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Einmal sagte ich in einer frohen Stunde, ich habe einen jungen blühenden Kastanienbaum in meine Seele gepflanzt, dessen Blütenkerzen mich erleuchten. Jetzt kann ich sagen, daß ich funkelnde Sonnen in meiner Seele habe.
Fast schäme ich mich meines glücküberströmenden Herzens, des Glanzes der Freude auf meinem Angesicht, der Leichtigkeit meiner Schritte. Denn neben mir gehen Menschen schweren, müden, hoffnungslosen Schrittes durch leeren Tag. Grau und mit tiefen Querfalten der Sorge durchschnitten sind die Stirnen meiner Kameraden, und das Herz eines jeden ist zu einem Kelch des Leidens geworden.
Ueber meiner Liebe habe ich fast das Schicksal meiner Kameraden vergessen gehabt. Die Glasarbeiter sind meine Kameraden, meine Freunde, auch wenn ich nie in einer Glashütte stand, nie an glutgefüllten Wannen arbeitete.
Glashütte! Noch immer sagen die Arbeiter: »in der Hütte,« ich geh »in die Hütte«. Sprechen so von der gewaltigen Fabrik, in der hundert Wunder der Mechanik und der Elektrizität täglich neu sich wiederholen, Geleise den weiten Hof durchziehen, Maschinen in hochgewölbten Betonhallen rascher, geschickter und schöner arbeiten, als Menschenhände, in denen vererbte Kunstfertigkeit von Urvätertagen her lebt, es vermögen. Glashütte! Zart und traulich zugleich ist das Wort, ein helles klingendes Läuten tönt darin und ein Hauch der Behaglichkeit umweht es, die Vorstellung von überaus Zierlichem, Feinem, Zerbrechlichem ist darin verbunden, zusammengewachsen mit der von Erdhaftem, Einfach-Natürlichem. Und das Märchen lebt in diesem Wort. Mag sein, daß mir das Märchen zu sprechen beginnt, wenn ich das Wort höre, weil ich es zuerst, ehe ich noch anderes von Glashütten wußte, aus Hauffs »Kaltem Herz« kennen gelernt hatte. Ich konnte nicht von einer Glashütte sprechen hören, ohne daß ich den Herrn Schatzhauser sah, das Geistermännlein in gläsernem Kleid und gläsernen Schuhen, das aus gläserner Pfeife rauchte …
Nur in der lieben Geschichte Hauffs lebt das Glashüttenmärchen noch fort, und in ein paar Heimatromanen, die von versunkener Zeit erzählen. Denn wirklich lebendig konnte es nur bleiben, so lange es die Glashütte auch wirklich gab, tief drinnen im Wald, umrauscht von uralter Bäume geheimnisvollem Gesang, und so lange der Glasarbeiter seltsame Kunstfertigkeit, ausgeübt an abseitigen Werkstellen, die Phantasie zur Suche nach den Wunderquellen solcher Kunst und zur Verbindung ihres Tuns mit dem Treiben altgewöhnter Waldgeister anregte. Verblüht, verweht, vergessen die Glashüttenmärchen, seit die Glasherren und die Glasarbeiter aus dem Wald und von den Bergen niedergestiegen sind in die Ebene und an die Bahn. Nur der Name ist noch geblieben, aber aus der Glashütte wurde die Glasfabrik und das Märchen wurde von der Industrie zerstampft …
Ich hatte in den letzten Wochen so viel mit mir zu tun. Ich mußte mein Liebeserlebnis immer wieder durchdenken. Denn: ich habe ein seltsames starkes Gefühl der Unwirklichkeit des Erlebten …
Ich wurde zu meinem Kameraden zurückgeführt.
Der Vorsteher hat mich zu einer Sitzung der Vertrauensmänner mitgenommen.
Soll die Organisation einer neuen Lohnkürzung zustimmen? Muß sie es tun?
