirene schrillte, hell und lang, als sende sie einen endlosen Klageruf ins Land hinaus. Der schwarze Zug der Arbeiter schob sich durch das weit seine Gitterflügel zurückbreitende Tor auf die Straße und vor auf den Ortsplatz.

Dort war vor dem Rathaus ein Rollwagen aufgefahren worden, von dem aus gesprochen werden sollte. Jetzt hockten Kinder auf dieser Plattform, neugierig und aufgeregt ihre Blicke über das Menschengewirr schweifen lassend. Wie am ersten Mai war das! Nur daß es keine Musik und Fahnen gab. Die Zwitscherstimmen der Kleinen vermengten sich mit dem dunklen Geraune der Menge.

Die Händler und Handwerker hatten ihre Laden und Werkstätten geschlossen. Das konnte das Ortsbild nicht sehr verändern. Es ist bei uns nicht so wie in den Städten, daß ganze Straßenzüge den großen Geschäften mit ihren prunkenden Schaufenstern gehören. Aber daran dachte auch niemand, durch geschlossene Türen und herabgezogene Rollbalken auf die Bedeutung der Kundgebung hinzuweisen. Ihr Einverständnis mit dem Wollen der Arbeiter wollten die Ladeninhaber beweisen, ihre Sympathien mit ihnen bekunden. Die meisten waren auch zur Versammlung gekommen.

Als der Zug der Arbeiter aus der Fabrik anrückte, in schwerem Schweigen, hatten sich schon viele hunderte Leute, Männer und Frauen, um den Wagen geschart. Die Arbeitslosen und ihre Frauen waren gekommen. Die Alten, Ausgedienten waren gekommen. Nur die Mütter der Säuglinge und der kleinen noch der Aufsicht bedürftigen Kinder waren daheim geblieben. Die Arbeitslosen, die in Krümmern und Stangern wohnen und noch weiter draußen, waren hereinmarschiert. Und mit ihnen waren die armen kleinen Selbständigen, die kleinen Dorfkrämer und Dorfhandwerker, zur Versammlung gekommen. Und etliche Bauern. Sie waren alle schon da, als der Zug der Arbeiter aus der Fabrik anrückte. Und als käme alles auf sie an, als läge bei ihnen alle Entscheidung, hinge von ihren Entschlüssen alles ab und gebühre ihnen deshalb auch der erste Platz im Ring um den Wagen, machte die angesammelte Menge ihnen willig Platz, tat sich eine breite Gasse für sie auf.

Die Kinder wurden vom Wagen gescheucht, Bender schwang sich hinauf, begrüßte mit ein paar einfachen Worten, begrüßte den Regierungsvertreter, dem man einen Stuhl auf den Wagen gestellt hatte, und sagte, es sei besonders wichtig, daß ein Vertreter der Bezirksbehörde an der Versammlung teilnehme, denn man wünsche sehr, daß auf dem Wege über die Bezirkshauptmannschaft der Regierung über die Stimmung der Bevölkerung berichtet werde. Ueber die Stimmung! Denn die neuerliche Forderung, die Sperrung der Fabrik zu verbieten, würden die Vertrauensmänner selber der Regierung überreichen. Besondere Worte der Begrüßung galten auch den Beamten und Ingenieuren, die sich dem Zuge der Arbeiter angeschlossen hatten …

Schickel sprach. Nach ihm sprach ein deutscher, dann ein tschechischer Arbeiterabgeordneter.

Ich war Zuhörer in Versammlungen, in denen die Redner um die Seele der Masse gerungen hatten, in denen es darauf angekommen war, die Hörerschaft, eine manchmal widerstrebende Hörerschaft, zu überzeugen, zu gewinnen, ihren Willen zu formen. Wie ein Glutstrom hatten die Worte des Redners sich in die Masse gegossen, ihre Herzen in Brand setzend. Werbende, lockende, aufrüttelnde, aufpeitschende Worte hatte ich gehört. Und ich war in Versammlungen, die, hochgerissen durch solche Worte, zu tobenden Meeren geworden waren.

Hier aber galt es nicht zu wecken und zu werben, um zu überzeugen, eine Vielfalt von einander kreuzenden und wider einander stoßenden Willensströmungen zu einer Einheit zusammenzuzwingen. Hier war Einheitlichkeit des Erlebens und Gleichart des Schicksals und hier war einheitliches Denken und war gleiches Wollen aller. Nicht die Versammelten, nicht die Hörer zu gewinnen galt es und also gar nicht so sehr, zu ihnen zu sprechen, als in ihrem Namen, für sie zu einer weiten Oeffentlichkeit, zur Welt der Zeitungen und der Zeitungsleser, zur Regierung. Mund der Masse war der Redner, Bekunder der Sehnsucht …

Ein Beamter sprach. Nicht anders als ein Arbeiter sprechen konnte. Scharfe heftige Worte der Anklage. Und er forderte, was die Arbeiter fordern: Fortführung des Betriebes!

