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(1882)
In einer rauhen Herbstnacht, wo ein menschenfeindlicher Nebelwind alle müßigen Nachtschwärmer von den Gassen fegte, die Wachtposten in ihre Schilderhäuser krochen und die Schutzmänner, unter dem Vorwande, auf Gesindel zu fahnden, sich in die warmen Trinkstuben flüchteten, wandelte eine winzigkleine Gestalt gleichwohl mit so gelassenen Schrittchen über das feuchte Pflaster der Vorstadt, als ob der schönste Sommerhimmel zu nächtlichem Spazierenschlendern einlüde. Wer das Figürchen von ferne sah, mußte es für ein drei- bis vierjähriges Knäbchen halten, das seiner Mutter abhanden gekommen sei und nun in der unholden Nacht den Heimweg suche, zögernd und bange, da es sich vor der Strafe fürchte. Ließ man es nahe herankommen und fiel gerade der flackernde Schein einer der umstürmten Straßenlaternen dem kleinen Wanderer ins Gesicht, so sah man freilich, daß man es mit keinem Kinde zu thun hatte. Zwar blickte unter der breiten Krämpe des schwarzen Filzhütchens und aus dem aufgeschlagenen Kragen eines dicken braunen Ueberröckchens ein rundes, rothwangiges Gesicht mit hellen grauen Augen hervor. Doch ein dünner blonder Flaum am Kinn und einige Krähenfüße in den Augen- und Mundwinkeln, dazu ein wunderlich kühner und streitbarer Ausdruck der kleinen feinen Züge belehrten alsbald darüber, daß man ein Menschenkind in reifen Jahren vor sich habe, dessen Wachsthum durch irgend welchen Zufall gehemmt worden und über Zwergengröße nicht hinausgediehen war.
In der rechten Hand trug der kleine Mann ein Stöckchen, dessen stählerne Spitze er in regelmäßigem Takt gegen die Pflastersteine klirren ließ, in der linken ein verschlossenes Blendlaternchen, das seinen gnomenhaften Anstrich nicht wenig verstärkte. Nichts fehlte als ein langer grauer Bart, um den seltsamen Wanderer als eines der Erdmännlein erscheinen zu lassen, die durch unterirdische Klüfte klettern und verborgene Schätze hüten. Doch diente das Laternchen einem viel bescheidneren Zweck. So oft der kleine Nachtvogel einem der gewöhnlichen großen Menschen begegnete, der dann stehen blieb und sich wunderte, was das Kind so spät in der einsamen Straße zu suchen habe, öffnete er mit einem Druck des Fingers die runde Klappe, die das Licht schützte, und ließ den Schein über sein eigenes Gesicht fallen. Alsbald merkte der Große, daß hier das Mitleid mit einem verirrten Unmündigen nicht am Platze sei, da diese scharf zu ihm aufblickenden Aeugelchen ihren Weg wohl würden zu finden wissen. Die polizeilichen Sicherheitswächter, die an ihm vorüberkamen, kannten ihn ohnehin und grüßten ihn mit einem vertraulichen: Guten Abend, Herr Hinze! – worauf der Kleine mit einem dünnen, aber beherzten Stimmchen ihnen eine Gute Nacht! zurief. Dann setzte er unangefochten seinen beschaulichen Spaziergang fort, indem er immer von Zeit zu Zeit das Stöckchen in der kleinen Faust schwang, in künstlichen Lufthieben, wie ein Student, der mit seinen eben erst gelernten Terzen und Quarten auf öffentlicher Straße wichtig thut.
In jener unwirthlichen Nacht war er schon eine Stunde lang Gassen aus und ein gewandelt, ohne irgend etwas Lebendigem zu begegnen, als etwa einem herrenlosen Hunde, der frierend an ihm vorbeistrich. Es schien ihm aber durchaus nicht unheimlich dabei zu Muth zu sein. Vielmehr stand er hin und wieder still vor einem Neubau, über den er sich seine Gedanken machte, oder vor einem der schmuckeren, villenartigen Häuser, deren Erker und Altane seine Augen fesselten. Ein feines Ohr hätte dann hören können, wie der kleine Mann in ein behaglich murmelndes Selbstgespräch verfiel, bis er dann mit leisem Pfeifen, dem Ton eines Mäusepfiffs nicht unähnlich, sich wieder in Bewegung setzte.
Eben schlug es Zwölf von einem der nahen Kirchtürme, als das wunderliche Käuzchen in eine der breiteren Straßen einbog, wo die Laternen dichter gereiht standen und das glatte Trottoir ihren Schimmer kräftiger zurückstrahlen ließ. Da sah er von ferne auf dem obersten Absatz einer Steintreppe, die zu einem alten geschnitzten Portal hinaufführte, einen schwarzen Klumpen, der seine Neugier reizte, so daß er sofort darauf zuschritt. Wie er näher kam, erkannte er in dem Spuk einen großen Raben, der in das Haus gehören und sich am Abend verflogen haben mochte, so daß er die Thür verschlossen fand und auf der Schwelle übernachten mußte. Er hatte den dicken Schnabel unter den einen Flügel gesteckt und schien auch durch die Schritte, die sich ihm näherten, nicht aus seinem verdrießlichen Schlummer aufgestört zu werden. Erst als der Kleine den scharfen Strahl des Blendlaternchens auf ihn fallen ließ, hob er sehr entrüstet den Kopf und betrachtete die seltsame Gestalt, die sich ihm gegenüber hingepflanzt hatte.
Guten Abend, alter Herr! ließ sich jetzt der Kleine mit einem hohen, dünnen Stimmchen vernehmen. Sie haben sich nicht gerade die angenehmste Schlafstelle ausgesucht. Zwar soll ein weiser Mann auch in schlechtem Wetter seinen inneren Frieden bewahren, und der hohe Standpunkt, den Sie gewählt haben, zeigt, daß Sie sich über dem gemeinen Loose Derer, die auf der platten Erde wandeln, erhaben fühlen. Aber Ihr schwarzes Röckchen – nehmen Sie mir's nicht übel – ist ein wenig fadenscheinig und abgetragen, der Wind pfeift durch die Nähte. Sie thäten besser, sich einen warmen Winkel unterm Kirchendach zu suchen, oder einen Nachtbesuch bei Ihrer Gevatterin, der Madame Eule, zu machen. Warum sperren Sie Ihre geistreichen Augen und Ihren dummen Schnabel so gefährlich gegen mich auf? Ich behandle Sie ja mit allem gebührenden Respect, ich würde sogar, wenn Sie nicht ein Vorurtheil gegen jüngere Leute hätten, Sie um Ihre Freundschaft bitten. Sie gefallen mir ungemein, Herr von Korax. Da ist meine Hand; schlagen Sie ein. Sie wollen nicht? So erlauben Sie, daß ich Ihren ehrwürdigen alten Schädel ein wenig streichle. Bitte, halten Sie still. Ich habe selbst einen Rabenvater gehabt und bin ein bischen von der Familie.
Damit näherte sich das Wichtchen, langsam die Stufen hinansteigend, dem großen Vogel und streckte die Hand nach ihm aus. Dieser aber, der die unheimliche Anrede in wachsender Angst mit angehört hatte, zog sich mit gesträubten Federn und weit aufgerissenem Schnabel, aus dem ein rauhes Krächzen kam, in den tiefsten Winkel der Hausthür zurück. Er starrte dem freundlichen Gesichtchen so verdutzt entgegen, als sinne er über dem Räthsel nach, wie einem Kindskopf so drollige Einfälle kommen könnten. In seinem langen nachdenklichen Leben hatte er Mancherlei unter dem Menschenvolk gesehen, was ihm seltsam erschienen war. Ein solches Koboldchen war ihm noch nie begegnet. Als ob ein Gespenst die Hand nach ihm ausreckte, um ihn bei der Kehle zu fassen und zu erwürgen, zitterte er am ganzen Leibe, immer heiserer erklang sein ohnmächtiges Hülfegekrächz, und da er endlich so weit zurückgedrängt war, daß er im nächsten Augenblick das Fäustchen an seinem Gefieder fühlen mußte, schlug die Angst plötzlich in eine verzweifelte Wuth und Kampflust um, und mit weitgespreiteten Flügeln und drohend aufgesperrtem Schnabel stürzte er auf den zudringlichen Störenfried los.
Der Kleine hatte gerade noch Zeit, Kopf und Schultern zur Seite zu biegen und mit dem linken Arm das Laternchen vorzuhalten. Das altersmüde Auge des Raben wurde durch die helle Flamme so unsanft getroffen, daß er wieder zurückwich. Im nächsten Augenblick aber flatterte er mit neuem Ungestüm seinem Feinde entgegen, der langsam, den Stock erhebend und im Kreise schwingend, rückwärts die Treppenstufen hinabgedrängt wurde. Er hörte nicht auf, begütigende Worte an das gänzlich verwilderte Thier zu wenden, ihm zuzurufen, daß es ja nur ein Mißverständniß sei, daß er ihm gleich Anfangs aus dem Wege gegangen wäre, wenn er seine cholerische Gemüthsart geahnt hätte. Jedes Wort schien die Erbitterung des kämpfenden Vogels zu steigern, und eben überlegte der Kleine, daß ihn die Nothwehr doch endlich zwingen würde, von der Waffe, die er schwang, ernstlichen Gebrauch zu machen, als die Dazwischenkunft eines Dritten den Kampf plötzlich zum Stillstand brachte.
Um die nächste Ecke bog nämlich gerade im gefährlichsten Augenblick eine Gestalt, die einem arglosen nächtlichen Wanderer noch weit bedenklicher und spukhafter erschienen wäre, als der märchenhaft kleine Mann mit der Laterne. Es war eine übermenschlich hohe und gewaltige Figur in einem groben, mit schwarzem Lederriemen über den Hüften festgegürteten Mantel, der aus einer Pferdedecke bestand, in welche ein Loch geschnitten war, um den Kopf durchstecken zu können. Die buschigen Haare standen zu beiden Seiten unter einer runden grauen Kappe hervor, die mit Ohrenklappen unter dem breiten Kinn befestigt war. Die Füße, auf welchen die mächtigen Beine wandelten, steckten in ungefügen Nagelschuhen, die schwer über das Pflaster hindröhnten. So kam der Riese mit langsamen, weitausgreifenden Schritten die Straße herab, gerade auf das Haus zu, vor dessen Schwelle der seltsame Zweikampf ausgefochten wurde. Er schien in so tiefe Gedanken versunken, daß er das Hand- und Flügelgemenge nicht viel mehr beachtete, als wenn ein Hund mit einer Katze dort zu schaffen gehabt hätte. Erst als ein paar rasche Blitze aus dem Laternchen über die Häuserwand fuhren und einer ihn selbst ins Gesicht traf, wurde er aufmerksam. In demselben Augenblicke bemerkte ihn der Rabe, während sein kleiner Gegner nur auf seine Vertheidigung bedacht war. Es war, als ob die neue gespenstische Erscheinung seinen Muth auf einmal lähmte. Das krächzende Kampfgeschrei blieb ihm in der Kehle stecken. Er taumelte entsetzt zurück, saß einen Augenblick mit ohnmächtig zuckenden Flügeln still, dann breitete er sie desto heftiger aus, aber nicht um abermals auf seinen Gegner loszufahren, sondern um sich über den Kopf des Kleinen hinweg in die Luft zu erheben mit wankendem, niedrigem Flug, und mit einem Schrei, der fast wie ein menschlicher Angstruf klang, in der dunklen Nacht zu verschwinden.
*
Kaum bemerkte der kleine Sieger, daß sein Feind ihm das Feld gelassen hatte, als er in großer Erschöpfung, noch vor Aufregung an allen Gliedern zitternd, auf die unterste Stufe der Treppe sank, ein weißes Tüchlein aus der Tasche zog und sich den Schweiß von der Stirn trocknete. Im nächsten Augenblick aber fuhr er mit noch größerem Schrecken in die Höhe. Denn er hörte eine Stimme in tiefem Baß dicht neben sich sagen: Der Vogel hat dir doch nichts zu Leide gethan, Kleiner?
Das Wort versagte dem Angeredeten. Er starrte empor an der Riesengestalt, die mit gutmüthigem Kopfnicken bei ihm stehen geblieben war, und es dauerte eine Weile, bis er seine verstörten Lebensgeister wieder sammeln konnte. Er versuchte aufzustehen, war es aber nicht im Stande, obwohl er das Stöckchen gegen die Erde stemmte. Ich danke Ihnen, stammelte er endlich. Es fehlt mir Nichts. Ich bin nur ein bischen – außer Athem. Ich hätte gescheidter sein und mit dem unvernünftigen Geschöpf mich gar nicht einlassen sollen. Aber das ist nun eben meine Schwäche. Wie Sie sehen –
Wieder warf er einen Blick auf das ungefüge Fabelwesen an seiner Seite, das jetzt, offenbar um den Abstand ein wenig auszugleichen, sich schwerfällig auf die andere Treppenwange niederließ. Er betrachtete den gewaltigen Kopf auf den Enaksschultern, die in der groben Hülle noch unförmlicher erschienen, die breiten, starkbehaarten Hände, die Schuhe, die wie mit der Holzaxt zugehauen waren. Das Alles erschien bei der ungewissen Helle der im Winde wehenden Laternen noch befremdlicher und gespenstischer.
Wie kommst du nur dazu, Söhnchen, hörte er endlich das Ungethüm mit ganz freundlichem Tone fragen, zu dieser späten Stunde ohne Begleitung durch die Stadt zu laufen? Deine Eltern sollten das nicht zugeben. Wenn du dich ein wenig erholt hast, werde ich dich nach Hause bringen.
Der Kleine antwortete nicht sogleich. Er nahm das Laternchen, das sich von selbst wieder geschlossen hatte, öffnete die Klappe und hielt es dicht neben sein Gesicht.
Sehen Sie mich nur erst genauer an, Verehrtester, sagte er. Sie werden dann begreifen, daß ich, selbst wenn ich noch Eltern hätte, ihrer gütigen Fürsorge nachgerade entwachsen wäre, obgleich das Wachsen niemals meine Force war. Sie selbst haben es in dieser Hinsicht so weit gebracht, daß Sie vielleicht sehr geringschätzig von einem Menschen urtheilen, der kaum bis zu Ihrer Kniehöhe, gekommen ist. Aber die Gaben sind eben verschieden, und wie mir scheint, haben wir Beide einander nichts vorzuwerfen. Ich kann es nicht leugnen, daß ich ein Naturspiel bin, ein recht wohlfeiler schlechter Witz, den sich der Schöpfer erlaubt hat. Sie aber – ohne Sie kränken zu wollen – Sie sind doch auch eine Art Ausartung, und die Wahrheit scheint hier wie überall in der Mitte zu liegen. Wenn ich aber uns Beide vergleiche – trotz mancher Vortheile, die Ihre acht Fuß Ihnen geben mögen, thäte mir doch noch die Wahl weh.
Diese rasche Rede hatte er mit einem gespannten Ausdruck seines klugen kleinen Gesichts begleitet, als ob ihm selbst nicht ganz geheuer dabei wäre, wie der dreiste Ton, zu dem er sich trotz seines Herzklopfens zwang, von dem gewaltigen Manne, der ihn bequem mit einem Fußtritt zermalmen konnte, vielleicht aufgenommen werden möchte.
Statt einer barschen Abfertigung aber hörte er nur einen schweren Seufzer, der aus der breiten Brust des Gewaltigen hervorkam.
Sie kennen mich nicht, erwiderte Der nach einer Weile, sonst würden Sie, wenn Ihnen noch so wenig wohl in Ihrer eigenen Haut wäre, keinen Augenblick daran denken, mit mir tauschen zu wollen. Aber das gehört nicht hierher. Kann ich Ihnen sonst mit etwas dienlich sein? Soll ich Sie etwa nach Hause begleiten, da die Geschichte mit dem hitzigen Vogel Sie doch angegriffen zu haben scheint?
Ich bin Ihnen sehr verbunden, entgegnete der Kleine. Aber Sie brauchen sich meinetwegen nicht zu bemühen. Es ist wahr, ich bin ein bischen matt; das Rencontre, das ich thörichter Weise vom Zaune brach, hätte übel ablaufen können, denn der alte Herr, mit dem ich nur einen kleinen höflichen Discurs führen wollte, verstand keinen Spaß. Ich bin aber an solche nächtlichen Abenteuer schon gewöhnt, und sie haben keine anderen Folgen, als daß sie mir das Blut auffrischen, das bei meiner sitzenden Lebensweise gar zu leicht stockt und schimmlig wird. Wenn es Ihnen recht ist und Sie keine dringenderen Geschäfte haben, ruhen wir hier noch einige Minuten aus. Ich erlaube mir zuvörderst, Ihnen meine Sehrwenigkeit vorzustellen.
Er knöpfte sein Ueberröckchen auf und zog ein winziges Brieftäschchen hervor, aus dem er eine ganz kleine Visitenkarte nahm. Der Große nahm sie behutsam mit zweien seiner unförmlichen Finger, warf einen Blick darauf und sagte dann: Es ist zu dunkel, um so feine Schrift zu lesen. Wollen Sie nicht vielleicht mündlich – auch kann ich selbst Ihnen meinen Namen auf keiner Karte geben, da ich dergleichen nicht zu führen pflege. Wozu auch? Ich mache nie Besuche und auch keine neuen Bekanntschaften mehr. Sie sind seit Jahren der erste Mensch –
Ein neuer Seufzer unterbrach seine. Rede. Der Kleine aber blieb ganz guter Dinge und sagte lachend: Wissen Sie, daß es mir accurat so geht, wie Ihnen? Außer meinen Hausleuten, an die ich seit zehn Jahren gewöhnt bin, habe ich mit keiner Menschenseele verkehrt, solange ich in dieser Stadt lebe. Und wahrhaftig, ich hätte mir's nie träumen lassen, daß gerade eine so erhabene Persönlichkeit, wie Sie, sich zu mir herablassen würde. Diese Karten, auf denen mein Name Theodor Hinze steht, habe ich mir auch nur für den reinen Luxus zugelegt und selbst in Kupfer gestochen, weil ich mich gern in allerlei kleinen Künsten versuche. Meinem eigentlichen Beruf nach bin ich Holzschneider. In Mußestunden radire, lithographire, kupferstichle und aquarellire ich. Darüber vergeht mir der Tag, ich weiß nicht wie, und ich hätte gar keine Zeit, Visiten zu machen, auch wenn die gewöhnliche Menschheit mit einer solchen Rarität, wie ich bin, irgend etwas anzufangen wüßte. Weil man aber doch ohne freie Luft und einige Leibesübung nicht bestehen kann, habe ich mir angewöhnt, meine Spaziergänge bei nachtschlafender Zeit zu machen. Sie werden aus Erfahrung wissen, wie unbequem es ist, überall angegafft zu werden und stets einen Schwarm nichtsnutziger Gassenjungen an den Fersen zu haben. Nun, davor ist man bei Nacht sicher. Und wenn man's so Jahr aus Jahr ein getrieben hat, kommt einem diese stillere Hälfte des Erdenlebens gar nicht mehr so schreck- und spukhaft vor, ja viel traulicher und vergnüglicher, als der freche Sonnenschein, der alle Schäden und Gebrechen der armen Menschheit unbarmherzig bloßlegt, während die Nacht den Mantel der Liebe darüberbreitet.
