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Erstes Buch.
Während der Schreckensherrschaft.

(1793-94.)

Erstes Kapitel.
Die kleine Louison

»Und wenn die Meereswoge sich
An unserm Schifflein bricht,
Wir segeln doch, wir segeln fort,
Denn Gott ist hier und Gott ist dort,
Und er verläßt uns nicht!«

Es schneite. Der Himmel zeigte sich barmherziger als die Menschen, denn er deckte mit dem winterlichen Leichentuche die blutigen Spuren, die Paris tagtäglich aufzuweisen hatte.

Der Abend war finster, und die spärliche Beleuchtung des Quartier latin Name des Pariser Stadtviertels, das zumeist von Studenten bewohnt wird und die meisten Universitätsgebäude enthält. nicht imstande, die herrschende Dunkelheit zu verdrängen. Die unfreundliche Witterung mochte schuld daran sein, daß das sonst so belebte Stadtviertel an diesem Februarabend öde und ausgestorben dalag. Aus weiter Ferne ließ sich dagegen von Zeit zu Zeit der widerliche Lärm heiserer Männer- und Frauenstimmen vernehmen; der Ausdruck der wilden, teuflischen Freude, die sich mit dem Klub der Jakobiner in der französischen Hauptstadt eingebürgert hatte. Gar manches Herz zitterte und bebte bei diesen Tönen, die an das Gebrüll wilder Bestien mahnten, wenn sie nach Blut lechzen.

Selbst ein junger Mann von etlichen zwanzig Jahren vermochte sich des Schauders nicht zu erwehren und zog sich scheu von dem Fenster der kleinen Stube zurück, die er im vierten Stockwerke eines zu dem Quartier latin gehörigen Hauses bewohnte.

»Wehe mir,« dachte er seufzend bei sich, »wenn ich einem dieser Pöbelhaufen in die Hände falle! Die Sansculotten kitzeln ihre eignen Landsleute mit ihren scharfen Messern; mit einem Ausländer, wie ich, machen sie aber noch weniger Umstände.«

Der junge Mann, der seit fünf Jahren in Paris verweilte und das Kunsthandwerk eines Bildschnitzers betrieb, kannte die Schrecken der Revolution aus eigner Anschauung; hatte er ja doch den stürmischen Szenen in der Nationalversammlung beigewohnt und Zeuge der rohen Behandlung sein müssen, die dem gutmütigen König Ludwig XVI. von seinem Volke zuteil geworden war. Seit jenem Tage der Erniedrigung gingen die Wellen der Empörung aber noch um vieles höher, und der entartete Pöbel jauchzte der petite Louison zu, welchen Namen die nach dem Arzte Guillotin genannte Köpfmaschine im Volksmunde erhalten hatte. Den Anblick blutiger Szenen, wie sie sich jetzt täglich in Paris abzuspielen pflegten, vermochte der junge Bildschnitzer nicht länger mehr zu ertragen, und er ging daher mit dem Entschlusse um, das an Henkern reiche Paris zu verlassen und nach seiner österreichischen Heimat zurückzukehren.

Der Lärm in der Ferne war jetzt verstummt, und der Bewohner des kleinen Zimmers wandte seine Aufmerksamkeit der aufgehenden Tür zu, durch die Madame Meunier, seine Wirtin, eintrat.

»Es wird Zeit, daß Ihr Euch auf den Weg macht,« begann die hagere Witwe, »neun Uhr ist vorüber, und ehe Ihr die Rue Royale erreicht, können wir um eine Stunde älter sein.«

Der junge Mann blickte unschlüssig vor sich hin; Madame Meunier bemerkte es und fuhr daher in ihrer Rede fort:

»Ihr werdet doch nicht wieder wankend geworden sein und Euer gegebenes Wort als Ehrenmann auch halten?«

Der Zimmerherr wich dem vorwurfsvollen Blicke seiner Wirtin aus, holte tief Atem und entgegnete:

»Es ist unrecht, daß Marion nicht auf meine Rückkehr gewartet hat; sie würde mich dann leicht durch Beantwortung einiger Fragen von der Unruhe befreit haben, die die geheimnisvolle Geschichte in mir erzeugt hat.«

»Ei was,« fiel Madame Meunier im Tone gutmütigen Polterns ein, »meine Schwester Marion ist kein Waschweib, das jedes Geheimnis weiterklatscht. Von ihr würdet Ihr keine Silbe mehr erfahren haben.«

»Ihr dagegen scheint um Marions Geheimnis zu wissen«, meinte der junge Mann und machte einen schwachen Versuch, in den Mienen der Wirtin zu lesen. Diese blieben jedoch unverändert, und in herbem Tone gab sie zurück:

»Bei der Kirche Unsrer lieben Frauen schwöre ich Euch, daß ich nichts weiß, als was ich Euch bereits mitgeteilt habe. Marion erfuhr vor ein paar Tagen von mir, daß Ihr Paris verlassen und nach Österreich zurückkehren wolltet. Heute kam sie in der Dämmerungsstunde mit verweinten Augen zu mir und beschwor mich, Euch zu vermögen, schon diese Nacht, um eines barmherzigen Werkes willen, die bluttriefende Hauptstadt zu verlassen. Solltet Ihr wirklich ein so guter, edler Mensch sein, wie Marion ihn bisher in Euch verehrt hat, so erwarten sie Euch gegen zehn Uhr im Palais Bruneville. Alles Weitere sollt Ihr dort erfahren.«

»Nun wohlan,« rief der junge Mann nach einer Weile kurz entschlossen, »so will ich es wagen! Besser noch heute dem falschen Paris den Rücken zugewandt, als morgen, wo es vielleicht schon zu spät ist. Meine wenigen Habseligkeiten sind bald gepackt.«

»Wollt Ihr nicht das Notwendigste gleich mit Euch nehmen?« gab die Wirtin zu bedenken. »Wer weiß, ob Euch noch so viel Zeit übrig bleibt, hierher zurückzukehren.«

Der Zimmerherr nickte beistimmend und stand bald nachher reisefertig da.