Der rationalisierte Betrieb kann, obwohl die Arbeiterzahl nun schon um dreihundert gesunken ist, viel mehr erzeugen. Schickel behauptet, um vierzig Prozent mehr. Sie kann mehr erzeugen, aber sie erzeugt nicht mehr! Denn sie hat weniger Aufträge als früher. Die Erzeugung ist verbilligt, aber weil unser Absatz um so vieles geringer geworden ist, ist die Produktion gar nicht wirklich billiger geworden. Die ganze Rationalisierung hat sich nicht gelohnt! Aber sie hat viele Millionen gekostet. Keiner weiß, wieviele. Aber Schickel und Aicher behaupten, es seien fast sechzehn Millionen Kronen gewesen! – Wir haben nach Amerika geliefert, sehr viel. Und von dorther kommen keine Aufträge mehr.
Ich habe mich nie sonderlich mit Nationalökonomie beschäftigt, ich begreife so schwer, was die Volkswirtschaftsbücher sagen. Ein paar der Vertrauensmänner kennen sich viel viel besser aus als ich. Sie erklären mir die Ursache der Krise und das Wesen der Krise. Mir hilft es nicht viel. Ich sehe immer nur das Menschenleid.
Die Firma will durch neue Lohnkürzungen die Erzeugungskosten weiter herabsenken. Die Organisation wird zustimmen müssen. Immer noch besser als neue Entlassungen.
Die Vertrauensmänner der Gewerkschaft beraten gemeinschaftlich mit denen der Partei. Ueber die Frage der Zustimmung zu den Lohnkürzungen hat die Gewerkschaft allein zu entscheiden. Aber dann ist über Hilfsmaßnahmen für jene Arbeitslosen, die bald ausgesteuert sein werden, und für die Kinder der Arbeitslosen zu beraten. Deshalb ist auch Frau Schickel, die Vorsitzende der Frauenortsgruppe der Partei, in der Sitzung. Man muß jetzt schon an den Winter denken! So und soviel Paar Schuhe werden gebraucht werden, so und soviel Mäntel für größere, soviel für kleinere Kinder. Und man wird daran denken müssen, den Kindern in der Schule wenigstens ein Mittagessen zu geben.
Frau Schickel weiß nicht nur zu berichten, was gebraucht werden wird. Sie hat auch schon einen Hilfsplan ausgearbeitet. Die Gewerkschaft wird einen bestimmten Betrag aufbringen müssen, den anderen Teil die Partei, und für das Mittagessen könne vielleicht die Gemeinde sorgen …
»Ich versteh's nicht, ich versteh's nicht!« ruft plötzlich einer der Kameraden. »Wir haben doch im ganzen Land nur noch eine Glasfabrik von der Art der unsern, die in Nordwestböhmen. Und die ist gewiß nicht moderner eingerichtet als unsere. Wieso geht es ihr besser? Wieso kann sie uns niederkonkurrieren?«
Alle schweigen. Denn alle sind ratlos. Und alle haben die Empfindung, es seien geheimnisvolle, ihnen nicht bekannte, unerklärbare Mächte tätig, um die Fabrik und damit auch sie zu ruinieren. Diesen Männern der Wirklichkeit, diesen Männern mit den sicheren Blicken und den festen Händen, genügten alle volkswirtschaftlichen Erklärungen des über die Erde rasenden und Fabriken zermalmenden und Menschen fressenden Uebels schon längst nicht mehr …
Ein Feind in Nordwestböhmen – die nach dem Kriege erst erstandene neue große Fabrik …
Glasfabriken in Nordwestböhmen!
Wenn ich, das war knapp vor dem Kriege und ich war noch mehr Knabe als Jüngling, am Spätabend, zu Ende des Herbstes etwa, aus Teplitz heimwanderte, die Straße entlang, die über Zuckmantel nach Eichwald führt, dann sah ich oft Lichter durch die Nacht tanzen in kreisenden Bogen: das waren die werdenden Flaschen, war das glühende Glas an den Spitzen der eisernen Pfeifen, mit denen die Arbeiter Tropfen flüssigen Mineraliengemisches aufbliesen zu Flaschen. Das sah sehr schön aus, romantisch, war wie Irrlichtertanz. Ich blieb oft lange stehen, um hinüberzuschauen nach den kreisenden Glühlichtern, und wenn ich verspätet heimkam, gab es arge Schelte.