Er lüftete sein Hütchen und sah mit einem dankbar gerührten Blick zum Himmel auf, wo sich dunkle Schneewolken jagten. Der Andere sagte kein Wort. Er hatte die Ellnbogen auf die Kniee gestemmt und das schwere Haupt auf die geballten Fäuste gestützt.
Ja, ja! fuhr der Kleine fort, indem er mit dem Aermel seines Rockes die runden Gläser des Laternchens putzte, man muß eben lernen sich nach der Decke zu strecken, das ist der Kern der ganzen Philosophie. Der himmlische Schneider hat bei der meinigen das Zeug etwas gar zu sehr gespart. Ich müßte aber lügen, wenn ich sagen wollte, daß mich darunter fröre. Und dann: was will mich hindern, mich innerlich so lang auszustrecken, daß ich an die Größten heranreiche, ja über alle diese hinauswachse, bis an die Sterne hinauf? Sehen Sie, da ist z. B. der Uebelstand, daß so ein ungebundenes Kerlchen in Duodez von Rechtswegen eine feige Memme sein müßte, weil seine Gliedmaßen in einer Nürnberger Spielzeugfabrik mehr an ihrem Platz wären, als unter den grobschlächtig ausgewachsenen sogenannten Nebenmenschen. Zu Anfang hab' ich denn auch vor jedem Nachtwächterschatten oder Neufundländergebell einen heftigen Respect gehabt und meine Nachtschwärmerei nur mit Zittern und Zagen ausgeführt. Bis ich eines Tages mein Herz in die Hände nahm und ihm eine treffliche Standrede hielt. Theodor, sagt' ich, wenn du auch an Fleisch und Bein zu kurz gekommen bist, wer will dich hindern, so viel Courage zu haben, als der größte Lümmel? Und dann stellte ich mir eine Menge Beispiele aus der Naturgeschichte vor, von Thieren, die weit zierlicher genaturt sind, als ich, und doch nicht bloß ihre Jungen vertheidigen, sondern dem Menschen gegenüber sich völlig unbekümmert ihres Lebens freuen und ihm sogar die Kirschen vom Baum und die Wurst aus dem Rauchfang wegstibitzen. Seitdem habe ich mich im Muthhaben so tapfer exercirt, daß ich unter diesen himmelhohen Häusern ganz fröhlich herumwandle, keinem Abenteuer ans dem Wege gehe und, wie Figura zeigt, selbst mit einem wirklichen Riesen so vertraulich plaudern kann, wie ein Hündchen im Käfich des Wüstenkönigs.
Hierauf schwieg er und dachte, es sei nun an dem Anderen, den großen Mund endlich aufzuthun und von seiner Person gleichfalls so weit Rechenschaft zu geben, daß die Bekanntschaft nicht bloß eine einseitige bliebe. Doch schienen sich in dem weitläufigen Gehirn des Uebermenschen die Gedanken äußerst langsam zu bewegen, in einer schwerflüssigen Melancholie wie in einem zähen Elemente schwimmend, das hinter der Schleuse seiner großen Zähne sich staute. Als er endlich doch auch sein langes Schweigen empfand, zumal der Kleine eine Bewegung machte, als ob er aufbrechen wollte, nahm er langsam die Stützen unter seinem Kinn weg, ließ die geballten Fäuste in den Schooß fallen und sagte mit dumpfer Stimme:
Das Schicksal verkleidet seine Tücken in mancherlei Gestalten. Es ist merkwürdig – ungeheuer merkwürdig –
Was ist merkwürdig? fragte der Kleine.
Daß wir Schicksalsbrüder sind und uns hier plötzlich gefunden haben. Ich habe alle Jahre meines Lebens darüber gebrütet, ob wohl je ein Menschenherz mir begegnen würde, das mich verstehen könnte, und habe von Jahr zu Jahr bitterer daran verzweifelt. Und jetzt seh' ich es mir gegenüber, und in so anderer Gestalt, als ich es mir dachte, und gleich in der ersten Stunde sagen wir uns unsere geheimsten Gedanken. Merkwürdig! – Ungeheuer merkwürdig!
Er schien wieder in seinen seufzenden Trübsinn versinken zu wollen. Plötzlich aber fuhr er auf, mit einer leidenschaftlichen Wildheit, die den Kleinen trotz seiner gut einstudirten Herzhaftigkeit zusammenfahren machte:
Wort für Wort mein Fall! Ausgestoßen von allen Tagesgeschöpfen! Dazu verdammt, angeglotzt, verhöhnt, von einem Schwarm Tagediebe verfolgt zu werden, oder in ewiger Einsamkeit herumzuschweifen, wie ein Verbrecher, der das Licht zu scheuen hat! Eine tolle Laune der Natur, die ihr einmal im Rausch entschlüpft ist und deren armselige Verkörperung nun sehen mag, wie sie mit sich fertig wird! Und so immer herumschleichen, nutzlos und ziellos, und die Fäuste gegen den Sternenhimmel ballen und fragen, wo der sogenannte milde Vater wohnt, der seinem allzusehr in die Länge und Breite geschossenen Sohn den Zugang zu allen Lebensfreuden versperrt hat, weil er überall die Thüren zu niedrig und die Krüge und Schüsseln zu klein gemacht hat! Ist Ihnen nicht auch tausendmal der Gedanke gekommen, wie denn Ihr Schicksal zu der gepriesenen Gerechtigkeit der Weltregierung stimmen möchte?
Der Kleine antwortete nicht sogleich. Er konnte sich von seinem Erstaunen nicht so bald erholen, diesen seinen neuen Bekannten, den er seinem ganzen Aufzug nach für einen Holzknecht oder Flößer gehalten hatte, in so gewählten Ausdrücken seinem Herzen Luft machen zu hören. Verzeihen Sie, sagte er endlich, wollen Sie mir nicht zuvor sagen, mit Wem ich eigentlich die Ehre habe?
Was kann Ihnen daran liegen! brummte der Andere mürrisch. Meine Name ist Gottseidank verschollen. Er hat lange genug auf großen Anschlagszetteln figurirt, nebst einer schnöden Abbildung meiner Gestalt, und darunter die Notiz, wie viel Eintrittsgeld man auf dem ersten Platz zu zahlen habe, wie viel auf dem zweiten, Kinder und Militärpersonen die Hälfte. Begreifen Sie nicht, daß man froh ist, seinen eignen Namen vergessen zu können, wenn man ihn so lange auf allen Jahrmärkten vom Ausrufer hat ausschreien hören, mit dem ehrenvollen Zusatz, diesen Namen führe der größte Mann der Welt, und dann, wenn die Bude voll war, hereinkommen müssen und am Pranger stehen und all die einfältigen Bauerngesichter und die Schulbuben und Kindsmägde um sich herum, und mit keinem Fußtritt sich dagegen wehren dürfen, wenn das Gesindel zutraulich wurde und einem das Bein betastete, ob es auch ein richtiges Riesenbein sei, mit Sehnen und Muskeln, nicht etwa ein ausgestopfter Balg mit einem Pfahl in der Mitte? Sehen Sie, Herr, das habe ich durchmachen müssen, zehn ganze Jahre lang. Ist das auch ein Menschendasein, für nichts Anderes auf der Welt zu sein, als angegafft zu werden? nichts zu thun und zu verrichten, als groß zu sein, ein paar Schuh über das gewöhnliche Militärmaß zu haben und sich dafür noch bewundern zu lassen? O himmlische Gerechtigkeit!
Ja wohl! nickte der Kleine ernsthaft vor sich hin. Glauben Sie nur nicht, in meinen Kopf ginge das nicht hinein, was Sie mir da sagen. Ich selbst bin zwar von einem ähnlichen Schicksal verschont geblieben. Aber wenn ich so in Zeitungen las von ganz kleinen Menschen, die zur Schau gestellt wurden, hat es mich jedesmal geschüttelt, als streckte sich auch nach mir eine grobe, habgierige Hand aus, um mich auf einen Tisch zu stellen und wie ein lebendiges Spielzeug herumzuzeigen. Davor hat mich, wie gesagt, meine gute Mutter und auch mein gnädiger Schöpfer bewahrt. Warum haben Sie sich's denn gefallen lassen? Sie sind doch stärker als ich. An Ihrer Stelle wäre ich ausgebrochen aus meinem Käfich, wie ein brüllender Löwe, und hätte mich in die erste beste Wildniß geflüchtet.
Der Große lachte gewaltsam, was wie das rauhe Geheul eines großen Hundes klang.
Der gnädige Schöpfer! Es scheint, daß er sich unter seinen verpfuschten Creaturen lieber derer erbarmt, die ihm zu klein, als die ihm zu groß gerathen sind. Die, denkt er, mögen sich nur allein durchschlagen. Sie haben ja die Fäuste dazu. Das heißt, wenn er überhaupt ein Wort mitzureden hat bei dem, was die blinde und gedankenlose Mutter Natur in dieser Welt anrichtet. Wenn ich so manches Mal mit ihm gehadert habe, daß er mich zu einem solchen Schaustück und nichts Weiterem gemacht, und er blieb stockstill und ließ mich immer allein reden, so respectlos es auch klang, dachte ich mir oft: der arme Mann – wenn er überhaupt vorhanden ist – mag wohl auch nicht viel besser dran sein, als mancher Hausvater, der ein böses Weib hat und des Hausfriedens wegen sie machen läßt, wie sie's für gut findet. Wenn er könnte, wie er wollte, würde er der alten Mutter Natur, die es manchmal toll genug treibt, auch wohl den Meister zeigen. Sie ist ihm aber zu stark, da muß er unterducken, gerade wie mein leiblicher Vater, der hat auch nicht zu mucksen gewagt, wenn meine Mutter nur mit dem Finger drohte. Da begreifen Sie wohl, daß ich noch weniger daran denken konnte, meinen eigenen Willen zu haben.
Und Ihre leibliche Frau Mutter hat es übers Herz bringen können –
Uebers Herz? Wissen Sie so gewiß, ob sie auch ein Herz hatte? Ich weiß nicht, wie es die anderen Weiber damit halten und ob das, was man so das Herz nennt, bei ihnen mehr ist, als eine Saugpumpe, die das Blut durch die Adern treibt. Bei der Frau aber, die mich in die Welt gesetzt –
Er hielt inne, und der Kleine sah deutlich, daß eine Art Krampf ihm die Brust zusammenzog. Eine dicke Ader an seiner Stirn schwoll gefährlich an, er knirschte mit den Zähnen und schlug mit der Faust gegen die Steinplatte, auf der er saß.
Nein, knurrte er endlich, 's ist ein Unsinn mit dem vierten Gebot. Vater und Mutter ehren – das mögen Die thun, deren Väter und Mütter ehrenwerth und ehrwürdig sind. Die meinen – sie ruhen jetzt im Grabe, und wenn's ein jüngstes Gericht giebt, ich will nicht ihren Ankläger machen – das ist Alles, was ich für sie thun kann, obwohl sie's nicht um mich verdient haben. Denn schon daß sie mich erzeugt haben, war nichts Anderes, als eine elende und lieblose Speculation. Sie dachten sich Nichts dabei; in ihren groben Köpfen war nicht Platz für so viel Hirn, als man braucht, um sich seine Pflichten gegen Kinder und Enkel klar zu machen. Zumal mein Herr Vater pflegte sich mit Nachdenken nicht in Unkosten zu setzen. Er war der Abkömmling einer Familie, die allezeit ihren Stolz in eine ungemeine Leibesgröße gesetzt hatte. Aber die Voreltern waren dabei keine Tagediebe gewesen, sondern ehrliche Handwerker, Zimmerleute oder Grobschmiede, und immer war nur ein einziger Sohn dagewesen, das Geschlecht der Magnussen fortzusetzen. Als ob die ganze Naturkraft sich auf Einmal in dem einen unförmlichen Schößling erschöpft hätte. Erst mein Vater schlug aus der Art, nicht in der Größe, in der er den Großvater noch übertraf, sondern in dem Abscheu gegen ehrliche Arbeit. Statt am Amboß zu stehen und die schweren Eisenstangen zu regieren, verfiel er darauf, aus seiner Figur Metier zu machen. Ein verschmitzter Jude redete ihm zu, mit ihm das Weite zu suchen und sich für Geld sehen zu lassen. Und wahrhaftig, er bildete sich noch etwas ein auf seine Schande. Am Pranger stehen kam ihm nicht bloß lustig und einträglich vor, sondern ehrenvoll. Und wie er dann auf einer Messe eine Bude fand, in der eine starke Frau mit Centnergewichten Ball spielte, und ein lebendiges Kalb auf ihrem ausgestreckten Arm trug, ließ er sich bereden, aus purem Eigennutz dieser nicht sehr lieblichen jungen Dame seine Hand anzubieten, um einen Sohn zu bekommen, der das doppelte Eintrittsgeld werth wäre. Nun, damit ist es ihm freilich geglückt, aber er hat es büßen müssen. Seine guten faulen Tage waren vorbei. Wie ein Lastthier hat er die Frau bedienen müssen und weder einen Dank noch einen freundlichen Blick bekommen, da sie ihn trotz seiner Länge verachtete und ihm ins Gesicht sagte, er sei ein Schwächling. Er war es auch. Er hatte seine übermäßigen Glieder niemals geübt, weil sie ihm ja ohnehin zu leben schafften und er nur für die Größe, nicht für die Stärke auf dem Zettel gepriesen wurde. So verfiel er dann sichtlich, gewöhnte sich das Trinken an und starb eines schönen Tages, wie ein hohler Baum zusammenbricht, ohne daß ein besonderer Sturm dazu mithilft. Glauben Sie, daß seine Wittwe nur Eine Thräne um ihn geweint hätte? Sie war ja versorgt, selbst nachdem sie so fett geworden war, daß sie ihres kurzen Athems wegen nicht mehr auftreten konnte. Ich war ja da, ich, das liebe Söhnchen, das seinem Papa so herrlich über den Kopf gewachsen war. Nun, da hab' ich denn, um meine Frau Mutter zu ernähren, arbeiten müssen, will sagen, zehn Stunden jeden Tag mich anglotzen lassen. Sie wundern sich darüber. Sie denken, ich hätte doch, wenn ich nur gewollt hätte, weglaufen und zum Großpapa mich an die Schmiedeesse stellen können. Aber Sie haben nicht das Glück gehabt, meine Frau Mutter zu kennen, oder sonst eine starke Frau zur Mutter zu haben. Wissen Sie, wie das demüthigt, als ein erwachsener Mensch von seiner eigenen Mutter – aber nein, das soll nie über meine Lippen kommen! Das Eine nur wundert mich jetzt selbst, daß ich es ertragen habe, ohne mich an den nächsten besten Baum aufzuhängen.
Er verstummte wieder, und dem Kleinen wollte kein einziges Wort einfallen, das ihm passend erschienen wäre zum Trost für einen so übermenschlichen Kummer. Nach einer langen Pause, während es leicht zu schneien anfing, so daß Herr Hinze sein Röckchen fester knöpfte, weil ihn fror, sagte der Große endlich: Lassen wir sie ruhen! Ich habe ihr vergeben. Zumal ihre letzten Jahre so elend waren durch die Schuld ihres erschrecklichen Leibesumfangs, daß selbst ihr Todfeind Mitleid fühlen mußte. Wem ich aber nicht vergeben kann, das ist die alte Stiefmutter, die Natur, und wenn ich mit der einmal unter vier Augen zu reden käme, ich würde ihr Dinge sagen – Dinge –
Er hob die beiden Fäuste und wiegte sie langsam vor sich hin. Dann stand er auf.
Es giebt noch viel Schnee diese Nacht, sagte er. Um mich ist mir nicht bange, wenn ich auch noch einen ziemlichen Weg zu machen habe. So ein wandelnder Thurm schneit nicht so leicht ein. Sie aber, Herr Hinze, könnten leicht im Schnee stecken bleiben. Ich will Sie nach Hause begleiten. Wenn es Ihnen recht ist, sind wir nicht das letzte Mal beisammen gewesen.
Es wird mir eine Ehre und ein Vergnügen sein, Herr Magnussen, die Bekanntschaft fortzusetzen, erwiderte der Kleine verbindlich, indem er sich bemühte, mit seinem Begleiter Schritt zu halten. Was Sie mir da von Ihrem Leben mitgetheilt haben, hat mich traurig gemacht. Es thut mir jedoch auch wieder wohl, daß Sie mir Ihr Vertrauen geschenkt haben. Unsere Schicksale sind so ähnlich und doch wieder ganz verschieden. Und fast scheue ich mich, Ihnen zu erzählen, wie viel besser ich es gehabt habe, weil es Ihren Groll gegen die Vorsehung nur noch vermehren muß, als ein neuer Beweis für die Ungerechtigkeit der Weltregierung. Vielleicht aber kommt die Ausgleichung hintennach.
Im Jenseits? Erlauben Sie mir die Bemerkung, daß das ein schlechter Trost ist. Selbst wenn es ein Paradies gäbe, woran ich nicht glaube, würde mir's drüben besser gehen, als hier? Wenn ich bleibe, der ich bin – und das gehörte doch zu einer wirklichen Auferstehung – werden mich nicht die Engel im Himmel dermaleinst wegen meiner Sehenswürdigkeit genau so angaffen, wie die Bauern auf der Messe? Und selbst wenn dort drüben das Mißverhältniß aufhört, wer entschädigt mich für das niederträchtig verhunzte Erdenleben, das durch keine himmlischen Freuden wieder gut gemacht werden kann?
Nein, sagte der Kleine, so habe ich's nicht gemeint. Sie sind noch jung. Wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf?
Zweiunddreißig.
Nun sehen Sie, drei Jahre jünger als ich. Wer weiß, was das Leben Ihnen noch bringen kann! Am Ende finden Sie noch eine gute Frau, kaufen eine Schmiede und führen das Leben Ihrer Vorväter, die doch auch mit ihrem Loose zufrieden waren.
Der Große blieb stehen und stieß ein wildes Lachen aus. Eine Frau! rief er. Wo wird ein richtiges Frauenzimmer, das nicht selbst eine Vogelscheuche ist, an einem Ungeheuer meinesgleichen Gefallen finden? Und wenn ich Einer begegne, die mir bis an die Schultern reichte, halten Sie mich für gewissenlos genug, daß ich sie zu meinem Weibe machen möchte, um einen Sohn aufwachsen zu sehn, der mir die Frage ins Gesicht wirft: Hast du das Herz gehabt, dein eigenes Unglück fortzupflanzen? Hast du nicht selbst schwer genug daran zu tragen gehabt?
Der Kleine blieb die Antwort schuldig. Er stieß nur mit seinem Stöckchen heftig gegen die Steine, drückte den Hut tiefer ins Gesicht und hustete, wie Einer, der einen harten Bissen nicht hinunterwürgen kann. Dann gingen sie schweigend weiter, bis sie zu einem hohen Hause kamen, vor welchem Herr Hinze stehen blieb. Es lag in einer engen Nebengasse, die zwei Hauptstraßen verband, war aber luftig genug, da gegenüber eine lange Mauer sich hinzog, über welche die Bäume eines der schönsten Gärten der Stadt, jetzt freilich kahl und vom feuchten Nebel geschwärzt, herüberragten.
