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(1882)
In einer ansehnlichen norddeutschen Stadt lebte ein sehr einsamer Mensch. Er hatte weder Feinde noch Freunde, und mit seinem eigenen Ich stand er nicht auf dem besten Fuß, obwohl er sich im Grunde nichts Anderes vorzuwerfen hatte, als daß er sich selbst nicht sonderlich liebenswürdig fand. Dies hielt ihn auch ab, sich Solchen, die ihm wohlwollten, freundschaftlich zu nähern, da er überzeugt war, er habe Niemand etwas zu bieten, was der Mühe werth wäre. Daß hinwiederum Niemand ihm übelwollte, rechnete er sich nicht zum Verdienst. Es wäre ihm gegen das Gemüth gegangen, irgend einer Menschenseele mit Wissen etwas zu Leide zu thun, und da er Sorge trug, sein eigenes Licht ja nicht zu hell leuchten zu lassen und nirgendwo ein Nebenlichtchen zu überglänzen, hielt man ihn für einen völlig harmlosen, brauchbaren, nur leider etwas mißtrauischen und menschenscheuen Gesellen.
Für einen solchen hatte er schon in der Dorfschule gegolten, wo er einen Theil seiner Jugendjahre verbrachte. Sein massives Aeußere, die unbeholfenen Gliedmaßen, die sich selbst immer im Wege waren, der still vor sich hin sinnende Blick der sanften grauen Augen unter gefährlich drohenden fast zusammengewachsenen Brauen – das Alles hatte ihm schon auf der Schulbank eine Menge von Hänseleien und nicht immer säuberlichen Angriffen eingetragen, da es selbst die Feigeren reizte, den täppischen Bären aus seiner Gelassenheit aufzustacheln und sich dann an seinen gelegentlichen Wuthausbrüchen aus sicherer Ferne zu weiden. Auch zeigte er hier unter der Fuchtel eines jähzornigen Schulmeisters nur geringe geistige Gaben. Zu Nichts war er aufgelegt, als zum Zeichnen, das er unermüdlich auf seine eigene Hand betrieb, nicht in der kindischen Art, daß er Tische und Bänke mit nichtsnutzigen Figürchen bekritzelte, sondern ganz nachdenklich und gewissenhaft in der Werkstatt seines Vaters, der ein armer Dorftischler war und nie im Leben daran denken konnte, die schönen palastähnlichen Schränke, die Tische und Stühle mit phantastisch geschwungenen Füßen, die sein Sohn auf die Rückseiten verbrauchter Blätter zeichnete, zur Ausführung zu bringen.
Als dann der Vater früh gestorben war, entschloß sich die Wittwe, den Knaben mit dem Aufwand ihrer letzten Mittel in eine städtische Gewerbeschule zu schicken. Hier hatte er an Weltgewandtheit nicht gerade zugenommen, aber seine Studien so eifrig betrieben, daß er mit großem Lobe entlassen und mit einem Stipendium begabt wurde, welches ihm Muth machte, das Polytechnikum zu besuchen. Auch das hatte er mit allen Ehren absolvirt und sofort eine Anstellung als Ingenieur bei einer großen Unternehmung gefunden, durch welche die Stadt mit reichen Wasserquellen getränkt werden sollte. Hier gab es mannichfache Schwierigkeiten über und unter der Erde, und der Plan, den unser Dorfkind entworfen, hatte unter vielen anderen den Sieg davongetragen. So war er denn, was sein Mütterchen nie ohne nasse Augen erzählen konnte, der Aufseher und Herrscher über eine große Schaar von Arbeitern geworden, die alle ehrerbietig die Mützen vor ihm abzogen. Und doch war er so einsam geblieben, wie in den Tagen, da die frechen kleinen Schulbuben ihren Witz an ihm übten. »Jonathan, wo ist dein David?« hatten sie ihm zugerufen. Er hatte jetzt mit seinen fünfundzwanzig Jahren so wenig eine Antwort darauf, wie mit seinen acht oder zehn.
Jonathan war sein Vatersname. Daß er einen Taufnamen hatte, wußte nur sein Mütterchen und er selbst, denn es hatte sich kein Mensch gefunden, der ihn gern mit einem traulicheren Namen gerufen hätte. Auch mißfiel ihm, wie überhaupt Alles an seiner Person, dieser Taufname. Johann Jonathan hatte für ihn einen unerfreulichen Klang. Er würde einen eigenen Sohn nie so genannt haben. Darum machte er nie Gebrauch davon.
Er wohnte in einem luftigen, drei Stiegen hoch gelegenen Quartier, nahe am Rande der Stadt, freilich sonnenlos, da er des Zeichnens wegen Fenster gesucht hatte, die nach Norden gingen. Dafür sah er aus seinem Schattenwinkel desto freier in die Landschaft hinaus und durfte sich an allem Licht erquicken, das an schönen Tagen draußen über Wiesen und kleineren Gehöften, Landhäusern und bewaldeten Hügeln lag. Die Wände seiner beiden Zimmer hatte er sich mit einem langsam zusammengesparten Schatz schöner, großer Photographien tapeziert, jedes Blatt nur mit einer schlichten braunen Leiste eingerahmt, doch mit dem reinsten Glase gegen Staub und Fliegen geschützt. Es waren Ansichten der herrlichsten Gebäude, zumeist aus dem Süden: die Tempel von Pästum, das Pantheon und die Peterskirche in Rom, die Triumphbögen des Forum, die Akropolis, dazwischen etliche Abbildungen erhabener Bildwerke, in den Winkeln Bruchstücke alter griechischer Ornamente und Abgüsse pompejanischer Bronzen. Der sonstige Hausrath konnte nicht anspruchsloser sein. Doch war Alles von einer peinlichen Sauberkeit, das Bett im Nebenzimmer schlohweiß, kein Stäubchen auf dem gewaltigen Zeichentisch vor dem einen der beiden Fenster, kein herumliegendes Schnipfelchen Papier, und das alte Ledersopha an der Hauptwand trotz seiner hohen Jahre so wohlerhalten, daß man sofort erkannte, wie selten sein Besitzer es sich gönnte, auf dem Rücken liegend in beschaulicher Muße seinen Träumen nachzuhängen.
Denn er war ein Mensch ohne Feiertag. Abends, wenn die Arbeit eingestellt wurde, ging er in ein Café, um ein paar Zeitungen zu lesen. Er setzte sich dann in den einsamsten Winkel, und wenn ein Bekannter an ihn herantrat und ein Wort an ihn richtete, sorgte er dafür, daß es nicht zu einer längeren Unterhaltung kommen konnte. Er hatte so eine eigene Art, gleichsam geistesabwesend vor sich hin zu blicken, nicht gerade feindselig oder verdrossen, aber so, daß Jeder glauben mußte, er sei in irgend welche Herzensangelegenheiten vertieft. Wenn der Andere ihn dann wieder verließ, bekam er einen so guten und redlichen Blick und ein so verbindliches Kopfnicken mit auf den Weg, daß es unmöglich war, auf den wunderlichen Gast einen Groll zu werfen.
Einladungen in Familien, selbst in das Haus seines Vorgesetzten, eines sehr trefflichen Baudirectors, der große Stücke auf ihn hielt, lehnte er höflich, aber ohne sich zu besinnen, ab. Die Sonntage genoß er auf seine eigene Weise. Er spannte dann einen frischen Bogen auf das Reißbrett und erging sich mit leichtem Stift in den kühnsten und mannichfaltigsten architektonischen Entwürfen, denen er zuweilen, wenn sie ihm besonders einleuchteten, die Ehre einer sorgfältigen Ausführung mit Reißfeder und Tusche, hin und wieder sogar mit leichten Farben angedeihen ließ. Doch währte das Vergnügen nicht lange. Stand die Zeichnung in aller Zierlichkeit fertig vor ihm, so ließ er seinen Blick an den Wänden herumschweifen, that einen tiefen Seufzer und begann, die Brauen noch dichter zusammenziehend, seinen Entwurf von dem Brett abzuschneiden, um ihn zu vielen Vorgängern in eine große Mappe zu legen. Dann griff er zu einem seiner alten Tröster, die in einem Bücherschränkchen neben seinem Bette standen. Er hatte eine Neigung zu schönen Versen, die er mit eintöniger, dumpfer Stimme vor sich hin zu recitiren liebte. Besonders war Platen sein Mann. Der feste, architektonisch gegliederte Strophenbau dieser Oden und Hymnen kam ihm als das Erhabenste vor, was ein dichtender Künstler je geschaffen. Zu gleicher Zeit sprach ihn aus diesen strenggemeißelten Formen ein Geist der Einsamkeit und des Weltverzichtes an, dem er sich verwandt fühlte, während der Unterstrom eines leidenschaftlichen Bedürfnisses, den die Meisten überhören, eine tiefe Mitempfindung in ihm weckte. Er konnte so halbe Nachmittage mit schwerfälligen Schritten sein Zimmer durchmessen, den Platen in der einen Hand, eine kurze Pfeife mit einem sehr scharfen wohlfeilen Tabak in der anderen, declamirend und dazwischen dicke Wolken vor sich hin paffend, während sein einziger Kamerad, ein kleiner zottiger Hund von zweifelhafter Race, der Raffel genannt war, unermüdlich hinter ihm drein wandelte, und wenn er stehen blieb, seine stumpfe Nase heimlich an seinen großen Stiefelschäften rieb.
Die gutmüthige alte Frau, bei der er wohnte, hatte es längst aufgegeben, ihn zu einem flotteren Lebenswandel zu bekehren. Sie schätzte ihn freilich gerade wegen seiner soliden Unsitten, wie sie es nannte, doch dauerten sie wieder seine jungen Jahre, die so ohne jede Lustbarkeit vergingen, um so mehr, da sie sich fest eingebildet hatte, an seiner Menschenflucht sei ein verschwiegener Liebeskummer Schuld, was er nun freilich, da sie es ihm einmal auf den Kopf zusagte, mit einem ganz unschuldigen Lächeln geleugnet hatte. In der That schien die schönere Hälfte der Menschheit für ihn gar nicht auf der Welt zu sein, und Niemand hatte ihn je dabei betroffen, daß er auch nur flüchtig den Kopf wendete, wenn ein auffallend hübsches Gesicht, eine besonders wohlgerathene Weibesgestalt auf der Straße an ihm vorüberging.
Dieser freudlose Zustand betrübte die gute Frau je länger je mehr. Sie war durch den Tod ihres Mannes, eines kleinen Beamten, in ihren Verhältnissen zurückgekommen und lebte zum großen Theil von der Vermietung der Wohnung und dem, was sie für die Kost und Aufwartung, die sie gleichfalls besorgte, von ihrem durchaus nicht knausernden Zimmerherrn einnahm. Doch hatte sie noch weiblichen Umgang genug, um durch scheinbar zufällig herbeigeführte Begegnungen mit artigen Töchtern und Mühmchen ihrer Freundinnen den scheublickenden Einsiedler in Versuchung zu führen. Zumal wo etwas wie eine gute Partie sich darbot und das mannbare Fräulein überdies der nöthigen häuslichen Tugenden nicht ermangelte, war sie eifrig beflissen, an Sonntag-Nachmittagen in ihrem Hinterstübchen kleine Kaffeecirkel zu versammeln und dem Glück im vollsten Sinne des Worts eine Thür zu öffnen, indem sie die ihre nach dem Flur hin offen stehen ließ. Da sollte Herr Jonathan bald durch den Zauber einer jugendlichen Stimme, bald durch das Spiel auf ihrem rostigen alten Klavierchen seinem ledigen Brüten entrissen werden. Glückte es auf diese Weise nicht, so wurde sogar ein förmlicher Ueberfall gewagt. Sie erschien dann mit dem betreffenden jungen Wesen und deren Mutter oder Base an der Schwelle der Bärenhöhle, klopfte bescheiden an und fragte, ob es Herrn Jonathan nicht störend sei, wenn die Damen nur einen Augenblick in sein Museum eintreten dürften. Sie habe ihnen so viel von den seltenen Bildern erzählt, und besonders Fräulein Röschen oder Trudchen, oder wie das gute Kind eben hieß, schwärme für die schönen Künste.
Jonathan hatte dann stets mit einem höflichen Kopfnicken die Erlaubniß gegeben, sich auch der Erklärung sämmtlicher Photographien pflichtschuldigst unterzogen und durch sein ehrerbietiges Betragen, und weil es so sauber und aufgeräumt bei ihm aussah, das Herz der älteren Damen im Nu erobert. Auch die aus Wohlerzogenheit stummen Fräuleins nahmen es nicht übel, daß er sie nicht viel beachtete. Sie glaubten, diese Schüchternheit des gewaltig großen und etwas ungelenken Menschen zu ihren Gunsten deuten zu dürfen, schlugen die Augen nieder und seufzten ein wenig, wenn sie an das offene Fenster traten, als ob im Anblick der lachenden Natur ihr junger Busen vor unbestimmten Wünschen und Ahnungen zu springen drohe. Auch verfehlten sie nicht, wenn sie sich verabschiedeten, mit ihrer sanftesten Stimme sich für den großen Genuß zu bedanken und sogar die kleine warme Hand bereit zu halten, falls es zu einem Händedruck kommen sollte. Dies war aber gegen Herrn Jonathan's Sitte und Art, wie er sich denn auch durch die freundlichste Aufforderung nicht in das Kaffeestübchen hinüberlocken ließ.
Ja, so gerne er der Madame Groß etwas zu Gefallen that: der sonntägliche Belagerungszustand, den sie nun schon im zweiten Jahr über ihn verhängte, wurde ihm endlich doch zur Last. So stand er denn an einem schönen Juni-Abend, als drüben das Stimmengeschwirr auf seiner Höhe war und er jeden Augenblick einen kunsteifrigen Ueberfall erwarten durfte, mit einem stillen Fluch von seinem Zeichentisch auf, wo ihn eben eine sinnreiche neue Gewölb-Construction beschäftigt hatte, und beschloß, ganz sacht dem Feinde seiner Ruhe das Feld zu räumen. Er steckte Pfeife und Tabaksbeutel in die linke Tasche seiner leichten Sommerjoppe, den Platen in die rechte, drückte den breitkrämpigen grauen Filzhut auf sein struppiges Haupt und schlich, von seinem treuen Raffel gefolgt, so leise als es die schweren Stiefel erlauben wollten, die Treppe hinunter ins Freie.