Madame Meunier trat jetzt auf ihn zu, ergriff seine Rechte und sagte mit bewegter Stimme: »Gott gebe Euch seinen Segen und lasse Euch glücklich die Heimat erreichen! Wenn sich zur Zeit unsrer Voreltern ein guter Mensch auf eine gefährliche Reise begab, so pflegte ihm die Hausfrau eine Reliquie um den Hals zu hängen, die ihn vor Gefahr und Ungemach schützen sollte. Dem heutigen Frankreich ist nichts mehr heilig; mehr und mehr verschwindet das Sinnbild des Christentums, und so vermag ich Eure Brust mit keinem Kreuze zu schmücken, sondern nur mit einem elenden Spielzeuge, das zur Stunde in Paris ein jeder trägt, der ein sogenannter guter Patriot sein will.«

Damit ließ sie einen hölzernen, an einer kleinen stählernen Kette befestigten Gegenstand in die Hand des jungen Mannes gleiten. Dieser hatte indessen kaum einen Blick auf das Geschenk geworfen, als er erschrocken zurückfuhr, denn das »Spielzeug« war nichts Geringeres als eine kleine Guillotine.

»Hängt dieses elende Machwerk ruhig um Euern Hals!« rief Madame Meunier aufmunternd. »Ihr werdet dadurch am besten vor der wirklichen Guillotine bewahrt, denn dieser hölzerne Schmuck übt die gleiche Zauberkraft auf die entmenschten Pariser aus wie die rote Mütze der Jakobiner.«

So ließ es der junge Mann denn geschehen, daß die wohlwollende Wirtin ihn mit der grauenhaften Reliquie schmückte. Wenig Minuten später befand er sich auf der düstern, schneebedeckten Straße.

Es schneite noch immer. Die dicht fallenden Flocken schienen die wilden Tänze der Pariser nachahmen zu wollen, wenigstens wirbelten sie unaufhaltsam vorwärts, während ein scharfer Nordostwind, sein melancholisches Lied heulend, zu dem winterlichen Tanze aufspielte.

Der Bildschnitzer hüllte sich fester in seinen Mantel und stand eben im Begriff, schnell über den nächsten Platz zu eilen, als er sich von einer männlichen, ungemein roh klingenden Stimme angesprochen hörte. Beim Scheine einer trübe brennenden Laterne erkannte er einen Holzhacker aus der Nachbarschaft. Der stark nach geistigen Getränken duftende Proletarier gehörte zu den eifrigsten Jakobinern und bildete sich nicht wenig auf den Zufall ein, mit dem großen Schlächter der Republik, Maximilien Robespierre, die Plumpheit der Gesichtszüge gemein zu haben. Natürlich kleidete er sich auch genau nach seinem Ebenbilde, wie die rote Mütze der Galeerensträflinge und der nackte Hals mit dem weit umgeschlagenen Hemdkragen bewiesen.

»Guten Abend, Bürger!« rief er dem jungen Bildschnitzer zu, auf den er seit langer Zeit sein Augenmerk ganz besonders gerichtet hatte, denn jeder Ausländer erschien den mißtrauischen Jakobinern verdächtig.

Durch Madame Meunier vor dem Holzhacker gewarnt, suchte der junge Handwerker jeder Begegnung mit diesem Manne auszuweichen; gelang es ihm nicht, so wog er wenigstens jedes Wort genau ab, ehe er auf die listigen Fragen des Jakobiners Antwort gab. Deshalb nickte er dem Holzhacker nur flüchtig zu und eilte weiter, aber die Rotmütze vertrat ihm den Weg und rief:

»Es ist jetzt eine hohe Ehre, Bürger, sich in der Gesellschaft eines Jakobiners befinden zu dürfen. Verstehst du mich?«

»Gewiß, Bürger Collet,« pflichtete der andre etwas verzagt bei, »indes ich habe Eile. Spare die mir zugedachte Ehre auf morgen auf.«

Abermals wollte er davoneilen, der Jakobiner jedoch schob seinen Arm unter den seinigen und teilte dem bestürzten jungen Manne mit, daß er entschlossen sei, ihn zu begleiten. So blieb dem Ärmsten nichts übrig, als sich schweigend in das Unvermeidliche zu fügen; insgeheim aber wünschte er eine günstige Gelegenheit herbei, dem Doppelgänger Robespierres entwischen zu können.

»Wohin geht die Reise?« fragte das Ungetüm Collet so plötzlich, daß der Bildschnitzer, seiner bevorstehenden Flucht gedenkend, sichtlich erschrak und zu stottern begann:

»Nach dem Revolutionsplatze ...«

Diesen Namen führte damals der heutige Konkordienplatz, unweit dessen sich die Rue Royale befindet, das Wanderziel des erschreckten Bildschnitzers.

»Ah, sieh einmal an,« krächzte der Holzhacker, »willst du dem scharfen Frauenzimmer, der petite Louison, deine Aufwartung machen, willst du dich bei nächtlicher Stille überzeugen, ob unser großes nationales Barbiermesser wirklich so vortrefflich rasiert?«

Collet spielte damit auf die zweite Guillotine an, die seit Ludwigs XVI. Hinrichtung auf dem Revolutionsplatze errichtet worden war, da jene auf dem Grèveplatze das blutige Tagewerk allein nicht mehr zu vollbringen vermochte.

»Oh, es ist ein herrliches Frauenzimmer, die kleine Louison,« fuhr der Holzhacker in beißendem Spotte fort, »sie rasiert den längsten Bart, sie schützt gegen das Grauwerden und Ausfallen der Haare, sie verleiht einen blassen Teint und ist das beste Mittel gegen Zahnweh!«

Er lachte roh auf, während ein eisiges Frösteln durch die Glieder des Bildschnitzers ging.

»Sie hat an Samson aber auch einen tüchtigen Gesellen,« nahm Collet seine Rede wieder auf, »er versteht die Kunst, die Feinde Frankreichs im Handumdrehen einen Kopf kürzer zu machen.«

»Fielen heute wieder neue Opfer?« fragte schüchtern der Bildschnitzer, da er es geraten fand, endlich auch einmal etwas zu äußern.

»Opfer, Bürger?« gab die Rotmütze protzig zurück. »Die Häupter von Rebellen wolltest du wohl sagen, die grimmigen Feinde der heiligen Republik. O ja, Meister Samson hatte heute tüchtig zu rasieren. Ein ganzes Schock stieg die Freitreppe zum Palais der petite Louison empor.«

Sein widerliches Lachen verhallte unter einem noch größeren Lärm, den eine wildaussehende Gesellschaft von Männern und Frauen verursachte. Es waren mehrere hundert Personen, die in toller Hast aus einer der Seitenstraßen heraus getanzt kamen und unter wildem Jauchzen eines der beliebtesten Revolutionslieder, die Carmagnole, anstimmten. In strengem Sinne war es eine Tanzweise, die einen spottlustigen Text erhalten hatte und mit dem Refrain schloß:

» Dansons la Carmagnole!
Vivre le son du canon!
«

Die Carmagnole wetteiferte mit dem ?a ira an Beliebtheit, und keine Gelegenheit ließen sich die Pariser entgehen, wo sie nicht das eine oder andre Lied anstimmten, war es nun während des Theaters im Zwischenakt, oder angesichts eines Karrens, der Jünglinge, Frauen, Männer und Greise zur Richtstätte führte, oder vor der Guillotine selbst, wenn das Fallbeil herabschoß und Kopf und Rumpf eines armen Opfers voneinander trennte.