Hier wohne ich, sagte der Kleine, indem er einen Schlüssel aus der Tasche zog und das Laternchen gegen die Thür strahlen ließ. Das Schlüsselloch war so hoch über seinem Kopf angebracht, daß er es mit keinem Recken und Strecken hätte erreichen können. Dafür fand sich in dem anderen Thürflügel ein schmales, niedriges Pförtchen ausgeschnitten, gerade groß genug, daß eine so zierliche Person sich durchschmiegen konnte, worauf sich die Füllung wieder kaum sichtbar verschloß.
Herr Magnussen, sagte der Kleine, ich bedaure, daß ich Sie nicht einladen kann, noch ein wenig bei mir einzutreten. Ich zweifle aber, ob mein Separateingang Ihnen conveniren würde, und möchte meinen Hauswirth zu dieser Stunde nicht aus dem Schlaf klingeln. Wenn Sie vielleicht morgen Nachts wieder des Weges kämen, würde ich schon dafür sorgen, daß Sie durch das große Thor hereinkönnten. Aber freilich – ich wohne im dritten Stock in der Mansarde – ob es ganz ohne Bücken abgehen wird, bezweifle ich. Mein Wirth, der nicht der Größte ist, kann die Zimmerdecke mit der ausgestreckten Hand erreichen. Aber Sie können ja sitzen. Es wäre sehr freundlich von Ihnen, wenn Sie mich besuchen wollten; mir scheint, wir hätten uns noch Mancherlei zu sagen, und auf Ihre letzten Aeußerungen möchte ich wohl etwas erwidern, wozu es der Schneewind heute nicht kommen läßt. Darf ich also hoffen –
Ich werde kommen, wenn es Ihnen nicht unlieb ist, warf der Große in mürrischem Tone hin. Sie müssen dann auch einmal meine Wohnung beehren – sie liegt eine kleine Stunde vor der Stadt – zu dieser Jahreszeit nicht sehr behaglich für verwöhnte Städter – aber ich sorge schon, daß Sie bequem hinkommen. Gute Nacht, Herr Hinze!
Gute Nacht, Herr Magnussen! Auf Wiedersehen!
Damit schloß der Kleine das Thürchen auf, nickte seinem Begleiter noch einmal freundlich zu und ließ ihn dann im Dunkeln unter dem immer dichter fallenden Schnee seinen einsamen Weg fortsetzen.
*
Am nächsten Morgen sprang der Wind um. Eine klare Herbstsonne schmolz den Schnee von den Gassen weg; als Abends der Mond kam, konnte er von einem wolkenlosen Himmel herniederstrahlen. Doch war die Nacht wieder kalt, und wieder saßen die Schutzmänner lieber in den warmen Schenken, als daß sie im Freien herumpatrouillirt wären. So konnte Herr Magnussen, als er gegen Mitternacht die Stadt betrat, unbehelligt im Schatten der Häuser hinwandeln, da die Schildwachen, die erschrocken das Riesenwunder vorbeikommen sahen, für einen solchen Fall keine besondere Instruction hatten und nur hinterdrein bei der Ablösung einen confusen Rapport abstatteten, der sie in den Verdacht brachte, auf ihrem Posten geträumt zu haben. Als aber der Gewaltige das Haus erreicht hatte, worin der Kleine wohnte, hörte er aus einem der obersten Fenster das bekannte Knabenstimmchen einen Guten Abend! herunterrufen und die Weisung, zu warten; es werde gleich geöffnet werden. Bald darauf that sich das kleine Thürchen auf, und Herr Theodor Hinze in eigner Person reichte einen großen Hausschlüssel hinaus, mit welchem Magnussen die schwere Pforte sich selber öffnen sollte. Dieser fand das Männlein, das ihn fröhlich bewillkommte, mit der Laterne im Hausflur und folgte ihm die Treppen hinauf bis in den obersten Stock. Hier galt es freilich den Kopf zwischen die Schultern zurückziehen, denn an Aufrechtstehen war nicht zu denken. Was aber das Zimmer, in das sein kleiner Freund ihn führte, an Höhe vermissen ließ, ersetzte es an Länge und Breite. Zwei niedrige viereckige Fenster ließen das Mondlicht hereinstrahlen, durch weiße Vorhänge nur wenig gedämpft. In der Mitte stand ein niedriges Tischchen, mit kleinen Stühlen umstellt; an der einen Wand ein Himmelbettchen mit geblümtem Kattun umkleidet, eine kleine Kommode mit Perlmutter eingelegt gegenüber, alles andere Geräth in demselben Maßstabe, die Wände mit zierlich eingerahmten Holzschnitten behangen, Alles blank und sauber wie in einem Puppenzimmer zu Weihnachten. Das Einzige, was an ein erwachsenes Leben erinnerte, war ein derber Eichentisch zwischen Bett und Fenster, mit kleinen Holzblöcken und dem mancherlei Werkzeug bedeckt, das ein Holzschneider zu seiner Arbeit gebraucht. Darüber hing in einem großen Messingbauer ein Kanarienvogel, der trotz der späten Stunde munter zu schlagen anfing, als das Laternchen wieder hereinleuchtete.
Ich habe hier im Mondschein auf Euch gewartet, sagte der Kleine. Es ist so hübsch, wie der Garten drüben funkelt und blitzt. Jetzt aber will ich die Lampe anzünden. Ihr sollt Euch in der Zwergenwirthschaft ordentlich umsehen können. Aber setzt Euch erst. Mir wird angst und bange, wenn ich Euch so gebückt stehen sehe, als würdet Ihr nächstens mit den Schultern die ganze Zimmerdecke in die Höhe heben.
Magnussen warf einen Blick auf die Kinderstühlchen, das Bettstättchen und das eben so winzige Sopha, das neben dem warmen Ofen im Winkel stand. Dann ließ er sich, ohne ein Wort zu sagen, auf dem Rehfell vor dem Himmelbettchen nieder, lehnte den Rücken gegen die Bettlade und streckte die Beine lang vor sich hin. Machen Sie sich keine Sorge um meine Bequemlichkeit, sagte er. Meine Gliedmaßen sind hart gewöhnt, und ich befinde mich hier ganz gut. Sie wohnen recht artig für Ihre Verhältnisse.
Der Kleine hatte ein zierliches Lämpchen angezündet und auf den Tisch mitten im Zimmer gestellt, das Laternchen auf die Kommode. Er sah sich jetzt mit einem selbstgefälligen Lächeln im Zimmer um und an seiner eigenen kleinen Person hinab. Diese steckte in einem türkischen Schlafröckchen mit rothem Futter, und ein rothes türkisches Mützchen saß verwogen auf dem runden Kinderkopf.
Ihr werdet mich für einen Gecken halten, sagte er lächelnd. Aber was thut nicht die Gewohnheit! In diesen Anzug hat mich meine gute Mutter gesteckt, die mich außerordentlich hübsch darin fand. Nun ist sie schon lange todt, aber ich kann mich nicht entschließen, zu Hause ein anderes Costüm zu tragen, obwohl es für einen Künstler vielleicht nicht recht passend ist. Wenn ich Euch nur einen besseren Sitz anzubieten hätte. Aber auch der Schneider, mein Hauswirth, ist nicht für so hohe Gäste eingerichtet. Ich bin zu ihm gezogen, weil unten ein Zettel hing: in diesem Hause seien Ateliers zu vermiethen. Aber du lieber Heiland! als ich sie besah, merkte ich, daß sie nur für die gewöhnlichen mittelmäßigen Künstler paßten, die sich an zehn Fuß hohen Leinwanden versündigen. Mir war nicht geheuer in den himmelhohen Glaskästen. Da schlug er mir diese Mansarde vor, und hier lebe ich nun seit zwölf Jahren seelenvergnügt und habe das schönste Nordlicht für meine Holzstöcke und im Sommer die Aussicht ins Grüne, und wenn mein Hansel im Bauer dort einmal nicht bei Stimme ist, schlagen die Finken und Goldamseln drüben, daß ich mir kein besseres Concert wünschen kann. Ihr müßt mich einmal im Frühling besuchen, da hab' ich's hier wie ein verwunschener Prinz.
Der Andere hörte mit einem tiefsinnigen Gesicht dem munteren Geschwätz des Kleinen zu, der jetzt ein Stühlchen herangerückt hatte und sich vertraulich zu ihm setzte.
Nehmt es mir nicht übel, sagte er, daß ich »Ihr« zu Euch sage. Ich fühle eine so herzliche Zuneigung zu Euch, daß mir das fatale Sie nicht recht über die Lippen will, und Euch das Du anzubieten, seid Ihr mir zu groß. Ihr mögt es damit halten, wie Ihr wollt. Wenn ich es Euch nur sonst ein bischen comode machen könnte – ich meine nicht Eurem Leibe, sondern Eurem Gemüth, das an einer bösen Schwermüthigkeit zu laboriren scheint. Ihr habt es freilich nicht so gut gehabt in Eurer Jugend, wie ich in der meinen; und daß Ihr jetzt in den angenehmsten Verhältnissen lebt, ist mir auch nicht wahrscheinlich. Aber als der Abkömmling einer Schmiedefamilie solltet Ihr doch das alte Sprichwort beherzigen: Jeder ist seines Glückes Schmied. Ihr habt vielleicht nur nicht das rechte Eisen dazu gefunden, denn an Kräften, den Hammer zu schwingen, kann es Euch doch nicht fehlen.
Wieder antwortete der Große nur mit einem Seufzer und wandte das Gesicht ab, dem hellen Fenster zu, an welchem der Kanarienvogel so leidenschaftlich schmetterte, als ob der riesige Fremdling ihm ein Grauen einflößte, von dem er seine kleine Brust befreien müsse.
Ihr habt da einen munteren Schlafkameraden, Herr Hinze, sagte er. Wird Euch das lustige Singen nicht manchmal zu viel? Ich – Ihr werdet mich auslachen, aber es ist die Wahrheit – ich bin ein bischen nervös und kann gewisse Töne nicht gut vertragen. Es ist lächerlich für einen solchen Unmenschen, wie ich bin, aber ich hab's von meinem Vater.
Ich will ein Tuch über den Käfich hängen, sagte der Kleine und sprang sofort auf. Mir selbst wird es nie zu viel, auch bin ich kerngesund. Den Vogel aber hab' ich mir aus dem Ei großgezogen, gleichsam als einen Schicksalsgefährten. Wir beide gehören nicht ins Freie unter andere gefiederte oder federnlose Zweifüßler, und müssen sehen, wie wir unser apartes Loos uns erträglich machen. Seht, das Stückchen Zucker, das ich ihm zwischen die Stäbe stecke, das ist mir mein bischen Kunstfertigkeit. Wenn ich über Tag an meinen Holzstöcken arbeite, höre ich ihn knabbern und den Schnabel an seinem süßen Futter wetzen. Da denk' ich: dir wäre vielleicht wohler, alter Bursch, wenn du ein Habit trügest, wie andere landesübliche Vögel, und jetzt drüben im Garten mitzwitschern könntest, die Cour schneiden, ein Nest bauen und eine junge Brut heranfüttern. Da du aber einmal eine goldgelbe Rarität bist und nur aus Zufall unter die übrige Vogelwelt hierherverschlagen, mußt du die Sache möglichst von der guten Seite nehmen, dir deine Gefangenschaft versüßen und dabei singen, so laut du kannst, daß du deine unerfüllbaren Wünsche betäubst, die dir manchmal das Herz schwer machen. Seht, dann werde ich selber ganz still in mir, und wenn ich in die Straße hinuntersehe, wie die mittelmäßigen Menschen, die ich manchmal beneiden möchte, ihr hartes Dasein fortschleppen, und von meinen Schneidersleuten höre, was man Alles erleben kann, wenn man das Militärmaß hat –
Er brach ab und pfiff leise vor sich hin. Dann sprang er wieder auf, trippelte zu einem Wandschränkchen und nahm eine kleine Flasche heraus, die mit irgend einer Flüssigkeit gefüllt war.
Ich habe nichts Rares, womit ich Euch aufwarten könnte, sagte er, die Flasche und ein Liqueurgläschen auf den Tisch stellend. Hier aber ist ein sehr guter Pomeranzenschnaps. Von dem nippe ich zuweilen, wenn mir etwas schwach ums Herz wird. Und da sind kleine Biskuits, die meine Schneidersfrau selbst gebacken hat. Ihr könnt auch aus der Flasche trinken, wenn Ihr das Gläschen verachtet.
Ich danke! brummte Magnussen. Ich rühre nie ein spirituöses Getränk an. Seit ich gesehen habe, wohin es meinen Vater gebracht hat, daß er Trost in der Flasche suchen mußte, ist nur Wasser über meine Lippen gekommen.
Der Kleine stellte die Flasche sofort wieder in den Schrank zurück.
Auch in diesem Punkte sind wir Leidensbrüder, sagte er mit leiserer Stimme. Einer sonderlichen Zärtlichkeit von Seiten meines Vaters kann auch ich mich nicht rühmen. Zu verdenken war es ihm freilich nicht, daß ihm ein solcher Stammhalter nicht viel Freude machte. Ihr müßt nämlich wissen: obwohl er selbst ein kleiner Mann war – oder vielleicht gerade deßwegen – hatte er immer eine Art neidischer Vorliebe für großgewachsene Menschen, besonders für schöne große Frauenspersonen. Seine Beschäftigung brachte ihn auch mit manch Einer in Berührung, die er dann im Stillen heftig verehrte. Er war nämlich nichts Besseres noch Schlechteres als – Friseur. Und nun stellt Euch das Unglück vor, als er sich sterblich in meine Mutter verliebte, die einen ganzen Kopf kleiner war, als er selbst. Es war freilich kein Wunder, denn sie hatte das hübscheste Gesicht, das man nur sehen konnte, und dazu Haare wie lauter Goldfäden – die einzige Schönheit, die ich von ihr geerbt habe, als Knabe nämlich; denn jetzt ist von meinen Locken Nichts mehr übrig. Nun, da heirathete er sie. Er hatte sie in seinem Geschäft kennen lernen, als sie ihm eines Tages künstliche Blumen aus Haaren gefertigt – wie damals Mode war – zum Verkauf anbot. Sie war eine Meisterin in dieser Kunst; seht, da hängt noch ein Kranz, den sie aus den Haaren unsrer sämmtlichen Familie geflochten, – dort an der Wand in dem goldenen Rähmchen. Das aber giebt nur einen schwachen Begriff von dem, was sie vermochte. Und da sie auch im Uebrigen eine gute und kluge kleine Frau war und ihren Mann ganz lustig zu pantoffeln wußte, war er recht glücklich mit ihr, zumal die beiden Mädchen, die sie ihm brachte, eine für Frauenzimmer noch immer annehmliche Größe hatten. Sie haben auch wirklich Beide Männer gefunden. Nun aber wünschte er sich über Alles einen Sohn, und wie der endlich zur Welt kam – meine Wenigkeit –, war's ein richtiger Däumling, der Himmel weiß, wie's damit zuging. In einer alten Pappschachtel, in der mein Vater seine Papilloten verwahrt hatte, wurde mir in Baumwolle meine erste Wiege gemacht. Mehr als Einmal soll ich verloren gegangen sein, solch ein armseliger Heuschreck war ich. Die Mutter tröstete den Vater: ich würde gewiß noch einen Schuß thun und ihnen Beiden auf einmal über den Kopf wachsen. Und so pflegte sie mich mit doppelter Zärtlichkeit, und ich war eine recht zufriedene kleine Puppe, da mir Nichts abging, bemühte mich auch, an Gnade und Größe vor Gott und den Menschen zuzunehmen, bis ich dann im vierten Jahr eine Krankheit bekam und viele Monate liegen mußte, da war's vorbei mit den hochstrebenden Hoffnungen. Von da an hat der Vater gethan, als ob ich gar nicht vorhanden wäre; er fragte nie nach mir, nannte nie meinen Namen; wenn ich ins Zimmer kam, sah er über mich weg, wie über eine persönliche Beleidigung, die ein erhabener Geist am besten ganz ignorirt. Das machte meiner Mutter großen Kummer, und sie suchte mich heimlich schadlos zu halten. Als es aber nicht anders mit mir wurde und die Gevatterinnen und Kundinnen des Vaters mich wie ein Spielzeug ansahen und nicht immer die zartesten Scherze machten, wurde sie ganz erbittert auf die grobe große Welt, die meine Liebenswürdigkeit nach der Elle maß, und, that einen Schwur, mich überhaupt vor Niemand mehr sehen zu lassen. Zu einem bloßen sonderbaren Spielzeug, einem Naturwunder, das man am liebsten gleich in Spiritus steckte, sei ich zu gut. Sie wisse, daß ich ein tapferes kleines Mannesherz und ein feines Gemüth in meinem zarten Leibe trüge, und was der zärtlichen und erbosten Reden mehr waren. So hielt sie mich über Tag in ihrem Hinterstübchen, das kein Mensch betreten durfte außer unsrer alten Magd, in deren Augen ich auch für einen completten Menschen galt, da sie nur durch die Brille der Mutter zu sehen gewohnt war. Diese beiden guten Seelen haben mich erzogen, mir meine Kleider genäht, meine Schuhe gestickt und Nachts, wenn kein Spötterauge mehr wachte, mich spazieren geführt, so daß es mir auch an frischer Luft nicht fehlte und ich insbesondere von früh an gegen die Nachtluft abgehärtet wurde. Was sonst in der Welt vorging, drang niemals bis zu mir. Ich hatte keine Spielkameraden, keine Lehrer, keine Knabenliebschaften. Was ich lernte, hatte ich von meinem Mütterchen; es war nicht viel über Lesen und Schreiben und ein bischen Religion, denn nicht einmal eingesegnet konnte ich werden, da es ein Aufsehen in der Kirche gemacht und alle Andacht gestört hätte, wenn solch ein dreispannenlanger junger Christ an den Tisch des Herrn getreten wäre; und dies war das Einzige, was meiner guten Mutter Herzweh machte, bis ein wackerer Pastor, dem sie sich eröffnete, die heilige Handlung ganz im Stillen zu Hause an mir vollzog. Im Uebrigen fand sie, daß mir gar nichts abgehe, wenn ich die Welt nur durch den kleinen Operngucker kennen lernte, den sie mir eigens hatte machen lassen und mit dem ich manche müßige Stunde aus dem Fenster meines sonnigen Gefängnisses spazieren sah. Der Vater starb, die Schwestern machten Hochzeit, von mir war bei alledem nicht die Rede. Da hätte es mir auf meine Weise eben so schlimm gehen können, wie Euch; denn sich zu wenig zeigen dürfen, ist fast so übel für ein Menschenkind und seinem irdischen Wohl so hinderlich, wie sich zu viel zeigen müssen. Aber ein glücklicher Zufall fügte es, daß, als meine Mutter Wittwe geworden war und ein paar überflüssige Zimmer zu vermiethen hatte, ein geschickter Holzschneider bei uns einzog. In dessen Werkstatt stahl ich mich, wenn er nicht zu Hause war, und weil ich von Kind auf eine große Vorliebe und Geschicklichkeit gezeigt hatte, Alles, was ich sah, nachzuzeichnen, wohl ein Erbtheil meiner kunstfertigen Frau Mutter, trieb mich's bald, auch die Holzschneidekunst zu probiren, und siehe, es ging mir auch damit ganz leicht von der Hand.