Der Kaufmann Luckschandl sprach.

Es sei eine alte Geschichte, meinte er, daß die Geschäftsleute nichts verdienen, wenn die Arbeiter kein Geld ausgeben. Leben und leben lassen! So sei es früher gewesen. Aber heutzutage lasse man einen nicht mehr leben. So weit sei es gekommen! Er spreche im Namen aller Geschäftsleute, im Namen der Handwerker ebenso wie im Namen der Kaufleute und der Gastwirte. Wenn sich der Arbeiter nicht einmal mehr ein Glas Bier kaufen könne, beispielsweise, wohin sollten denn dann die Gastwirte kommen? Das wolle er fragen! Vom Borgen könne kein Geschäftsmann leben. Er habe gewiß seinen alten Kunden Kredit gegeben, so lange er nur konnte. Aber er habe doch auch seine Zahlungen! Und ihm werde auch nicht mehr geborgt! Und so ergehe es allen Geschäftsleuten. Und so dächten gewiß auch die Bauern. Deshalb fordern auch sie alle, die Geschäftsleute und die Bauern, daß die Fabrik nicht gesperrt werden dürfe. Das müßten die Abgeordneten durchsetzen, das müßten sie der Regierung klar machen! Sie müßten der Regierung sagen, daß die Arbeiter und die kleinen Leute sich das einfach nicht gefallen lassen. Es wundere ihn ohnehin, daß sich die Arbeiter so viel gefallen ließen!

Aus der Versammlung flog der Ruf auf:

»Die Fabrik besetzen!«

Ein paar Arbeiter riefen Bravo!

Schickel schob den Luckschandl beiseite und trat an den Rand des Wagens vor.

Jetzt Brandworte in die aufgewühlte Menge geworfen – und sie folgt jeder Losung! Folgt der widersinnigsten vielleicht gerade deswegen, weil sie es ist! Denn in allen Herzen lauert das Verlangen nach Entladung der angesammelten Wut, des Zornes, der Empörung. Sich einmal Luft machen! Um sich schlagen! Dreinschlagen! Es wäre nicht Rettung gewesen, nicht Bahnen eines Weges zur Befreiung aus der Umklammerung der Not. Aber leichter wäre allen geworden! Es wäre wie ein Aufatmen gewesen. Die Kühlsten, Ruhigsten, Besonnensten wären mit fortgerissen worden, hätten jetzt Schickel oder hätte Bender zum Sturm auf die Fabrik aufgefordert.

Ich habe einmal, das liegt nun schon etliche Jahre zurück und war in der Zeit, da in Nordwestböhmen die Anarchisten unter den Bergarbeitern, besonders unter den tschechischen, noch Anhänger hatten, in einer kleinen Schenke in einem Arbeiterdorf einen Anarchisten sprechen hören. Er sprach in ungewählten Worten und sprach wirr und ohne alle Kunst des Vortrags. Aber er erzählte von einem Zusammenstoß mit der Gendarmerie und behauptete, sich vor die Bajonette gestellt und seine Brust den stählernen Spitzen dargeboten zu haben. Ohne Besinnen! Weil es ja doch gleichgültig sei, ob man plötzlich niedergestochen werde oder im Schacht von der niedergehenden Kohle erschlagen werde. Weniger die Worte wirkten als die wilde, überstürzte Art, in der sie ausgestoßen wurden. Und daß der Mann vor die Hörer sprang und sein Hemd aufriß und die haarige Brust, wild schreiend, ihnen darbot wie früher einmal den Gendarmen. Die Zuhörer wurden von der Erregung gepackt, sie sprangen auf, drängten vorwärts, hin zu dem Redner, als wollten, als müßten auch sie mit ihren Leibern sich vor die Bajonette werfen …

Schickel aber sprach ganz ruhig, doch laut und klar:

»Und was dann, wenn wir die Fabrik besetzt haben? Können wir sie – wenn man uns schon nicht gewaltsam vertreiben wollte – weiterführen? Ohne Betriebskapital? Und ohne Verkaufsmöglichkeit? In ein paar Tagen müßten wir wie verprügelte Hunde aus der Fabrik schleichen!«