Jetzt tanzen keine glühenden Lichter mehr durch die Nacht. Rotierende Maschinen erzeugen unter Aufsicht einiger Männer, die sich selber wie verloren vorkommen in der großen Halle, die fast ausgefüllt ist von dem stählernen Koloß, Flaschen in ungeheuren Mengen. Die Pfeifen sind billiges Alteisen geworden und die Glasbläser sind arbeitslos.
Und weil die sinnvollen Maschinen viel mehr Flaschen erzeugen, als gebraucht werden, stehen viele dieser Maschinen still und sind so arbeitslos wie die Männer, die von ihnen verdrängt wurden …
Der Aicher ist wirklich wie eine Katze, die das Mausen nicht läßt! Er hat es verstanden, sich Platz neben Frau Schickel zu verschaffen. Frau Schickel hat sich hineingeredet in einen schönen Eifer, der ihre Wangen erglühen läßt. Helfen, vor allem den Kindern helfen! Eine mütterliche Frau. Aicher sah nicht das Mütterliche, nur das Weibliche. Ihm scheint Frau Schickel in ihrer Erregung besonders gut gefallen zu haben. Er ist äußerst vergnügt, flüstert ihr Scherzworte zu. Frau Schickel wird rot. Plötzlich erhebt sie sich, geht hinaus. Als sie wieder zurückkommt, geht sie nicht mehr nach ihrem früheren Platz.
Ein kaum beachteter, wahrscheinlich überhaupt nicht bemerkter Vorgang. Aller Gedanken sind den großen Schicksalsfragen der Fabrik, des Ortes, der Menschen zugewendet.
Frau Aicher war diesmal nicht dabei, konnte ihren balzenden Mann nicht rechtzeitig wieder einfangen. Aber es war nicht nötig, Frau Schickel hat sich selber gewehrt.
*
Zitherspiel und Männergesang und taktmäßiges Stampfen der Füße füllen die Stube.
Viele Böhmerwäldler wissen mit der Zither umzugehen, fast seit ihren Kindertagen. Und die Familie Friedrich, deren jüngster Sohn Hermann ist, stammt sogar von jenseits des Böhmerwaldes, aus dem Bayernland, wo man nicht weniger gern die Zither hört.
Volkslieder, die lieben einfachen Lieder der Wäldler und Gebirgler, entquellen den singenden Saiten. Otto und Willi Friedrich spielen unermüdlich, singen fleißig, und freuen sich, wenn der alte Friedrich mit einstimmt. Brüchig ist seine Stimme, streckenweise verliert er den Atem und muß ein wenig aussetzen, und gar das Jodeln will nicht mehr recht gelingen, – aber wenn einer der »Buam« darüber lachen muß, versucht er es unbemerkt zu tun, und dann ist's ja doch auch nur ein Lächeln des Verstehens, der zärtlichsten Liebe, die in solchen Augenblicken den Burschen bewußter wird als sonst und rührender ans Herz greift. Es sind die Worte und Weisen aus seinen Jugendtagen, die der Alte mitbrummelt und mitsingt. Die Worte und die Weisen, die er in seinem Gedächtnis durch viele Jahre getreulich ins Alter getragen hat und die allein für ihn Musik sind. Seine Seele lebt in diesen Mundartworten und einfachen Melodien, die Seele des Wäldlers und Gebirglers. Wäldler und Gebirgler ist der alte Friedrich geblieben auch in den Jahren, die er in den vom Bergbau verwüsteten, vom Siegeslauf der Industrie zerstörten Landschaften verbrachte. Er ist es geblieben in den großen Fabrikshallen und an den Schmelzöfen, er blieb es, wenn sein Fuß über das Pflaster ferner Großstädte schritt und Laute fremder Sprachen an sein Ohr schlugen. Er hat gelernt, in Reih und Glied mit der Masse mitzumarschieren, in großen Versammlungen oder in Fabrikskontoren seine Meinung zu sagen, – denn er war oft Wortführer seiner Kameraden –, und er hat aus Zeitung und Buch genug von der Weite der Welt und der Kompliziertheit menschlicher Kämpfe ums Dasein gelernt, um die Industrie zu bejahen. Er war auch nicht ungern Glasarbeiter gewesen. Wirklich daheim war er jedoch allzeit nur in den Bergwäldern seiner Kindertage, in jener stillen Waldheimat, die er nie wiedergesehen, die er immer nur im Herzen getragen. Aber in den Waldliedern und Vierzeilern und Bergjauchzern, die seine Buben von ihm gelernt, wie das Zitherspielen, wurde sie ihm so lebendig, daß er die Gegenwart und die Fülle seiner Jahre fast vergaß, wenn sie wieder ertönten.