Da bin ich denn, da das Vorhandensein meiner geringen Person vor unserm Miether doch auf die Länge nicht zu verleugnen war, zuletzt ganz ordentlich bei ihm in die Lehre gegangen und habe es so weit gebracht, daß ich mir hernach, als ich allein in der Welt übrig blieb, mein bischen Brod damit verdienen konnte. Ja, weit mehr, als die leibliche Nahrung. Was wäre in meiner Mutterseeleneinsamkeit aus mir geworden, wenn ich keine Arbeit gehabt hätte, die mir lieb war! Ich hätte mich am liebsten sogleich einem anatomischen Cabinet überliefern und einbalsamiren lassen können, um wenigstens der Wissenschaft einen Dienst zu leisten, da ich mir selbst nichts mehr werth gewesen wäre!
Er sprang wieder auf, lief nach dem Schränkchen und holte einen Kasten heraus, den er, da er ganz angefüllt war, mit einiger Mühe herbeischleppte. Seht, sagte er, da sind meine sämmtlichen Werke von einem ganzen Dutzend Jahre in sauberen ersten Abdrücken auf Cartonpapier aufgezogen. Ihr werdet sehn, daß ich nicht faul gewesen bin. Es sind recht hübsche Blätter darunter aus berühmten illustrirten Werken. Wollt Ihr sie ein wenig durchsehen?
Er öffnete den Kasten und hielt das oberste Blatt dem stummen Gefährten vors Gesicht, nachdem er die Lampe so gestellt hatte, daß sie ihr Licht auf den Holzschnitt warf. Der Große aber schüttelte düster den Kopf und schob das Blatt mit dem Rücken der Hand zurück.
Nehmt es mir nicht übel, sagte er, ich verstehe aber von solchen Künsten nichts. Ich weiß nur so viel, daß Ihr ein glücklicher Mensch seid und ich ein elender. Aber glaubt nicht, daß ich es Euch nicht gönne, wenn es mir auch auf die Länge etwas beklommen wird in Eurer Werkstatt. Wenn Ihr die meinige kenntet, würde es Euch nicht wundern. Und somit ist es besser, ich sage Euch gute Nacht und gehe meiner Wege.
Herr Magnussen, sagte der Kleine zögernd und schob den Kasten sacht unters Bett, Ihr habt mir gestern versprochen, mich in Eure Wohnung zu bringen. Wenn Ihr es noch vorhabt, wie wär's, wenn ich gleich heute Nacht Euch meine Gegenvisite machte? Wir haben schönen windstillen Mondschein; wer weiß, ob es nicht morgen wieder stürmt und schneit! Wollt Ihr also, so bin ich in zwei Minuten fertig. Ich will nur meinen Schlafrock ausziehen.
Wie Ihr wollt! versetzte der Andere, immer den Blick zu Boden gekehrt. Ihr werdet freilich eine unwirthliche Höhle finden und nichts darin von den hübschen Sachen, die Ihr um Euch herum aufgespeichert habt. Aber ein Schelm giebt Mehr als er hat.
Er richtete sich langsam auf, ging mit gebücktem Haupt ans Fenster, während der Kleine sich eilig umzog, und sah starr in die Mondnacht hinaus. Eine Thurmuhr schlug Eins. Der Vogel rührte sich in seinem verhangenen Käfich, der Kleine pfiff leise vor sich hin, während er die Pantöffelchen mit seinen Däumlingsstiefeln vertauschte, dann knöpfte er das Ueberröckchen zu und stieß mit dem Stock gegen den Fußboden. Wenn es gefällig wäre –, sagte er höflich und ergriff die Laterne, seinem hohen Gast hinauszuleuchten. So schlichen sie auf den Zehen die Treppe wieder hinunter.
*
Unten vorm Hause aber, als er die große Thür hinter ihnen verschlossen hatte, blieb der Riese zögernd stehen, anstatt sofort den Weg anzutreten.
Ich möchte Euch einen Vorschlag machen, Herr Hinze, sagte er. Es würde Euch schwer fallen, mit mir Schritt zu halten, und ich bin es nicht gewohnt, meinen Tritt nach dem eines Kameraden einzurichten. Wenn Ihr also nichts dagegen hättet, könntet Ihr Euch auf meine Schulter setzen, und ich trüge Euch den ziemlich weiten Weg so sicher und bequem, als ob Ihr auf einem großen Gaul säßet.
Oder wie ein Affe auf einem Elephanten, rief der Kleine sehr belustigt aus. Nein, Herr Magnussen, es ist mir gar nicht ehrenrührig, mich dieses Transportmittels zu bedienen. Ich bin da um so näher an Eurem Ohr und brauche meine Stimme nicht so anzustrengen, wenn ich Euch unterwegs irgend eine unbedeutende Bemerkung machen will.
Sofort bückte sich der Große zu ihm hinab, hob ihn vorsichtig auf und setzte ihn auf seine breite linke Schulter, indem er ihm einschärfte, sein rechtes Aermchen nur recht fest ihm um den Hals zu legen, seine Füße wolle er mit seiner linken Tatze sorgsam festhalten. Er nahm ihm dann das Stöckchen ab, das ihm da oben im Wege war, und schritt alsbald so gewaltig aus, daß der Kleine fröhlich bemerkte, es sei das die herrlichste Art, von der Stelle zu kommen, die er je erprobt habe. Da nun die Gassen völlig menschenleer waren, kamen sie ohne alles Aufsehen bald ins Freie. Da lag die weite Ebene mit ihren wenigen zerstreuten Häusern und niederen Anpflanzungen wie verzaubert durch den leichtumflorten Mond vor ihnen, und die feierliche Stille der Nacht umfing sie Beide mit so sanfter Gewalt, daß Keiner das Bedürfniß fühlte, trotz der traulichen Nähe von Mund zu Mund ein Wort über die Lippen zu bringen. Nur der Kleine pfiff zuweilen leise vor sich hin, nicht eine bestimmte Melodie, sondern wie ein Vogel, der auf einem sacht vom Winde gewiegten Baume sitzt.
Auch damit hörte er auf, als sie durch einen Föhrenwald kamen, dessen Wipfel den Mond nicht hereinließen. Da fing der Große, der glauben mochte, seinem Gesellen sei es nicht ganz geheuer auf dem luftigen Sitz in der stummen Finsterniß, auf einmal an von sich selber zu erzählen. Nach dem Tode seiner Mutter habe er einen großen Anschlagzettel drucken lassen: wegen eines Trauerfalls müßten die Vorstellungen unterbrochen werden. Begraben habe er sie in aller Stille bei nächtlicher Weile. Dann habe er ihre Habseligkeiten einem Frauenspital vermacht und von den seinigen nur das Nöthigste in ein großes Felleisen gepackt, damit sei er bei Nacht und Nebel auf und davon gegangen, mit Gelde hinlänglich versehen, das er durch sein schnödes Prangerstehen in den letzten Monaten verdient. Das übrige, nicht unbeträchtliche Vermögen, das seine Eltern im Lauf der Jahre gesammelt, sei sicher angelegt gewesen in einem Bankhause. Er habe aber vor diesem Mammon ein Grauen gehabt und sich zugeschworen, nur im Nothfall daran zu rühren. So sei er in die Welt hineingewandert, immer nur in der Nacht, und habe die Gegenden gemieden, wo eine dichte Bevölkerung in Städten oder größeren Dörfern beisammensaß. Nach einer Woche sei ihm dies wilde Herumstreunen ohne sicheres Obdach und genügende Kost, da er nur von seinem Reisevorrath gelebt, entleidet worden. Da sei er Abends spät in diese Gegend gekommen und habe sich einem Einödbauern, der mit seinem Weibe vor der Thür gesessen, nachdem die Kinder zu Bett gebracht, vertrauensvoll eröffnet und angefragt, ob er ihm nicht fürs Erste einen Unterschlupf gewähren wolle, bis er reiflicher erwogen, was mit ihm werden solle. Diese braven Leute hätten sich sein Schicksal zu Herzen gehen lassen und ihn zu einem großen gemauerten Schuppen geführt, der einen Büchsenschuß weit von ihrem Gehöft gelegen und ehemals zu einer großen Ziegelei gehört habe, die vor Jahren hier abgebrannt sei. Der Besitzer habe sie nicht wieder aufgebaut, weil er etliche Meilen davon entfernt in der Nähe einer Eisenbahn einen vortheilhafteren Platz gefunden. Nun mußte er froh sein, für den rauchgeschwärzten Kasten, der ihm nicht mehr diente, einen Miether zu finden.
Ich bin also dageblieben, fuhr Magnussen fort, obwohl es ein kahles und trauriges Nest war; aber ich war darin doch vor allen Gaffern und Glotzern geborgen und hatte für den Nothfall eine nachbarliche Hülfe bei der Hand. Die Bauersleute hielten reinen Mund. Werdet Ihr's glauben, daß sogar ihre Kinder und Knechte noch immer nichts davon ahnen, daß der abgelegene Schuppen einen Einwohner hat? Ich aber verkehre mit der Welt nur durch diese meine guten Freunde. Was ich zum Lebensunterhalt brauche, schaffen sie mir pünktlich und würden sich eher die Zunge abbeißen, als davon schwatzen, daß sie den berühmten großen Christoph in der Kost haben. Ich selbst brauche nicht viel, am wenigsten Umgang mit Menschen, die mich doch nicht verstehen. In der Stadt mich umzusehen, habe ich viele Jahre lang nicht das geringste Verlangen gefühlt. Auch ist mir immer bange gewesen, mit der Polizei in unliebsame Berührung zu kommen, da bis jetzt nur der Polizeidirector selbst, ein menschenfreundlicher Herr, dem ich meine Lage schriftlich mitgetheilt habe, um mein Dasein weiß. Ich sorge natürlich, daß mich, so lange die Sonne am Himmel steht, kein sterbliches Auge zu sehen bekommt, und nur wenn Alles schläft, treibe ich mich draußen herum, habe mich auch ein paarmal in besonders schlechtem Wetter, wie eben gestern Nacht, in die Stadt gewagt, was mir denn das Vergnügen eingetragen hat, Eure Bekanntschaft zu machen.
Und womit vertreibt Ihr Euch die lange Weile, Gevatter? wisperte der Kleine dicht an seinem Ohr.
Ueber Tag meist mit Schlafen, bei Nacht mit allerlei Handarbeit, da ich mir meine Einrichtung zum Theil selbst verfertigt habe und Alles in Stand halten muß; die meiste Zeit aber mit Lesen. Ich habe mir eine Menge Bücher zusammengekauft, immer durch meinen Nachbar, an den ich die Sendungen adressiren ließ. Denn es giebt kein besseres schmerz- und kummerstillendes Mittel, als ein recht nachdenkliches Buch, und viele sind geschrieben worden, in denen weise Männer ihre Meinung auseinandergesetzt haben, daß es um die Welt überhaupt schlecht bestellt sei, und daß der einzelne arme Schacher sich nicht zu beklagen habe, da es mit dem sogenannten Glück nur eine Redensart sei und ein Kindermärchen, das bei Licht besehen so wenig Stich halte, wie die Schätze, die ein leichtgläubiger Narr um Mitternacht aus der Erde grub und die am hellen Tag zu einem Haufen dürrer Blätter wurden. Ich merke, daß Ihr den Kopf schüttelt. Aber wenn wir uns erst besser kennen gelernt haben – da seht, dort steht mein Sommer- und Winterpalast. Er hat wenigstens den Vorzug, daß ich mit der Stirn nicht die Decke einstoßen kann.
Sie traten eben aus dem Walde heraus und sahen noch etwa hundert Schritte entfernt eine dunkle, fensterlose Baracke mit schiefem Dach auf dem kahlen Felde liegen, auf welchem noch hie und da einzelne Trümmer der niedergebrannten Gebäude zerstreut waren. Nicht weit davon schlich ein träger Fluß unter verkrüppelten Weiden ins Land hinein, der versumpft zu sein schien, seit er den Zwecken der Fabrik nicht mehr diente. Auf einer kleinen Anhöhe aber unweit dieses verödeten Gebiets sah man unter stattlichen Bäumen den Bauernhof liegen, dessen Ställe und Scheuern sich schwarz gegen den silbergrauen Mondhimmel abzeichneten.
Als sie nun vor der breiten, aber einflügeligen Thüre des Schuppens angelangt waren, hob der Große seine leichte Last von der Schulter, zog einen Schlüssel hervor und öffnete das rostige Schloß. Der Kleine aber blieb auf der Schwelle stehen. So viel er auf Herzhaftigkeit hielt, wagte er es doch nicht sogleich, den unheimlich dunklen und frostigen Raum zu betreten, in welchem seine scharfen kleinen Augen auf den ersten Blick Nichts zu unterscheiden vermochten. Erst als sein Gastfreund Licht gemacht und eine Lampe angezündet hatte, die auf einem aus rohen Ziegeln kunstlos zusammengeschichteten Herde stand, that er ein paar Schritte in die Höhle hinein und betrachtete erstaunt die wundersame Einrichtung.
Ein paar Luken unter dem Dach, die selbst Magnussen nur mittelst einer Stange öffnen konnte, ließen jetzt das Mondlicht hereinfallen, so daß eine leidliche Beleuchtung entstand. Man konnte nun an der einen schmaleren Wand, der Herdseite gegenüber, ein rohgezimmertes Gestell aus starken Pfählen und Brettern erkennen, auf welchem ein grober Strohsack und etliche Kissen und Decken lagen. An der Wand unter den Luken stand eine Hobelbank, Aexte und anderes Werkzeug hingen an Nägeln sorgfältig geordnet daneben. Gegenüber lehnte sich ein kunstlos aufgebautes Büchergestell an die Wand, das bis oben hin mit schlicht eingebundenen Büchern gefüllt war. Im Winkel neben dem Herde sah man einen Verschlag, in welchem allerlei Vorräthe aufbewahrt zu werden schienen. Wenigstens verschwand der Große ein paar Augenblicke darin und kehrte dann mit einem Schinken, einem Brod und etlichen Aepfeln zurück, die er auf den Tisch nahe beim Herde legte.
Ich weiß nicht, wie Ihr es damit haltet, sagte er, und zum ersten Mal flog etwas wie ein Lächeln über seine versteinerten Züge. Ich pflege um Mitternacht zu Mittag zu essen, wenn ich nicht gerade draußen Geschäfte habe. Die Stunde ist nun wohl verpaßt, aber ich verspüre starken Hunger, und wenn Ihr meine geringe Kost nicht verschmäht –
Er hatte eine derbe hölzerne Bank an den Herd geschoben, und indem er sich darauf niederließ, lud er seinen Gast ein, sich's auch bequem zu machen. Dem aber war dies Alles zu neu und wundersam, als daß er die geringste Eßlust empfunden hätte. Er hatte erst als ein wohlerzogener Mann seinen Hut abgenommen; als er aber merkte, daß durch die Dachsparren und offenen Luken die strenge Nachtluft hereinwehte, setzte er ihn mit einer Entschuldigung wieder auf. Dann ging er, während der Große mit einem breiten Messer ohne Gabel und Teller sein Mahl zerstückte, langsam an den Wänden herum, betrachtete Alles genau, versuchte die Titel auf einigen Bücherrücken zu lesen und kam endlich zu seinem Gastfreunde zurück, der sich inzwischen mit Essen beschäftigt hatte.
Herr Magnussen, sagte er, indem er auf die hohe Bank hinaufkletterte und die Beinchen weit ausspreizte, um rittlings zu sitzen, dies ist ein Logis, in welchem auch ich von Eurem Groll und Unmuth gegen Gott und die Welt angesteckt werden würde, wenn ich es nur eine Woche lang hier aushalten sollte. Könnt Ihr denn behaupten, daß Ihr wie ein Mensch lebt und nicht vielmehr wie ein Waldteufel und Bärenhäuter, wenn Ihr Euch, so lange die liebe Sonne scheint, in diesen schauerlichen Kasten einsperrt und in der Nacht bei Eurer trüben Lampe gottlose Bücher les't? Und Ihr habt nicht einmal einen Ofen. Wenn es nun Stein und Bein friert, wie haltet Ihr's hier aus? Oder verschlaft Ihr vier bis fünf Wintermonate wie ein Murmelthier?
Einen Ofen hab' ich allerdings, versetzte der Große, der ruhig fortkaute. Dort hinten im Verschlag steckt er noch, weil die Witterung bis jetzt nicht übel war. Wenn es mir zu kalt wird, hole ich ihn heraus und stelle ihn neben mein Bett, das Rohr reicht bis in die Luke hinauf, so daß der Rauch mich nicht molestirt. Manchmal zünde ich auch noch auf dem Herd ein Feuer an, da ist es hier recht hübsch verschlagen: und übrigens bin ich so ziemlich wetterfest. Was wollt Ihr aber sonst daß ich anfangen soll? Welche Arbeit könnte ich unternehmen? In irgend einer Werkstatt eine Pferdekraft ersetzen und mich zum Dank dafür wegen meiner stiermäßigen Glieder höhnen und hänseln lassen? Glaubt nicht, daß ich ein ehrliches Handwerk verachte. Ich habe mich nicht für zu gut gehalten, meinem Bauern manchen heimlichen Dienst zu leisten, wenn es etwa scharf zuging in der Erntezeit und er nicht Hände genug hatte. Oft genug hab' ich ihm in einer einzigen Nacht eine Wiese gemäht, oder ein paar Tagwerk umgeackert, oder etliche Klafter Holz geschlagen, daß seine dumme Magd am Morgen vor Schrecken fast den Verstand verlor und behauptete, die Wichtelmänner hätten's gethan. Wenn ich nun aber merke, daß was Besseres in mir steckt, als was jeder Handlanger zu Stande bringen kann, daß ich von meiner Stiefmutter Natur einen Verstand bekommen habe, so gut wie kleinere Leute, und wenn ich im Uebrigen nicht ein Scheuel und Gräuel wäre, wohl zu einem Kopfarbeiter taugte: soll ich dann nicht mit meinem Schicksal hadern, das mich von allen übrigen Menschen ausschließt, und mich lieber hier in meine Höhle verkriechen, mein armseliges Leben zu verbrüten und zu verschlafen, als am Sonnenlicht mein Unglück zur Schau stellen?
Er warf das Messer weg und schob den Schinken bei Seite. Der Grimm und Gram, der in ihm aufstieg, hatte ihm plötzlich allen Hunger benommen.
Seht, sagte er, was hier an den Wänden herumsteht, das Alles habe ich mit eigenen Händen verfertigt; denn so klotzig wie sie aussehen, sie sind nicht ungeschickt. Auch meine Schrift ist ganz leidlich, ich könnte so gut wie Einer Recepte schreiben, oder Akten schmieren, oder eine Predigt aufsetzen. Aber wer würde sich von mir curiren, oder vor Gericht vertreten, oder an Sonn- und Feiertagen von der Kanzel herab erbauen lassen wollen? Hinwiederum kann es den Hunger in mir nach Leben und Schaffen nicht stillen, wenn ich ein Brett auf der Hobelbank glatt hoble, oder einem Tisch vier Beine einsetze. Ihr habt gut predigen, Ihr betreibt eine hübsche und Euch angenehme Kunst. Dazu bin ich nun verdorben. In mir ist nur die Gabe zu spintisiren und über fremde Gedanken mir meine eigenen zu machen. Ein Bücherschreiber hätte ich werden können, das ist nun auch verfehlt, denn ich habe nie eine Schule besucht, und mein bischen Wissen mühsam und lückenhaft zusammengeklaubt. Da bin denn bald mit meinem Latein am Ende, noch bevor ich recht damit angefangen habe.