*
Die Linden blühten vor dem Thor, und der Abendwind, der durch die lange Allee wehte, trug ihm den warmen, einschmeichelnden Duft entgegen. Es strömte ein buntes, sonntäglich geputztes Volk unter den schattigen Wipfeln hin und zurück, und aus den Gartenwirthschaften am Wege hörte er Geigenklang und lustige Stimmen. Er aber ging, seiner Gewohnheit nach, mit nachdenklich gesenktem Haupt und blickte kaum auf, wenn einer seiner Arbeiter mit Weib und Kind an ihm vorbeikam und mit einem respectvollen »Guten Abend, Herr Jonathan!« oder »Auch hier draußen, Herr Ingenieur?« den Hut zog. Doch erwiderte er jeden Gruß sehr artig und lächelte gutmüthig die kleinen Bälge an, die Vater oder Mutter auf dem Arm trug oder an der Hand nachzog. Die Sonne war schon tief zum Horizont gesunken, sparsame Hausväter kehrten bereits von ihrem Sonntagsvergnügen zurück, für die jüngeren und ledigen Leute begann nun erst recht die Lustbarkeit, und die Musikanten legten Tanznoten auf ihre Pulte. Hin und wieder, wo es besonders hoch herging, stand der Einsame wohl ein wenig still und starrte nachdenklich in das Gewühl hinein. Er hätte vielleicht gern in einem stillen Winkel sich einen kühlen Trunk gönnen mögen. Doch besann er sich wieder anders, wenn er einen Blick auf seinen Anzug warf, der unter die Feierkleider nicht zu passen schien. Hätte er wenigstens die hohen Kniestiefel zu Hause gelassen! Doch war er längst gewöhnt, an Sonn- und Werkeltagen dieselbe Kleidung zu tragen.
Nun sah er von ferne seinen Baudirector heranwandeln, mit einer noch immer hübschen Frau und zwei schlanken, zierlich gekleideten Töchtern. Da schlug er hastig, wie wenn er auf unrechten Wegen betroffen wäre, einen Seitenpfad ein, der an Hecken und einzelnen Bauernhöfen vorbei nach dem Flusse zu lief. Erst als er weit genug von der Landstraße entfernt war, daß ihm der Wind nur verlorene Klänge der Tanzmusiken nachtragen konnte, stand er still und athmete tief auf. Eine sanfte silbergraue Dämmerung war über die Erde gebreitet, nur im Westen stand eine breite, von seltsamen Blitzen durchschossene Röthe, und die Kornfelder erschauerten in der Abendkühle. Das Hündchen war in weitem Umkreis einer Hasenfährte nachgejagt und kehrte jetzt keuchend und lechzend, mit heraushängendem rothem Zünglein zu seinem Herrn zurück. Der aber hatte nur so lange gerastet, bis seine kurze Pfeife gestopft und in Brand gesetzt war. Dann stiefelte er gleichmüthig weiter, ohne auf den Unterschied zu merken zwischen dem Duft der Lindenblüte und feinem scharfen Varinasqualm. Es schien, daß ihm das Strenge wie das Zarte gleich behaglich war, jedes zu seiner Zeit.
So erreichte er den Fluß, der unter hohem Weidengebüsch, von mancherlei kunstlosen Stegen überbrückt, durch das hügelige Land nach der Stadt hin strömte. Er floß in einem ziemlich tiefen Bette mit großer Gewalt. Hie und da hob ein schlanker Eschenbaum seine Zweige am Ufer und streute leichte Schatten über die blanken Wellen. An einem dieser Stämme ließ Jonathan sich nieder, die schweren Gliedmaßen weit von sich streckend, den Hut im Nacken gegen die Rinde gedrückt, die Pfeife fest zwischen den Zähnen. Der Hund hatte die Stelle erst eine Weile umschnüffelt und, als er keine Jagdabenteuer erwittern konnte, sich in weiser Beschaulichkeit neben den rechten Stiefel seines Herrn niedergekauert. Jonathan aber zog sein Buch aus der Tasche und las – denn noch war es hell genug dazu – erst die venetianischen Sonette, die er auswendig wußte, dann seine Lieblingsode:
Roms Mauern, Roms Prachtgärten, wo stets
Die Cypresse ragt, schwermüthig und stolz –
Darauf blätterte er zerstreut hin und her, und Auge und Herz blieben endlich an den schönen sehnsüchtigen Strophen hängen:
O süßer Lenz, beflügle deine Schritte,
Komm früher diesmal, als du pflegst zu kommen!
Du bist ein Arzt, wenn unsre Brust beklommen,
Ein milder Arzt, von immer sanfter Sitte.
O könnt' ich schon in deiner Blumen Mitte,
Wenn kaum der Tag am Horizont entglommen,
Bis er ins Abendroth zuletzt verschwommen,
Von Träumen leben, ohne Wunsch und Bitte.
Wenn deine helle Sonne flammt im Blauen,
Würd' ich, ins Gras gestreckt, nach oben blicken
Und würde glauben, meinen Freund zu schauen.
Geblendet würde dann mein Auge nicken,
Ich würde schlummern, bis die Sterne thauen,
Und mich im Schlaf an seinem Bild erquicken.
Dies Gedicht schien ihm in so wunderbarer Weise auf seinen augenblicklichen Zustand zu passen, als wäre es ihm so zu sagen auf den Leib gedichtet worden. Nur mit dem Freunde, der darin erwähnt wird, stand es mißlich. An wessen Bilde sollte er sich erquicken? Er schätzte sein Hündchen sehr um seiner vielen Gaben und Tugenden willen; aber unter einem Freunde hatte er sich Zeitlebens etwas so Hohes und Herrliches vorgestellt, daß keine vernunftlose Creatur daran reichte. Wie das gute Geschöpf vor ihm im Grase lag und gelegentlich nach einem Mückchen schnappte, das seiner Nase zu nahe kam, leise die Ohren und den gestutzten Schwanz bewegend, fühlte er sich durch eine größere Kluft als je von ihm getrennt. Er las ihm die letzte Strophe noch einmal vor mit seiner tiefsten und seelenvollsten Stimme, sie machten aber offenbar nicht den geringsten Eindruck auf den ehrlichen dumpfen Gesellen. Seufzend gab er ihm einen kleinen Stoß mit dem Knie, so daß das betroffene Thier ihn leise murrend von der Seite anschielte und sich etwas weiter weg bettete. Dann fiel sein Blick auf den Porzellankopf seiner Pfeife, auf welchem die Insignien des Architekten, Richtscheit, Winkelmaß und Cirkel, in zierlicher Durchkreuzung gemalt standen. Er dachte an Den, von dem er einst dieses Andenken erhalten, einen jungen Polen, mit dem er auf dem Polytechnikum zwei Jahre lang Schulter an Schulter gesessen hatte, ohne ihn sonderlich zu beachten. Sie hatten außer dem Hörsaal kaum hundert Worte mit einander gewechselt, der Pole, weil er sich seines gebrochenen Deutsch nur im äußersten Nothfall bediente, Jonathan aus gewohnter Scheu, sich einem Menschen zu eröffnen. Dann hatte dieser Studiengenosse plötzlich nach Hause reisen müssen und einen Brief an unseren Freund hinterlassen, der in überschwänglichem Französisch eine förmliche Liebeserklärung an ihn enthielt und zum Schluß die Bitte, dieses dürftige Geschenk nicht zu verschmähen. Eine Adresse war nicht angegeben. Jonathan hatte seinen Dank für sich behalten müssen, im Stillen froh, daß das seltsame Verhältniß nicht weitergesponnen werden konnte. Der Pole war ein kleiner bleicher Mensch gewesen mit tiefliegenden, unstät flackernden Aeugelchen und einem nervösen Zucken der Unterlippe, anderer Eigenschaften zu geschweigen, die dem jungfräulich reinen Bauernsohn nicht gefallen wollten. Und doch hatte ihn das Abenteuer gerührt und lange beschäftigt. Aber sich im Schlaf an seinem Bilde zu erquicken – dazu war der Verschollene nicht angethan.
Die Pfeife war über all diesen Gedanken erloschen, die letzte Tageshelle geschwunden, und die Zeilen des Buches wurden unlesbar. Er hatte es in das Gras gleiten lassen und die Augen geschlossen. Das eintönige Rauschen des Flusses und das Lispeln in den Zweigen über ihm summten ihm ein Schlaflied, dem er nicht lange widerstand.
Auf einmal weckte ihn ein kurzes, rauhes Bellen seines Hundes. Er schlug die Augen auf und mußte sie halb wieder zudrücken, so gewaltig drang die Helle des Mondes auf ihn ein. Raffel aber bellte fort. Er stand neben ihm mit gesträubtem Fell und zuckenden Ohren, wie zum Sprunge bereit, die Augen fest auf eine helle Gestalt gerichtet, die unweit von der Lagerstatt seines Herrn, etwa dreißig Schritte den Fluß hinauf, am Geländer eines Holzbrückchens lehnte, durch das hohe Ufergebüsch halb versteckt. Das zauberhafte Licht rings umher, der silberne Mondnebel auf den fernen Wiesen und das Nachgefühl seiner Träume ließen Jonathan nicht sofort zur Besinnung kommen. Er unterschied nicht einmal genau, ob die Gestalt, die den Hund aufgeschreckt hatte, Mann oder Weib sei. Eben wollte er seine Gliedmaßen zusammenraffen und sich erheben, da verschwand der Spuk auf der Brücke, im nächsten Augenblick erscholl ein dumpfes Aufklatschen und gurgelndes Rauschen im Wasser – der Hund heulte wie toll – dem guten Jonathan lief eine Gänsehaut über den Rücken.
Ein Mensch war hinabgestürzt – aus Versehen? – mit Vorsatz? – gleichviel. Hier mußten die Wellen ihn vorbeitreiben, schon in der nächsten Minute. Im Nu hatte Jonathan die Oberkleider abgeworfen, jetzt fuhr er aus dem linken Stiefel, der rechte ließ sich nur mühsam vom Fuße zwängen, der Schweiß trat ihm auf die Stirn, unverwandt starrte er auf das rasch vorbeigleitende Wasser – da tauchte etwas Dunkles hinter dem Ufergesträuch auf – verschwand wieder – kam wieder herauf – aber schon war auch der zweite Fuß frei geworden, und mit einem mächtigen Satz sprang Jonathan von der Böschung des Ufers in die Flut hinab, der Hund heftig kläffend hinterdrein.
Sie kamen Beide gleich wieder an die Oberfläche, das Thier aber blieb weit hinter seinem Herrn zurück, der mit rüstigen Stößen die glatte Bahn hinunterglitt. Auch der Verunglückte vor ihm schien zu schwimmen, doch mit matter Kraft. Jetzt tauchte der Kopf wieder auf, und während er sich ganz aus dem Wasser hob, drang ein schwacher Laut – ein Stöhnen oder Hülferuf – von seinen Lippen. Doch ehe er wieder zurücksinken konnte, war der Retter schon neben ihm. Er machte eine geschickte Wendung nach unten, so daß der hülflos Dahintreibende auf seine breiten Schultern zu liegen kam. Plötzlich fühlte er sich von zwei Armen umklammert, die ihn fast zu ersticken drohten. Rasch aber lockerte er mit der linken Hand die Schlinge, herrschte dem halb Bewußtlosen zu, daß er sich ruhig verhalten solle, und ruderte mit seiner Last, die ihn nicht allzu schwer dünkte, gelassen dem Ufer zu.
Als er Grund unter den Füßen fühlte, nahm er die Hände des Geretteten fest vor der Brust zusammen und trug ihn mühsam klimmend den steilen Uferhang hinan. Der Hund hatte ihn inzwischen erreicht und zerrte, um sich auch ein Verdienst um den Verunglückten zu erwerben, an den triefenden Beinkleidern, aus denen das Wasser wie ein kleiner Bach herabrieselte. Oben wuchs ein hohes weiches Gras, da ließ Jonathan seine Last hinabgleiten und wehrte dem Hunde, der immer noch heulte und dazwischen sich in dem Rockschooß des Geretteten verbiß.
Der aber lag ganz still und gab kein Zeichen des Lebens oder Leidens von sich. Es war ein schöner, schlanker junger Mensch, in einem hellen Sommeranzuge vom elegantesten Schnitt, eine dunkelblaue Cravatte um den weißen Hals geknüpft, die freilich jetzt, wie Alles an ihm, in schlaffen Falten herabhing. Am übelsten hatte das Wasser seinem dichten schwarzen Haar mitgespielt, aus dem noch immer dicke Tropfen über das bleiche Gesicht rannen. Dagegen waren die zarten dunklen Augenbrauen und das Bärtchen auf der Oberlippe wie eben erst mit dem Pinsel hingetuscht.
Jonathan stand in seinem luftigen Retteraufzuge mit gespreizten Beinen nachdenklich vor ihm und betrachtete ihn nicht viel anders, als wie ein kleines Meerwunder, das ein Sturm an dies einsame Ufer gespült hätte. Erst als der feine Mund des Jünglings sich halb öffnete und ein paar verworrene Laute hervorstieß, schien es ihm aufzugehen, daß er sich noch weiter um ihn zu bemühen habe. Er kniete neben ihm hin und rieb ihm mit großen Büscheln ausgerissenen Grases die Stirn und Schläfe, öffnete dann das Hemd über seiner Brust und frottirte emsig das Herz. Diese nicht eben sanfte Behandlung erwies sich als überaus heilsam; denn es währte nicht lange, so stieg eine schwache Röthe in den kalten Wangen auf, die Augenlider bewegten sich langsam, und nach einigen unzulänglichen Versuchen hob der Fremde seinen Oberkörper in die Höhe, setzte sich, auf beide Fäuste gestützt, im Grase zurecht und sah dem unbekannten Retter mit zwei noch etwas umflorten Augen träumerisch ins Gesicht.
Was thun Sie da? war das erste Wort, das er über die Lippen brachte. Bemühen Sie sich nur nicht weiter – ich bin – ich fühle mich ganz wohl – nur ein wenig matt und kalt – ich bedaure, Ihnen so viel Mühe gemacht zu haben – es war eine Dummheit – habe ich denn um Hülfe geschrieen? – Jagen Sie aber den Hund weg – bitte! Er zerreißt mir den Rock.
Dabei fuhr er sich mit der Hand in die Locken, strich sie von der Stirne zurück und drückte das Wasser heraus. Eine Dummheit! wiederholte er. Ich hätte Steine in die Taschen thun sollen, ich hatte das auch vor, aber wie ich den Hund bellen hörte, dachte ich, es könne mir etwas dazwischenkommen – und da –
Er lächelte melancholisch, doch war er schon wieder auf sein Aeußeres und seinen Anzug bedacht. Herrgott, wie sehen Sie aus! rief er, als Jonathan sich erhob. Er lachte und zeigte die schönsten Zähne. Sie werden sich erkälten, Herr – darf ich fragen, wie Sie heißen?
Jonathan!
Sie haben mir einen sehr zweifelhaften Dienst erwiesen, Herr Jonathan. Ich hatte mit dem Leben abgeschlossen, ich war an allen Hoffnungen bankerott, jetzt soll das armselige Tagelöhnerdasein wieder von vorn anfangen. – Aber das konnten Sie freilich nicht wissen. Wo hab' ich denn nur – – Er faßte nach der Brusttasche seines Röckchens – Richtig! da sind sie noch. Es wäre auch für die kein Schade gewesen, wenn sie jetzt auf dem Grunde des Flusses lägen. Und dieser Mondschein – kann man den Schluß einer Tragödie wohl bei schönerer Beleuchtung in Scene setzen? Aber Sie müssen sich vor Allem wieder ankleiden, Sie können sich zu Tode erkälten.