Anfangs bemerkte der junge Bildschnitzer nur ein Gewühl von roten Mützen und buntfarbigen Lumpen im Fackelscheine, bis der grausige Zug näher kam und die tanzenden Paare sich deutlich voneinander abhoben. Trotz alledem blieb es ein wirres Durcheinander. Bald rasten die Tanzenden vor-, bald rückwärts, dann schlugen sie einander gegen die Hände, packten sich gegenseitig am Kopfe, drehten einander wie toll im Kreise herum, um schließlich ermattet stehen zu bleiben und mit den Händen einen Halt in der leeren Luft zu suchen.

Als sie jetzt ihres Bundesgenossen und des ihn begleitenden Fremden ansichtig wurden, stürzten sie auf beide los und schlossen, indem sie sich bei den Händen faßten, einen Kreis. Bald nachher jedoch trennten sie das Paar und tanzten nunmehr in zwei Kreisen um beide herum. Der heimtückische Collet erspähte die Gelegenheit, wo er einigen der Rotmützen seinen Verdacht wegen des Bildschnitzers mitteilen konnte, und sofort sah sich der junge Österreicher von drohenden Männern und Weibern umzingelt. Es würde wahrscheinlich um seine Freiheit geschehen gewesen sein, hätten ein paar Weiber nicht noch rechtzeitig seinen Halsschmuck bemerkt. Ohne Bedenken begannen sie jetzt mit Collet zu keifen, der den Fremden als einen »Aristokraten« bezeichnet hatte.

»Du lügst, Bürger!« kreischte es im Chor, »der Bursche da hat sich mit der petite Louison geschmückt und verwahrt sie als ein Heiligtum auf seinem Herzen. Dies tut ein Aristokrat nicht!«

»Gebt Friede!« brüllte es von einer andern Seite. »Wißt ihr nicht, daß Collet ein Spaßvogel ist?«

»Laßt uns die Carmagnole zu Ende tanzen!« schrien die Jüngeren, und im nächsten Augenblicke schon sah sich der Bildschnitzer von ein paar kaum dem Kindesalter entwachsenen Mädchen mit in den tollen Strudel fortgerissen. Er ließ dies ruhig geschehen, da er dadurch aus der gefährlichen Nähe Collets kam, dessen aufdringliches Wesen und Neugierde er mit Grund zu fürchten hatte.

So raste die Carmagnole weiter und weiter, aus einer Straße in die andere, bis schließlich auch der Bildschnitzer zu der Zahl der Erschöpften gehörte, die auf dem schneebedeckten Boden herumkollerten. Kaum hatte indessen der wachsame Collet seinen Abgang bemerkt, so forderte er mehrere Bundesgenossen auf, mit ihm nach dem verdächtigen Bildschnitzer zu suchen. Der lag am Ende einer Straße und wollte sich eben wieder von dem eisigkalten Boden erheben, als er den Holzhacker mit seinem Gefolge herannahen sah. Die Angst, abermals in die Gewalt des Unholds zu geraten, verlieh ihm Kraft, und pfeilgeschwind rannte er vorwärts, dem nahen Ziele seiner Wanderung zu.

Die Rotmützen blieben ihm scharf auf den Fersen; schließlich verloren sie aber seine Fährte, da er, in die Rue Royale einbiegend, im tiefen Schatten des Palais Bruneville verschwand.

Längs der ausgedehnten Front des altertümlichen Gebäudes, das sonst am Abend glänzend beleuchtet zu sein pflegte, brannte heute nicht eine einzige Laterne, und so glich es in seinen Umrissen, die sich am Nachthimmel abhoben, einem schwarzen Riesensarge. Selbst der steinerne Vorbau, worunter die vorfahrenden Equipagen zu halten pflegten, lag heute in Finsternis gehüllt da, und nur im Portierstübchen, das sich unmittelbar neben dem Eingänge befand, brannte ein einsames Licht. Dorthin begab sich der junge Bildschnitzer, ängstlich auf das Gebrüll der ihm nachsetzenden Feinde lauschend, die jetzt die Rue Royale entlang stürmten.

Der Portier, ein im Dienste seiner Herrschaft ergrauter Diener, begrüßte freundlich den Ankömmling und führte ihn sofort die mit Teppichen belegte und mit Orangerien, Statuetten und Girandolen geschmückte Treppe empor. In einem der weiten Korridore öffnete der Alte eine Zimmertür und ersuchte den fremden jungen Mann, in dem Gemach die Herrschaft zu erwarten.

Als der Bildschnitzer allein war, stürmten die Gefühle der Angst, der bangen Erwartung und Neugierde durch seine Brust. Zunächst lauschte er nach den wilden Tönen des ihn verfolgenden Volkshaufens, doch nichts unterbrach die im Palais herrschende Stille. Jetzt erst faßte er sich ein Herz und sah sich in dem Gemache um. Nach der hocheleganten, aber etwas weichlichen Einrichtung zu schließen, war es ein Damenzimmer, dessen schwellende Polsterkissen bei der magischen Beleuchtung einer Ampel noch üppiger zu werden schienen. Die schwarz gekleidete Frauengestalt, die jetzt die Portieren der dem Eingang gegenüberliegenden Tür auseinanderschob, paßte jedoch nicht zu dem Glanz des Gemachs, vielmehr vereinigte sich die ernste Farbe ihres Gewandes sowie die tiefe Trauer ihrer Gesichtszüge zu einem grellen Mißklang gegenüber den nur Lust und Freude atmenden Tändeleien und Luxusgegenständen des Boudoirs.

Mit einer graziösen Handbewegung lud sie den Gast ein, Platz zu nehmen. Erst jetzt, wo der Lichtschein der Ampel auf das Antlitz der Marquise fiel, erkannte der Bildschnitzer die außerordentliche Schönheit der noch jugendlichen Frau.

»Durch Marion erfuhr ich, daß Sie ein Landsmann von mir sind«, begann sie mit ihrer melodischen Stimme.