Hierauf schwiegen sie wieder eine Weile und starrten träumend vor sich hin. Der Große hatte noch immer seine Filzkappe mit den Ohrenklappen auf und die kunstlose Hülle um seine mächtige Figur; der Kleine war tief in seinen hohen Rockkragen verkrochen, da ihn fror, und sein zierliches Näschen glänzte mit einem rosenrothen Schein.
Ich kann auf all Eure Einwendungen in der Geschwindigkeit nicht Viel erwidern, fing er endlich an und wiegte das Köpschen tiefsinnig hin und her. Nur so Viel weiß ich, obwohl ich nur ein schwaches Licht und eine halbe Elle Mensch bin, daß Niemand die Hände in den Schooß legen und das Schicksal mit sich machen lassen muß, so lange er noch ein Glied rühren kann. Uns Beiden ist es freilich sauer genug gemacht worden, an uns selber Freude zu haben, ohne welches Gefühl kein Hund leben möchte. Und glaubt nicht, daß es mir immer so glatt gegangen ist! Jeder hat seine desperaten Stunden. Damit ist aber Nichts gewonnen, daß Einer sagt: dem lieben Gott, oder der Stiefmutter Natur, oder wie er gewohnt ist die oberste Behörde zu nennen, geschieht ganz Recht, wenn ich bei lebendigem Leibe verfaule; warum haben sie mir den Possen gespielt, mich nicht anders zu machen, als ich bin? Nein, Gevatter, man muß die Zähne zusammenbeißen und immer wieder einen Anlauf nehmen, über den Zaun zu springen, mit dem einem das bischen Welt vernagelt ist. Und Ihr habt ja Beine dazu – ich meine es nicht um Euer zu spotten, sondern im moralischen Verstande. Wißt Ihr was? Vor allen Dingen müßt Ihr dies schnöde Zellengefängniß räumen und erst den Menschen wieder ein bischen näher rücken, wenn Ihr auf die richtigen Gedanken kommen sollt, wie Ihr selbst es zu einem menschlichen Thun und Treiben bringen könntet. In meinem Haus, gerade unter mir, steht seit Michaeli ein Atelier leer, dasselbige, das mir zu hoch war; für Euch wird's gerade taugen. Das sollt Ihr miethen, und dann hab' ich Euch in der Nähe, und man kann mit Muße überlegen, welche Beschäftigung und Wirksamkeit Euch etwa passen möchte. Denn in diese verwünschten vier Pfähle bringt Ihr mich nicht zum zweiten Male, obwohl ich kein verweichlichter Wollüstling bin. Ist es Euch recht, so sprech' ich gleich morgen früh mit dem Schneider, und Abends könnt Ihr einziehen.
Der Andere war aufgestanden und hatte während der letzten Rede den Tisch ruhelos wie ein riesiges Raubthier umkreis't. Dies setzte er noch eine ganze Weile fort, offenbar von einem harten inneren Kampf umgetrieben. Zuletzt stand er neben dem Kleinen still, legte ihm die Hand zutraulich auf die schmale Schulter und sagte: Ihr meint es gut mit mir, Herr Hinze, aber es geht nicht, es geht gewiß und wahrhaftig nicht; fragt mich nicht, warum, aber in der Stadt – unter Menschen – Ihr werdet selbst einsehen –
Gut! sagte der Kleine und sprang hastig von der Bank herunter, das Gesichtchen von Eifer und Unwillen geröthet. Ihr wollt ein Unmensch bleiben, so thut was Ihr nicht lassen könnt. Ich habe dann hier nichts mehr zu schaffen. Gott befohlen!
Er faßte sein Stöckchen fest in die kleine Faust und ging eilfertig nach der Thür.
Wohin? rief Magnussen, der ihm folgte.
Nach Hause, nach der Stadt zurück, wieder zu Menschen. Ich brauche Eure Begleitung durchaus nicht, ich weiß den Weg und fürchte mich vor Niemand. Gute Nacht!
Er war im Nu zur Thür hinaus, die nur angelehnt geblieben war, und schon eine Strecke Weges gelaufen, dem Walde zu, da hörte er den Großen hinter sich her kommen.
Wenn Ihr auch zornig auf mich seid, sagte Der, Ihr sollt doch nicht den weiten Weg zu Fuß machen. – Und trotz seines Sträubens faßte er, sich zu ihm niederbeugend, den kleinen Mann bei der Hand und führte ihn, ohne weiter auf sein stummes Sträuben zu achten, nach dem Flusse hin. Da lag ein breiter, aus starken Bohlen und Planken gefügter Kahn, in den hob er seinen Gesellen hinein, stieg dann selber nach und stieß mit einem einzigen Ruck gegen den Pfahl, an den es angebunden gewesen, das schwerfällige Fahrzeug in die Mitte des Gewässers. Darauf bewegte er ein plumpes Ruder in so kräftigen Schlägen, daß sie die stille Bahn zwischen den schilfigen Ufern pfeilschnell durchschnitten. Der Mond war untergegangen, die Luft aber weich und windstill, und die Fahrt durch das schlafende Land wäre ganz vergnüglich gewesen, wenn das wunderliche Paar im Kahn Rede und Gegenrede getauscht hätte. Sie beobachteten aber ein verbissenes Schweigen während der langen halben Stunde, bis die äußersten Häuser der Stadt vor ihnen auftauchten. Beiden war nicht wohl zu Muthe bei diesem ersten Zerwürfniß, das sie für immer zu trennen drohte. Denn der Große zerbrach sich umsonst den Kopf, wie er den Kleinen versöhnen könne, ohne nachzugeben, und dieser fühlte, daß er es seiner Würde schuldig sei, fest bei seinem Sinn zu beharren, um zu zeigen, daß auch kleine Leute einen ausgewachsenen Willen haben könnten.
Der Kahn lief endlich bei einer Landungsstelle an, der Kleine sprang hinaus. Gute Nacht und besten Dank! rief er mit kühlem Ton seinem Fährmann zu. Dann drückte er den Hut tiefer ins Gesicht und stiefelte eilig davon.
*
Den Rest dieser Nacht verbrachte der Kleine gegen seine Gewohnheit, da er sich sonst eines wahren Kinderschlafes erfreute, in halbwachem Hindämmern. Es nagte an seiner menschenfreundlichen Seele, daß er dem neuen Bekannten so unsanfte Worte gesagt hatte. Da er es aber für Mannespflicht hielt, seinen Ueberzeugungen treu zu bleiben, schien es ihm unmöglich, den Bruch mit unwahren Beschönigungen zu kitten. So warf er sich unruhig in seinem Bettchen hin und her, seufzte zuweilen und fiel endlich in einen ängstlichen Schlummer voll unliebsamer Träume, in denen er sich mit Riesen herumschlug und auf wilder See in einem schwachen Schifschen dahinfuhr, während fabelhafte Meerdrachen ihn umschnoberten.
Als er am hellen Tag die Aeugelchen aufschlug, stand sein Hauswirth, der Schneider, vor seinem Bett und reichte ihm einen Brief, den soeben ein Bauer für ihn abgegeben. Der Mann warte draußen auf Antwort.
Des Kleinen erster Gedanke war, der Höhlenmensch, dem er gestern so tapfer die Wahrheit gesagt, habe sich nachträglich beleidigt gefühlt und für nöthig gefunden, für den »Bärenhäuter« und »Waldteufel« Satisfaction zu fordern. Obwohl er nun allnächtlich Uebungen in der Herzhaftigkeit anstellte, zitterte ihm doch die Hand ein wenig, als er den Brief öffnete. Um so lieblicher wurde er durch den Inhalt überrascht; denn Folgendes stand in einer regelmäßigen, nicht übergroßen Handschrift auf dem groben Papier geschrieben:
»Werther Herr Hinze! Ich habe mich entschlossen, das bewußte Atelier zu miethen. Verständigen Sie davon den Besitzer des Hauses. Ich möchte schon heute Nacht einziehen. Wenn die Hausthür offen bleibt, braucht sich Niemand weiter darum zu bekümmern. Den Zins werde ich vorausbezahlen, zunächst für drei Monate. Hoffentlich also auf Wiedersehen!
Hochachtungsvoll Christoph Magnussen.«Es war keine ganz leichte Sache, dem Schneider klar zu machen, um was es sich handelte. Als er endlich den Zusammenhang begriff, schien es ihm doch bedenklich, ein solches Ungeheuer unter seinem Dache beherbergen zu sollen, da er selbst von schwächlicher Complexion war und in seinem Hause beständig vor Einbrüchen und Raubanfällen zitterte. Der Kleine aber rief die Frau zu Hülfe, die von seinen artigen Manieren und seiner Gutherzigkeit ganz eingenommen war und ihren Mann zu Allem brachte, was sie wollte. So wurde der Bauer mit dem Bescheide entlassen, Herr Magnussen möge nur kommen, das Zimmer stehe für ihn bereit.
Zum Glück folgte wieder eine finstere und stürmische Nacht, so daß es in der Nachbarschaft nicht das mindeste Aufsehen machte, als zwischen Elf und Zwölf ein Bauernwagen mit einem Ackerpferde bespannt vor dem Hause hielt. Derselbe war bepackt mit dem Strohsack, dem Tisch und der Bank, die das Mobiliar des Schuppens ausgemacht hatten, und mit einem Kasten voller Bücher. Nebenher war der Bauer gegangen, der große Christoph hinterdrein. Wie die Schneidersleute, die schüchtern und neugierig oben aus den Fenstern sahen, seine gewaltige Person erblickten, bereuten sie es nachträglich, in die Sache gewilligt zu haben, und beschlossen, fürs Erste sich ganz verborgen zu halten. Den Hausschlüssel warf die Frau aus dem Fenster auf die Gasse hinab. Dann saßen sie und lauschten mit Herzklopfen, wie die beiden Männer die schweren Lasten die Treppe hinaufschleppten, während der Kleine mit freundschaftlicher Beflissenheit sein Laternchen dabei leuchten ließ. Es nahm die Frau aber gleich für den neuen Miether ein, daß er bei diesem Geschäft die Stiefel ausgezogen hatte, ebenso wie der Bauer, um die schlafenden Hausbewohner nicht zu stören. Auch hätte Herr Hinze ihn nicht empfohlen, tröstete sie ihren ganz verstörten Mann, wenn es nicht auch ein Herr von feiner Erziehung und Lebensart wäre, wie er selbst. Daß wir nun zwei solche Extramenschen bei uns wohnen haben, kann uns vielleicht Unbequemlichkeiten zuziehen; aber wir müssen es als eine Schickung des lieben Gottes ansehen, und wenn er pünktlich die Miethe zahlt und nicht Alles kurz und klein schlägt, ist ein Riese mir immer noch lieber, als der Maler, der zuletzt das Atelier bewohnt hat und uns vier Quartale schuldig geblieben ist.
Die wackere Frau sollte auch keine Ursache haben, ihr Zutrauen zu bereuen; denn einen solideren und anspruchsloseren Miether hätte sie sich nicht wünschen können, und der pünktlicher seinen Verpflichtungen nachgekommen wäre. Er hatte sich ein Säcklein Mehl mitgebracht, von dem er sich, wenn er aufgestanden war, selbst sein Frühstück bereitete, da sich zum Glück ein Ofen in dem Atelier vorfand, der zum Kochen eingerichtet war. Den Vorschlag, sein Essen aus der Schneidersküche zu erhalten, lehnte er höflich ab, ließ sich aber gern, was er sonst zum Leben bedurfte, von der Hausfrau besorgen, der er gar nicht mehr so fürchterlich vorkam, nachdem sie das erste Grauen überwunden hatte. Sie behauptete sogar, die artigsten Leute, die ihr je begegnet, seien dieser kleinste und dieser größte aller Menschen, und manche Herren vom Mittelschlag könnten sich an ihnen ein Beispiel nehmen. Dergleichen sagte sie natürlich nur ihrem Eheherrn, da den übrigen Hausgenossen die Anwesenheit des Riesen sorgfältig verheimlicht wurde, um nicht Diesen oder Jenen in Angst zu versetzen. Auch der Schneider wagte sich nach einiger Zeit über die unheimliche Schwelle, um seinem neuen Miether selbst die Quittung über den Quartalszins zu überreichen. Er fand ihn auf seine Weise ganz leidlich eingerichtet, besonders flößten ihm die Bücher großen Respect ein, die auf einer hohen Borte längs der Wand paradirten zwischen etlichen bestaubten und beschädigten Gypsabgüssen, Reliquien des vorigen Inhabers dieses Raumes. Eine große Bütte, neben der ein mächtiger Wasserkrug stand, und einige Pferdeschwämme, die an einem Nagel darüber hingen, gaben hinlängliches Zeugniß, daß der wilde Mann auf Reinlichkeit hielt. Was er im übrigen den ganzen Tag über that, blieb dem spähenden Hausherrn freilich verborgen.
Auch der Kleine ließ sich nicht weiter auf Unterhaltungen über den neuen Gast ein, obwohl er genau von ihm Bescheid wissen mußte. Denn alle freien Stunden des Tages, die er nicht über seinen Holzschnitten saß, verbrachte er jetzt unten im Atelier, da Herr Magnussen seine frühere unmenschliche Tagesordnung alsbald aufgegeben hatte, um sich der seines kleinen Freundes anzubequemen. Er schlief zwar noch immer bis an den hellen Mittag. Dann aber war er, nachdem er seine gewaltige Abwaschung vorgenommen hatte, ein Tagesgeschöpf wie ein anderer Mensch, und es war deutlich zu sehen, wie nach und nach die tief eingewurzelte Falte zwischen seinen buschigen Brauen sich glättete und ein gewisses stillvergnügtes Leuchten aus den düster umschatteten Augen hervorbrach. Dies bemerkte Herr Hinze mit froher Genugthuung, hütete sich darum auch wohl, die Frage nach der Wahl eines Berufes oder ähnliche persönliche Anzüglichkeiten wieder aufs Tapet zu bringen, da er wohl wußte, daß auch Rom nicht in Einem Tage erbaut worden war. Desto mehr verhandelten sie zusammen die letzten und geheimnißvollsten Räthsel der Welt und des Menschenlebens, wobei der Große immer ganz sanftmüthig blieb, während der Kleine sich oft genug einen rothen Kopf andisputirte.
Um es dabei bequemer zu haben und auch während der Arbeit, die nur in der Mansarde vor sich gehen konnte, nicht getrennt zu sein, hatte Magnussen sich die Erlaubniß des Hausherrn erbeten, ein Loch in die Balkendecke zu schneiden, die ihre beiden Wohnungen schied. Er war auf zwei Nächte und einen Tag wieder in seinen Schuppen hinausgewandert, um dort das Nöthige vorzubereiten, da es ihm in der Stadt an einer Hobelbank und dem übrigen Werkzeug gebrach. In der dritten Nacht kam er wieder, mit einer sauber gearbeiteten Fallthür und einer handfesten Leiter, die sein eigenes Gewicht tragen konnte. Als er dann nahe bei den Fenstern den Fußboden durchgesägt, die viereckige Klappe sauber eingefügt und mit Klammern und Charnieren befestigt, alsdann die Leiter angelehnt hatte, stieg er selbst zuerst hinauf und nickte, mit halbem Leibe aus der Luke auftauchend, seinem kleinen Gefährten so heiter zu, wie dieser sein Gesicht nie zuvor gesehen hatte. Gleich darauf probirte der Kleine die steile Treppe, und sie waren Beide sehr vergnügt über die sinnreiche Erfindung, die ihnen erlaubte, sich jeden Augenblick nach einander umzusehen, ohne den Umweg durch das Haus zu machen. Am meisten aber profitirte der Große von dem Verbindungsthürchen, da er jetzt bequemlich auf dem Fußboden der Mansarde sitzen und seine ungeschickten Beine hinunterhängen lassen konnte, während er früher unter der niederen Decke sich immer beklommen gefühlt hatte. Da saß er denn viele Stunden lang, sah dem fleißigen Freunde zu, während Der mit seinen zierlichen Händen an den Holzstöcken schnitzelte, hörte den Kanarienvogel zwitschern und gab dann und wann durch ein sanftes Brummen zu erkennen, daß er mit seinem Zustande wohlzufrieden war.
Seine Lesewuth schien auf einmal verraucht zu sein. Wenigstens blieben die vielen Bücher, die er mitgeschleppt, wochenlang unangerührt in Reih' und Glied als ein bloßer Zierath der hohen nackten Wand, und auf seinem Tische lag nur ein einziges Büchlein, eine kleine lateinische Grammatik, in der er täglich einen Paragraphen durchnahm und die Uebungsaufgaben gewissenhaft sich einexercirte. Denn, sagte er zu dem Kleinen, es finden sich in den Abhandlungen über Gott und die Welt so viel fremde Wörter vor, daß man nicht recht hinter den eigentlichen Sinn kommt ohne ein bischen Latein.
Der Andere zuckte die Achseln. Wozu wühlt Ihr Euch in all das Zeug ein? sagte er. Ich lese niemals. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß ich dadurch nur unglücklich werde und um meinen Frieden komme. Denn alle Bücher sind von mittelmäßigen Menschen für eben solche Leser verfaßt worden, also nicht für Unsereinen. Da wir nicht in der Welt leben, wie Andere, was soll uns eine Weisheit, die nur für Weltmenschen paßt? Meine Mutter hat mich in Märchenbüchern lesen gelehrt, das war etwas für mich, da ich ja selbst eigentlich zu Schneewittchen hinter den sieben Bergen hingehörte. Wie ich dann älter wurde, erwischte ich einmal ihr Lieblingsbuch, über welches sie Thränen vergoß, so oft sie es wieder las. Es war von dem berühmten Goethe und hieß »Werthers Leiden«. Das Buch hat mich viele Wochen nicht schlafen lassen. Denn so eine verliebte Leidenschaft, wie sie diese großen Menschen befällt, daß sie darüber zu Grunde gehen – es war wie ein hitziges Getränk, das mir plötzlich alle Adern durchglühte. Immer sah ich so ein reizendes Gesicht vor mir, wie diese Lotte, und konnte mich nicht darüber beruhigen, daß, wenn ich einmal so etwas fände, ich gar nicht einmal von Rechtswegen mich verlieben, geschweige todtschießen dürfte, weil ich mich nur lächerlich damit machen würde. Da habe ich mir zugeschworen, solche gefährliche Geschichten mir vom Leibe zu halten. Später kam ich an die Weltgeschichte; mit der ging mir's nicht besser. Es waren lauter fünf bis sechs Fuß lange Menschen, die auf einander losschlugen, Staaten gründeten, Städte belagerten und Künste und Wissenschaften betrieben. Was ging das so einen Knirps wie mich an? Ich lernte nur so viel daraus, daß auch die mittelmäßige Menschheit es sich von je her hat sauer werden lassen, und daß nur wenige weise Männer einen unerschütterlichen Frieden gefunden haben. Also habe ich auch solche Bücher gemieden, zumal ich niemals Langeweile empfand. Kann es Euch denn ergötzen, all diese Staatsaffairen, Raufhändel und Narrheiten noch einmal mitzuerleben, über die wir Gottseidank heute hinaus sind?