Jonathan sah an seinem Leibe hinab und schämte sich jetzt der grotesken Figur, die er machte. Wie schmuck und zierlich sah dagegen der Gerettete aus, gar nicht wie eine gebadete Katze, vielmehr hoben die durchtränkten Kleider, die sich so fest an den Körper schmiegten, die Zierlichkeit seiner jungen Gestalt. Brummend und sich schüttelnd wie ein junger Neufundländer, der aus dem Wasser gekommen, lief sein Retter jetzt nach der Stelle unter dem Baume zurück, wo er vorher geruht hatte. Er hatte Mühe, mit den feuchten Beinen wieder in die Stiefel zu fahren, dann knüpfte er die Joppe fest über dem nassen Hemde zu und stülpte den Hut auf. Seinen Platen fand er auch, wo aber war die Pfeife geblieben? Er hatte sie in der Aufregung von sich geschleudert, dessen entsann er sich wohl. Doch so viel er auf zwanzig Schritte im Umkreise seines Lagers suchen mochte, sie war nicht zu erblicken. Zu anderer Zeit hätte ihn der Verlust empfindlich verdrossen. Seltsam, daß er jetzt sich so rasch darüber tröstete. Er meinte eine Pflicht zu verletzen, wenn er sich ohne Noth hier aufhielte mit diesem nichtigen Geschäft. Der junge Mensch mußte fortgebracht werden, er konnte in den nassen Kleidern nicht lange bleiben, ohne daß es ihm schadete.
Wie er zu ihm zurückkam, fand er ihn noch auf derselben Stelle sitzend. Er hatte sein Haar mit einem Taschenbürstchen in Ordnung gebracht, und das blasse Gesicht sah aus, wie das Pastellbild eines jungen Mädchens in einem Ebenholzrahmen. Auch ganz mädchenhaft war das Erröthen, mit dem er den Herantretenden begrüßte.
Sie sehen, Herr Jonathan, sagte er lächelnd, ich bin wieder so ziemlich präsentabel; ich werde mit einem unsterblichen Schnupfen davonkommen, das einzige Unsterbliche, wozu ich es im Leben bringen kann. Nur, sehen Sie, – er stand etwas mühsam auf – der Sprung vom Sein ins Nichts, wenn er auch nicht gelang, dröhnt mir noch in den Gliedern nach. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, Herr Jonathan, wenn Sie mich nach der Stadt zurückbegleiteten. Ihnen scheint das nasse Abenteuer nichts gethan zu haben. Sie sind fester gebaut, und dann – die Gemütsbewegungen – das niederträchtige Gefühl, zu wollen und doch auch nicht zu wollen – das Leben zu hassen und vorm Sterben zu schaudern –
Er hing sich an seinen Arm. Jonathan fühlte, daß von Zeit zu Zeit ein Zittern seine Glieder überlief. Wo haben Sie Ihren Hut? Ja so! den hat der Fluß. Da, nehmen Sie meinen!
Nein, Herr Jonathan. Sie sind sehr gut und freundlich, aber es ist nicht nöthig. Die Nacht ist Gottseidank warm, und wenn ich nur erst hundert Schritte gegangen bin –
Sie müssen ihn nehmen. Ihr dichtes Haar trocknet nicht so rasch, wie mein kurzes Gestrüpp. So! Und nun hängen Sie sich fest ein. Wir wollen schon warm werden.
Sie wanderten rasch auf Wiesen- und Feldwegen der Stadt zu, deren Lichter ziemlich fern herüberschimmerten. Keiner sprach ein Wort. Nur zuweilen seufzte der junge Mensch und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als ob er einen häßlichen Traum wegwischen wollte. Raffel trabte mit hängendem Kopf hinterdrein. Alle Jagdlust schien ihm in dem kalten Bade vergangen zu sein.
Sorgfältig hatte Jonathan die Landstraße vermieden, obwohl nur wenige verspätete Nachtschwärmer dort unter den Bäumen zu erblicken waren. Als das Thor aber nur noch fünfzig Schritte entfernt war, stand er still. Er war ganz in Schweiß gebadet, mehr von innerer Aufregung, als von der leichten Last, die ihm am Arme hing.
Wo soll ich Sie hinführen? fragte er. Ist Ihre Wohnung noch weit? Das Beste wäre, man könnte einen Wagen nehmen. Aber hier draußen –
Nein, erwiderte der Andere. Ich mag in dieser Verfassung nicht vor meine Wirthsleute treten. Es würde davon geredet, ich möchte sagen, was ich wollte. Hier dicht vor der Stadt muß es einen kleinen Gasthof geben. Wenn ich mir da ein Zimmer für die Nacht nehme – man ist es bei mir schon gewohnt, fügte er mit einem leichtfertigen Lachen hinzu, daß ich einmal eine Nacht durchschwärme.
Jonathan schwieg einen Augenblick. Wollen Sie mir einen Gefallen thun, sagte er dann mit etwas schüchterner Stimme, so kommen Sie zu mir. Ich wohne in der Thurmgasse, ganz nahe am Thor, bis dahin können wir gelangen, ohne aufzufallen. Sie sind von der Geschichte angegriffen und können leicht ein Fieber bekommen, wenn Niemand da ist, der für Sie sorgt. In der Stimmung, in der Sie sich befinden, ist man nicht aufgelegt und im Stande, sich selbst zu pflegen. Ich würde die Nacht kein Auge zuthun, wenn ich Sie in einer elenden Gasthofsstube sich allein überlassen wüßte.
Er hütete sich wohl, zu sagen, was er fürchtete: daß der eben Gerettete in der einsamen Nacht auf irgend einen andern Weg denken möchte, seinen frevelhaften Vorsatz doch noch zu Ende zu führen. Doch schien jegliche Energie in dem fröstelnden jungen Lebensmüden erloschen.
Thun Sie mit mir, was Sie wollen, sagte er. Sie haben mich nun einmal auf dem Gewissen; es ist Ihr eigener Schade, wenn Sie sich weiter mit mir belasten und schließlich sehen, daß doch Nichts dabei herauskommt. Ich habe noch Keinem Glück gebracht, der sich mit mir einließ, fügte er pathetisch hinzu. Das ist der Fluch aller –
Er brach plötzlich ab und drängte zum Gehen. Sie legten den Rest des Weges schweigend zurück, kamen unangefochten durch das Thor, wo die Wache nichts Schlimmeres von ihnen dachte, als daß sie in einer der Gartenwirthschaften des Guten zu viel gethan hätten, wobei der Eine den Hut, der Andere seinen sicheren Gang verloren, und es schlug eben Elf von dem nahen Kirchturm, als sie vor Jonathan's Hause anlangten. Zu dieser Zeit war Madame Groß regelmäßig zu Bette. Doch schlief sie noch nicht. Es hatte sie sehr beunruhigt, daß ihr tugendhafter Einsiedler heute so lange ausblieb. Bis um Zehn war die Mutter mit den zwei heirathsfähigen Töchtern, vor denen er geflüchtet war, bei ihr geblieben, immer noch in der Hoffnung, es werde wenigstens zu einem Begegnen und Begrüßen auf der Treppe kommen. Die beiden jungen Gesichter sahen wirklich allerliebst aus, wenn der Schein der Lampe sie anstrahlte. Endlich hatten sie sich verabschiedet, die Mutter mit heimlichem Kopfschütteln über diese Probe der vielgerühmten Solidität.
Nun hörte die wachsame Frau endlich die Hausthür aufschließen und gleich darauf Schritte die Treppe heraufkommen – ja, das waren die schweren Stiefel ihres Herrn Ingenieurs. Aber täuschte sie ihr Ohr, oder waren das wirklich, noch andere Schritte, die daneben auf den Stufen erklangen, leichtere Stiefelchen, ängstlich und unsicher sich hinauftastend? Sie setzte sich im Bette auf, nun hörte sie ganz deutlich den Herrn Jonathan auf dem obersten Flur still stehen, als ob er einen Nachkömmling erwarte. Und dann ging drüben die Thür, und es wurde etwas geflüstert, und gleich darauf ward es still; doch sie hatte sich nicht getäuscht, der Schlüssel wurde umgedreht, was sonst nie geschah. Mit einem Sprung war sie aus dem Bett; sie wollte in der ersten Empörung hinübereilen, Einlaß begehren und nach dem Rechten sehen.
Da hörte sie, daß die Thür wieder geöffnet und zwei Paar Stiefel hinausgestellt wurden. Sie wartete, bis es wieder still auf dem Flur war. Dann zündete sie ihr Nachtkerzchen an und schlich behutsam hinaus. Neben den wohlbekannten Riesen, die jeden Morgen die Magd im Schweiße ihres Angesichts putzen mußte, standen ein paar winzige Lackstiefel. Zu ihrer Verwunderung fand sie, als sie dieselben prüfend in die Hand nahm, daß sie ganz feucht waren. Aber es waren Herrenstiefel. Ein Stein fiel ihr vom Herzen. Sie schlich auf den Zehen in ihr Zimmer zurück, schlüpfte wieder ins Bett und dankte ihrem Schöpfer, daß ihr Glaube an die Menschheit sie doch nicht betrogen hatte.
*
Jonathan hatte sogleich die Hängelampe über seinem Zeichentisch angezündet und in seinem Schlafkämmerchen den Leuchter neben dem Bett. Dann kam er zu seinem Gefährten zurück, der in großer Erschöpfung auf den nächsten besten Stuhl gesunken war und die Augen geschlossen hatte.
Wenn Sie nun so gut wären, sich auszuziehen und gleich zu Bett zu gehen, sagte er. Sie sehen, es ist frisch überzogen. Meine Wirthin muß mir jeden Sonntag die Laken wechseln. Ich werde Ihnen dann einen heißen Thee machen und so viel Arak hineinthun, daß es gar nicht einmal zu einem Schnupfen kommt.
Der Jüngling sah zu ihm auf wie ein Kind, das man aus dem ersten Schlaf geweckt hat.
Ich danke Ihnen, sagte er. Sie sind so gut zu einem ganz fremden Menschen. Aber Sie mögen machen, was Sie wollen, das Bett nehme ich nicht an. Ich will Sie Ihres Nachtlagers um keinen Preis berauben. Sie haben da ein so schönes großes Sopha – wenn Sie mir etwas trockene Wäsche und Kleider leihen wollten – nein, es ist mein heiliger Ernst – Sie wissen nicht, wie eigensinnig ich bin – eben darum schäme ich mich auch so ingrimmig, daß ich meinen Willen nicht habe durchsetzen können – wir wären dann Beide aller weiteren Plage überhoben.
Sprechen Sie nicht mehr in diesem Ton! brummte Jonathan. Sie sind noch so jung – Sie kennen das Leben noch so wenig – und dann – aber ich will Sie jetzt mit Predigen verschonen. Wenn Sie durchaus nicht Vernunft annehmen und zu Bette gehen wollen – in allem Uebrigen werden Sie mir folgen müssen.
Ehe der Andere es wehren konnte, hatte er sich vor ihn hingekniet und die nassen Stiefel und Strümpfe von seinen schlanken Füßen gezogen. Dann lief er ins Schlafzimmer und kam sofort wieder, mit seiner ganzen Garderobe sammt einem Paar wollener Socken und Filzschuhen beladen. Sie werden sich aus dem Kram heraussuchen, was Ihnen gut dünkt; hier ist ein frisches Hemd; daß es Ihnen zu lang und zu weit ist, kann für diese Nacht nichts schaden – so! Ich drehe Ihnen den Rücken zu. Inzwischen will ich Ihr Lager zurecht machen; denn auf dem kalten Leder würden Sie sich nicht gesund schlafen können.
Nun schleppte er seine eigene Matratze herein und legte sie auf das Kanapee, breitete ein großes Plaid über die Rücklehne und machte aus ein paar Decken und Kissen ein Bett zurecht, das nicht zu verachten war. Keinen Blick warf er nach der Seite des Zimmers, wo sein Gast inzwischen sich der nassen Kleider entledigte und in die trockenen seines Wirthes fuhr. Sie wurden Beide mit ihrem Geschäft zur gleichen Zeit fertig. Da hörte Jonathan ein Lachen und sah unwillkürlich um.
Er konnte sich selbst eines Lächelns nicht erwehren, als er jetzt die Vermummung seines Schützlings betrachtete. In einer dicken Flausjoppe, in der die breiten Schultern ihres Besitzers manchen Schneesturm ausgehalten hatten, derben Tuchhosen, die sich um Hüften und Knöchel bauschten, und schweren unförmlichen Filzschuhen stak die schlanke Figur wie in einem Futteral, und das blasse Gesicht mit den reichen Haaren sah daraus hervor, wie der Kopf eines Seidenhündchens, das eine Prinzessin in ihren Muff gesteckt hat.
Haben Sie einen Spiegel, Herr Jonathan? sagte der junge Mensch, der jetzt, von Wärme durchströmt und durch die Mummerei belustigt, all seine Schwermuth abgeschüttelt zu haben schien. Ich finde, setzte er hinzu, als Jonathan ihm sein einziges, nicht ganz einen Fuß großes Toilettenspiegelchen vorhielt, – ich finde, daß ich einen vortrefflichen Knecht Ruprecht vorstellen könnte. Aber da wir Juni haben und nicht das Experiment machen wollen, ob dies allzu feste Fleisch sich schmelzen und in einen Thau auflösen ließe, müssen Sie mir durchaus zu einem leichteren Costüm verhelfen. Die anderen Sachen –
Er warf einen verzweifelten Blick auf etliche andere Kleidungsstücke, die auf dem Boden lagen.
Sie haben Recht, sagte Jonathan erröthend. Diesen ausgedienten Arbeitskittel kann ich Ihnen nicht anbieten, so wenig wie meinen Confirmationsfrack, den ich im Schranke gelassen habe. Leider bin ich nicht sehr reichlich mit Garderobe versehen. Ein Winter- und ein Sommeranzug – da ich gar nicht in Gesellschaften gehe – übrigens steht Ihnen das Bärenfell ganz artig, und da es aufs Warmwerden ankommt – aber halt! Da wäre noch etwas – wenn Sie versprechen, sich dann gleich niederzulegen und gehörig zudecken zu lassen –
Er lief wieder in die Kammer und kam alsbald mit einem Anzug von starkem Drillich zurück, der ganz frisch gewaschen und gebügelt war. Da! sagte er, das wird Ihnen besser auf den Leib passen. Es ist mein Turnhabit, ich habe es seit Jahren nicht mehr gebraucht und bin längst herausgewachsen. Und jetzt will ich für den Thee sorgen.