Nicht zum ersten Male bin ich Gast der Familie Friedrich, aber zum ersten Male ist Lore mitgekommen. Sie gilt jetzt als »das Mädel des Sekretärs« und ist damit aufgenommen in den kleinen Kreis meiner Freunde. Ein wenig erstaunt und amüsiert beobachtet sie das fröhliche Musizieren der Jungen, die naive Freude des Alten. Sie hat wohl eine unklare Vorstellung gehabt, daß es Dialektlieder nur im Radio gebe und ist ziemlich verwundert, daß Menschen, die sie kennt, jodeln können und so kindlich froh mitsingen: »Droben am Bacherl steht a Häuserl«, und daß ihre Augen lachen, wenn sie singen: »Mei Deanderl hat g'sagt und hat g'lacht, i soll zu ihr kema auf d' Nacht!« Fremd und ungewohnt ist ihr das alles und es erscheint ihr wohl auch ein bißchen komisch, aber sie nimmt doch teil an der Freude der anderen und summt manchen Refrain mit. Und als man schließlich musik- und liedgesättigt ist, die Zithern ruhen, der Alte seine Pfeife pafft und Hermann erklärt, nun einen feinen Tee bereiten zu wollen, nimmt sie ihm die Arbeit ab, wirtschaftet ein Weilchen in der engen Küche des Junggesellenheims herum, und als sie dann den Tee bringt, ist schon ein lebhaftes Gespräch im Gange, das wieder um die Fabrik kreist.
Der Alte fragt mich:
»Herr Sekretär, rationalisieren, das kommt doch von Ratio?«
»Ja.«
»Und Ratio – das heißt doch Vernunft?«
»Ja.«
Nach einer Weile des Schweigens, schweigend-nachdenklichen Ziehens an seiner Pfeife, sagt der alte Friedrich:
»Wie ich noch ein junger Mann war, stark und frisch und gesund, da war ich Tafelglasmacher. Damals hat man auch das Tafelglas noch blasen müssen. Das war, ihr könnt mir's glauben, eine schwere Arbeit! Mächtige Glaszylinder sind geblasen worden und wenn der Zylinder die richtige Größe gehabt hat, dann ist er auf eine Platte gelegt worden und mit einem Diamanten der Länge nach aufgeritzt. Ja, und im Streckofen ist der Zylinder mit der Krücke ausgebreitet worden, bis er zu einer Tafel geworden ist. Das war nicht mehr schwer, – aber das Blasen! Ueber einem Schacht gebeugt bin ich gestanden, in den Schacht hinein hängt der Zylinder, müßt ihr euch vorstellen, und ich halt die Pfeife mit beiden Händen und blas hinein und schwenk dabei den Zylinder. Ja, da hat man Kraft gebraucht! Eine wahre Schinderei war das! Jetzt ist das viel einfacher. Aus der Wanne fließt das Glas und wird zwischen Walzen durchgezogen, ein paar Stockwerke hoch, und im oberen Stock kann man die fertige Tafel, schon in der richtigen Größe geschnitten, einfach wegheben. Das ist viel einfacher. Und gesünder ist's auch. Und die arge Plagerei hat aufgehört. – Aber es gibt keine Tafelglasmacher mehr.«
Wir schwiegen. Was hätten wir auch sagen sollen? Wir wußten doch alle, wie früher die Arbeit der Glasmacher war, wie sehr sie durch die technischen Neuerungen der letzten Jahrzehnte verändert worden war. Und nicht zum ersten Male hatten wir solche Feststellungen aus dem Munde eines Alten gehört.