»Zu dienen,« lautete die Antwort des schüchternen Gastes, der angesichts der schönen Herrin des Hauses ungemein verlegen geworden war, »Österreich ist mein Vaterland – eigentlich Böhmen ... doch bin ich nicht dort geboren.«

Ein kaum sichtbares Lächeln huschte über die trüben Gesichtszüge der Marquise, dann fuhr sie fort:

»Sie sind mir als Landsmann doppelt willkommen, und ich beneide Sie, daß Sie nach dem schönen Österreich zurückkehren dürfen.«

»Können Ew. Gnaden das nicht auch?« fragte der Bildschnitzer schüchtern.

Die Marquise schüttelte traurig das schöne Haupt, und ihre tiefblauen Augen kämpften sichtlich mit Tränen; mühsam faßte sie sich und nahm das Gespräch wieder auf.

»Sie nennen sich Edelbeck? ... Sind Sie vielleicht ein Abkömmling des adligen Geschlechtes, das in Oberösterreich sein Stammschloß hat?«

»Ich ... ich glaube nicht,« stotterte der junge Mann, »denn mein Vater stammt aus Böhmen, wo mein Großvater Stadtpfeifer war.«

Der Bildschnitzer ging absichtlich in der Aufzählung seiner Vorahnen nicht weiter, da er sonst auch eines Benedikt Edelbeck hätte Erwähnung tun müssen, der vor ein paar Jahrhunderten als Pritschenmeister auf den Schützenfesten eine hervorragende Rolle gespielt hatte. Vergleiche Band I des »Ahnenschlosses«: Der Erbe des Pfeiferkönigs.

Die Marquise warf jetzt einen Blick auf die von Amoretten getragene und mit einer goldenen Girlande verzierte Uhr, die seitwärts auf einem Konsole-Tischchen stand.

»Die Zeit entflieht,« hauchte sie kaum hörbar vor sich hin, »und Eile tut not ... Ist Ihnen der Zweck Ihres Besuches hier bekannt?« wandte sie sich plötzlich dem Gaste wieder zu. Dieser verneinte und teilte der Marquise das wenige mit, was er von Madame Meunier erfahren hatte.

»Ja ja,« rief die Herrin des Hauses in wärmerem Tone, »Marion ist eine treue, verschwiegene Dienerin. Durch sie erfuhr ich auch die Ehrlichkeit Ihres Charakters, Herr Edelbeck, und nachdem ich Sie jetzt persönlich näher kennen gelernt habe, hege auch ich die feste Zuversicht, daß ich Ihnen, dem Landsmanne, vertrauen darf und sicher sein kann, von Ihnen nicht verraten zu werden.«

Leopold Edelbeck starrte die vornehme Sprecherin zuerst erstaunt an, dann aber loderte mächtig die Flamme der Begeisterung für die schöne Landsmännin in seiner Brust empor, er gelobte der Marquise unverbrüchliches Stillschweigen und besiegelte, als galanter Österreicher, diesen Eid mit einem Kuß, den er auf die zarte Hand der Dame drückte.

»Ihrer Verschwiegenheit bin ich jetzt gänzlich sicher«, äußerte die Marquise, fügte aber gleich mit einem schweren Atemzuge hinzu: »Werde ich aber auch auf Ihre Hilfe rechnen können?«

Die schöne Österreicherin hatte es dem Landsmanne angetan, der jetzt vor nichts mehr zurückbebte und wahrscheinlich auch als ein neuer Ritter Georg den Kampf mit dem Drachen gewagt haben würde, wenn er dadurch die tiefe Niedergeschlagenheit der Marquise hätte bannen können.

Sie fuhr mit ihrem Spitzentaschentuche leicht über die blauen Augen und begann: »Ich habe als eine der Gespielinnen der unglücklichen Königin Marie Antoinette eine freudenreiche Jugend verlebt und folgte gern ihrem Wunsche, als sie mich nach Versailles an ihren Hof berief. So wurde ich der Heimat untreu, ja brach gewissermaßen mit ihr, da ich dem Marquis Bruneville die Hand reichte. Auch in Frankreich lächelte mir die Sonne des Glücks, ich schenkte meinem Gatten vor zehn Jahren ein Töchterchen, das unter dem sichtbaren Segen Gottes emporblühte. Die kleine Louison war unsre größte Freude.«

Die Marquise bedeckte sich abermals die Augen und setzte erst nach längerer Pause ihre Mitteilung fort:

»Alles irdische Glück ist wandelbar, und so sollte denn auch für mich der Tag nahen, wo sich der Himmel verfinsterte und die freundlich lächelnde Sonne schwand. Die wilden Stürme, die seit vier Jahren in Paris wüten und den Hof und uns zwangen, das schöne Versailles zu verlassen, brausten auch über unsere Häupter dahin, da wir zu dem Ersten Stande gehörten, dem die Jakobiner ewige Feindschaft geschworen hatten. Erlassen Sie es mir, Ihnen alle die widrigen Szenen zu schildern, unter denen wir seitdem zu leiden gehabt haben. Umsonst beschwor ich die Königin, das frevelhafte Paris zu verlassen und mit mir nach Österreich zurückzukehren; der Stolz Marie Antoinettes gab dies nicht zu, bis schließlich doch die Flucht gewagt wurde, die so überaus unglücklich endete. Trotz alledem glaubten wir nicht, daß die Entartung des französischen Volkes so weit gehen werde, sogar vor einem Königsmorde nicht zurückzuschrecken. Wir hatten uns verrechnet. Der Baum der Freiheit mußte, wenn er gedeihen sollte, mit dem Blute des Königs getränkt werden – an diesen Aberwitz glaubte das Volk, es erhob ihn zu einer Art von Sakrament ... und so fiel das Haupt des armen Ludwig. Nunmehr war der Anfang gemacht, und der fanatisierte Pöbel durfte sich zum Blutbad rüsten, denn wessen Leben brauchte jetzt geschont zu werden, nachdem der Königsmord sanktioniert worden war? Ich ahnte es, daß auch mein Gatte vom Nationalkonvent angeklagt werden würde – seit gestern schmachtet er im Kerker.«

Ein heftiger Tränenstrom hinderte die Marquise am Weitersprechen. Wer hätte nicht Mitleid beim Anblicke der armen Frau empfunden, die von der Sonnenhöhe des Glücks in einen so schauerlichen Abgrund gestürzt worden war!

Edelbeck zeigte eine tiefe Rührung und suchte die unglückliche Marquise damit zu trösten, daß er in ihr die Hoffnung erregte, der Marquis werde bald als ein freier Mann zu seiner Familie zurückkehren.