Es wurde nun eine Weile Nichts zwischen ihnen gesprochen. Jonathan zündete das Flämmchen unter seinem blanken kupfernen Kessel an und nahm aus einem Wandschrank eine kleine Zuckerdose und eine Flasche Arak. Indessen hatte sein Gast sich umgekleidet und im Spiegel beschaut. Er schien sich ganz wohlzugefallen, reckte und dehnte seine Glieder und ging im Zimmer umher, die Bilder betrachtend, doch ohne etwas darüber zu äußern. Mit einigem Widerstreben gehorchte er, als Jonathan ihn aufforderte, sich niederzulegen, und duldete das Plaid, in das er ihn völlig einwickeln wollte, nur bis an die Brust. Dann trank er auf einen Zug die große Tasse leer, die ihm sein Pfleger wie einem hülflosen Patienten dicht an den Mund hielt, schloß darauf die Augen und lag eine Weile ohne sich zu rühren.
Auf einmal fuhr er in die Höhe.
Wo haben Sie die Kleider hingethan? fragte er, indem er ängstlich nach der leeren Stelle am Boden blickte, wo er sie achtlos hingeworfen.
Sie hängen drin in der Kammer vor dem offenen Fenster, erwiderte Jonathan. Ich habe sie sorgfältig ausgewunden und denke, die Nachtluft wird sie bis morgen früh nothdürftig getrocknet haben. Uebrigens – wenn es Ihnen nicht eilt – Sie können sich hier aufhalten, so lange Sie wollen, – meine Wirthin wird Alles ganz sauber ausplätten.
Ich möchte Sie nur bitten, mir ein kleines Packet zu bringen, das in der Brusttasche des Rockes steckt. Es ist in Wachstuch eingeschlagen – aber trotzdem wird es schlimm zugerichtet sein.
Jonathan brachte es ihm, da richtete er sich auf dem Lager auf und griff hastig nach dem dünnen Päckchen. Als er den Umschlag abgestreift, fielen drei bis vier Hefte heraus, alle eng beschrieben und zwar von Feuchtigkeit durchsogen, doch ohne daß ein Buchstabe verwischt worden wäre.
Er lächelte mit einem bitteren Ausdruck vor sich hin.
Das sind meine Mörder, sagte er, die mich in den Tod getrieben haben! Denen ist das Abenteuer nicht einmal schlecht bekommen. Nun, wenn sie dem Wasser getrotzt haben, das Feuer wird sie wohl zur Raison bringen.
Er ließ die Hand, die das Manuscript hielt, matt auf die Decke sinken, legte den Kopf zurück und schloß wieder die Augen. Jonathan stand mitten im Zimmer und betrachtete ihn stumm. Er selbst hatte noch nicht daran gedacht, seine nasse Wasche zu wechseln, auch von dem Thee zu trinken oder sich eine Pfeife anzuzünden schien er kein Bedürfniß zu fühlen. Der Hund hatte sich im Schlafzimmer in seinen Korb verkrochen, wo er zuweilen einen heiseren Laut von sich gab, wie wenn er im Traum auf einer Hasenfährte jagte.
Sie müssen mich nicht für zudringlich halten, sagte Jonathan jetzt, indem er die Augen niederschlug. Es ist nicht Neugier, – es ist nur, weil ich glaube, es möchte Ihnen eine Erleichterung sein –: wollen Sie mir nicht ein wenig Vertrauen schenken?
Ich bin zwar ein ganz unbedeutender Mensch, fuhr er leiser und stockender fort. Meine Theilnahme kann Ihnen nicht viel helfen – auch habe ich keine einflußreichen Verbindungen – und so ein Dutzendmensch – ein armer Teufel, der sich nur eben anständig durch die Welt schlägt, – aber das Wenige, was ich habe, – und wenn ich sonst irgend etwas kann und vermag –
Der Jüngling schlug die Augen wieder auf und sah ihn an. Er schien jetzt zum ersten Mal auf sein Gesicht aufmerksam zu werden.
Nehmen Sie sich doch einen Stuhl, sagte er. Sie werden auch müde sein. Und warum trinken Sie nicht etwas? Ihr Thee ist gut, und ich spüre schon nicht das Geringste mehr von der ganzen dummen Geschichte. Ich soll Ihnen Vertrauen schenken? Lieber Himmel, was hätten Sie davon, wenn Sie mein Schicksal wüßten? Ich bin der Erste nicht und werde auch nicht der Letzte sein. Aber so setzen Sie sich doch. Da – fühlen Sie meine Hand – sie ist weder heiß noch kalt, sondern wie die Hand eines ganz gewöhnlichen Sterblichen, die gerade gut genug ist, Zahlen in ein großes Buch zu schreiben und Geschäftsbriefe zu copiren. Was sie da auf diese Blätter gekritzelt hat, ist nicht mehr werth, als die Spuren, die ein Huhn mit seinen Füßen in den Sand kratzt.
Darf ich wohl einen Blick in diese Hefte werfen? fragte Jonathan schüchtern. – Er hatte seinen Arbeitsstuhl dicht an das Sopha gerückt, so daß er neben dem Kopfende des Lagers saß.
Der Andere schüttelte langsam die Locken.
Wozu das? sagte er mit einem kurzen, bitteren Auflachen. Es ist Alles werthlos, sage ich Ihnen ja. Wie hieß doch der Ausspruch des großen Mannes? »Ich verwechsle Neigung mit Beruf«! Das Orakel ließ diesmal wenigstens an Deutlichkeit Nichts zu wünschen übrig; finden Sie nicht auch? Und Orakel müssen es doch wissen. Hätte man mir das nur früher gesagt, ehe die Neigung zur Leidenschaft angewachsen war! Aber da wurde von allen Seiten in die Flamme geblasen. Schon als ich noch in die Schule ging und mein erstes Geburtstagsgedicht für meine Mutter zusammenreimte – ein Weltwunder war ich, ein kleines Genie. Mütter verstehen nichts von ihren Söhnen, sie haben die Leidenschaft des Ueberschätzens. Mein Vater aber war ein reicher Kaufmann, der nie in einen Band Gedichte hineingeblickt hatte. Er glaubte Alles, was die Mutter sagte, er hielt sie für ein höheres Wesen, und Andere bestätigten ihre Meinung, Gelehrte und Schriftsteller, die gern in unser Haus kamen, weil wir eine gute Köchin hatten. So wurde ich von ganz respectabeln Männern in meinem Wahn bestärkt – bis der Vater starb, unser Haus sich auflös'te, die Mutter mit mir in sehr eingeschränkten Verhältnissen zurückblieb. Nun war es Nichts mit den klassischen Studien, ich mußte auf eine Handelsschule, um früh selbständig zu werden – Pegasus im Joche – immer das alte Lied, das schon so Manchem das Herz gebrochen hat. Im Stillen aber hatte ich mir zugeschworen: du wirst doch ein berühmter Dichter! Haben nicht Heine – Freiligrath – so viele Andere hinter dem Comtoirpult angefangen und es doch dahin gebracht, daß man ihnen den Lorbeer nicht streitig machen konnte?
Er schwieg eine Weile. Seine Hand spielte krampfhaft mit den Heften, sein Blick war fest gegen die Zimmerdecke gerichtet.
Sie regen sich auf, sagte Jonathan, der mit bekümmerter Miene dabei saß, wie ein Seelsorger, der einem Sterbenden die letzte Beichte abnimmt. Wäre es nicht besser, Sie versuchten jetzt zu schlafen – und morgen – wenn Sie sich gestärkt fühlen –
Nein! Ich bin einmal im Zuge, und wie soll ich an Schlafen denken? Mein ganzes übriges Leben wird ja ein langer geistiger Schlaf sein; – freilich: »Was uns im Schlaf für Träume kommen mögen« – sagt Hamlet. Aber dafür giebt es ja Opiate. »Arbeit – redliche, treue Arbeit,« – wie steht's doch in dem Brief? (Er suchte unter den Heften und zog ein zusammengefaltetes Blatt hervor.) Richtig: »ernste Erfüllung einer täglichen Pflicht« – o mein werthes Orakel, Sie haben gut reden! Sie sind ein berühmter Mann, ein großer Poet, und wenn Sie Morgens aufstehen und sich an den Schreibtisch setzen, um ein paar Dutzend Verse niederzuschreiben, die Sie sich zwischen Träumen und Wachen ausgedacht haben, haben Sie Mittags Ihre tägliche Pflicht erfüllt und wieder ein grünes Blättchen Ihrem Lorbeerkranz hinzugefügt. Aber ich – ein namenloser, armer Commis, der es mit seiner redlichen, treuen Arbeit, wenn das Glück gut ist, endlich dahin bringt, den Cassaschlüssel zu bekommen, oder vor dem Hauptbuch zu sitzen –
Sie sind arm? unterbrach ihn Jonathan. – Er überlegte schon im Stillen, auf welche möglichst zartfühlende Weise er ihm seine geringen Ersparnisse anbieten könne.
Arm? Nein, nicht das, nicht in dem Sinne, wie Sie glauben. Aber arm an Hoffnungen, an Selbstbefriedigung, bettelarm an Glück – ich denke, das ist ärger, als wenn ich nicht wüßte, womit ich meinen Hunger stillen und meinen Schneider bezahlen sollte. Und dies Alles erst seit wenig Stunden, durch dies einzige Blatt Papier. Ich hatte mir ja nicht eingebildet, daß er mir gleich den Ritterschlag geben, mich für ein ebenbürtiges Genie erklären würde – »kraft der Laute, die er rühmlich schlug« – Sie wissen – wie Bürger den jungen Schlegel. Aber so ein für allemal abgewiesen von der Schwelle des Musentempels – und was das Schlimmste ist: so freundschaftlich, so schonend grausam – da, lesen Sie selbst! Sie sollen mir sagen, ob man mit väterlicherer Sanftmuth und Güte ein Todesurtheil aussprechen kann.
Er reichte ihm mit zitternder Hand den Brief und sank auf das Kissen zurück.
Nun las Jonathan vier ausführliche Seiten mit einem wohlbekannten Namen unterzeichnet. Man sah die Mühe, die der Schreiber sich gegeben, das heilsame bittere Tränklein zu versüßen; er sprach es offen aus, daß ein Etwas in den Gedichten sowohl, wie in dem Begleitbrief des jungen Unbekannten ihn angezogen habe. Doch gerade darum, weil er ihm das Beste wünsche, könne er ihn nicht ernst genug vor Täuschungen warnen, die ihn sein ganzes Lebensglück kosten könnten. Ein gewisses Formtalent sei nicht zu verkennen, auch die Gabe, eine melodische Stimmung zu erwecken und ein paar Strophen mit einer lyrischen Pointe abzuschließen. Das Alles aber mache noch nicht den Dichter. Der müsse vor Allem ein starkes Naturell besitzen, ein Wesen für sich sein, das die alten, ewigen Gefühle wie zum allerersten Mal in sich erlebe und den Muth und die Gabe habe, sie mit eigenen Worten auszusprechen. Hiervon sei in diesen jugendlichen Versuchen nirgend ein Hauch zu spüren, und er könne nicht ernstlich genug abrathen, über der Beschäftigung mit dilettantischen Verskünsten einen bürgerlichen Beruf zu versäumen, der ja doch erlaube, nebenher sich an allem Schönen zu erfreuen und der Poesie als Genießender treu zu bleiben. Das dramatische Fragment, das beigefügt sei, erlaube kein volles Urtheil über die Begabung des Verfassers auf diesem Gebiet. Doch sei es Niemand geglückt, auf den Brettern Fuß zu fassen, der sich nicht ganz auf ihnen angesiedelt habe. Es müsse eben Alles an Alles gesetzt werden; zu einem solchen Wagniß zuzureden, könne er vor seinem Gewissen nicht verantworten. Und so fort, im gütigsten Tone eines reifen Mannes, der einen thörichten jungen Freund davon abhalten will, seine paar Mutterpfennige am grünen Tisch auf Eine Karte zu setzen.
Jonathan faltete den Brief leise zusammen und hielt ihn auf seinem Knie, in großer Verlegenheit, was er dazu sagen sollte. Es war, als ob der Andere ihm seine Gedanken aus dem Herzen gelesen hätte.
Nicht wahr? sagte er, das klingt wie ein Ausspruch der Weisheit selbst, wie ein Posaunenton am jüngsten Gericht. Es bleibt Nichts übrig, als, wenn man dies schwarz auf weiß besitzt, sich selbst getrost nach Hause zu tragen und Gott einen guten Mann sein zu lassen. Ich erhielt diese frohe Botschaft, als ich eben von Tische kam. Ich war bei meinem Principal eingeladen, so ein Sonntagsdiner, wo er alle kleinen Verpflichtungen abmacht, auch die gegen seinen jüngsten Commis. Mit meinem Vater hatte er zu der Zeit, da unser Haus noch mitzählte, in Geschäftsverbindungen gestanden. Kurz vor ihrem Tode schrieb ihm meine Mutter einen Brief, wie Mütter zu schreiben pflegen, wenn sie ein verzogenes Söhnchen einsam in der Welt zurücklassen. Er hat mich denn auch aus Gnaden aufgenommen, obwohl er mir nicht recht traut. Denn daß ich im Stillen Verse mache, ist ihm nicht unbekannt geblieben. Aber er hat eine häßliche Tochter, die ein bischen blaustrümpflich angekränkelt ist und mich nicht mit ungünstigem Auge betrachtet. Ein paar Mal war es schon drauf und dran, daß er mich verabschieden wollte, weil ich etwas Dummes gemacht hatte, eine kleine Confusion, wie das einem wohl begegnen kann, wenn man sich eben einen Rausch in der kastalischen Quelle getrunken hat. Da hat das gute Kind immer meine Partie genommen und die Sache wieder ins Gleichgewicht gebracht. Heute war sie besonders holdselig gegen mich gewesen, doch immer nur verstohlen, als ob wir Zwei die beiden einzigen fühlenden Geschöpfe unter diesen Larven wären. Ich hielt mich, schon des Alten wegen, äußerst reservirt, war aber froh, als ich endlich von dieser Galeere loskam. Ich wollte den freien Nachmittag damit heiligen, daß ich noch eine Scene an meinem Trauerspiel dichtete. Da lag der Unheilsbrief auf dem Tisch. O lieber Freund, diese Stunden – es ist unbeschreiblich, was ich gelitten habe!