»Und ich kann halt nicht einsehen,« fuhr Friedrich fort, »was das mit Vernunft zu tun hat! Wo da Vernunft ist! Wenn immer mehr Glasarbeiter und Textilarbeiter und Metallarbeiter überflüssig werden und keiner mehr in seinem Beruf Arbeit kriegt. Und in einem anderen Beruf auch nicht! Für wen werden denn ganz zuletzt die rationalisierten Fabriken arbeiten?«
Ich wußte keine Antwort.
Aber Hermann sprang auf.
»Ich kann mir schon vorstellen, wie alles werden wird! Ich habe oft darüber nachgedacht. Die rationalisierten Betriebe, die keinen Profit mehr bringen, werden genau so stillgelegt werden wie die kleinen alten Hütten. Nur die ganz modernen, die in einer besonders günstigen Lage sind, die werden bleiben. Ihr könnt mir's glauben: die Produktion wird immer mehr und mehr konzentriert werden. In allen Industrien. Und etwas wird ja immer noch abgesetzt werden, im Ausland, wo man noch nicht so moderne Fabriken hat, und auch bei uns wird noch etwas abgesetzt werden. Aber viele tausend und tausend Arbeiter werden nie mehr Arbeit bekommen, nie mehr! Versteht ihr! Und die paar, die noch arbeiten dürfen, werden so elende Löhne haben, daß es ihnen nicht viel besser gehen wird als den Arbeitslosen. Und die werden nichts dagegen tun können, gar nichts! Sie können keinen anständigen Lohn mehr durchsetzen, weil man sie hinauswirft, wenn sie aufmucken. Wenn so viele hunderttausend Leute arbeitslos sind, gibt's immer genug, die für jeden Lohn arbeiten. Und es wird allen Arbeitern immer schlechter und schlechter gehen, allen denen, die früher einmal Arbeiter waren und es nicht mehr sein dürfen. Nach und nach werden ihre Röcke und Hosen und Hemden fetzig werden und in Fetzen werden sie alle herumkriechen und es wird ihnen nicht einmal mehr auffallen! Sie werden sich daran gewöhnen, wie ans Hungern. Denn alle werden hungern müssen. Tausend und tausend und tausend Kinder werden sterben und die Alten werden früher sterben, und die Männer werden ihnen neidig sein, weil sie früher hin werden! Wir werden Holz lesen und Beeren sammeln und Schwämme und das wird alles sein, was wir noch tun. Wir werden nichts mehr lesen und niemand wird etwas lernen. Warum denn? Wofür denn? Was für einen Sinn hätt' es denn noch? Verkommen werden wir, einfach verkommen! Und wer das voraussieht und noch einen Funken Ehrgefühl hat, wird sich rechtzeitig aufhängen, weil er nicht als Ueberflüssiger leben will!«
»Aber Hermann!«
Wir hatten zuerst aufmerksam, neugierig zugehört. Hermann las viel und dachte viel, mehr als wir anderen. Vielleicht sah er klarer als wir den Gang der Entwicklung. Vielleicht auch, daß der Junge einen Ausweg sah, wo die anderen, eingesponnen ins Netz der Alltagssorgen, nichts mehr sahen als das engmaschige Gespinst, das sie zu ersticken drohte. Aber dieser Ausbruch! Dieser wilde Galopp einer erschreckten Phantasie, getrieben von der Zukunftsangst eines hoffnungslos Gewordenen! Lore klammerte sich entsetzt an mich, und die Brüder, erschüttert, von Grauen gepackt, sahen mit schreckgeweiteten Augen auf zu dem Jungen, der vor ihnen stand wie ein besessener Prophet des Untergangs.
Hermann hatte in ruhig-erklärender Art begonnen, sich aber, von Wort zu Wort fast, in eine Erregung hineingeredet, von der man fürchten mußte, sie werde ihn zerreißen. Seine Stimme schwoll, überschlug sich, er kreischte und schluchzte die klagenden Worte heraus: »Verkommen werden wir, einfach verkommen!« und fast erleichtert, wie Ausdruck einer erlösenden Erkenntnis und darum ruhiger, gefaßter klang das Wort, das uns am schmerzlichsten traf: »… sich rechtzeitig aufhängen!«
Es peitschte die Brüder auf.