Die Menge schwieg, ernüchtert, eingeschüchtert, jäh aus jäh aufgeflammtem Tatenrausch in die Wirklichkeit zurückgezwungen. Wieder fühlten sie sich der unsichtbaren, unfaßbaren, unangreifbaren anonymen Macht gegenüber, dem im Fernen kauernden gewaltigen Feind, der ansetzte zu einem Sprunge über die Länder hinweg, um sie, die wehrlosen Arbeiter, niederzuwerfen …

Ich schob mich, von tiefer Traurigkeit erfaßt, langsam aus der Nähe des Wagens durch das Gedränge hinaus an den Rand der Versammlung. Ich achtete nicht mehr auf die weiteren Reden. Was konnte noch Wichtiges gesagt werden? Kein neuer überraschender Beschluß konnte gefaßt werden. Anruf der Oeffentlichkeit. Neue Vorsprache bei der Regierung …

Schreiende Kinder kamen die Straße heruntergestürmt, vom Ortseingange her. Unwillig wandten sich ein paar Leute um, winkten ihnen abwehrend und drohend zu. Eingeschüchtert verstummten die Kinder, verlangsamten ihren Lauf, fielen in leichten Trab.

Ich konnte mich nicht um sie kümmern, hatte ihnen auch keine besondere Beachtung geschenkt. Schreiende und durch die Straßen jagende Kinder waren es, die täglich unserem Ortsbilde den Ausdruck einer gewissen »Belebtheit« gaben.

Der Veit Richard zupfte mich am Aermel und redete besorgt aufgeregt auf mich ein. Die Arbeiter mögen ihn nicht. Er hat sich immer abseits gehalten. Einen »Leimsieder« heißen ihn die Kameraden.

»Herr Sekretär«, fragte der Veit, »wenn die Fabrik gesperrt wird, da müssen dann wirklich alle hinaus, alle? Ich auch?«

»Ja, warum sollte denn für Sie eine Ausnahme gemacht werden?«

»Weil, – na, ich war doch nie aufsässig! Mir hat schon mein seliger Vater gesagt: Wessen Brot du ißt, dessen Lied du singst! Ich war doch nie bei der Organisation! Weil ich doch gewußt hab, daß ich nicht aufsässig sein darf gegen den Brotgeber! Und jetzt soll ich auch die Arbeit verlieren? Das ist doch keine Gerechtigkeit!«

Ich ließ den Veit stehen, ohne ihm eine Antwort zu geben. Wenn er jetzt noch nicht begriff!

Hände hoben sich. Wahrscheinlich wurde über eine Entschließung abgestimmt. Bender und Schickel würden mir schon berichten, ob sie Neues sagte. Die Versammlung ging zu Ende. Undeutlich hörte ich Bender Schlußworte sprechen. Sie gingen unter im dumpfen Brausen des Zusammenfließens vieler Gespräche der langsam zur Heimkehr sich wendenden Leute.

Zu mir gesellte sich, als auch ich mich jetzt anschickte, heimzugehen, der Keil-Bauer.

»Früher,« meinte er, »früher, wie die Arbeiter schön verdient haben, da hat auch der Bauer schön verdient. Aber jetzt! Die Arbeiter kaufen fast keine Milch mehr, und Recht hat der Luckschandl gehabt …«

Ein paar Frauen drängten sich heran, Schreck in den Augen. Ihr Gefolge waren die Kinder, die vorhin so wild die Straße herabgerannt waren. Und das waren keine spieltollen, übermütigen Kinder! Verstört waren sie, etwas Grausiges mußte ihnen geschehen sein. Sie klammerten sich aneinander, drängten sich aneinander wie eine Herde verängstigter Tiere, deren jedes Schutz in der Nähe des anderen sucht.

»Herr Sekretär!« riefen die Frauen, »die Kinder erzählen …«

»Herr Sekretär!« Schreiend fielen die Kinder den Frauen ins Wort. Sie mußten schreien. Sie mußten sich den Schrecken, das Grauen von der Seele schreien, mußten es von sich wegschreien:

»Herr Sekretär! Im Heidenloch liegt einer!«

*

Das Heidenloch ist, unweit des Ortes, ein langer waagrechter Gang, der tief hineinführt ins Innere des Haufens. Der Haufen ist, wie schon der Name andeutet, ein mäßig hoher Hügel. Manche nennen ihn auch Türkenberg. Wie er zu diesem Namen gekommen ist, weiß niemand zu sagen. Die Türken sind nie bis in unsere Gegend gekommen. Keine Ueberlieferung weiß von ihnen zu berichten.