Hm! Kann es mir vorstellen! brummte Jonathan treuherzig. Aber, daß Sie dann auch gleich zum Aeußersten entschlossen waren –
Nicht gleich; auch noch in den ersten Stunden nicht. Ich war viel zu sehr zerschmettert, um überhaupt einen klaren Gedanken fassen zu können. Ich lag auf meinem Sopha wie ein Mensch, der einen Schlag vor den Kopf bekommen hat. Erst wie es Abend wurde, fuhr ich in die Höhe. Wohin ich wollte, was ich vorhatte, wußte ich selber nicht. Nach irgend einem Menschen sehnte ich mich, dem ich mich mittheilen, den ich fragen könnte, ob dies Todesurtheil wirklich unwiderruflich sei. Wenn ich dann aber in Gedanken meine sogenannten Freunde musterte, sank mir der Muth. Die hatten mich Alle bewundert, wenn bei irgend einem Anlaß etwas von meinen Versen verlautete. Die würden sich jetzt eben so gläubig vor der Autorität des Orakels beugen und mich fallen lassen. Aber ich war dem Ersticken nahe, ich mußte Luft haben; so stürmte ich hinaus. Das unselige Packet steckte ich auf alle Fälle zu mir. Und dann ging ich durch den vergnügten Philisterschwarm, der seine Sonntagsmiene aufgesteckt hatte, herum wie ein Verbrecher unter lauter Gerechten. Wenn sie ahnten, daß du ein Ausgestoßener bist, gezählt, gewogen und zu leicht befunden! stöhnte es in mir. Und kein Menschenantlitz, das mir freundlich entgegenblickte und ein verwandtes Gefühl verrieth! So bin ich herumgeirrt, bis ich zu Tode erschöpft war. Und da kam der Mond, den ich oft genug angesungen hatte, und zeigte mir seine kalte, ironische Fratze, und der Fluß schien mir zuzuraunen: Mach ein Ende! Und ich fühlte nach den Heften in meiner Brusttasche, und es war, als würden sie immer schwerer und schwerer und wollten mich hinunterziehen, nachdem sie lange genug wie Centnerlast auf meinem Herzen gelegen, und da – nun, das Uebrige wissen Sie. Ich will Ihnen nur noch gestehen, daß ich eine stille Genugthuung empfand bei dem Gedanken: man wird dich finden mit diesen Blättern, auf denen dein Schicksal geschrieben steht, und vielleicht erkennt dann doch Einer oder der Andere, oder gar das Orakel selbst, daß der Spruch zu hart und dieser Todte doch wohl noch einer Zukunft werth gewesen wäre!
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Dies Alles hatte er in Einem Athem mit fieberhafter Hast herausgesprudelt, ein seltsames Gemisch von echter Empfindung und theatralischer Selbstbespiegelung. Nun warf er die Decke von sich und sprang von seinem Lager auf, rannte mit großen Schritten im Zimmer auf und ab und blieb endlich dicht vor Jonathan stehn.
Warum haben Sie mir das gethan? rief er. Es könnte jetzt Alles überstanden sein, und ich hätte Ruhe vor mir selbst. Einen armen Spatz, der fliegen wollte, ehe er's verstand, und ins Wasser plumpte, – warum zieht man ihn heraus und bringt ihn aufs Trockene, wo er dann um so erbärmlicher seine zu kurzen Flügel sträubt? Können Sie ihn fliegen lehren? Können Sie ihn davor retten, daß die alte, wilde Katze Verzweiflung sich heranschleicht und ihn erwürgt, nachdem sie noch eine Weile ihn zwischen ihren Krallen gezaus't hat?
Jonathan sah ruhig zu ihm auf.
Ob ich das kann, sagte er, weiß ich nicht. Daß ich es versuchen will, kann ich Ihnen redlich versichern, und daß ich glaube, es wird mir gelingen, betheure ich Ihnen mit voller Aufrichtigkeit. Wie auch Ihre Verse sein mögen, ich – wie soll ich es sagen? – (er erröthete wieder und sah zu Boden) ich glaube, daß Sie kein alltäglicher Mensch sind – es ist etwas in Ihren Augen – in Ihrer Stimme und Allem, was Sie sagen – so, wie Sie da sind, habe ich mir einen Dichter vorgestellt, und wenn Sie es noch nicht wirklich sind – darf ich Sie wohl fragen, wie alt Sie sind?
Dreiundzwanzig.
Nun sehen Sie – in so jungen Jahren – und bei all den Hindernissen, mit denen Sie zu kämpfen hatten, – nein! ich bin fest überzeugt, Sie unterschätzen sich jetzt selbst – und Ihr Orakel, wenn es Sie so gesehen und sprechen gehört hätte, – ich glaube sicher, es hätte ebenso wie ich –
Er stockte und machte eine verlegene Bewegung, sich den Augen des jungen Mannes zu entziehen, die mit einem strahlenden Ausdruck an seinem Munde hingen. Wirklich? stammelte der Jüngling, Sie glauben an mich? Sie halten mich für etwas Besseres, als einen Menschen, der Neigung und Beruf verwechselt hat? Trotz meiner Feigheit, nicht sterben zu können? Trotz der ganzen lächerlichen Anmaßung, sterben zu wollen, ehe ich noch gelebt hatte?
Er streckte ihm die Hand entgegen, Jonathan schien es nicht zu bemerken. Genug! sagte er fast mürrisch. Wir sprechen morgen mehr davon. Jetzt legen Sie sich wieder hin und versuchen im Ernst zu schlafen. Erst trinken Sie noch ein wenig, und dann geben Sie mir diese Hefte. Ich – wenn ich auch kein maßgebendes Urtheil habe in solchen Dingen – ich habe Viel gelesen – noch heute Abend, kurz bevor ich Ihre Bekanntschaft machte, habe ich mich wieder in meinen Platen vertieft – ich selbst bin ein ganz prosaischer Mensch – das heißt, ich könnte nicht vier Verse zusammenbringen – aber mein Ohr ist geübt, und ich kann Gut und Schlecht unterscheiden. Wenn ich Ihnen zum Publikum nicht zu schlecht bin –
O lieber Freund! rief der Andere, Sie machen mich glücklich, daß Sie nicht an mir verzweifeln, daß Sie mir rathen und helfen wollen. Nein, ich bin nicht müde – ich setze mich hier zu Ihnen – wenn Sie mich anhören wollen.
Ich bin ans Vorlesen nicht gewöhnt, unterbrach ihn Jonathan. Es zerstreut mich, und dann – der Klang Ihrer Stimme könnte mich bestechen – ich muß Alles, worüber ich ins Klare kommen soll, ganz still mit mir selbst überlegen. Also seien Sie folgsam – ich bin jetzt für Sie verantwortlich.
Der Jüngling erwiderte Nichts mehr. Er warf sich mit einer halb elegischen, halb trotzigen Geberde wieder auf das Sopha und zog die Decke über die Brust, das Gesicht nach der Wand gekehrt. Jonathan hatte sich der Hefte bemächtigt und seinen Stuhl so gerückt, daß der Lampenschimmer voll auf die Blätter fiel. Er las aber noch nicht sogleich. Sein Blick ruhte auf dem ersten Blatt, auf welchem nur geschrieben stand: Gedichte von Eduard Vanesse. Eine zarte, fast weibliche Handschrift, von englischem Charakter; keine Kaufmannshand. Diese leichten, regelmäßigen Züge hatten eine deutliche Verwandtschaft mit den Linien des Gesichts, das er jetzt nur im Profil sehen konnte. Eduard Vanesse – auch der Name schmeichelte sich seinem Ohre ein, wie es die ganze Erscheinung seines Gastes gethan hatte. Er sah unwillkürlich von ihm weg, an seinen eigenen plumpen Gliedmaßen hinab. Die alte Resignation, daß er mit seiner bäurischen Complexion zu nichts Besserem geschaffen sei, als mit derber Arbeit seine Tage zu füllen, fiel ihm seit langer Zeit wieder einmal schwer aufs Herz. Da lag nun so ein aristokratisches Geschöpf, ein zu Höherem bestimmter Liebling der Natur. Der hatte verzweifeln wollen? Der das Leben nicht mehr erträglich gefunden? Er mußte gerettet werden, mit sich selbst versöhnt. Es konnte nur eine Verirrung sein, aus einer üppigen Laune entsprungen, wie sie gerade die Begabtesten anwandelt. Denn Ungenügsamkeit – ist sie nicht die Mitgift aller höheren Naturen? Er selbst – war er nicht eben darum zur Alltäglichkeit verdammt, weil er gelernt hatte sich zu begnügen?
Er hörte an den gleichmäßigen Athemzügen, die vom Sopha herkamen, daß sein Schützling wie ein Kind, das noch eben geweint und sich ungeberdig betragen hat, schon im sanftesten Schlummer lag. Nun erst schlug er das Titelblatt um und begann zu lesen. Er hatte Anfangs Mühe, sich gegen den bestechenden Reiz der Handschrift zu wehren. Auch sein guter Wille, diese Verse so schön zu finden, wie er es um ihres Verfassers willen zuversichtlich gehofft hatte, trübte eine Zeitlang sein ruhiges Urtheil. Als er aber mit dem ersten Heft zu Ende war und einen Augenblick innehielt, mußte er sich sagen, daß jenes strenge briefliche Urtheil unzweifelhaft Recht habe. Er war doch zu sehr an das Beste gewöhnt, um sich durch diese jugendlichen Gemeinplätze täuschen zu lassen. Wenn er freilich die weiche Stimme hinzubrachte, die ihm immer noch im Ohre klang, begriff er, daß diese wohlgereimten Frühlings- und Liebesseufzer von Anderen für etwas Ungemeines gehalten werden konnten. Auch loderte hie und da aus dem mäßig erwärmten Gemüth ein Flämmchen auf, das freier in die Höhe zu streben schien. Doch versank es gleich wieder, und eine gewisse melodische Gehaltlosigkeit machte sich auf die Länge fühlbar, ein Spielen mit unausgesprochenen, der Versicherung nach unaussprechlichen Schmerzen, zumal ein ewiges Herumtasten an der Frage, was der Dichter sei, was ihn von seinen Menschenbrüdern unterscheide, warum er den berühmten »Kainsstempel« an der Stirn trage, in alle dem hie und da eine glückliche Wendung, eine und die andere nicht ungeschickt zugespitzte Antithese, aber Nichts von wahrhaft sprachbildender Kraft oder einem Ansatz zu einem lyrischen Charakterkopf, geschweige denn ein Herzensbekenntniß, das mit hinreißender Wahrheit und Macht aus dem Innersten hervorgebrochen wäre.
Trotzdem hatte er gewissenhaft weitergelesen. Als er jetzt mit den Gedichten fertig war, legte er sie behutsam auf den Tisch und saß eine Weile in tiefer Bekümmerniß. Was sollte er sagen, wenn er um sein Urtheil befragt wurde? Warum hatte er auch eingestanden, daß er in diesen Dingen nicht so ganz unbewandert sei? Wenn er nun bekannte, daß er jedes Wort des Briefes unterschreiben müsse, würde das den kaum Geretteten nicht wieder in die alte Hoffnungslosigkeit zurückstoßen?
Er wagte nicht, den Schlafenden anzusehen, der so ahnungslos fortträumte. Mechanisch griff er endlich nach dem letzten der Hefte, worin das dramatische Fragment enthalten war. »Der Buchhändler von Logroño, Trauerspiel in fünf Akten« stand auf dem Titelblatt. Er hatte sich schon darein ergeben, auch hier den guten Willen für die That nehmen zu müssen und mit heimlichem Widerstreben sein fruchtloses Amt bis zu Ende durchzuführen. Nun überraschte ihn aufs Angenehmste gleich auf den ersten Seiten ein ganz anderer Geist. Etwas von dem unstäten Feuer, dem persönlichen Reiz, den der blasse junge Mensch besaß, fand er auch in den Scenen dieses Dramas, das eine wundersame Geschichte zu entwickeln schien. Ein einsamer Mann saß bei Nacht in seinem Hause, das in der spanischen Stadt Logroño nahe am Thor gelegen war. Das Gespräch mit einer alten Haushälterin gab Andeutungen darüber, daß eine dunkle, unheilvolle Vergangenheit, vielleicht eine ungesühnte Schuld auf der Seele des Mannes laste. Sie fragt, warum er unvermählt geblieben, warum er nicht noch trotz seiner Jahre an eine Ehe denke, da er reich genug sei, einer Frau, die selbst nicht das grünste Püppchen wäre, ein angenehmes Leben zu bieten. Er weicht aus und schickt die lästige Fragerin endlich hinaus. Ein Monolog wiederholt zwar nur, was die erste Scene angedeutet, ohne neue Aufschlüsse zu geben. Doch flackert hier unter der Asche der alten Erinnerungen eine geheimnißvolle Glut auf, Glück und Reue, Grauen vor dem Erlebten und heimliches Zurücksehnen einer wilden, unseligen Zeit. Da hört man am Hausthor pochen – zwei – dreimal. Unbekannt? Stimmen begehren Einlaß, drohen, ihn, wenn er geweigert werde, zu erzwingen. Als der Mann sich zu öffnen bequemt, treten drei hochgewachsene Jünglinge herein, an ihrer Farbe und Tracht als Zigeuner kenntlich. Der Mann fährt zusammen, die Sprache versagt ihm. Der Aelteste der Drei nimmt das Wort. Er erzählt, daß ein großes Zigeunerheer sich der Stadt Logroño genähert habe und Willens sei, sie zu erstürmen, wenn sie nicht freiwillig die Thore öffne. Die Aufforderung dazu sei von dem Bürgermeister mit Hohn abgewiesen worden. Doch sei die Noth des Heerhaufens so groß, daß er sich nicht zurückziehen könne und durch Blut und Brand eindringen müsse, – wenn Der, zu dem sie eben gekommen, nicht ein Einsehen habe und thue, was die Väter der Stadt geweigert hätten. Oeffne er in der nächsten Nacht das Thor, so werde Logroño mit einer mäßigen Schatzung davonkommen. Wo nicht, solle kein Stein auf dem anderen bleiben. – Nach einer langen Pause, in welcher der Ueberwältigte sich mühsam zu fassen gesucht, stammelt er die Antwort: warum sie sich gerade an ihn gewendet? – Mit einem finstern Lächeln antwortet der Sprecher, während die Anderen drohend die Fäuste ballen: Weil wir ein altes Recht an dich haben. Entsinnst du dich jener Gitana, der du als junger Mensch deine Treue gelobt, mit der du vier Jahre herumgezogen bist, von ihrer Schönheit gefesselt, bis du ihrer müde warst? Sieh uns an: wir sind ihre Söhne. Wir hoffen, daß der Vater an uns gut machen wird, was er an der Mutter verbrochen hat. Wenn morgen früh aus dem Schlot deines Hauses, das von den Hügeln drüben sichtbar ist, Rauch aufsteigt, soll es ein Zeichen sein, daß du deine Pflicht erfüllen willst. Wenn kein Feuer auf deinem Herde brennt, werden wir in der nächsten Nacht für Feuer sorgen. – –
So weit war der Entwurf dieses ersten Aktes gediehen. Nur die Schlußworte sollten noch geschrieben werden.
Als Jonathan das letzte Blatt umgewendet hatte, machte der Schläfer eine Bewegung; gleich darauf richtete er sich in die Höhe und sah hastig um. Nun? fragte er. Sie lesen noch immer?