»O nein,« rief Frau von Bruneville im Tone bitterer Überzeugung, »das geschieht nie! Eher steht der grimmige Tiger von seiner Beute ab, als daß die blutgierigen Jakobiner sich die Gelegenheit entgehen lassen, den letzten männlichen Sprößling eines alten Adelsgeschlechts zu den Stufen des Schafotts zu führen.«

Neue Tränen füllten die Augen der vornehmen Frau, doch kämpfte sie jetzt erfolgreich gegen die Rührung und fuhr fort:

»Ich werde meinen Witwenschmerz nicht lange zu ertragen haben. Von gut unterrichteter Seite weiß ich, daß die blutige Reihe auch an die Frauen der hingeschlachteten Opfer kommen wird, Marie Antoinette folgt alsbald dem Könige nach ... und ich meinem Gatten. Ich fürchte mich nicht vor dem Tode«, fügte sie mit einer bittenden Bewegung gegen Edelbeck, der sie unterbrechen wollte, hinzu. »Die Vergangenheit war zu schön, um die traurige Gegenwart mit Fassung zu ertragen, und deshalb betrachte ich es als eine Gnade des Himmels, wenn ich von den irdischen Qualen erlöst werde; nur das Schicksal meiner Louison, meiner lieben, kleinen Louison bekümmert mich tief. Zwar glaube ich nicht, daß Robespierre und seine Horde auch unschuldige Kinder der nimmersatten Guillotine zum Opfer bringen wird, wohl aber fürchte ich die gemeine Handlungsweise der Jakobiner. Sie werden die Kinder vornehmer Abkunft so niedrig wie nur möglich erziehen lassen, sich durch ihr Besitztum bereichern und dafür sorgen, daß die Beraubten auf ihr gutes Recht und ihren adligen Stammbaum verzichten. Ähnlich wie ich denkt auch die Königin, und unser heißester Wunsch gipfelt darin, daß wir unsere Kinder nach Österreich gerettet sehen, ehe auch für sie das fürchterliche Zuspät hereinbricht. Wo aber findet sich ein so treues, mutiges Herz, das ein solches Wagnis unternimmt?«

Dansons la Carmagnole!

Die Marquise blickte bei diesen Worten den jungen Bildschnitzer so durchdringend an, als wollte sie in seiner Seele lesen. Er verstand den geheimen Sinn der Frage, es wurde ihm nun klar, warum man ihn in das Palais Bruneville gerufen habe, und er entgegnete mit fester, wenn schon bewegter Stimme:

»Es ist schön von Marion, daß sie, angesichts der Bedrohung ihres kleinen Pfleglings, an einen armen Burschen gedacht hat, in dessen Brust ein solches mutiges Herz schlägt. Hier ist meine Hand, Frau Marquise ich strenge alle meine Kräfte an, die kleine Louison zu retten. Aber ich schwöre es nicht bei la petite Louison, die mir von Frau Meunier der Vorsicht halber mit auf den Weg gegeben wurde, sondern bei dem heiligen Kreuze, das den Hals einer armen schwergeprüften Mutter ziert.«

Frau von Bruneville löste das Kreuz von der Kette los und reichte es dem unerschrockenen Edelbeck mit den Worten hin: »Behalten Sie es als ein Erinnerungszeichen an eine ernste Stunde. Ich vermag nichts für Sie zu tun, denn welche Belohnung wäre imstande, jene edle Tat wettzumachen, die Sie für mein Kind zu wagen willens sind. Es ist alles zur Flucht vorbereitet,« fuhr sie in schnellerem Tone fort, »und obgleich das Palais von Polizeispionen bewacht wird, werden Sie mit meiner Louison dennoch glücklich entkommen. Marion soll Ihnen das Nähere mitteilen.«

Sie klingelte und schloß mit den Worten: »Ich aber schicke mich zu dem schwersten Gange an, das heißt ich gehe, um von meinem Kinde für immer Abschied zu nehmen.«

Wankend erhob sie sich.

»Und die Kinder der Königin?« fragte Edelbeck in gespannter Erwartung. »Was geschieht mit diesen?«

»Noch haben wir den Plan zu ihrer Flucht aus dem Temple nicht ersonnen,« antwortete die Marquise bekümmert, »doch hofft Marie Antoinette von ihrem kaiserlichen Neffen Franz, daß er rechtzeitig Hilfe senden wird. Die letzte Bitte, die ich an Sie habe, mein junger Freund, geht dahin, einen Brief der unglücklichen Königin dem Kaiser von Österreich zu überbringen, damit er die entsetzliche Lage meiner hohen Freundin kennen lernt. Wollen Sie auch dies auf sich nehmen?«

Edelbeck bedachte sich keinen Augenblick, denn das Schicksal der königlichen Familie schnitt auch ihm tief ins Herz.

Die Portieren öffneten sich, und herein trat Marion. »Hast du dem armen Kinde das Nötigste mitgeteilt?« redete Frau von Bruneville die treue Dienerin an, die stumm mit dem Kopfe nickte, da Tränen ihre Stimme erstickten. »So gehe ich jetzt zu meiner süßen Kleinen«, erklärte die Marquise nach kurzer Pause. »Verständige inzwischen Herrn Edelbeck von unserm Plane und den dabei zu beobachtenden Vorsichtsmaßregeln. Ich kehre bald mit Louison hierher zurück, denn die Zeit eilt, und mit jeder Stunde wächst die Gefahr.«

Nachdem die Herrin das Gemach verlassen hatte, trat Marion auf den jungen Bildschnitzer zu, schüttelte ihm die Hand und sagte mit großer Herzlichkeit:

»Ich habe mich in Ihnen nicht getäuscht, Herr Leopold, Sie sind ein braver, guter Mensch, dem Gottes Lohn und Segen nicht ausbleiben wird.«

Sie teilte ihm hieraus in ausführlichster Weise die Maßregeln mit, die zur Flucht der kleinen Louison getroffen waren, und nach denen sich Edelbeck genau richten mußte.

»Auch Ihr Anzug bedarf einer Änderung,« schloß Marion, »Sie sehen noch immer zu viel nach einem Aristokraten aus. Die Pariser Blutteufel sind ebenso grausam wie pfiffig, wir müssen daher auf unserer Hut sein.« Bei diesen Worten schob sie ihn in ein kleines Nebengemach, wo alles Nötige zur Umkleidung des jungen Mannes bereit lag.

Marion wartete auf ihn im Boudoir der Marquise und zeigte sich mit dem Kleiderwechsel zufrieden. In der Tat konnte Edelbeck jetzt für das Ideal eines Republikaners gelten. Die Haare hatte er sich tief in die Stirn gekämmt und auf den Kopf einen modischen Incroyable gestülpt. Das Kinn verbarg sich in einer weiten Revolutionsbinde und der Oberkörper in einem dunkelgrünen Fracke, um dessen Taille die dreifarbige Binde geschlungen war. Eng anliegende hellfarbige Beinkleider und Kappenstiefel vollendeten den nicht eben malerischen Anzug, in welchem sich der ehrliche Österreicher wie eine lebendige Lüge vorkam.