Nein, erwiderte der Große ernsthaft und zog die Brauen zusammen, hierin empfinde ich ganz wie Ihr. Mich kümmern diese Geschichten so wenig, wie wenn man einem Hirschkäfer erzählen wollte, was die Blattläuse treiben oder vor tausend Jahren getrieben haben. Dahingegen ist es mir sehr wichtig zu erfahren, was scharfsinnige Geister sich über die Beschaffenheit und das Regiment der Welt für Gedanken gemacht haben. Denn am Ende – man ist einmal mit dabei, und wenn man auch keinen vernünftigen Grund dazu einsieht – was aus der ganzen verwünschten Geschichte einmal werden soll, kann einem nicht ganz gleichgültig sein. Oder seid Ihr über alle Neugier erhaben?
Nicht so ganz wie ich möchte, versetzte der Kleine. Denn ich kann nicht leugnen, daß ich manchmal die Schwachheit gehabt habe, mir mein bischen Kopf darüber zu zerbrechen, wie es mit dem jüngsten Gericht und dem sogenannten Paradiese und Abrahams Schooß bestellt sein möchte. Eine Schwachheit nenne ich's, weil ich ja ganz genau weiß, daß kein Verstand der Verständigen je daraus klug werden wird, mag sein Hirnkasten so groß sein, wie der Eure, oder nur so eine Billardkugel, wie meiner. Auch hat es mich gar nicht unglücklich gemacht, daß ich nicht hinter den Vorhang gucken konnte. Ein ganz sicheres Gefühl habe ich ja in mir: daß ich vorhanden bin und allerlei Hübsches dadurch profitire, neben einigem Widerwärtigen. Und ferner: daß ich ein honetter Mensch sein kann und Niemand mich daran zu hindern vermag, ob es nun einen lieben Gott und einen schnöden Teufel giebt, wie sie im Buche stehen, oder nicht. Seht, dazu ist auch wieder meine Miniaturausgabe von Dasein gut, um mir die großen Räthsel rings um mich herum noch weit gewaltiger erscheinen zu lassen, als Euch, so daß ich von vornherein es aufgebe, mich mit ihnen zu messen. Ihr aber mit Eurer thurmhohen Figur – sagt einmal ehrlich, ob es Euch je gelungen ist, wenn Ihr Euch noch so sehr auf den Zehen recktet, über den Zaun zu blicken, mit dem die Erkenntniß unserer Erdenwelt ringsumher eingepfercht ist?
Vielleicht doch ein bischen mehr, als Ihr denkt, sagte Magnussen, indem er leicht erröthete. Nicht aus eigener Kraft freilich. Aber da ist ein gelehrter Mann gewesen, ein gewisser Feuerbach, von dem habe ich Alles gelesen, was er hat drucken lassen, weil das erste Buch, was ich zufällig von ihm in die Hände bekam, mir ganz ausnehmend einleuchtete. Wenn man Den hört, hängt Alles recht leidlich zusammen. Ich kann Euch die Bücher nicht genug empfehlen.
Danke! erwiderte der Kleine trocken. Man soll von Nichts essen, wonach man keinen Appetit hat. Wenn Ihr mir aber so im Auszuge mittheilen wollt, was für ausbündige Grillen dieser Mann gefangen hat, will ich Euch gern zuhören, nur um zu wissen, wie Ihr von der Sache denkt. Also fangt in Gottesnamen an. Ich habe nur noch die letzte Hand an diese Vignette zu legen.
Magnussen rieb sich die Stirn, setzte sich in der Fallthüre bequemer zurecht und machte sich daran, seine Weisheit auszukramen. Er war aber noch nicht weit gekommen, so gerieth er ins Stocken. Er erkannte zum ersten Mal, daß es sehr verschiedene Dinge seien, einem Anderen nachzudenken, oder ihm vorzudenken. Denn eine und die andere hinterhältige Frage, die der Kleine mit seinem Mutterwitz scheinbar ganz unschuldig dazwischenwarf, brachte den Vortragenden aus dem Concept und nöthigte ihn zu dem Geständniß, daß nicht Alles so ganz unzweifelhaft sei, wie er selbst geglaubt, oder doch, daß ihm die Beweisführung nicht mehr vollständig zu Gebote stehe.
Nun machte er sich gleich am folgenden Tage von Neuem über seine Bücher und ergab sich einer eifrigen Schreiberei, da er nichts Geringeres vorhatte, als einen regelrechten Auszug zu machen, den er hernach dem Kleinen Punkt für Punkt vorlesen wollte. Dieser saß dann zuweilen, wenn er von der Arbeit ausruhte, auf der obersten Sprosse der Leiter und sah seinem schriftstellernden Gesellen mit überlegener Heiterkeit zu, indem er leise seine Lieblingsweisen pfiff. Einmal lachte er dazwischen hell auf.
Was habt Ihr zu lachen? fragte Magnussen.
Mir fällt nur ein, daß Ihr es jetzt treibt, wie ich, ehe wir zusammen wohnten. Ihr haltet Euch auch eine Art Kanarienvogel, der Euch bei der Arbeit was vorzwitschert, nur daß der Eurige einen türkischen Schlafrock statt gelber Federn am Leibe hat und auf den Namen Theodor Hinze hört. Seid Ihr noch nicht bald fertig mit Eurem Katechismus der Gottlosigkeit?
Der Andere schüttelte den Kopf. Die Arbeit rückte langsam vorwärts, wurde oft mit einem Fluch in den Winkel geworfen und von einem ganz andern Punkt wieder aufgenommen. Der Kleine hätte ihm gern abgeredet, diesen schweren Stein den Berg hinaufzuwälzen, der ihm immer wieder aus den Händen glitt. Er fürchtete aber, ihn noch mehr zu erbittern, wenn er ihm sagte, daß dies Unternehmen über seine Kräfte gehe. Auch war er wieder im Stillen zufrieden damit, ihn überhaupt mit etwas beschäftigt zu sehen. Als er aber merkte, daß die heftige Kopfarbeit ihn ganz abmattete und um Schlaf und Eßlust brachte, nahm er die nächtlichen Spaziergänge wieder auf, die sie in letzter Zeit, da es ein allzuwüstes Wetter gewesen, versäumt hatten. Ihm selber wurde erst recht wohl dabei, wenn er von seinem hohen Sitz auf den Schultern des Freundes in die verschneite Winterlandschaft und zu dem scharfen und blendenden Gefunkel der Sterne ausschauen konnte, und daß er die breite Hand fühlte, die seine kleinen Kniee festhielt, und selbst mit der Rechten den eisklirrenden Bart des Riesen fühlen konnte, erwärmte sein Herz, da sie sich sonst untereinander aller zärtlicheren Berührungen enthielten und sogar immer noch Herr Hinze und Herr Magnussen zu einander sagten.
Endlich aber verging der Winter, sie konnten zu Haus bei offenen Fenstern sitzen und brauchten die freie Luft nicht mehr im weiten Felde zu suchen. Dies war um so erwünschter, da jetzt auch andere Menschen in der Nacht herumwandelten und sie sich doch nicht gern Einer auf des Andern Schulter betreffen lassen mochten. Also mußten sie wieder einzeln ihre Spaziergänge machen, was ihnen gar nicht mehr kurzweilig schien. Nur wenn es stürmte und regnete, wagten sie sich noch selbander über Feld, und da der Kleine dann einen Regenschirm über sich ausgespannt hielt, machten sie eine Figur nicht unähnlich einer wandelnden Pinie, deren breiter Wipfel triefend im Frühlingsregen hin und her schwankt.
*
An schönen Tagen aber, wenn er Feierabend gemacht hatte, fröhnte Herr Theodor Hinze nach wie vor seiner alten Neigung zum Spazieren sehen, indem er mit seinem kleinen, perlmuttergefaßten Operngucker vom Fenster auf die guten Bürger observirte, die mit Kind und Kegel unten vorbeiwandelten, um sich draußen vor der Stadt ein wenig zu lüften. Noch lieber spähte er in den Garten hinüber und verfolgte hier das Wachsen und Blühen der einzelnen Pflanzen und Ziersträucher, wie wenn sie ihm zu eigen gehört hätten. Meine Nelken kommen dies Jahr recht üppig, aber meine Theerosen wollen nicht recht gedeihen. Die große Thuna fängt an zu kränkeln, sie hätte vielleicht mehr Regen gebraucht – und was solcher Reden mehr waren, denen Magnussen mit geringer Theilnahme lauschte. Dagegen ließ er sich gern berichten, was die beiden alten Leute machten, die das einstöckige Haus gegenüber ganz allein bewohnten und von deren fast bräutlich zartem Verkehr mit einander, trotz ihrer weißen Haare, der Kleine viel zu rühmen wußte. Sie hatten eine einzige Tochter nach einer kurzen, glücklichen Ehe früh verloren und mußten selbst ihr Enkelkind entbehren, da es in einer Pension erzogen wurde. Dies hatte die Schneidersfrau ausgekundschaftet, die von der ganzen Nachbarschaft Bescheid wußte.
Seht, sagte der Kleine zu seinem Gefährten, von Allem, was die mittelmäßige Menschheit vor uns vorauszuhaben scheint, möchte dies das Schätzenswerteste sein. Sie können sich verheirathen und mit einander alt werden, und wenn es ihnen noch so übel geht, an einander einen Trost finden. Dies muß eine ausbündig schöne und herzerquickende Sache sein. Wir beiden alten ewigen Junggesellen dagegen – vorausgesetzt auch, daß wir uns in gleicher Weise als unzertrennlich ansehen möchten, – worüber ich (fügte er mit schüchterner Stimme hinzu) noch nicht einmal Eure Meinung weiß –
Wenn Ihr Euren Sinn nicht ändert, brummte der Große und zog die Stirn in sonderbar krause Falten, so wird es ja wohl bis an unser Ende so bleiben.
Nun, versetzte der Kleine hörbar erleichtert, so ist es auch so gut, als wenn wir verheirathet wären, und wir machen ein recht schönes Paar, sollt' ich meinen. Auch geht es friedlicher bei uns zu, als in mancher Ehe, denk' ich. Der Mann steht unterm Pantoffel, aber die Frau mißbraucht ihre Macht nicht.
Wer ist hier der Mann? sagte Magnussen und lächelte ein wenig.
Darüber, fuhr der Kleine hitzig fort, kann doch wohl kein Zweifel sein. Wer von uns Beiden übt ein bürgerliches Gewerbe aus, und wer hingegen beschränkt sich auf die Haushaltung? Wer hat den ersten Antrag gemacht, daß wir zusammenziehen sollten, was doch immer Sache des Mannes ist, und wer hat sich zuerst sittsam gesträubt? Wer trägt einen Schlafrock und eine türkische Mütze? Und wer hat gewöhnlich Recht bei unseren Disputen, behält es aber nur selten, weil der Vernünftigere in der Regel nachgiebt? Daß Ihr so auf den ersten Blick das stärkere Geschlecht vorstellt, kann nicht in Betracht kommen. Ihr seid gleichwohl trotz Eurer Leibeslänge der Schüchternere, abgesehen davon, daß Ihr auch nervös seid, so daß ich Euch manchmal so vorsichtig anfassen muß, wie der Schneider seine Frau, wenn sie in den Wochen liegt. Nur Eins also fehlt zu einer untadeligen Ehe: daß wir keine Hoffnung haben, Leibeserben zu bekommen. – –
Wundersamerweise schien es, als ob der Himmel, in welchem unzweifelhaft auch diese Musterehe geschlossen war, selbst hiefür eine Auskunft in Bereitschaft gehalten hätte.
Denn auf einem ihrer Streifzüge vor den Thoren, als es wieder Winter geworden war, fanden sie auf einem mit welkem Laub überstreuten Steinhaufen am Wege einen Knaben hingestreckt, der hier vom Schlaf überfallen worden war. Er trug eine fremde Tracht, schwarzen Spitzhut und eine Jacke von Lammsfell, statt der Schuhe umschnürte Sandalen. Ein Bündel, das er unter den Kopf gelegt, und ein schlichter Stab, den er noch im Schlafe festhielt, verriethen, daß er auf der Wanderung sich verirrt hatte. Die Sternhelle der Nacht reichte eben hin, um zu sehen, daß sein Gesicht von ungewöhnlicher Schönheit war, wenn auch durch Frost und Hunger gebleicht. Herr Hinze erblickte ihn zuerst und hielt oben auf seinem hohen Sitz die Zügel an, indem er Magnussen am Ohr zupfte. Sie weckten den Schläfer, der Anfangs tödtlich erschrocken vor dem zweiköpfigen Ungeheuer die Flucht ergreifen wollte. Er wurde aber durch die Siebenmeilenstiefel bald überholt, der Kleine kletterte hurtig hinunter und trat auf den Weinenden zu, dem er mit seiner Knabenstimme so freundlich zusprach, daß er ihn dahin brachte, sich zwischen den Beiden in ihr Haus führen zu lassen.
Hier wurde mit Hülfe der Schneidersfrau, die durch den Anblick des schönen Findlings mit der nächtlichen Störung geschwinde ausgesöhnt worden war, ein Lager im Atelier aufgeschlagen, und Magnussen selbst kochte ihm eine warme Suppe. Als er endlich zu Bett gebracht war, untersuchten sie die Taschen seines Wämschens. Darin fand sich ein Brief, den ein deutscher Maler in Rom an einen Freund in Düsseldorf geschrieben: er schicke ihm hier das schönste Modell, das ihm auf zehn Miglien in der Runde begegnet sei. Der kleine Domenico sei zwar erst dreizehn Jahr alt, aber ein gewandter Bursch und stamme aus einer Modellfamilie, die schon seit drei Generationen nur für die Kunst gelebt habe. Er habe ihn mit Paß und Geld und einer genauen Reiseroute versehen und hoffe, er werde glücklich ankommen und dem Absender Ehre machen.
Von diesen drei wichtigen Reisebedürfnissen war leider Nichts mehr zu finden. Dem Knaben mußten unterwegs von einem mitreisenden Gauner die Taschen umgekehrt und ihres Inhalts entledigt worden sein, so daß man auf der nächsten Station ihn nicht weiterbefördern wollte. Da hatte er den Weg zwischen die Füße genommen und sich eine Strecke weit durchgebettelt, mit Hülfe seiner schwarzen Augen und wallenden Locken, denen schwer zu widerstehen war. Dies war am folgenden Tage aus den Umständen und etlichen deutschen Brocken, die er unter dem Malervolk in Rom aufgeschnappt, leicht zusammenzureimen.
Auf Magnussen aber hatte der Fund einen besonders tiefen und schmerzlichen Eindruck gemacht.
Während der kleine Holzschneider den heimathlosen Knaben zunächst mit Künstleraugen betrachtete, verweilte sein grüblerischer Freund vor allem bei der sittlichen Seite der Sache. Nicht nur empörte es sein Gemüth, daß man so leichtsinnig mit einem unmündigen Menschenkinde verfahren und dasselbe wie ein Frachtstück mit einer Adresse versehen mehrere hundert Meilen weit hatte verschicken können; viel tiefer noch traf ihn der Gedanke an die Zukunft dieses jungen Lebens, an welchem Mutter Natur sich wahrlich nicht versündigt hatte.
Wir dürfen das nicht leiden, fuhr er endlich nach langem Brüten heraus. Es wäre eine Sünde und Schande, wenn gerade wir Zwei uns nicht mit aller Gewalt dagegen stemmten, daß diesem armen Kinde so schnöde mitgespielt wird. Zu nichts Anderem dressirt werden, als sich sein Lebenlang angaffen zu lassen – schön zu sein – abconterfeit zu werden –
Ihr vergeßt, Magnussen, daß es sich dabei um die Kunst handelt, sagte der Kleine schüchtern.
Kunst! Was ist die Kunst, daß sie sich herausnehmen darf, einen Menschen zu einer bloßen Augenweide herabzuwürdigen? Wenn sie was kann, soll sie's aus eigenen Mitteln dahin bringen, daß man was Schönes zu sehen kriegt. Dann vertheidigt Ihr am Ende auch jenen Bildhauer, der einen lebendigen Menschen ans Kreuz schlug, um danach sein Crucifix zu formen? Das freilich, was sie mit dem Jungen vorhaben, thut ihm jetzt noch nicht weh, weil er noch nicht Ehre und Schande unterscheiden kann. Wenn er's bei dem Gewerbe überhaupt nie lernt, um so schlimmer für ihn, und um so ruchloser von Denen, die dazu helfen. Nein, wir behalten ihn hier – es soll ein Mensch aus ihm gemacht werden, kein Schaustück. Und wenn hernach nichts weiter aus ihm wird, als ein Lohnkutscher oder ein Gassenkehrer – immer noch besser, als eine träge Kunstfigur, eine lebendige Gliederpuppe.
Er setzte sich sofort hin und schrieb einen langen Brief an den Polizeidirector, in welchem er den Fall umständlich mit einfacher Beredtsamkeit vortrug und sich erbat, den Knaben zu adoptiren und für seine Bildung zu sorgen.
Als er fertig war, nahm der Kleine ihm das saubere Schriftstück aus der Hand, las es sorgfältig durch und sagte endlich: Ihr wißt, Lieber, daß eine Frau ohne ihren Mann über ihr Vermögen nicht disponiren kann, auch kein Kind als das ihre aufziehen, über das der Gatte Nichts zu sagen hätte. Erlaubt also –
Er nahm die Feder und schrieb unter den Brief, daß er seinerseits mit Allem einverstanden sei und die Hälfte der Kosten zu tragen sich verpflichte.
Der Brief war nicht lange abgeschickt, so erschien der Polizeidirector, den der absonderliche Fall interessirte, in Person bei den beiden Schreibern und machte große Augen, als er ihre häusliche Einrichtung und ihr gemeinsames Leben überschaute. Da die Sache ihm selbst allerlei Verlegenheiten zu bereiten drohte, vor Allem eine umständliche Schreiberei veranlaßt hätte, so willigte er vorläufig darein, daß es nach dem Vorschlage der beiden seltsamen Gesellen gehalten werden sollte, bis er Die verständigt hätte, die etwa ein Einspruchsrecht besäßen.
Hiermit beeilte er sich nicht sonderlich, und so verging der Winter, ohne daß irgend Jemand sich in die Erziehungsversuche der beiden Freunde eingemischt hätte. Magnussen hatte sich sogleich eine italienische Grammatik und ein Wörterbuch verschrieben, mit deren Hülfe er dem Pflegesohn deutsche Stunden gab. Auch im Schreiben, dessen der junge Tagedieb durchaus nicht kundig war, mußte er sich täglich eine Stunde üben. Eine Kleidung, wie sie landesüblich war, hatte ihm der Schneider anfertigen müssen. In dieser wurde er mit der Schneidersfrau spazieren geschickt, da es ihm an frischer Luft nicht fehlen durfte und seine Adoptiveltern ihn nicht wohl bei ihrem Nachtwandeln mit sich nehmen konnten. Zu essen, ja zu naschen bekam er vollauf, hatte auch an einem fast gleichalterigen Knaben im Hause einen Gefährten, so daß er im Grunde ein Leben führte, wie ein junger Prinz, der auch nicht unter den großen Haufen niedrig geborener Muttersöhne sich mischen darf.