Ich bin eben zu Ende, erwiderte Jonathan in einer seltsamen Bewegung. Jetzt will auch ich zu Bette gehen. Aber schlafen Sie ruhig weiter. Ich habe Ihnen morgen etwas zu sagen, was Ihnen Freude machen wird.
Der Jüngling lächelte. Er hatte die Nebel des Traums um alle Sinne. Doch verstand er so viel, daß er einen Menschen gefunden hatte, der an ihn glaubte.
Nach wenigen Minuten war er wieder in tiefen Schlaf gesunken. Jonathan, nachdem er die Lampe ausgelöscht, schlich auf den Zehen in seine dunkle Kammer.
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Er konnte aber nicht schlafen. Die Erlebnisse dieses denkwürdigen Abends zogen immer wieder an seinem inneren Auge vorbei und jagten ihm das Blut durch die Adern, daß er es in den Schläfen klopfen fühlte. Seine einsame arme Seele hatte nun Etwas, woran sie sich aufrichten und anklammern konnte. Ein unerhörtes Glück, wie er es sich nie hatte träumen lassen. Es galt eine andere Seele zu retten, die sich selbst verloren gab. Das war ein anderes Tagewerk, als Kanäle graben, Röhren in die Erde legen und Brücken und Tunnel bauen.
Die Scenen dieses ersten Aktes standen ihm anschaulich vor der Phantasie. Er fing an zu überlegen, wie es wohl weitergehen sollte, und träumte sich das Stück noch eine Strecke weiter zurecht. Dann fiel ihm ein, daß er ja kein Dichter sei, überhaupt nur ein gewöhnlicher Mensch, der Schönes allenfalls zu verstehen, aber nicht zu schaffen im Stande wäre. Gleichsam um sich zu rechtfertigen, daß er überhaupt mitzureden sich erlaubt habe, durchblätterte er in Gedanken die Mappe mit seinen Entwürfen. Es war aber Nichts darunter, was jetzt noch Stich hielt vor seiner grausamen Kritik. Genial war Nichts von alle dem. Wie sollte auch ihm, dem Bauernsohn, dem grobschlächtigen Gesellen, etwas Meisterliches, Feines und Hohes gelingen! Wenn man so aussah freilich, wie dieser Eduard Vanesse, da hatte man's im Blut, da konnte man leicht ein Elite-Mensch sein. Und Der hatte an sich verzweifeln wollen? Weil er, wie alle Genies, damit angefangen, fremde Weisen nachzusingen, bis er seinen eigenen Ton gefunden?
Endlich schlief er doch ein, da es eben drei Uhr schlug. Um Sechs mußte er schon wieder bei seinen Arbeitern sein. So brachte er es nicht über zwei Stunden Schlaf. Es war grauer Morgen, als er auffuhr und sich sacht ankleidete. Raffel wollte ihm seinen Morgengruß zubellen. Eine drohende Geberde machte ihn stumm. Dann, nachdem er sich überzeugt, daß sein Gast ruhig fortschlief – er ruhte so frisch und blühend auf dem breiten Lager, wie ein blutjunges Mädchen – schlich er behutsam aus der Kammerthür und zog erst im Flur seine großen Stiefel an, die noch ungeputzt dastanden, wie er sie gestern Abend hingestellt. Die Wirthin sah in der Nachthaube aus ihrer Thür; es war eine halbe Stunde vor der gewöhnlichen Zeit. Jonathan aber konnte sich nicht überwinden, länger zu warten; als ob er fürchtete, wenn Eduard aufwache, dann kein Ende zu finden. Er trug der Frau auf, falls der Herr drinnen zu frühstücken wünsche, ihm Alles zu besorgen, wonach er nur Verlangen trüge. Er selbst werde um die Mittagszeit zurückkommen. Sie möge ihn grüßen und bitten, sich ja noch auszuruhen. Er sei von etwas zarter Natur.
Die Frau hatte hundert Fragen auf dem Herzen. Jonathan aber nickte ihr eilfertig ein Lebewohl zu und ging auf den Zehen die noch dunkle Treppe hinunter. Er war der Erste auf dem Arbeitsplatz. Uebrigens versah er sein Geschäft heut wie im Traum und gab einige Male verkehrte Antworten, so daß seine Leute den Kopf schüttelten. Sie wußten, daß er sehr eingezogen lebte und auch am Sonntag nie mit einem schweren Kopf nach Hause kam. Doch als es an irgend einer Stelle eine Schwierigkeit gab, hatte er all seine Kenntnisse und Besonnenheit wieder in Bereitschaft und gab seine Befehle wie sonst in kurzen, sachgemäßen Worten, daß ihm Niemand anmerkte, wie weit ab von diesem Werk seine tiefsten Gedanken schweiften. Statt aber die Mittagspause, wie er gewohnt war, zu einem sehr summarischen Mahl in der nächsten Speisewirthschaft zu benutzen, stürmte er mit dem Glockenschlag nach Hause und die drei Treppen in großen Sätzen hinauf. Er fand das Nest leer. Der schöne junge Herr sei gegen acht Uhr zum Vorschein gekommen, habe aber das Frühstück, das sie schon bereit gehalten, abgelehnt und nur noch einen mündlichen Gruß an Herrn Jonathan hinterlassen, außer einem beschriebenen Zettel, den er auf den Zeichentisch gelegt. Sie erging sich in unendlichen Wiederholungen über sein Aeußeres, das fast zu fein für einen jungen Mann sei und eher einem vornehmen Fräulein anstünde, über seine sanfte Stimme und sein höfliches Betragen. Jonathan hörte nur mit halbem Ohr danach hin, er war hastig in die Stube getreten und hatte den Zettel ergriffen. »Guten Morgen, theurer Freund!« stand darauf. »Hoffentlich haben Sie so gut geschlafen wie ich, wenn auch nicht so lange. Ich muß auf meine Galeere zurück. Wenn ich losgeschmiedet bin – Abends nach sechs Uhr – hoffe ich Sie bei mir zu sehen. Ich kann die Zeit nicht erwarten. Was wäre ich ohne Sie! Alles Andere mündlich. Ihr Eduard!«
Darunter stand die Wohnung, in einer der Straßen nächst dem Markt.
Jonathan las die wenigen Zeilen immer wieder durch. Nie hatte ein Mensch in diesem Tone an ihn geschrieben. Er fühlte sich unfähig, sich jetzt an seinen Stammtisch in der armseligen Kneipe zu setzen. Er bat seine Wirthin, ihm etwas von ihrer Suppe abzugeben, und auch die wurde kalt, eh er sie berührte. »Theurer Freund – Ich kann die Zeit nicht erwarten – Was wäre ich ohne Sie« – die Worte umklangen ihn beständig wie eine himmlische Musik.
*
Als er Abends zu der bestimmten Stunde die Treppe zu seinem Freunde hinaufstieg, klopfte ihm das Herz so lebhaft, daß er ein paarmal stehen bleiben mußte, um Athem zu schöpfen. Das Haus lag in einer engen Gasse; Jonathan wunderte sich, daß der junge Poet sich kein sonnigeres Quartier ausgesucht habe. Auf sein Klingeln öffnete der Freund selbst, ergriff seine beiden Hände und zog ihn mit einem »Tausend Dank, daß Sie kommen!« ins Innere seiner Wohnung. Es war ein großes dreifenstriges Zimmer mit einem Alkoven, dessen seidene Portieren halb zurückgeschlagen waren. Hohe Spiegel an den Fensterpfeilern, die Wände mit schönen Kupferstichen behängt, über dem Sopha, das mit einem dunkelgrünen seidenen Stoff, gleich den Vorhängen, überzogen war, hing das Bild einer schönen Frau.
Der Hund, der mit lautem Bellen seinen Bekannten von gestern begrüßt hatte, wollte sich's gleich auf dem weichen Polster bequem machen. Eduard war ihm nicht auf das Freundlichste begegnet. Er schien vergessen zu haben, daß das wackere Thier sich mit um seine Rettung verdient gemacht hatte. Thun Sie mir den Gefallen, sagte er, den Hund auf den Flur hinauszuschicken. Ein vernunftloses Geschöpf in meiner Nähe macht mich nervös. Und überdies nimmt er keine Rücksicht auf meine Möbel, die ich freilich von meinem Commisgehalt mir nicht so kostbar angeschafft hätte. Sie stammen noch von meiner guten Mutter, ich habe die ganze Einrichtung ihres Zimmers zu mir schicken lassen, als sie gestorben war. Da hängt ihr Bild; es ist ähnlich, nur daß sie viel schöner war. Ich danke Ihnen! fuhr er fort, als der Hund hinausgesperrt war und draußen auf der Schwelle winselte. Und nun machen Sie sich's bequem und thun Sie bei mir, wie ich gestern bei Ihnen, ganz als ob Sie in Ihren eigenen vier Pfählen wären.
Jonathan war mitten im Zimmer stehen geblieben. In seiner kurzen groben Joppe mit den Kniestiefeln fühlte er sich unbehaglich unter all dem frauenhaften Geräth. Auch der Freund, der ein bequemes sammtenes Hausröckchen trug, schien plötzlich durch eine weite Kluft von ihm getrennt. Er starrte ein paar Augenblicke sein eigenes Bild im Spiegel an. Nie war er sich bäuerischer vorgekommen.
Sie wundern sich, daß ich mir keine hübschere Aussicht ausgesucht habe, sagte Eduard lächelnd. Vor einem Jahr, als ich einzog, war sie freilich verlockender. Da drüben am Fenster funkelten ein Paar schwarze Augen, die gar keinen Zweifel darüber aufkommen ließen, daß ich dies Zimmer um jeden Preis miethen müsse. Die Herrlichkeit hat nun leider nicht lange gedauert, und ich glaube fast, ich selbst bin Schuld, daß sich die Aussicht so bald verschlechterte. Der kleine Roman kam nicht über das erste Kapitel hinaus, da er vor anderen Augen nicht so viel Gnade fand, wie vor den beiden schwarzen. Ich aber hatte mich einmal hier angesiedelt, blieb wohnen und ließ die Geschichte bei dem interessanten Fragment bewenden. Aber genug von diesen Kindereien. Kommen Sie! Da ist ein bequemer Stuhl, mein gewöhnlicher Platz, wenn ich über meine Zukunft brüte. Nun überlasse ich Ihnen das Geschäft, das vielleicht sehr unfruchtbar ist. So! legen Sie Ihren Hut ab. Und nun sagen Sie: Sie haben gelesen. Finden Sie meine schriftlichen Missethaten wirklich nicht todeswürdig?
Jonathan hatte den Hut auf den Teppich neben den großen Lehnstuhl gelegt, in welchen ihn sein Freund fast mit Gewalt hineingedrängt hatte. Noch immer kämpfte er mit seiner Beklommenheit. Große Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn; er sah an den Wänden herum und ließ seine Augen an den Schnittern Leopold Robert's haften, die er wohl kannte und die ihn unter all den bunten Zierlichkeiten allein vertraulich zu grüßen schienen. Denn auch das Portrait über dem Sopha, so schöngebildet dieses Gesicht war und so auffallend der Sohn dieser Mutter glich, zog ihn nicht an, er wußte nicht recht warum. Es war etwas Flitterhaftes, Conventionelles und Leeres in der Miene dieser Frau, wie in Allem, was sie einst umgeben hatte. Ein Schatten davon fiel auch auf ihren Nachkömmling.
Doch wich diese dumpfe Verstimmung von Jonathan's ehrlicher Seele, als sein Freund jetzt auf ihn zu trat und mit sichtlichem Ernst zu ihm sagte: Sie schweigen, lieber Freund. Die guten Worte, die Sie mir Nachts gesagt, sind Ihnen wieder leid geworden. Seien Sie ganz ehrlich: sie sollten überhaupt nur wie ein Schlafmittel wirken. Heut aber bin ich wieder frisch und gesund und kann Alles vertragen, die härteste Wahrheit. Glauben Sie nur: unter meinen vielen Fehlern ist die Sucht, mich selbst zu betrügen oder mir von Andern schmeicheln zu lassen, der geringste. Und dann – Sie mögen nun urtheilen, wie Sie wollen – das wenigstens habe ich gestern gewonnen, daß es Jemand gut und ehrlich mit mir meint. Geben Sie mir die Hand darauf, daß ich mich darin wenigstens nicht täusche.
Jonathan reichte ihm die Hand hin, mit einer Steifheit, die erkennen ließ, wie selten es ihm geschah, einem Menschen bis auf Händedrucksweite nahe zu kommen. Er fühlte, daß er roth wurde, als Eduard die derben, ungelenken Finger zwischen seinen beiden weichen Händen fest hielt, und machte sich ungeschickt los. Dann kam er gleich auf die Hefte zu sprechen. Er verschwieg nicht, daß ihm die Gedichte keinen sehr hohen Begriff von dem Talent ihres Urhebers gegeben hatten, desto wärmer erging er sich über das dramatische Fragment.
Eduard hatte sich dicht vor ihn auf die Tischkante gesetzt und jedes Wort verschlungen. Seine Augen strahlten, als Jonathan damit schloß: wenn er das Stück mit fester Hand zu Ende führe, prophezeie er ihm einen glänzenden Erfolg.