Bald nach Edelbeck trat auch die Marquise ins Gemach, doch erstaunte er, als er an der Seite der schönen Frau einen Knaben statt eines Mädchens erblickte. Der Irrtum löste sich indessen bald; die Marquise hatte, der größeren Bequemlichkeit wegen, ihr Töchterchen als Knaben verkleidet. Es war vorauszusehen, daß die Flucht bis an die Ostgrenze Frankreichs nicht ohne Hindernisse vor sich gehen werde, ja es konnte sogar der Fall eintreten, daß die weibliche Kleidung Louison auf der Reise lästig, wohl gar verderblich sei. Frau von Bruneville händigte dem Bildschnitzer ein eisernes Kästchen ein und erklärte ihm leise, daß es Dokumente enthalte, die für Louisons Zukunft von großer Wichtigkeit seien. »Ich ersuche Sie,« schloß sie in innig bittendem Tone, »Kästchen und Inhalt meinem bei Wien lebenden Bruder, dem Grafen Auerstein, auszuliefern, an dem mein armes Kind einen zweiten Vater finden wird.«

Nach diesen Worten trat sie von Edelbeck zurück, und nun erfolgte eine Abschiedsszene, die auch dem jungen Bildschnitzer das Wasser in die Augen trieb. Die Kleine weinte, schmiegte sich immer von neuem wieder an die Marquise und rief in herzzerreißendem Tone:

»O, Mama, liebe Mama, laß mich nicht von dir! Hast du mich denn gar nicht mehr lieb?«

»Halt fest, mein Herz!« stöhnte die bleiche, schöne Frau, der die schwere Aufgabe zugefallen war, das Kind mit der beschwichtigenden Lüge, sie werde in den nächsten Tagen nachfolgen, zu hintergehen. Immer zärtlicher wurden die Bitten der kleinen Louison, nicht dem fremden, garstigen Manne folgen zu müssen, so daß schließlich die Marquise alle Fassung verlor, ihren Liebling stürmisch an sich preßte und in den Ruf der Verzweiflung ausbrach:

»Herr Gott im Himmel, was habe ich getan, daß du meinem Mutterherzen diese Qualen auferlegst?« Sie verfiel in ein heftiges Schluchzen, während Louison die tränenfeuchten Wangen schmeichelnd liebkoste.

»Meine Louison war stets ein braves Kind,« begann jetzt Marion, sich gewaltsam fassend, »sie wird auch jetzt der armen Mama Freude bereiten und diesem Manne hier folgen, der ein lieber Freund von mir ist.«

Das Kind schüttelte das Köpfchen, den Hals der Mutter von neuem umschlingend.

»Die Mama kann ohne den Papa Paris nicht verlassen«, sprach Marion weiter.

»Dann warte ich, bis der Papa zurückkommt«, erklärte Louison.

»Dadurch eben stürzest du deine gute Mama in ihr Verderben!« rief die Pflegerin mit dem Aufgebote ihrer letzten Kraft. »Folgst du nicht auf der Stelle hier meinem Freunde, so dringen die häßlichen Männer mit den roten Mützen in das Palais, morden, sengen und rauben und führen die Mama für immer von dir fort. Dann siehst du sie niemals wieder –« Sie vermochte nicht weiterzureden, denn der Schmerz brach ihre Stimme. Den beabsichtigten Zweck aber hatte sie durch ihre Vorstellung erreicht. Louison blickte starr die Mutter an und brach dann in ein bitterliches Weinen aus. Die Angst, das Liebste auf der Welt zu verlieren, wenn sie sich noch länger dem Gebote widersetzte, ließ sie die Scheu, einem fremden Manne zu folgen, überwinden: sie wählte von zwei Übeln das kleinere, und die frischen, roten Kinderlippen flüsterten: »Mama, ich will folgsam sein – o, laß dein kleines Mädchen nicht zu lange allein.«

Die arme Mutter lächelte durch Tränen, noch einmal preßte sie ihren Liebling an sich, dann übergab sie ihn Edelbeck, der auf einen Wink Marions schnell dem Ausgange zuschritt. Dort aber wandte sich Louison noch einmal um und rief zurück:

»Gelt, du bist meine süße Mama und folgst mir bald nach? Auf Wiedersehen!«

»Dort oben ... als Engel!« hauchte die bleiche Frau und sank, auf die sich rasch entfernenden Tritte ängstlich lauschend, auf das Sofa zurück, um endlich, als alles still war, ihren grenzenlosen Schmerz auszuweinen ...

Inzwischen hatte Edelbeck mit Louison, die sich fest in ihren kleinen Mantel hüllte und auf diese Weise ihr Schluchzen zu verbergen suchte, das Palais verlassen. Die in diesem ein- und ausgehenden Personen wurden von den in der Nähe lauernden geheimen Polizisten scharf beobachtet. Trotz der republikanischen Kleidung Edelbecks machten sie mit ihm keine Ausnahme, vielmehr durchschauten sie die Maskerade, ja ihr Scharfsinn erspähte sogar die List, die die Marquise mit Louisons Äußerm getroffen hatte. Glücklicherweise war man jedoch im Palais darauf gefaßt gewesen, und obwohl Edelbeck bemerkte, daß drei Polizisten ihm nachschlichen, blieb er doch ruhig und handelte seinen Anweisungen gemäß.

Etwa in der Mitte der Rue Royale standen mehrere Mietkutschen, von denen der Bildschnitzer eine anrief. Der Rosselenker kam mit seinem Gefährt sofort heran, Edelbeck nannte als das Ziel der Fahrt eine Straße in der inneren Stadt und stieg hierauf mit Louison in die Kutsche. Währenddem waren die drei Polizisten herangekommen und wechselten mit dem Mietkutscher ein paar Blicke des Einverständnisses. Die niedere Klasse der Rosselenker gehörte selbstverständlich zu den begeistertsten Anhängern der Republik, und deshalb standen sie auch in ihrem Dienste. Sie hatten schon mehrfach Opfer dem Konvent überantwortet, und zwar in dem Augenblicke, wo diese Ärmsten sich am sichersten gefühlt hatten. Die Polizeispione ließen daher den Mietwagen ruhig abfahren; sie wußten, daß der Sekretär des Konvents in wenig Stunden erfuhr, wohin der Fremde die kleine Tochter der Marquise gebracht habe.