»Hermann! Bist du denn verrückt geworden?«
Otto packte den Jungen an den Schultern und schüttelte ihn.
»Komm doch zu dir! Was ist dir denn? Wie kann denn ein junger Bursch gleich so verzagt werden! Hast doch noch immer dein Essen gehabt! Wirst es auch weiter haben! Uns so zu erschrecken! Bub! Bub! Meiner Seel', wenn du noch einmal so etwas sagst, hau ich dir eine hinein, daß du wieder zur Vernunft kommst!«
Aber Tränen standen dem Bruder in den Augen.
Hermann schien wirklich ruhiger geworden. Er lächelte sogar ein wenig.
»Glaubst, ich würde sie ruhig einstecken, wenn du mir eine hineinhauen würdest? Ich hab doch in den paar Wochen, seit ich arbeitslos bin, noch nicht alle Muskeln verloren! Du könntest dich vorsehen, mein Lieber, daß du nicht mit einer Portion davongehst!«
»Komm nur her! Das tät dir vielleicht ganz gut, dich einmal tüchtig auszuraufen. Besser als das Spintisieren!«
Hermann wehrte lächelnd ab.
»Was fällt dir denn ein! In Gegenwart einer Dame raufen! Daß dann der Rieger sagt, ich sei kein Gentleman!«
Hermann lachte mir zu. Ich war wieder froh. Jetzt hatte sich der arme Junge wohl wieder beruhigt. Ich verstand ihn ja so gut! Er wußte nichts mit sich anzufangen. Arme, die arbeitsgewohnt waren, mußten ruhen. Hände, die so gerne zugepackt hatten, mußten untätig sein. Wär' es nur für ein paar Wochen gewesen! Aber Hermann wußte gut genug, wußte es besser als die meisten anderen, die noch immer zu hoffen vermochten, wie aussichtslos alles Suchen nach Arbeit war. Aber dafür hatte er doch auch einen Trost, der vielen anderen versagt war: die Bücher! Er konnte die Zeit aufgezwungenen Nichtarbeitens ausnützen, sich zu vertiefen, zu lernen. Hatte er nicht immer schon allerlei gelernt, was nicht für seine Arbeit, nicht für das Leben eines Glasmachers unbedingt nötig ist? Aber freilich, just deswegen sah er auch weiter und tiefer, und schwerer trug er an der Last eines ihm sinnlos erscheinenden, ohne seine Schuld sinnlos gewordenen Jugenddaseins.
Aber jetzt war doch wieder Ruhe über ihn gekommen, er hatte sich seine Qual leichter gemacht durch den Aufschrei, der uns alle so erschreckte. Ja, er war jetzt ganz ruhig, als er in scherzhaftem Tone sagte:
»Aber jetzt laßt mich wieder weiterreden, und ihr braucht keine Angst zu haben, daß ich wieder ins Schreien komme. Ich muß doch das Zukunftsbild, das ich angefangen habe, fertig malen! Paßt auf, es wird eine richtige Utopie! Wenn auch keine so schöne wie die des Belamny! Also beruhigt euch, es werden sich nicht alle aufhängen! Es werden sich sogar nur ganz wenige aufhängen! Weil man sich langsam eingewöhnen und anpassen wird. Man wird schon zu den Schwämmen und Beeren auch noch ein paar Kartoffeln auftreiben. Und manche werden Kaninchen züchten. Da wird es doch hie und da einmal Fleisch geben. Und daran wird man sich bald gewöhnen, im Sommer barfuß und halbnackt zu gehen – man wird mit der Zeit schön abgehärtet werden. Und später wird man lernen, sich im Herbst zu verkriechen zum Winterschlaf. Denkt euch, wenn man einmal das erlernt haben wird! Wieviel man da an Essen und Kleidern erspart und wieviel nutzloses Nachdenken! Und zuletzt wird man auch das Sprechen verlernen. Na ja, wenn man einander nichts mehr zu sagen hat! Und wir werden zu tierähnlichen Wesen werden. Und dann, wenn die ehemaligen Arbeiter ganz zu Vieh geworden sein werden, dann machen vielleicht einmal die Herren Aktionäre und Fabriksdirektoren Treibjagden auf sie. Es muß doch lustig sein, zu sehen, wie so ein zweibeiniges Tier hüpft, wenn es getroffen ist!«