O lieber Freund, rief der Jüngling, indem er auf seine Füße sprang und wie ein fröhlicher Knabe im Zimmer hin und her lief, Sie geben mir das Leben wieder – nein, nicht mein altes, armseliges, von Zweifeln hin und her gewirbeltes – ein neues, selbstgewisses, herrliches – und ich fühle, Sie haben Recht! Sie sagen das nicht bloß, um mich zu schonen, mich aufzumuntern – Sie glauben daran, wie ich selbst in meinen besten Stunden an dieses Stück geglaubt habe. Nun aber müssen Sie Ihr Werk vollenden, mir helfen, nicht wieder in die alte Desperation zurückzusinken, an der auch meine Faulheit ihren redlichen Antheil hat. Wenn es nicht gleich gelingt, werfe ich die Flinte ins Korn. Muß man darum schon darauf verzichten, überhaupt Talent zu haben? Sagte nicht auch Lord Byron von sich, er sei wie der Tiger: was er nicht mit dem ersten Sprunge packen könne, entgehe ihm überhaupt? So ging mir's mit meinem Buchhändler von Logroño. Ich fand die Geschichte in einem Buche von James Borrow, the Gypsies in Spain, das ich nur las, um mich im Englischen zu üben. Und gleich zündete der merkwürdige Stoff, und ich machte einen Plan, mit dem ich ungeheuer zufrieden war. Aber schon nach den ersten Scenen kamen mir Bedenken. Es nimmt sich Alles weit unheimlicher und großartiger aus in der simpeln Erzählung – wie der unglückliche Mann .– Francisco Alvarez heißt er – der geglaubt hat, durch sein stilles Leben als Buchhändler alle Spuren seiner Vergangenheit verwischt zu haben – wie er nach der entsetzlichen Enthüllung Nachts zu seinem Freunde, dem alten Priester geht, ihm seinen Jammer zu beichten – wie er ihn todtkrank findet, weil er von einem Brunnen getrunken, den die Gitanos mit ihrem indischen Pestbringer, dem Drac, vergiftet haben, – und dann die Berathung mit den Vätern der Stadt – der Entschluß, sich bis auf den letzten Mann zu wehren – und dann, während ein Unwetter losbricht, als Bundesgenosse der tapferen Schaar, die auf dem Markt sich aufgestellt hat – das Geheul der Gitanos von dem erstürmten Thore her – das Dunkel, das über dem Kampf gelassen wird – und wie es zuletzt heißt: diese Nacht ertönten alle Glocken von den Thürmen von Logroño. Als die Bürger, nachdem der Feind mit Geheul und Stöhnen entflohen, ihre Häupter zählten, da fehlte nur Einer, Alvarez, der nie wieder zum Vorschein kam. Man wollte ihn zuletzt gesehen haben, seinen Gefährten weit voraus, in verzweifeltem Kampf mit drei riesigen Zigeunerjünglingen, die angefeuert wurden von einer hohen Frauengestalt, beladen mit barbarischem Schmuck und das Haupt mit einem silbernen Reif gekrönt. – Ist das nicht schauerlich schön? Aber das geht nicht auf der Bühne, das ist zu episch. Ich habe die ganze Fabel umgestalten müssen, seine Schuld, seinen Versuch, zu retten, der scheitern muß – dann wie er sich selbst zum Sühnopfer macht und seine Jugendsünde büßt – ich bildete mir etwas ein, will ich Ihnen gestehen, auf meine Composition. Dann – in schlechter Laune – verglich ich sie wieder mit der Ueberlieferung und fand Alles, was ich hinzugedichtet, unbrauchbar, kleinlich und zurechtgemacht, gegen die erste Geschichte so abfallend, wie eine Schneiderstochter, die als Preziosa auf eine Redoute geht, sich gegen eine echte Gitana ausnehmen würde. Und darüber gerieth die Sache ins Stocken – obwohl der erste Akt nicht ganz schlecht ist. Nun kommen Sie, Sie müssen mir stillhalten, ich erzähle Ihnen meinen Plan. Vielleicht ist das Ganze doch noch zu retten.
Er eilte nach dem seidenen Glockenzug neben der Thür und klingelte hastig. Gleich darauf erschien eine alte Dienerin mit einem großen Brett, auf dem sie mehrere Schüsseln mit kalten Speisen und zwei Flaschen Wein hereintrug. Sie breitete ein feines weißes Tuch über den Tisch und stellte die Collation zierlich darauf. Sobald sie sich wieder entfernt hatte, schenkte Eduard zwei Gläser voll, reichte eins seinem Gast und sagte in einiger Verlegenheit: Ich wage es nicht, Sie um etwas zu bitten – aber wenn Sie es errathen, würden Sie mir die größte Freude damit machen. Ich weiß zwar – ich bin noch nichts – ich habe keinen Anspruch darauf, von Jemand, der schon fest im Leben steht – aber wie gesagt, mein Herz ist so voll –
Jonathan war aufgestanden. Seine große Hand, die das schlanke Glas hielt, zitterte merklich; sein breites Gesicht war ganz blaß geworden.
Verstehe ich Sie recht? sagte er – Sie wollen – du wolltest –
Auf Tod und Leben – dein Bruder! rief der Andere, näherte sein Glas dem des Freundes, bis es einen leisen aber vollen Ton gab, leerte es dann auf Einen Zug und warf es gegen die Wand, daß es klirrend zersprang. In diesem Augenblick winselte der Hund draußen stärker. Jonathan trank hastig aus, schüttelte die Hand, die sich ihm entgegenstreckte, und sagte dann mit abgewandtem Gesicht: Ich muß nur einmal nachsehen – er giebt sonst keine Ruhe –
Als er nach wenigen Augenblicken wieder hereintrat, war der Ausdruck seines Gesichts wieder gelassen und die Blässe gewichen. Er setzte sich an den Tisch und genoß ein wenig von den Speisen, die Eduard ihm anbot. Doch blieb er einsilbig und zerstreut. Es schien, als ob er sich in das Wundersame, das sich eben ereignet, noch nicht finden könne. Eduard dagegen hatte seine ganze Munterkeit wiedergewonnen und machte aufs Anmuthigste den Wirth. Und einmal sagte er: du mußt mir nicht übelnehmen, daß ich die Ceremonie nicht nach dem üblichen Brauch vollzogen habe. Ich habe ein Gelübde gethan, nie einen Mann zu küssen. Ich bin als Knabe zu sehr mit Caressen überhäuft worden, als ein verzogener sogenannter hübscher Junge; seitdem umarme ich grundsätzlich nur noch Weiber, in die ich verliebt bin. Aber du issest Nichts mehr? Nun, so wollen wir an unser dramaturgisches Geschäft gehen.
Jonathan hätte gern seine Pfeife hervorgezogen, die er schwer entbehrte – die gestern verlorene war durch eine neue ersetzt worden –; doch wagte er's nicht, weil sein Freund nicht rauchte. Er saß, den Kopf in die Hände gestützt, und hörte aufmerksam den ausführlichen Bericht mit an, in welchem Eduard ihm Akt für Akt und Scene für Scene den Plan des Stückes entrollte. Als er zu Ende war, schwieg er noch eine Weile. Dann faßte er sich ein Herz und sagte Alles heraus, was ihm Bedenken gemacht hatte. Du mußt mich nehmen, wie Einen aus dem großen Haufen, der nichts von ästhetischen Theorieen weiß, nur seinen gesunden Menschenverstand ins Theater mitbringt, schloß er seine Kritik. An den und den Stellen habe es ihn gepackt. An jenen anderen sei es ihm vorgekommen, als ob ihm eine Oper vorgespielt würde, wo die Menschen plötzlich zu tönenden Instrumenten würden. Ob er es nicht lieber so oder so machen wolle? Nicht den oder jenen Auftritt vereinfachen? Den oder jenen theatralischen Effect einer tieferen Wirkung opfern?
Eduard war aufgesprungen und während der letzten Scenen im Zimmer herumgegangen. Jetzt blieb er wieder vor ihm stehen:
Ich danke dir, sagte er. Du hast Recht, du hast in jeder Silbe Recht, und ich sehe jetzt, warum es nicht vorwärts wollte. Gesunder Menschenverstand – ja wohl! daran hat es mir gefehlt, ohne den kann nichts Lebendiges bestehen, auf die Dauer wenigstens. Aber nun sei ohne Sorge; ich gehe wieder daran, du sollst Augen machen, wie flott es mir jetzt von der Hand gehen wird – Da! trinken wir noch ein Glas auf das fröhliche Blühen und Gedeihen meines Erstlings! Der Lyriker ist todt und begraben – vivat der Dramatiker!
Die Gläser klangen zusammen, dann stand Jonathan auf, schützte eine Arbeit vor, die er heute noch fertig machen müsse, und verließ seinen Freund. In Wahrheit konnte er es nicht länger ertragen, den Hund draußen vor der Thüre winseln zu hören.
*
Sie hatten nicht abgeredet, wann sie sich wieder treffen wollten. So ging Jonathan den ganzen folgenden Tag in einer kümmerlichen Stimmung herum, wie ein Mensch, der sehr im Zweifel ist, ob er sich heute noch satt essen, oder hungrig zu Bett gehen würde. Er war im Stillen darauf gefaßt, dieser wundersame Fund, den er gethan, werde wie Märchengold ihm unter den Händen verschwinden und nur das dürre Laub der Erinnerung zurücklassen. Dies erste überwallende Sichhingeben des jugendlichen Schwärmers sei nichts als die Abtragung einer vermeintlichen Dankesschuld. Wenn man verpflichtet wäre, jedem Menschen, der einen zufällig aus dem Wasser gezogen, eine lebenslängliche Liebe und Treue zu widmen, würde man sich die rettende Hand zehnmal betrachten, ehe man sich an sie anklammerte. Was habe er, der unscheinbare graue Specht, der hartes Holz anbohre, mit diesem Paradiesvogel gemein? – und was der hypochondrischen Frage- und Ausrufszeichen mehr waren.
Wie schlug ihm daher das Herz, als er Abends, da es eben dämmern wollte, müßig und unlustig in seinem Stuhl am Fenster saß, die qualmende Pfeife zwischen den Zähnen, den Hund zu seinen Füßen, und plötzlich die Hausthür gehn und flinke Schritte heraufeilen hörte. Mit zitternder Hand legte er die Pfeife weg, knöpfte die Joppe zu, da er sich schämte, keine Weste zu tragen, und stand mit hochrothem Gesicht mitten im Zimmer, als die Thür aufgerissen wurde und Eduard mit seinem bezauberndsten Lächeln hereintrat.
Der freudige Ausdruck in dem zarten Gesicht wich alsbald einer Miene des Unbehagens, als der Hund laut bellend ihm entgegensprang und zugleich der scharfe Dunst der Varinas auf ihn eindrang. Dem ersten Uebel half Jonathan hastig ab, indem er das arglose, Thier in die Kammer lockte und hinter ihm abschloß, ohne auf sein Murren und Kratzen an der Thür zu achten. Das andere merkte er erst, als Eduard zu hüsteln anfing. Er sperrte beide Fenster weit auf und wehte die blauen Wolken mit seinem Hut hinaus. Ich werde mich schon daran gewöhnen! bemerkte der Jüngling entschuldigend. Aber du rauchst ein verteufelt starkes Kraut, und ich habe es höchstens zu einer Cigarrette bringen können.
Es wird dich gewiß nicht mehr incommodiren, versetzte Jonathan. Auch rauche ich nur, wenn ich gar nichts Anderes vorhabe – log er hinzu, während er im Grunde die Pfeife nur, so lang er aß, bei Seite legte. In diesem Augenblick that er sich das Gelübde, sie überhaupt nicht mehr anzurühren.
Eduard gab nicht sonderlich Acht darauf. Er war, wie gewöhnlich, ganz von seinen eigenen Sachen erfüllt, was Jonathan wohl bemerkte, doch ohne Anstoß daran zu nehmen. Dies eben schien ihm das Merkzeichen eines Menschen, der über das Mittelmaß hinausragt. Wessen Ich werthvoll ist, dachte er, der hat ein Naturrecht darauf, ein Egoist zu sein. Kommt doch auch das allen Anderen zu Gute. Und dieses Schooßkind der Natur, muß man ihm nicht dankbar sein, wenn es sich keinen Zwang anthut, da es, so wie es ist, wie eine seltene Blume Aug' und Herz erfreut?
Ich habe es nicht aushalten können, rief der Ungestüme, indem er sein Strohhütchen auf den Zeichentisch warf; ich mußte gleich wieder zu dir, meinem Lebensretter, meinem Beichtvater und dramatischen Seelsorger, obwohl es ein bischen zudringlich ist und du dich kreuzen und segnen wirst über die neue Lebensplage, die du dir aufgehals't. Denk aber, daß ich gestern noch bis Mitternacht über meinem zweiten Akt gebrütet habe – und heute früh – es war kaum hell genug zum Schreiben – saß ich schon und warf die ersten beiden Scenen aufs Papier, ganz wie wir sie besprochen hatten. Nun hilft es dir nichts, du mußt sie hören. Wenn der Hund nur das verwünschte Kratzen ließe! Uf! wie ich gerannt bin! Ich hab' es kaum abwarten können, bis das Comtoir geschlossen wurde.
Er warf sich auf das Sopha und trocknete sich die Stirn mit seinem feinen Tüchlein. Jonathan war hinausgegangen und hatte Madame Groß gebeten, sich des Hundes eine Weile anzunehmen. Dann kam er zurück und forderte Eduard auf, zu lesen.
Sie saßen wieder bis tief in die Nacht hinein beisammen. Das Trauerspiel versprach sich aufs Schönste zu entwickeln; was heute früh entstanden war, zeigte schon Spuren jenes gesunden Menschenverstandes, der gestern als ein kräftiger Sauerteig der ganzen Masse einverleibt worden war, und Bemerkungen, die Jonathan über einzelne Verse machte, erhöhten den Respect des jungen Dichters vor dem feinen Ohr und Sinn seines neuen Publikums. Das Geplauder schweifte dann von Spanien nach Deutschland hinüber, sie gestanden sich gegenseitig ihre Liebhabereien und Antipathieen auf dem Gebiete der Poesie und vertrugen sich leicht auch da, wo sie nicht übereinstimmten. Die Wirthin hatte auf Jonathan's Anordnung ein bescheidenes Abendessen bereitet. Du mußt vorlieb nehmen, warf Jonathan hin, wie du es eben bei einem Proletarier findest. Eduard versicherte, er habe nie einen besseren Schinken gegessen, und der Thee sei vortrefflich. Ich kenne ihn ja schon, sagte er lächelnd. Er gehört mit zu dem Rettungsapparat für schiffbrüchige Hoffnungen. – Dann stand er auf und ging langsam an den Wänden herum, jetzt erst die Photographieen genauer betrachtend.
Weißt du, sagte er, daß du dennoch weit vornehmer eingerichtet bist, als ich? Ich bin zwar ein blutiger Ignorant in den bildenden Künsten, aber so viel Witterung besitze ich doch, daß ich mich hier in der erlauchtesten Gesellschaft befinde, und daß meine Zimmerdecoration, die der Tapezier gemacht hat, sich dagegen wie eine Balltoilette gegen einen Krönungsmantel ausnimmt. Was mich nur wundert, Hans – (er hatte seinen Vornamen wissen wollen und den altväterischen Johann sofort in einen flotteren Hans umgewandelt): wie bringst du es fertig, mit all diesen feierlichen Bauwerken, Tempelhallen und Kuppeln vor Augen dein Maulwurfsgeschäft nicht zu hassen? Warum baust du nicht auch lieber in die hellen Lüfte hinein, statt in die dunkle Erde?
Es ist dafür gesorgt, daß meine Gedanken nicht in den Himmel wachsen, erwiderte Jonathan ernst. Ich habe freilich auch meine hochfliegenden Stunden. Aber ein mittelmäßiges Talent soll sich nicht anmaßen, wahrhaft Schönes zu Stande zu bringen, was immer etwas Großes und Einziges ist und keinem Dutzendmenschen gelingt. Es muß auch Handlanger geben und solche Leute, die gute Straßen bauen, auf denen die Genies ihre Triumphzüge halten können. Diese ewigen Werke da – ich habe sie mir nicht zur Aufmunterung, sondern zu meiner täglichen Einschüchterung vor die Nase gehängt, wenn ich die einmal zu hoch tragen sollte, 's ist übrigens keine Gefahr. Wer würde mir einen Auftrag anvertrauen, der ins Große ginge?