Auch von diesem Einverständnis zwischen Polizei und Mietkutschern war Edelbeck in Kenntnis gesetzt worden. Er würde daher seine volle Ruhe behauptet haben, hätte nicht das stille Weinen des neben ihm sitzenden Kindes das Mitleid in seiner Brust entfacht; dazu kam noch, daß der Wagen jetzt über den Revolutionsplatz rollte und der fahle Schein des hin und wieder durch die Wolkenmassen dringenden Mondes in unheimlicher Weise das dort errichtete Blutgerüst beleuchtete. Unwillkürlich gedachte Edelbeck seiner schönen Landsmännin, der Marquise, und seine erhitzte Phantasie malte ihm den kalten Morgen aus, an dem die edle Gattin und liebende Mutter die Stufen des Schafotts emporsteigen würde, um der Mordlust der Jakobiner zum Opfer zu fallen. Der Bildschnitzer schauerte zusammen und zog das kleine Mädchen zärtlich an sich, das von so hoher Abkunft und doch so völlig verlassen war. Er bot alle seine Überredungskünste auf, das schluchzende Kind zu beruhigen und ihm Vertrauen einzuflößen; doch gelang es ihm nur teilweise, denn noch war der Begriff von der Welt bei der Kleinen eng begrenzt, da sie nichts anderes kannte, als die geliebte Mama und die heitere, sorgenlose Umgebung, in der sie aufgewachsen war.

Nach einer langen Fahrt hielt der Wagen in einer Seitengasse vor einem alten, sehr baufällig aussehenden Hause. Edelbeck ersuchte den Kutscher, den Klopfer an der Haustür in Bewegung zu setzen. Bald ließen sich in dem innern Flur Schritte vernehmen, und ein ältlicher Mann erschien, der große Ähnlichkeit mit dem Portier des Palais Bruneville hatte. Er spielte den Überraschten, seinen Schwiegersohn und Enkel – wie er Edelbeck und die kleine Louison bezeichnte – noch in so später Nachtstunde zu sehen, und eilte sodann mit dem verkleideten Mädchen über den Vorsaal einem Zimmer zu, dessen Tür er halb offen ließ.

Edelbeck stand noch auf der Straße, um dem Mietkutscher den Fahrpreis zu zahlen, da er aber in der Dunkelheit damit nicht zurecht kommen konnte, so ersuchte er den Rosselenker, ihm in das offenstehende Zimmer des Erdgeschosses zu folgen. Der Kutscher nickte und begab sich, an der Seite Edelbecks, in das bezeichnte Gemach. Kaum hatte er jedoch die Schwelle überschritten, als er sich hinterrücks gepackt und kräftig vorwärtsgestoßen fühlte. Gleichzeitig wurde die offenstehende Tür ins Schloß geworfen. Der so plötzlich überfallene Kutscher wollte um Hilfe schreien, doch schon hinderte ihn ein Knebel am Gebrauche seiner Stimme.

»Es geschieht dir nichts!« raunte dem Gefesselten der greise Diener der Marquise zu, während zwei andere kräftige Männer, die als Gärtnergehilfen im Parke Brunevilles tätig gewesen waren, die Stricke noch fester anzogen. »Wir wollen deinen guten Freunden, den Polizeispionen, nur ein Schnippchen schlagen und uns einiges von deinem Anzuge aneignen. Der weite Kutschermantel wird Ihnen herrliche Dienste leisten,« wandte er sich jetzt an Edelbeck, ihm zugleich das Kleidungsstück zuwerfend, »jeder Mietkutscher muß in jetziger Zeit seinen Paß bei sich tragen, da er leicht in den Fall kommt, über das Weichbild von Paris hinauszufahren. Dieses Passes wollen wir uns auch versichern.«

Die Brieftasche, worin der Kutscher das wichtige Dokument verwahrte, war bald gefunden, und der Paß wanderte in Edelbecks Besitz.

»So, und jetzt schleunigst fort,« sagte der alte treue Diener zufriedengestellt, »denn bis morgen früh müßt Ihr mit dem Wagen unsers geknebelten Freundes hier schon weit von Paris sein.«

Der Mietkutscher stöhnte.

»Nur ganz unbesorgt,« fuhr der Sprecher lachend fort, »wir wollen deinen Schaden nicht. Hier ist ein Päckchen Assignaten Anweisungen jenes französischen Papiergeldes, das am 19. April 1790 von der Nationalversammlung zur Tilgung der Nationalschuld dekretiert und vom König bestätigt wurde.; dein magerer Gaul sowie dein elender Rumpelkasten sind damit hinreichend ersetzt.«

Inzwischen hatte Edelbeck den Kutschermantel umgehangen und die Peitsche des Rosselenkers vom Boden aufgenommen. Bei diesem Anblick strampelte der Gefesselte wütend mit den zusammengebundenen Füßen. Das Kraftmanöver entrang dem alten Diener jedoch nur ein mitleidiges Lächeln, der jetzt, mit den übrigen sich zum Gehen wendend, dem Kutscher noch zurief: »Vergeude deine Kräfte nicht, es nützt ja doch nichts. Bis morgen bleibst du hier gefesselt und gefangen, dann wirst du jedenfalls von deinen Kameraden, die wir bis dahin verständigt haben, aufgesucht und befreit. Dein Pochen mit den Beinen hat gar keinen Zweck, denn das Haus steht leer, und du bist in dieser Nacht sein einziger Bewohner.«

Er warf die Zimmertür hinter sich zu und drehte der größern Vorsicht halber den Schlüssel im Schloß herum. Dasselbe Verfahren beobachtete er bei der Haustür, während einer der Gärtnergehilfen die kleine Louison in den Wagen hob und Edelbeck den Bock bestieg. Dann folgte ein kurzer Abschied, und gleich nachher wurde das schmerzliche Weinen des im Wagen sitzenden Mädchens von dem Rollen der Räder übertönt.

Das gefährliche Unternehmen, wozu sich Edelbeck hatte gewinnen lassen, war nun vollständig im Gange, und es galt jetzt, Mut und Besonnenheit zu zeigen, denn nur auf diese Weise vermochte er das heilige Versprechen, das er der Marquise wegen Louisons gegeben hatte, einzuhalten.