Und doch schien es ihm noch an irgend Etwas zu fehlen, da er oft, ohne etwas zu reden oder zu beginnen, lange Zeit vor sich hinsitzen und bald den Kleinen, bald den Großen mit fragenden Augen anstarren konnte. Ob es ihm unheimlich war unter diesen märchenhaften Menschen, war nicht zu errathen, da sein bischen Deutsch nicht zum Ausdruck feinerer Empfindungen ausreichte. Auch fragte ihn Niemand danach. Aber in einer Nacht – es war ein schönes Hochsommergewitter niedergegangen, und der weiche Regen, in den es sich auflös'te, hatte die beiden Freunde nach Mitternacht ins Freie gelockt – sie kamen sehr erfrischt an Herz und Sinnen von einem langen Herumschweifen heim, und der Kleine trat mit dem Großen ins Atelier, um sich, ehe er die Leiter hinaufstieg, erst noch an ihrem schlafenden Sohne zu erfreuen, – Magnussen machte Licht an und trug die Kerze mit vorgehaltener Hand in den Winkel, wo das Bett des Knaben stand –
Er ist nicht hier – sagte er dumpf, und die Flamme zitterte auf einmal stark. Wo mag er nur –
Im Nu war der Kleine die Leiter hinauf, man hörte ihn oben in allen Winkeln herumstöbern, dann die Thür öffnen nach der Wohnung der Schneidersleute.
Eine beklommene Stille trat ein. Darauf erklangen die leisen Tritte oben bis an den Rand der Fallthür.
Es hat nicht sein sollen, sagte die leise Stimme droben. Wir müssen uns darein finden, Lieber: wir sollen kinderlos bleiben. Soll ich zu Euch hinunterkommen, daß wir die Nacht nicht so ganz kümmerlich vergrämen? Oder meint Ihr, daß wir uns gleich wieder aufmachen, dem verlorenen Sohne nachzujagen?
Lange blieb es unten still. Dann hörte er Magnussen's Stimme: Macht die Klappe zu und schlaft! Ihr habt Recht: es hat nicht sein sollen. Ihm war nicht wohl bei uns. Können wir's ihm verdenken? Liefe nicht auch Jeder von uns lieber in die weite Welt, wenn wir wären wie Andere? Gute Nacht, Theodor!
Es war das erste Mal, daß er ihn bei seinem Vornamen nannte.
*
Sie hörten nichts mehr von dem Entflohenen, und sein Name wurde unter ihnen nie wieder genannt. Doch war es, als ob Jeder sich verpflichtet fühlte, den Andern für diesen Verlust zu entschädigen, indem er ihm noch herzlicher begegnete, als vorher. Wie sie nun immer unzertrennlicher wurden und einander schärfer beobachteten, konnte es Magnussen nicht entgehen, daß gegen Ende des Sommers, als der Garten drüben sein Laub verlor und die wilden Weinranken an einer zierlichen Veranda sich purpurroth färbten, der Kleine oft mitten unter der Arbeit nach dem Operngucker griff und unverwandt halbe Stunden lang hinüberschaute. Auf die Frage, was es dort Sehenswürdiges gebe, machte er zuerst allerlei ungeschickte Ausflüchte, wobei sein kleines rundes Gesicht sich so auffallend röthete, als würde es vom Widerschein der Herbstfarben angeglüht. Eines Tags aber sagte er mit einem männlichen Entschlüsse, der ihm sichtbar schwer wurde:
Ich darf es Euch nicht verschweigen, Lieber, daß ich meine Augen da auf verbotenen Wegen spazieren führe. Ein treuer Ehemann soll nicht nach hübschen Mädchen spähen, wenn ihm auch seine Gattin nicht vorzugsweise wegen ihrer körperlichen Reize lieb und werth ist. Aber Ihr kennt meine Grundsätze und wisst, daß es keine Gefahr hat. Und wie ich das liebe Gesicht da drüben, das dem Enkelkind der alten Leute gehört, zufällig zum ersten Mal erblickte, da das Fräulein jetzt aus der Pension zurückgekehrt ist, konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß ich unter den mittelmäßigen Menschenkindern noch nichts Liebenswürdigeres gesehen hätte, und seitdem bin ich förmlich wie verhext; sobald sie nur den Garten betritt, giebt es mir einen kleinen Stoß gegen das Herz, daß ich's mitten in der Arbeit spüre, wie wenn eine elektrische Leitung zwischen der Schwelle des Altans drüben und diesem meinem Stuhl bestände. Dann mag ich mich wehren, wie ich will: ich muß Alles stehen und liegen lassen und nur ihre zierlichen Bewegungen verfolgen. Seht sie Euch nur auch einmal an und sagt dann, ob man sich etwas Allerliebsteres denken kann,
Magnussen stieg aus der Fallthüre vollends heraus, doch ohne sich aufzurichten, kroch nach dem Fenster hin und versuchte durch das kleine Instrument zu sehen, was ihm freilich nur halb gelang. Denn es war für Augen gemacht, die einander doppelt so nahe standen, wie die seinen. Doch als er darauf verfiel, nur durch das eine Glas zu sehen, erkannte er drüben deutlich die schlanke Gestalt eines jungen Mädchens, das zwischen den halb entblätterten Rosen hinwandelte, hie und da eine verspätete Blüte vom Zweige brach, allerlei grüne Sprossen und seltsam geformte Blätter dazuthat und sichtbar an dem Herbststrauß, der ihr unter den Händen wuchs, sich erfreute.
Nun, was sagt Ihr? Wie findet Ihr sie? fragte der Kleine, als ihm dies stumme Observiren zu lange dauerte, und streckte die Hand wieder nach dem Operngucker aus.
Sie ist ganz niedlich, versetzte Magnussen und erhob sich gleichmüthig, um geduckt nach der Fallthür zurückzugehen.
Niedlich! fuhr der Kleine auf. Ihr seid ein Barbar, ein so hartgesottener Weiberhasser, daß Euch die Göttin der Schönheit selbst, wenn sie eben vor Euren Augen aus dem Meere stiege, nicht viel sehenswürdiger erscheinen würde, als die erste beste Putzmacherin. Habt Ihr Euch das feine Oval des Kopfes betrachtet, fast wie ein Ei geformt, nur weit reizender, weil die Wangenlinie belebt ist und das Kinn über dem Hälschen eine leichte Biegung macht, und diese unschuldigen Augen und den Mund, den kein Rafael so recht nachzeichnen könnte? Und wie dies ganze bezaubernde Häuptlein auf den Schultern sitzt und sich hin und her bewegt, und die braunen Löckchen oben an der Stirn im Winde wehen und die Nasenflügelchen zittern, wenn sie lacht –
Das Alles hättet Ihr durch Euer Glas gesehen? Geht! Das habt Ihr Euch hinzugeträumt. Nehmt mir's nicht übel, Theodor: Ihr seid auf dem besten Wege, Euren Grundsätzen untreu zu werden und Euch bis über die Ohren in diese hübsche Person zu verlieben.
Mein Freund, versetzte der Kleine feierlich und ließ das Glas sinken, durch das er inzwischen wieder hinübergespäht hatte, Ihr habt noch immer keinen klaren Begriff von der Mannhaftigkeit meines Charakters. Wenn diese Brust nicht mit dreifachem Erz gepanzert wäre, würde ich meinen Augen nicht erlauben, sich an einem solchen Menschenbilde zu weiden. Das aber gestehe ich freilich, daß ich nicht ohne Kummer daran denke, wie es sein könnte, wenn es anders wäre. Hätte ich das Militärmaß, so würde mich der Umstand, daß mein Vater nur ein unscheinbarer Haarkräusler war, der ihrige aber ein Baron, keinen Augenblick abhalten, Alles daranzusetzen, um dieses Kleinod zu gewinnen. Auch traute ich mir dann zu, so liebenswürdig zu sein und ein so respectabler Künstler zu werden, daß sie sich meiner nicht zu schämen hätte. Wie die Sachen jetzt stehen, braucht Ihr nicht zu fürchten, daß ich Euch untreu werden möchte.
Magnussen erwiderte Nichts hierauf. Doch obwohl er eine sehr hohe Meinung von der Heldenstärke hatte, die in dieser winzigen Brust wohnte, konnte er sich doch einer immer wachsenden Sorge nicht erwehren, da er wahrnahm, daß die junge Nachbarin sich mehr und mehr aller Gedanken ihres stillen Verehrers bemächtigte. Nicht selten geschah es, daß der Kleine, wenn sie unten im Atelier in friedlichem Gespräch beisammensaßen, plötzlich aufsprang und die Leiter hinaufkletterte, unter dem Vorwande, einen Brief an einen seiner Verleger oder Kunstfreunde schreiben oder ein Gläschen von seinem Liqueur trinken zu müssen, da ihn eine kleine Schwäche anwandle, oder was es sonst war. Er konnte dann das Wiederkommen stundenlang vergessen, so daß Magnussen merkte, es müsse im Garten drüben viel zu sehen sein. Er selbst blickte nur selten über das grüne Tuch, das die untere Hälfte seines großen Fensters verkleidete, zu den Nachbarn hinüber, auf die er nach und nach einen stillen Haß warf. Dabei mußte er sich dennoch gestehen, daß es sich lieblich ausnahm, wenn die alte Frau drüben auf den Arm des schlanken Mädchens gestützt unter dem leisen Blätterfall hinwandelte, oder der Großpapa in seinem Lehnstuhl auf dem Altan saß, das schöne Enkelkind auf einem Schemel zu seinen Füßen, eine große Zeitung auf dem Schooß, aus der sie dem Alten, der blaue Wölkchen aus seiner Meerschaumpfeife dampfte, mit großer Geduld stundenlang vorlas. Er wußte aber, daß droben am Mansardenfenster all diese anmuthig wechselnden Bilder von einem weit dankbareren Publikum betrachtet wurden, und daß jede Wendung und Neigung des reizenden Mädchenkopfes das tapfere Herz in dem zarten Busen seines Freundes höher klopfen machte.
Wie er nun merkte, daß die Sache immer ernsthafter wurde, der Kleine nicht nur seinen fröhlichen Kinderappetit und trefflichen Schlaf verlor, sondern auch die Arbeit, selbst in den Stunden, wo er nicht auf seiner Sternwarte saß, völlig liegen ließ, beschloß er, ein nachdrückliches Heilmittel zu versuchen, von dem er sich Großes versprach. Es war ihm sehr wahrscheinlich, daß die Behebung zum Theil durch die Entfernung so weit gediehen sei und von ihm abfallen, oder doch gelinder werden möchte, wenn der Gegenstand der Sehnsucht in greifbare Nähe gerückt würde. Nicht nur der verklärende Duft, den der helldunkle Garten um das junge Mädchen wob, würde schwinden, auch die natürliche Unverträglichkeit ihrer Maße müßte dem Kleinen dann abschreckend zum Bewußtsein kommen, während durch die runden Gläser des Fernröhrchens ihre Gestalt ihm nicht viel anders vorkam, als wie die erste beste Märchenprinzessin, von der seine Mutter ihm vorerzählt hatte.
Als Magnussen indessen das erste Mal mit seinem Vorschlage herausrückte, dem Fräulein durch irgend eine Veranstaltung, bei der die Schneidersfrau mithelfen müßte, etwas näher zu rücken, etwa sich in den Garten einzuschleichen und unter Gesträuch verborgen sie bequemer in Augenschein zu nehmen, stieß er auf einen Widerspruch, den er nicht erwartet hatte. Ich weiß, worauf Ihr zielt, sagte der Kleine ernsthaft. Ihr wollt es mit mir machen, wie die Kuchenbäcker mit ihren Lehrbuben, die sich zuerst überessen dürfen an allen Leckereien, um hernach keine Versuchung mehr zu erleiden. Dies aber würde bei mir fehlschlagen. Meine Gefühle für dieses seltene Wesen sind geistiger Natur, und wie man sich an einem edlen Kunstgebilde nicht satt sehen kann, aus so großer Nähe man es auch betrachtet, so würde sich gewiß auch die Andacht nicht abstumpfen, die ich empfinde, so oft ich dies Gesicht sehe. Solch ein Versteckensspielen aber hat etwas Feiges und Hinterhältiges, das meinem Charakter widerspricht. Und wenn ein tückischer Zufall wollte, daß sie mich dabei ertappte und mich wie ein fremdartiges Thier anstarrte, das aus einer Menagerie entsprungen wäre, schämte ich mich in den Erdboden hinein und könnte nie wieder froh werden. Nein, Lieber, macht Euch keine Sorge weiter um mich. Ich verspreche Euch, ich werde mich so verständig aufführen, wie es meinen Jahren und meiner Lebenserfahrung geziemt. Wenn ich weniger Appetit habe, ist's kein Schade. Ich habe in der letzten Zeit etwas zur Corpulenz geneigt, was das Ebenmaß meiner Figur zu zerstören droht.
Magnussen schwieg, obwohl ihn diese Reden nicht sonderlich beruhigten. Hätte er vollends gewußt, mit welch abenteuerlichen Gedanken der kleine Ritter Toggenburg umging, so wäre er in große Angst gerathen. Denn immer heftiger arbeitete in dem zarten Herzchen das Verlangen, dem Gegenstande seiner Neigung wenigstens so nahe zu kommen, daß er die Stimme dieses verehrten Menschenkindes hören könnte. Er hütete sich aber wohl, von einem solchen immerhin bescheidenen höchsten Glück, das er sich träumte, seinem Gefährten etwas zu verrathen, da er fürchtete, lächerlich zu erscheinen. Nun hatte er öfters beobachtet, daß in der Abendstunde das Pförtchen in der Gartenmauer drüben sich aufthat und die alte Frau von ihrer Enkelin geführt sich auf die Straße begab und um die nächste Ecke verschwand. Durch hingeworfene Fragen an die Schneidersfrau war er darüber aufgeklärt worden, wohin die Beiden gingen. Das junge Kind hatte einen lebhaften Hang, das Theater zu besuchen, und die Großmama gab ihm willig nach. Auf demselben Wege kehrten sie dann in der späten Abendstunde nach Hause zurück, was unbedenklich war, da in diesem Stadtviertel nur anständige Leute wohnten und die Laternen hell genug die Straße beleuchteten. Hierauf hatte der schüchterne Liebende seinen Plan gebaut.
An einem der nächsten Abende, als Magnussen gerade durch ein heftiges Zahnweh gepeinigt wurde und angekündigt hatte, er werde mit einem glühenden Draht den tobenden Nerv zur Ruhe bringen und dann zu schlafen versuchen, stand der Kleine gespannt auf seinem Lauerposten und sah mit Herzklopfen, wie drüben die Pforte aufging und das Paar Arm in Arm heraustrat. Er wartete noch eine Stunde, bis es ganz dunkel geworden war, fragte dann durch die Fallthür an, wie es stehe, und als er den tröstlichen Bescheid erhalten, die Operation sei glücklich von Statten gegangen, rief er eine gute Nacht! hinunter und schloß sorgfältig die hölzerne Klappe. Dann, begann er seine kleine Person so säuberlich herzurichten, als ob es zu einem Feste gehen sollte, zog seine besten Kleider an, bürstete die Härchen vor dem Spiegel, bis sie so glatt waren wie bei einem Schulkinde, das die Mutter Sonntags gesalbt und gestriegelt hat, und probirte mehrmals das Hütchen auf, dem er durch einige sanfte Knüffe einen malerischen Anstrich gab. Dann ergriff er sein Stöckchen, während er die Laterne nicht anrührte, öffnete geräuschlos die Thür und schlich auf den Zehen die hohe Treppe hinunter, indem er mit leisem Pfeifen seinen sinkenden Muth aufrecht zu halten suchte. Es ging aber Alles glatter und gefahrloser, als er gefürchtet hatte. Den Weg zum Theater kannte er genau von seinen nächtlichen Spaziergängen her, und da er sich immer im Schatten hielt, beachtete ihn Niemand. Als er dann sein Ziel erreicht hatte, schmiegte er sich in einen Winkel neben der Freitreppe, die zum Eingang des Theaters hinaufführte, und saß hier auf einem Steinhaufen wohl noch eine Stunde lang in der wunderlichsten Stimmung von der Welt. Er kam sich fast wie ein wegelagernder Raubritter vor, der im Hinterhalt auf eine Prinzessin lauere, obwohl der Schatz, auf den er es abgesehen, in nichts Anderem bestand, als in ein paar Tönen ihrer Stimme. Manchmal, wenn ihm irgend ein müßig herumschlendernder langer Mensch nahe vorbeistreifte, überlief ihn ein leiser Schauer. Er fürchtete Nichts für sich selbst, nur für das Scheitern seines Unternehmens, und drückte den Hut tiefer ins Gesicht. Die Nacht war gelinde; dennoch fröstelte es ihn, da er sich ein wenig matt fühlte, denn er hatte vor Aufregung nichts essen können. Zuletzt war er nahe daran, das Bewußtsein zu verlieren. Da wurde gerade noch zur rechten Zeit die Hauptthür weit geöffnet, das Theater war aus, die Menge strömte ins Freie.
Sofort war er auf den Beinen und jede Spur von Schwäche von ihm gewichen. Er hatte sich auf sein Steinhäuschen gestellt und konnte, wenn er sich auf den Zehen erhob, das ganze Menschengewühl überschauen. Und jetzt, nachdem die Meisten sich schon zerstreut hatten, sah er die geliebte Gestalt auf der Schwelle erscheinen, neben ihr die Alte, die mit unsicherem Blick und Gang die Stufen betrat und von der jungen Begleiterin sorgsam geführt und gestützt wurde. Als sie unten angelangt waren, verließ auch er sein dunkles Versteck und folgte dem Paar mit unhörbaren Schritten in so geringer Entfernung, daß er, als sie erst in eine stillere Straße gelangt waren, jedes Wort, das sie sprachen, verstehen konnte.
Sie hatte eine sehr liebliche, helle und weiche Stimme, die ihm bis ins Innerste drang und sein ganzes Wesen mit Wohllaut füllte, und vollends ihr Lachen schien ihm eine wahre Zaubermusik. Mit kindlicher Munterkeit sprach sie von Diesem und Jenem, was ihr während der Vorstellung besonders gefallen hatte, und erinnerte die Alte an die lustigsten Stellen. Als es dann Neun schlug, wurde sie ernsthaft und fing davon an, ob der Großvater auch gut versorgt gewesen sein möchte, während sie sich so herrlich unterhalten hatten. Dabei beschleunigte sie ihren Schritt und entschuldigte sich dann wieder, daß sie die Großmutter zu sehr überhaste. Auf einmal aber blieb sie stehen und sah mit gespanntem Blick auf eine Gestalt, die ihnen entgegenkam. Ein Mensch in sehr verwahrlos'tem Aufzuge, den Cylinderhut schief aufgestülpt, die Weste offen und einen zerrissenen Regenschirm über sich haltend, obwohl der Himmel wolkenlos war, näherte sich ihnen mit schwankenden Schritten, unverständliche Worte lallend, die seinen Zustand vollends offenbarten. Als er die beiden Frauen erblickte, blieb er stehen, lüftete ein wenig den Hut und schlug eine heisere Lache auf.