Das Heidenloch ist ein ziemlich gut erhaltener, nur an wenigen Stellen durch herabstürzendes Geröll etwas verengter Gang. Ein Mann kann, wenn er sich nur wenig bückt, ohne große Schwierigkeiten darin gehen, bis ans Ende des Ganges. Aber Männer dringen nicht ein ins Heidenloch. Denn nichts ist darin zu sehen, gar nichts.

Woher der Name stammt, ist nicht festzustellen. Mit den Heiden hatte der Gang gewiß nie etwas zu tun, kein Heide etwas mit ihm. Wahrscheinlich ist er ein alter Versuchsstollen, der nicht weitergetrieben wurde, als sich die Zwecklosigkeit des Grabens und Suchens ergeben hatte.

Nur Kinder dringen manchmal, weil es so schön gruselig ist, in das Dunkel des Stollens ein, – wenn ein Rudel beisammen ist, in dem sie einander durch prahlerische Reden zu dem mutigen Unternehmen angefeuert haben. Dann werden Zündhölzer, die vorsorglich der Mutter entwendet wurden, drinnen im Loch angebrannt und die kahlen Wände abgeleuchtet – oder, was noch besser ist, man dringt mit einem modernen Lichtträger, einer vom Vater oder dem erwachsenen Bruder geborgten Glühlampe bis ans Ende des Grabens vor. Dann geschieht es fast immer, daß eines der Kinder schreit, es habe einen wilden Mann gesehen oder ein anderes Ungetüm, und dann stürmen die Kinder, lachend und schreiend, ohne rechten Glauben an das Unheimliche und doch von ihm gepackt, wild dem Ausgange zu.

Und heute – zum ersten Male nach langer Winterpause hatten die Kinder wieder einen Forscherzug ins Heidenloch unternommen – heute hatte einer der Jungen plötzlich geschrien:

»Da liegt einer!«

Und alle waren in wilder Flucht zum Ausgang gejagt.

Aber als sie einander halb beschämt, halb überlegen anguckten – denn keines glaubte an die Gespenster des Heidenloches und doch fürchtete sich jedes vor ihnen – da waren sie, als sie sich dem Knaben zuwandten, der sie mit seinem Schrei in die gewohnte Flucht getrieben, nicht dem spitzbübischen Lachen des Anstifters eines Spasses begegnet. Der Junge behauptete weinend und zitternd vor Schreck, im Heidenloch, ganz hinten, liege wirklich jemand, ein toter Mann.

Da wandten sich die Kinder und liefen schreiend dem Dorfe zu …

Mit dem Vorsteher, dem Polizisten und ein paar Arbeitern, die sich angeschlossen hatten, drang ich in den Stollen ein. Ein paar der Männer hatten Taschenlampen mit.

Auf dem Wege zum Heidenloch, als wir über die unter einer frühen Frühlingssonne aufquellenden Felder stampften, war der Vorsteher plötzlich stehen geblieben und hatte, wie nach längerem Sinnen zu einem Ergebnis, zur Bestätigung einer lang hin und hergewälzten Vermutung gekommen, plötzlich ausgerufen:

»Ich glaub', wir finden einen, nach dem wir schon lang gesucht haben!«

»Hermann?« stammelte ich.

Der Vorsteher nickte bestätigend.

Auch ich hatte es geahnt! Ich hatte es geahnt und das Ahnen zurückgedrängt. Auch ich hatte sofort an Hermann gedacht und es doch nicht geglaubt. Und ich glaubte es jetzt noch nicht, jetzt, da wir im Stollen vorkrochen. Nein! Es darf nicht sein! Es darf nicht sein! Ich hätte beten mögen: Lieber Gott, gib, daß er es nicht ist! Es darf nicht, darf nicht sein!

Die Lichtkegel der Glühlampen fielen auf eine zusammengekrümmte Gestalt. So klein in dieser Verkrümmung! Die Rechte hielt einen Revolver umklammert, ein altes schweres Ungetüm. Ich erinnere mich noch, lange niedergestarrt zu haben auf diese Hand, auf das plumpe Schießgerät. Als hätte ich zu ergründen gehabt, woher es stamme, wie alt es sei, welcher Konstruktion …

Der Vorsteher packte mich am Arm.

»Rieger! Rieger! Faß dich!«

Ich schreckte auf, ich riß meinen Blick los von der Waffe und wandte ihn dem Toten zu …

Hermann!


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