Bald lag Paris, die Stätte der Schrecken, hinter den Reisenden. Der mitgenommene Paß des Mietkutschers hatte beim Passieren des Tores gute Dienste geleistet, und das Innere der Mietkutsche war nicht einmal visitiert worden. Die aufgestellten Wächter hatten jetzt Tag und Nacht genug zu tun und waren froh, wenn der Wagen eines verbündeten Mietkutschers sie der Mühe genauer Untersuchung enthob. Befand sich wirklich etwas Verdächtiges darin, so gab ihnen der Rosselenker schon ein geheimes Zeichen. Für die in der Umgebung von Paris gelegenen Städte und Dörfer reichte der Paß des Mietkutschers ebenfalls aus; später sah sich Edelbeck jedoch genötigt, jede Ortschaft zu vermeiden, denn überall nahmen bewaffnete Bürger und Patrioten jeden anlangenden Fremden in ein scharfes Kreuzverhör, besichtigten seine amtlichen Papiere und Briefschaften und schlugen in langen Listen nach, ob sich sein Name nicht als ein verdächtiger darin befinde. Dem Ermessen dieser kleinen Tyrannen war es gänzlich anheimgestellt, einen Fremden weiterreisen zu lassen oder ihn zurückzuhalten und ins Gefängnis zu stecken. In solcher Willkür bestand die gerühmte Freiheit der französischen Republik, das heißt die Laster waren frei, die Tugend aber gefesselt.

Die Sicherheit Louisons ging Edelbeck über alles, und er bequemte sich lieber zu großen Umwegen, als daß er sie irgendeiner Gefahr aussetzte. Die Kleine lernte auf der weiten Reise zum erstenmal das Gefühl des Hungers kennen, denn die Vorräte, die sie in der letzten kleinen Stadt, die von ihnen berührt worden war, eingekauft hatten, gingen rasch zu Ende. Auch der Gaul litt Mangel und Not; dafür schmeckte es jedoch wieder um so besser, wenn man auf der Landstraße einmal auf ein Wirtshaus stieß, worin keine lästigen Munizipalbeamten hausten.

Sieben volle Tage hatte schon die Fahrt gewährt, als am achten sich die Reisenden Straßburg näherten und Erwins berühmter Bau am fernen Horizont emporstieg. Man war noch zu weit von der Stadt, als daß der Anblick überraschend hätte sein können. Louison blickte sehr gleichgültig auf den Münsterturm, der ihr wie eine hübsche Dorfkirche erschien, nur wunderte sie sich, daß bei der scheinbaren Nähe des Turmes von den Häusern nichts zu sehen war. Als sie aber von Edelbeck, dessen unbegrenzte Herzensgüte sie schätzen und lieben gelernt hatte, den wahren Namen des Dorfkirchleins erfuhr, füllten sich ihre Augen mit Tränen; sie wußte jetzt, daß man sich dicht an der Grenze ihres Heimatlandes befand, und der Gedanke, von ihm scheiden und in ein fremdes Land wandern zu müssen, erschreckte ihre Seele, denn in dem fremden Lande war ja nicht ihre Welt, ihre Mama, ohne die sie sich das Leben nicht zu denken vermochte.

Der Münsterturm diente Edelbeck gewissermaßen als Warnungszeichen, da er ihm die Richtung angab, die er nicht verfolgen durfte. Er bog daher von der breiten Landstraße alsbald ab und verfolgte einen Nebenweg, der sich südöstlich nach einem Walde zog. Dieser war bald erreicht; da sich jedoch die Fahrstraße noch mehr verengte, so stieg Edelbeck vom Bock herunter und ging neben dem Wagen her. Das Dunkel des Waldes breitete sich immer mehr und mehr über das Gefährt, doch wurde die herrschende Stille gar bald durch ein kräftiges »Hallo!« unterbrochen, das von zwei verschiedenen Seiten Erwiderung fand.

»Großer Gott, was ist das?« flüsterte Edelbeck erschreckt vor sich hin und deckte unwillkürlich den Wagenschlag mit seinem Rücken. In diesem Augenblicke knackte es aber auch schon in den Büschen, und bald sah der Bildschnitzer den Wagen von einer Zahl Männer umringt, deren lange, flatternde Haare und struppige Bärte das wilde Aussehen nur noch erhöhten.

»Wer seid Ihr? Wo kommt Ihr her? Was habt Ihr da drinnen im Wagen?«

Ein solches Durcheinander von Fragen stürmte jetzt auf den ratlosen Edelbeck ein, während er sich von der Wagentür weggedrängt sah und zwei der Männer die zitternde Louison aus dem Innern holten. Die wilde Gesellschaft bediente sich der deutschen Sprache, und diese bekannten Töne der Heimat verliehen dem jungen Bildschnitzer neuen Mut und neue Kraft.

»Zurück, Verwegene!« schrie er dem Paare zu, das sich seiner Schutzbefohlenen bemächtigt hatte. »Wie ihr aus meiner Kleidung erseht, bin ich ein guter Patriot, und dieses Kind hier ist meine Schwester. Ein echter Franzose überfällt seinen Landsmann nicht wie ein Räuber.«

»Nix Franzos!« lärmte die Schar, und jetzt erst erkannte Edelbeck, daß er es mit elsässischen Zigeunern zu tun hatte. Sie waren im Walde zu einer großen Beratung zusammengekommen; für gewöhnlich wohnten sie in den Gebirgsdörfern des Unterelsasses. Da der Häuptling der Bande, der den Titel eines Königs führte, der heutigen Ratsversammlung präsidierte, so fand es Edelbeck, der inzwischen Louison von den beiden Zigeunern befreit hatte, für das beste, die wilden Gesellen aufzufordern, ihn zu ihren Brüdern zu führen. Auf diesen Vorschlag gingen sie sehr bereitwillig ein; der eine schwang sich auf den Kutscherbock und trieb den müden Gaul an, einige andere kletterten in das Innere des Wagens, der bald in sausendem Galopp im Walde verschwand. Edelbeck und Louison dagegen sahen sich genötigt, den ziemlich beschwerlichen Weg zu Fuß zurückzulegen. Endlich erreichten sie mit ihren Begleitern eine schneefreie Waldwiese, auf der zahlreiche Wachtfeuer brannten. Hatte das bereits angelangte Gefährt schon den Jubel der Kinder und Weiber hervorgerufen, so steigerte er sich jetzt nur noch mehr, und die kleine Louison, die in ihrer Verkleidung ein bildschöner Knabe war, wurde von der jauchzenden Menge emporgehoben und bis zu einem Zelte getragen, das für den Zigeunerkönig errichtet war. Dieser – ein hochgewachsener, kräftiger Mann mit einem langen Vollbarte – thronte mit Majestät vor der Ehrenbehausung und blickte in gespannter Erwartung den beiden Fremden entgegen.


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