Kommst du endlich, mein Schätzchen? rief er. Wo hast du die ganze Zeit gesteckt, während ich – verdammte Spelunke! – sie haben mir Gift ins Glas gegossen – aber das thut Nichts, ich bin, wie du siehst, ganz munter – wir wollen die Nacht durchtanzen – schick nur die alte Hexe fort, die brauchen wir nicht dabei – komm, gieb mir deinen Arm – Was? du sperrst dich? Kennst du mich etwa nicht? Weißt du nicht –
Er war noch einen Schritt näher getreten und streckte die Hand nach dem jungen Mädchen aus, das sich vor die alte Frau gestellt hatte und trotz ihres tiefen Entsetzens den sinnlos Zudringlichen mit festen Augen anblitzte.
Ich kenne Sie nicht, Herr! sagte sie mit leise bebender Stimme. Bitte, lassen Sie uns gehen – wir werden zu Hause erwartet –
Ein neues Auflachen und ein Schwall verworrener Reden antwortete ihr, während die alte Dame sie leise beschwor, mit ihr die Flucht zu ergreifen. In diesem Augenblick ließ sich eine hohe, dünne Knabenstimme in gebieterischem Ton vernehmen:
Machen Sie, daß Sie fortkommen! Unterstehen Sie sich nicht, die Damen anzurühren! Hören Sie? Auf der Stelle geben Sie die Straße frei –
Der Taumelnde stutzte und fuhr sich über das Gesicht. Das Mädchen aber wandte sich nach der Seite, von wo die Stimme hergekommen war, und erblickte die zierliche Figur, die in glühender Hast vorsprang und jetzt, mit abgezogenem Hut, das Stöckchen aber drohend erhoben, zwischen sie und den gefährlichen Menschen trat.
Seien Sie unbesorgt, Fräulein, fuhr der Kleine fort. Es soll Ihnen Nichts zu Leide geschehen. Der Herr hat sich offenbar in der Person geirrt und wird jetzt selbst bedauern, Sie erschreckt zu haben. Kommen Sie nur!
Damit machte er ihr voran eine Bewegung, als ob er sie an dem Trunkenen vorbeiführen wollte. Der aber hatte sich von der ersten Betroffenheit erholt und hielt jetzt den Schirm quer über den Weg, so daß der Kleine stehen bleiben mußte.
Was fällt dir ein, mein Jüngelchen? rief er. Willst du erwachsene Leute mores lehren? Mach dich fort, oder ich spieße dich mit meinem Schirm wie einen Frosch. Mein Schätzchen aber, wenn es auch thut, als ob wir uns nie gesehen hätten –
Er brachte Nichts weiter heraus; denn plötzlich flog ihm, durch einen Schlag des Stöckchens getroffen, der Schirm aus der Hand und fuhr eine Strecke weit über das Pflaster. Ha, Kröte! lallte er, während sein geröthetes Gesicht von jäher Wuth verzerrt wurde, – kommst du mir so? Willst du frecher Knirps im Ernst mit mir anbinden? So soll doch ein heiliges Donnerwetter –
Und mit beiden Fäusten nach dem vermeintlichen Knaben greifend, hob er ihn in die Höhe, schüttelte ihn einen Augenblick in der Luft und schleuderte ihn dann mit aller Macht gegen die nächste Mauer, daß der hülflose kleine Körper mit einem leisen Wehlaut zusammenbrach.
Ein Schrei des Entsetzens erklang von den Lippen des jungen Mädchens, ein angstvoller Hülferuf der alten Frau, im nächsten Augenblick waren sie von Menschen umringt, die der Scene von der anderen Seite der Straße zugesehen hatten, – etliche beherzte Männer griffen nach dem Gewaltthätigen, der aber, plötzlich ernüchtert, das Getümmel um sich her durchbrach, die Fäuste, die ihn packen wollten, abschüttelte und mit großen Sätzen in eine der dunklen Seitengassen entsprang.
Auf dem Pflaster, regungslos, die Steine umher mit einem hellen Blutstrom färbend, der ihm aus der schwergetroffenen Brust hervorbrach, lag der Kleine, die Augen geschlossen, das Stöckchen aber noch fest in der Hand. Neben ihm kniete das junge Mädchen, die Augen von Thränen überströmt, und versuchte mit ihrem Tuch das Blut zu hemmen. Man hatte aus den nahen Häusern Lichter gebracht, die Straße füllte sich mehr und mehr mit neugierigen Menschen, die, sobald sie das blasse Geschöpschen am Boden erblickten, in mitleidiges Klagen ausbrachen. Ein Schutzmann kam dazu, der den Bewußtlosen erkannte und anordnete, daß er nach seiner Wohnung gebracht werden solle. Als das Mädchen hörte, das Haus liege dem ihren gegenüber, ließ sie es sich nicht nehmen, die kleine Leidensgestalt selbst aufzuheben und in ihren Armen die kurze Strecke weit zu tragen. So kamen sie, von einem dichten Menschenschwarm gefolgt, bei dem Hause an, wo Magnussen Nichts ahnend auf seinem breiten Lager den Schlaf heranwartete.
*
Warum wollte der nicht kommen? Der Einsame hatte doch die ganze vorige Nacht sich schlaflos in seinen Schmerzen gewälzt und lag nun abgemattet, nachdem der Sturm vertobt war, die verschwollene Backe mit einem dicken Tuch umwickelt. Doch war er gewohnt, den behutsamen Schritt der kleinen Füße über seinem Haupt zu hören, und heute blieb es in der Mansarde so still. Gewiß wollte sein Freund ihn nicht stören und schlich auf den Strümpfchen herum. Aber gerade das ließ ihn nicht einschlafen.
Auf einmal aber wurde es auf der Straße und im Hause drunten lebendig. Magnussen fuhr in die Höhe. Eine plötzliche Angst trieb ihn die Leiter hinauf, er stieß die Fallthür zurück und stieg gebückt in die Mansarde hinein. Theodor! rief er. Seid Ihr schon zu Bette? – Dann, da es still blieb, zündete er mit zitternden Händen das Laternchen an, das mitten auf dem Tische stand. Er leuchtete im ganzen Zimmer herum, und eben wollte er zu den Hausleuten, um zu fragen, ob sie wüßten, wohin der Kleine zu dieser ungewohnten Stunde gegangen sein möchte, da näherte sich der Lärm draußen der Thür, sie wurde hastig geöffnet, und das schöne Mädchen trat ein, den leblosen kleinen Körper in den Armen.
Hinter ihr die alte Dame, die Schneidersfrau, einige andere Hausgenossen. Niemand beachtete die ungefüge Gestalt, die vor den Eintretenden an die dunkle Wand zurückgewichen war und in das schreckenvolle Gedränge wie in einen tollen Traum hineinstarrte. Das Mädchen hatte ihre hülflose Last auf das Bett niedergelegt und war dicht davor auf die Kniee niedergesunken. Sie sprach kein Wort, man hörte nur das Jammern der Schneidersfrau und halblaute Fragen und Ausrufungen der anderen Weiber. Dann ging wieder die Thür, und ein Arzt, den man auf der Straße aufgegriffen, trat ein. Er untersuchte, nachdem er sich den Hergang hatte erzählen lassen, lange und sorgfältig den kleinen Körper, ließ sich einige belebende Mittel bringen, rieb die Schläfen des für todt Daliegenden und flößte ihm ein paar ätherische Tropfen ein, die zum Glück in Bereitschaft waren. Er lebt! schrie die Hausfrau und fing plötzlich laut an zu weinen. Wirklich schlug der Kleine die Augen auf und ließ einen matten Blick über die Gesichter gleiten, die sein Bettchen umstanden. Als er das zarte blasse Antlitz der vor ihm Knieenden erkannte, überflog ein Lächeln seinen schmerzlich verzogenen Mund. Eine schwache Röthe färbte die erblichenen Wangen. Ach! sagte er mit einem Ton überirdischen Glückes. Dann haschte er nach einer der Hände, die sich ihm entgegenstreckten, und indem er sie seinen Lippen näher zog, drückte er sie schwach und lallte ein paar unverständliche Worte. Dann wurde sein Ausdruck wieder ernst, er ließ die Hand fahren, sah über die Näherstehenden hinweg, als suche er Etwas mit wachsender Angst, ob er es auch noch finden werde. Christoph! – hauchte er kaum vernehmbar. Da stürzte der Freund, der bisher wie gelähmt im Schatten gestanden, mit dumpfem Stöhnen hervor und warf sich neben das Bett nieder. Die kleine Hand legte sich ihm leise auf die Schulter. Noch einmal ging jenes sanfte Lächeln über die bleichen Züge, dann neigte er den Kopf nach der Wand, die Hand glitt herab, und nach einem letzten bangen Aufflackern erlosch die Lebensflamme. –
Man hatte das junge Mädchen in halber Ohnmacht hinwegtragen müssen, die übrigen Zeugen dieser trauervollen Scene waren gefolgt, nur die Hausleute blieben zurück, die Frau in beständigem halblautem Schluchzen, ihr Mann in rathloser Betäubung. Nach einer Weile aber trat die Wirthin an Magnussen heran, der, so wie er hingesunken war, noch immer auf dem Boden neben dem Bette lag, rührte ihn leise am Arm und fragte, ob er nicht hinuntergehen wolle; sie werde die Nacht bei der Leiche wachen. Nur ein kurzes heftiges Kopfschütteln antwortete ihr. – Ob er sonst etwas bedürfe? Ob sie eine Lampe bringen solle? – Ihr Mann, der trotz seiner unterwürfigen Stellung im Hause ein feineres Zartgefühl hatte, zog sie endlich aus dem Zimmer, das nur durch das Laternchen erleuchtet war. Der Kanarienvogel, der ängstlich gezwitschert hatte, wurde endlich still, die letzten summenden Stimmen unten vorm Hause, die das Ereigniß besprachen, verstummten; mehr als einmal schlich die Schneidersfrau in der Nacht an die Thür und spähte durch das Schlüsselloch. Sie sah immer die riesenhafte Gestalt regungslos auf der alten Stelle, bis die Kerze in der Laterne erlosch und Nichts mehr zu erspähen war.
Als sie am frühen Morgen auf den Zehen wieder eintrat, blickte sie in zwei geröthete überwachte Augen unter einer düster gefalteten Stirn, die sie fast drohend anstierten, als ob sie kein Recht hätte, in diesen geweihten Raum einzudringen. Sie ließ sich aber nicht zurückschrecken. Die Leiche müsse eingekleidet werden, sie habe schon den Sarg bestellt, sie gebe Herrn Magnussen ihr heiliges Wort, daß keine anderen Hände, als die ihrigen, den Todten anrühren würden. Er wisse ja, wie viel sie auf ihn gehalten, wie ein eigenes Kind sei er ihr gewesen. Dabei flossen ihre Thränen. Nun möge er auf ein paar Stunden sich zurückziehen, es werde ihn zu hart angreifen, zugegen zu sein. Wenn Alles geschehen, werde sie ihn rufen.
Magnussen sah an ihr vorbei, als hörte, er eine Stimme aus weiter Ferne. Doch raffte er sich endlich mühsam auf, wankte nach der Fallthür und kroch die Leiter hinab. Unten fiel er wie ein umgehauener Baum auf sein Lager; nach wenigen Minuten schloß ihm ein bleierner Schlaf die Augen.
So lag er, ohne von sich zu wissen, bis an den Nachmittag. Da weckte ihn ein Alpdruck, der ihm die Brust zusammenpreßte, daß er ächzend vom Lager aufschrak. Er saß und besann sich langsam. War das Alles geträumt, was plötzlich wieder vor seiner Seele stand? Er lauschte in die Mansarde hinauf, Tritte und Stimmen drangen zu ihm herab; sofort stieg er die Leiter hinan und warf mit einem Ruck die Fallthür zurück, sein struppiges Riesenhaupt durch die Oeffnung steckend. Da sah er in der Mitte des Zimmers seinen Freund aufgebahrt, in einem gelben Kindersärglein mit blanken Verzierungen, Kränze und Blumensträuße ringsum auf dem Teppich, und eine Schaar neugieriger Weiber um die Schneidersfrau versammelt, die sich weinend und flüsternd von dem Trauerfall unterhielten.
Wie ein Spatzenschwarm, wenn eine Eule plötzlich sich blicken läßt, stoben sie davon, als das Schreckgesicht aus der Versenkung auftauchte. Magnussen aber stieg vollends hinauf. Ein bitterer Schmerz durchfuhr ihn, als er bedachte, wie lange schon die wehrlose Gestalt seines Freundes hier zur Schau ausgestellt sein mochte, noch im Tode nicht geschützt gegen die blöde Neugier, vor der er sich sein Leben lang zurückgezogen hatte. Er verriegelte sogleich die Thür und trat dann an den kleinen Sarg. Das Kreuzchen, das die Hausfrau zwischen die gefalteten Händlein gesteckt, nahm er heraus, dafür gab er ihm sein Wanderstöckchen und legte das Laternchen daneben. Das kleine Gesicht war heiter, ohne jede Spur des Leidens, doch nicht wie eines schlafenden Kindes, sondern ein gewisser heroischer Zug schien die bleichen Lippen noch jetzt zu beseelen, und das Blumenkränzchen, das die Frau ihm aufgesetzt, sah aus wie der wohlverdiente Schmuck eines Siegers.
Nachts, als im Hause wieder Alles schlief, verschloß Magnussen den Sarg und schraubte den Deckel sorgsam fest. Dann sah er sich im Zimmer um und nahm von den Sachen, die herumlagen, das türkische Schlafröcken und das rothe Mützchen zu sich. Diese Reliquien schlug er in ein Tuch und hing das Bündel an seinen rechten Arm. Das Särglein aber hob er auf die linke Schulter und verließ so das Haus, ohne von irgend Jemand in seinem Beginnen gestört zu werden.
*
Früh am andern Tag saß der Polizeidirector noch in seinem Hause und las die Zeitung, als zwei eilige Meldungen ihn aus seiner Morgenruhe aufstörten.
Die Frau des Schneiders kam in großer Aufregung, zu berichten, die Leiche des Herrn Theodor Hinze, ihres Miethers, sei sammt dem Sarge über Nacht aus der Wohnung verschwunden, und da auch von Herrn Magnussen Nichts zu hören und zu sehen, könne man nur glauben, er habe den Raub verübt, was sie hiemit pflichtschuldigst zur Anzeige bringe.
Mit ihr war ein Forstwächter eingetreten, der jetzt berichtete, er sei um Mitternacht im Föhrenwalde eine Stunde vor der Stadt einem erschrecklichen gespenstischen Ungethüm begegnet, das mit großen, langsamen Schritten auf einem Seitenwege herangekommen sei, gerade vor sich hin blickend und Etwas auf der Schulter tragend, das er, da er sich näher herangeschlichen, für einen Kindersarg erkannt habe. Er habe sich nicht getraut, das Gespenst anzurufen, doch auch nicht sich enthalten können, hinter den Bäumen verborgen ihm dicht an der Seite zu bleiben. An einer Lichtung, wo es heller geworden, habe er dann gesehen, daß es kein Spuk gewesen, sondern ein ungeheuer großer Mann, dem beständig die dicken Thränen aus den tiefverschatteten Augen herabgerollt seien, während er seine Last auf der Schulter so sorgsam getragen habe, wie ein Kästchen, in welchem ein großer Schatz verborgen. Als der Wald zu Ende gewesen, habe er nicht gewagt, weiter mitzugehen, aus der Ferne aber deutlich gesehen, wie die Ungestalt sich dem einsamen Schuppen dort am Flusse genähert, die Thür aufgeschlossen habe und im Innern verschwunden sei.
Sofort machte sich der Polizeidirector von einigen feiner Leute begleitet auf den Weg, und die Schneidersfrau ließ es sich nicht nehmen, der Expedition sich anzuschließen. Als sie endlich die abgelegene Baracke erreicht hatten, klopfte der treffliche Mann, der neben seinem Amtsgewissen auch ein menschliches Herz im Busen trug und von jeher mit dem Ausnahmemenschen gern eine Ausnahme gemacht hatte, nicht barsch, sondern wie ein freundschaftlicher Besucher an das verschlossene Thor und bat Herrn Magnussen, zu einer kleinen Besprechung herauszukommen. Es kam aber weder der Gerufene, noch überhaupt ein Echo aus dem hohlen Innern des alten Schuppens. Dagegen fand sich der Bauer aus dem nachbarlichen Gehöft hinzu und erklärte, es sei mit Herrn Magnussen Nichts anzufangen, wenn er übel aufgelegt sei. Er könne dann so hartnäckig in seinem Bau stecken, wie ein alter Dachs im Winter. Dies jedoch dauere gewöhnlich nicht lange, da er im Grunde von sehr guter Gemüthsart sei. Vielleicht schon morgen werde er das Thor von selbst öffnen, das man jetzt nur mit Gewalt aufbrechen könnte. Zudem, wenn er auch vielleicht mit Mundvorrath versehen wäre, fehle es doch in seiner Klause an Wasser, so daß schon der Durst ihn endlich zwingen werde, sich hinauszubegeben. Der Herr Polizeidirector möge nur Wachen stellen, daß er nicht etwa bei Nacht heimlich an den Fluß hinunterschleiche.
Die Wachen wurden denn auch gestellt, doch völlig vergebens, da bei Tag und Nacht sich in der unheimlichen Festung Nichts rührte, obwohl der Belagerte täglich aufgefordert wurde, sich zu ergeben. Am sechsten Tage endlich riß dem Polizeidirector die Geduld. Er pochte abermals an, jetzt gebieterischer, und fügte die Drohung hinzu, er werde die Thür mit Aexten einschlagen lassen, wenn sie nicht aus freien Stücken geöffnet würde. Da es auch hierauf still blieb, ließ er Ernst machen, und es währte nicht lange, so drang heller Tagesschein in den schauerlich verdunkelten Raum, dessen Luken in all der Zeit nicht geöffnet worden waren. Als der Polizeidirector Allen voran hineintrat, blieb er betroffen nahe an der Schwelle stehen. Das Sonnenlicht fiel über die riesige Gestalt, die auf der nackten Erde saß, den Rücken gegen den Herd gelehnt, den mächtigen Kopf tief auf die Brust gesenkt. Auf der Bank ihm gegenüber lag das türkische Schlafröckchen und die rothe Mütze, sonst war es öde ringsum, von dem kleinen Sarge nirgend eine Spur. Der Bauer aber deutete auf den Fleck am Herde, auf welchem der Versteinerte ruhte, und raunte dem gebietenden Herrn zu, daß hier die Erde frisch aufgegraben und eine Erhöhung entstanden sei. Jener aber nickte nur und trat näher herzu. Als er den Namen des Verstummten rief und, um ihn etwa aus einer Ohnmacht zu wecken, ihn an der Schulter faßte, verlor die entseelte riesige Gestalt das Gleichgewicht und sank auf die Seite über den kleinen Hügel hin, den sie hier sechs Tage und Nächte lang gehütet hatte.
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