Hermann hatte wirklich so ruhig, in so scherzhafter plaudernder Art gesprochen, daß die Brüder seine grausige Schilderung als einen etwas seltsamen Spaß auffaßten. Mir aber war nicht recht wohl bei dieser Erzählung. Ach ja, Hermann hatte vielleicht die Geschichte von der Zeitmaschine gelesen, die phantastische Erzählung von einer Maschine, die in die Vergangenheit und Zukunft tragen konnte – in eine böse Zukunft, in der oben im Licht die schönen, anmutigen herrschenden Genießer wohnten und unter der Erde die finsteren, versklavten und vertierten Arbeiter. Vielleicht war während des Erzählens ein Erinnern an diesen Roman durch sein Gehirn gezuckt. Vielleicht hatte es ihm Vergnügen gemacht, seine Zukunftsschilderung ins Grausig-Phantastische abzubiegen. Aber war es so – dann war seine Seele krank, auch wenn er es nicht wußte! Ich muß doch einmal ernstlich mit ihm sprechen, dachte ich, seine Gedanken in andere Bahnen führen. Ich darf den Jungen nicht sich selber überlassen. Es wird nicht so schwer sein, ihn zurechtzubiegen. Er ist ja noch so bildsam! Und er hat Vertrauen zu mir, er hört auf mich …
»Bub,« sagte jetzt der Alte, »laß mich auch etwas sagen! Ich hab nicht so viel gelesen wie du. Aber ich bin ein Bissel in der Welt herumgekommen und hab schon 'was mitgemacht. Und ich weiß, daß es nicht so kommen wird, wie du glaubst. Weil doch das nur eine Zeit lang so bleiben kann, daß nämlich die Arbeitsleut deswegen, weil die einen arbeitslos sind und die anderen noch Arbeit haben, in zwei Lager geteilt sind, die einander nicht trauen. Denn ganz zuletzt, da werden sie doch einsehen, daß sie zusammengehören, – und dann Bub, dann, glaub ich, kommt es erst zu einer wirklichen Rationalisierung!«
Ich faßte die letzten Worte des Alten als abschließende Bemerkung auf, und wohl auch die anderen. Keineswegs hatte jemand noch Lust, die Unterhaltung fortzusetzen, und für Lore war es auch Zeit geworden, sich auf den Heimweg zu machen.
Abschiednehmend sprachen wir die üblichen Dankesworte für die Bewirtung und dankten scherzend für den künstlerischen Genuß, den Otto und Willi uns bereitet, und die beiden nahmen, übertrieben stolz sich blähend, ebenso scherzhaft die Anerkennung an.
»Ich geh mit Euch,« erklärte Hermann. »Ich muß noch ein Bissel frische Luft schöpfen.«
»Hast recht, Bub,« sagte der Alte. »Das wird dir gut tun. Laß dir vom Wind die dummen Gedanken aus dem Kopf blasen.«
»Also auf Wiedersehen!«
»Auf Wiedersehen!«
Draußen lachte uns Hermann an.
»Ihr braucht mich nicht, Ihr zwei. Mir hat einmal jemand gesagt, das sei ein englisches Sprichwort: Zwei ist Gesellschaft, drei ist es nicht! Und Ihr werdet ja schließlich doch auf die Räder steigen und davon sausen – und mich würdet ihr einsam auf der Straße zurücklassen. Und – ehrlich gesagt – ich bin jetzt auch lieber allein. Also gute Nacht!«
Wir schritten ins Dunkel. Mit der linken Hand schob ich das Rad, mein rechter Arm lag um Lores Hüfte. Und Lore, die ihr Rad an der rechten Seite führen mußte, hatte auch nur einen Arm frei. Aber er genügte, mich fest zu umfassen. Und so, wie wir oft junge Arbeiterpaare gesehen hatten, während des Gehens einander umschlingend, wanderten wir in die Nacht hinein.
*