Er wurde hierauf einsilbig, und das Gespräch kam ins Stocken. Als Eduard dann gegangen war, kam die Hausfrau noch herein, um ihr Herz abermals darüber auszuschütten, welch ein »reizender Mensch« der junge Herr sei, wie wohlerzogen und charmant er sich gegen sie bezeige, wenn sie ihm etwas anbiete oder ihm hinausleuchte. Sie müsse nur auf der Hut sein, daß ihre jungen Bäschen ihn nicht zu sehen bekamen, da könnte ein Unglück geschehen. Denn er sehe aus wie ein Prinz und sei wohl sehr reich, so daß er sich um ein Bürgerskind nicht bekümmern werde. Doch gönne sie's dem Herrn Jonathan von Herzen, endlich einmal einen Freund gefunden zu haben. Morgen werde sie auch für etwas Feineres sorgen, dem jungen Herrn damit aufzuwarten.
Morgen wollten sie wieder bei Herrn Eduard zusammenkommen, erwiderte Jonathan trocken. Es war ihm fast unlieb, daß die Frau von seinem Schützling so bezaubert war; als hätte er ihn nun nicht mehr ganz für sich allein. Dann, während er die Pfeife, die er schon in die Hand genommen, wieder wegschob: Könnten Sie mir helfen, sagte er dumpf, den Hund in andere Hände zu bringen – natürlich, wo er gut und freundlich behandelt würde. Wir – Herr Eduard wird mir öfter etwas vorzulesen haben – da ist das Knurren und Heulen des Hundes störend – vielleicht nehm' ich ihn später wieder zu mir.
Er sah starr auf den Boden, wo sich das gute Thier zutraulich zu seinen Füßen hingekauert hatte. – Dafür könne leicht Rath werden, erwiderte die Frau eifrig. Der Gärtner, von dem die Gemüsefrau ihren Vorrath beziehe, suche schon lang einen wachsamen Hund, den er nicht zu theuer bezahlen müsse. Da werde Raffel gut aufgehoben sein und sich bald eingewöhnen. – Sie versprach, gleich morgen früh deßwegen anzufragen.
Als Jonathan allein war, bog er sich zu dem ruhig schlafenden Thier hinab. Er strich ihm mit seiner breiten Hand sacht über den Kopf und murmelte ein paar liebkosende Worte. Dann stand er auf, trat behutsam über ihn weg und holte seinen Platen vom Bücherbrett, in den er noch bis lange nach Mitternacht sich vertiefte.
*
Zwei Tage darauf saß er auf derselben Stelle und wartete auf Eduard. Die Lampe brannte schon seit einer Stunde, mehr als einmal hatte Madame Groß den Kopf in die Thür gesteckt und gefragt, ob Herr Eduard denn nicht komme, ob Herr Jonathan allein essen wolle. Endlich kam es die Treppe herauf, festere Tritte als sonst; die Thür wurde aufgerissen, und der sehnlich Erwartete stürmte herein. Er trug einen Reitanzug, ein dunkelgrünes Jäckchen, graue Beinkleider, glänzende Lackstiefel bis ans Knie.
Da bin ich! rief er und schlug mit einer biegsamen Reitgerte an den Stiefelschaft. Ich habe einen wundervollen Ritt gemacht, weit über die Felder, auf einer englischen Stute, die mein werden müßte, wenn ich nur den hundertsten Theil so reich wäre, wie mein Chef. Du hast auf mich gewartet, Hans, – du legst deine Denkerstirn in mißbilligende Falten, die mir andeuten sollen, daß der Dichter des Buchhändlers von Logroño etwas Klügeres thun könne, als englische Pferde reiten. Verzeih, großer Hans, aber davon verstehst du nichts. Auch Lord Byron hatte seine besten Einfälle im Sattel, und du wirst Augen machen, wenn ich dir erzähle, was für ein capitaler Aktschluß mir gekommen ist, während ich meine Queen Mab in Galopp setzte.
Er sah strahlender aus, als je, mit den vom Ritt noch ein wenig erhitzten Wangen und dem dunklen Haar, das ihm über die halbe Stirn hereinhing. Wie ein wilder Junge, der seine Mutter begütigen will, streichelte er dem Freunde den Arm, warf die Reitpeitsche auf das Sopha und sich daneben und nickte der Wirthin, die alsbald mit der Theemaschine hereintrat, so einschmeichelnd vertraulich zu, daß die gute Frau vor Vergnügen dunkelroth wurde.
Doch aß und trank er noch nicht. Eine neue Scene, die er am Morgen geschrieben, brannte ihm auf der Seele. Er schob die geblümte Tasse mit dem Goldrand – das Prachtstück aus der Servante der Madame Groß – unangerührt bei Seite und fing an zu lesen.
Es braucht kaum gesagt zu werden, wer hinter der Thür zuhörte und eitel Bewunderung war.
Auch Jonathan hatte sich daran gewöhnt, aufmerksam zuzuhören, und die Stimme, die ihm jedes Wort verschönerte, von dem Inhalt nach Möglichkeit zu trennen. Plötzlich fuhr er auf und flüsterte: Halt einen Augenblick inne!
Was giebt's?
Von der Straße herauf hörten sie jetzt lauter und nachdrücklicher das Heulen eines Hundes. Jonathan stand, seine Bewegung bemeisternd, auf und trat an das Fenster.
Ein Hund bellt draußen. Was ist da Besonderes dabei? Komm! Wir wollen uns nicht stören lassen.
Hörst du nicht? sagte Jonathan leise, ohne sich umzuwenden. Es ist Raffel.
Nun? Und wenn er es wäre? Er wird auf Abenteuer ausgehen.
Es ist nur – du mußt nämlich wissen, Eduard – gestern Nachmittag habe ich ihn weggegeben –
Um so besser! So hast du ja nicht mehr für ihn einzustehen. Was geht dich sein Bellen noch an?
Jonathan hatte das Fenster sacht geöffnet und sich hinausgebeugt.
Da steht er unten und starrt herauf – ich habe ihn zu einem Gärtner weit vor der Stadt gethan – er – fing an mich zu geniren – ich dachte, er sei draußen besser aufgehoben – nun wird er es doch nicht ausgehalten haben –
Höre, sagte Eduard, du mußt ihm eine Lection geben, gleich heute beim ersten Mal, sonst läuft er dir immer wieder zu, und wir haben nie Ruhe vor ihm. Nimm meine Reitpeitsche und bedeute ihm damit, daß ihr von jetzt an geschiedene Leute seid. Ich begreife, fügte er hinzu, daß es dich hart ankommt, aber was willst du machen?
Ja freilich, was will ich machen? wiederholte Jonathan mit einem sonderbar trübsinnigen Blick auf die Reitpeitsche. Er ging schwerfällig nach dem Tisch, nahm zögernd die silberbeschlagene Gerte in die Hand, stand noch einen Augenblick mitten im Zimmer und sagte dann hastig: Ich bin gleich wieder hier.
Der Hund heulte inzwischen fort. Eduard war sitzen geblieben und corrigirte mit einem kleinen goldenen Stift ein paar Worte in seinem Manuscript. Auf einmal hörte er unten ein freudiges Bellen, ein ungestümes Heulen, dann einen schrillen Wehlaut, darauf nichts mehr.
Es vergingen noch fünf Minuten. Endlich trat Jonathan wieder herein, todtenblaß, das Kinn tief auf die Brust gesenkt, auf der Stirn standen ihm große Tropfen. Er legte die Gerte sacht auf einen Stuhl und schob den seinigen etwas näher zum Fenster hin.
Fahre nur fort, sagte er dumpf. Ich finde es etwas schwül hier im Zimmer. Wo warst du doch stehen geblieben?
Schon abgethan? warf Eduard hin, indem er mit den Augen die Stelle suchte. Nun siehst du, man muß nur fest bleiben. Wir waren gerade da, wo der alte Priester in der Rathsversammlung zu sprechen anfängt. Die Rede ist mir noch nicht recht geglückt, ich war etwas hastig, um vor der Comtoirstunde noch das Uebrige hinzuwerfen. Verzeih die schlechten Verse.
Er fing wieder an zu lesen. Jonathan, der ihn sonst hin und wieder unterbrach, um über eine einzelne Stelle seine Glossen zu machen, blieb völlig stumm. Als die Scene zu Ende war, stand er auf.
Du mußt mir die Blätter hier lassen, sagte er stockend. Ich – ehrlich gesagt, ich bin heut nicht frei im Kopf – vielleicht ist ein Schnupfen im Anzug – ich würde dir heut nur ganz confuse Sachen sagen.
Wie du willst. Auch ich bin nicht ganz bei der Sache. Ich habe heut früh ein kleines Billet bekommen – von einer Dame, die sich für mich interessirt, weil sie meine Mutter gekannt hat – wie sie behauptet – eine gefährliche junge Wittwe, fügte er mit einem leichten Don Juan-Lächeln hinzu. Weißt du was, Hans? Wir heben die Sitzung auf, und obwohl es schon ein wenig spät ist, versuche ich doch am Ende noch, ob meine Gönnerin zu sprechen ist.
Er sprang auf, ging in die Kammer und kam gleich wieder mit etwas sorgfältigerer Frisur zurück. Gute Nacht, großer Hans! sagte er lächelnd. Meinen Aktschluß erzähle ich dir morgen. Man ist nicht immer Dichter, man muß auch zuweilen Mensch sein dürfen.
Jonathan saß noch lange am offenen Fenster. Einen Augenblick hatte er sich versucht gefühlt, seine Pfeife wieder vorzuholen und in seiner zwiefachen Einsamkeit bei ihr Trost zu suchen. Doch widerstand er tapfer. Er wollte sich selbst den Beweis führen, daß er stark genug sei, sich von einem Gelüst nicht bezwingen zu lassen; er bedurfte dieser Genugthuung um so mehr, je deutlicher er empfand, wie er sich in allem Uebrigen nicht mehr angehörte, wie die Macht, die dieser junge Mensch über ihn ausübte, von Tag zu Tage wuchs. Doch sagte er sich wieder, daß es nicht unmännlich sei, sich vom Liebenswürdigen beherrschen zu lassen, einer überlegenen Natur selbst in ihren Fehlern zu erliegen. Er war noch klarsichtig genug, um sich einzugestehen, daß nicht Alles, was an seinem Freunde glänzte, eitel Gold sei. Dann wieder entschuldigte er ihn vor sich selbst. Der Hang zum Genuß, zu Gold und Glanz, zu Frauengunst und leicht errungenem Beifall schien ihm von einer reizbaren, weichen, phantastischen Künstlerseele untrennbar. Und hatte er sich nicht trotz alledem so treulich an ihn angeschlossen, der gar nichts Scheinbares und Schimmerndes aufzuweisen hatte? Wenn ihm der Sinn für Wahrheit und Echtheit gefehlt hätte, würde er dann nicht müde geworden sein, die steile Treppe zu seinem mürrischen Freunde zu erklimmen, der so scharf mit ihm ins Gericht ging, ihm keinen falschen Vers oder schiefen Gedanken durchzulassen geneigt war?
So nahm er endlich die Blätter vor, die Eduard nicht wieder eingesteckt hatte, und las sie aufmerksam durch, hie und da einen Strich oder ein Merkwort an den Rand zeichnend. Als er am anderen Abend das Manuscript zu Eduard brachte, fand er diesen zwar ein wenig zerstreut und nicht sonderlich dramaturgisch aufgelegt, doch bald wieder für jeden Einwurf zugänglich. Diesen Morgen hatte er freilich keine neue Scene entworfen; er sei zu spät aufgestanden. Wie das gekommen, erklärte er mit keinem Wort, und Jonathan hütete sich zu fragen.
*
In dieser Weise lebten sie den ganzen Juli hindurch, nur daß die warmen Abende sie oft hinauslockten, in einem stillen Garten zusammen ihr Mahl einzunehmen und die Sterne sich ins Glas scheinen zu lassen. All seinen früheren Bekannten war Eduard abtrünnig geworden. Wenn ihm einer derselben begegnete, grüßte er ihn mit einem verwunderten Blick auf seinen großen, breitschultrigen Gefährten, der in seinem Arbeiteraufzug sich seltsam neben dem zierlich gekleideten jungen Adonis ausnahm. Auch Jonathan wurde nicht ganz mit Bemerkungen über die neue Freundschaft verschont. Sie haben sich ja einen David angeschafft! neckte ihn sein Baudirector. Ist es wahr, daß der junge Herr auch die Harfe schlägt? Zum Goliathtödter ist er doch wohl zu zart gebaut. – Er antwortete nur mit einem scheuen Achselzucken und nichtssagenden Worten auf solche Reden, die er auch von einigen Collegen zu hören bekam. Was ging ihn das Gerede der Welt an, die ihm wahrlich nichts gegeben hatte, so lange er einsam gewesen war?
Er hatte auch nichts von ihr verlangt und würde sich dagegen gewehrt haben, wenn sie ihm etwas aufgedrungen hätte. Was Eduard ihm gab, sein Zutrauen, seine heitere Gesellschaft, das Opfer mancher Stunde, die er sonst in schlechterem Umgang verloren, schien ihm ein ganz gebührender Zoll der Freundschaft; ja er hätte noch weit Mehr unbedenklich von ihm angenommen. Denn seine arglose Seele fühlte dunkel, daß von Freundschaft nicht die Rede sein kann, wo über Nehmen und Geben noch Buch geführt wird. Er beneidete den Freund ein wenig um seine guten Einfälle, mit allerlei kleinen Geschenken ihm, dem ganz Bedürfnißlosen, gleichwohl eine Freude zu machen, um die Anmuth, mit der er eine solche Gabe anzubringen wußte. Er benutzte diese Sächlein kaum, selbst wenn sie nur zum Nutzen dienen sollten. Aber er betrachtete sie täglich mit neuem Vergnügen und hätte sie am liebsten in irgend einem schönen Schrein zu einem kleinen Museum vereinigt. Er selbst schenkte nie etwas dagegen. So viel er sich den Kopf zerbrach, fand er nie das Rechte, und nur das Allerkostbarste wäre ihm gut genug gewesen. Sich selbst mit Leib und Leben hinzugeben, hätte er sich keinen Augenblick bedacht. Und wenn Eduard ihm dann die Schulter gestreichelt und »Großer Hans« zu ihm gesagt hätte, wäre er sich über Verdienst belohnt erschienen.
Mit dem Vornamen, wie gesagt, hatte ihn nur die Mutter genannt. So gut hatte er es nur einmal in jedem Jahre, zu Weihnachten, wo ihn Nichts in der Welt abhalten konnte, nach Hause zu reisen auf sein kleines Dorf, wo die alte Frau in ähnlicher Einsamkeit, wie ihr Sohn, ihre letzten Tage hinlebte. Sie war sehr taub geworden und an einem Auge erblindet. Bei dem trüben Lichte des anderen saß sie tagelang in ihrem alten Häuschen und spann, nachdem sie ihren kleinen Haushalt bestellt hatte. Den Sohn konnte sie noch recht gut sehen und an windstillen Tagen auch jedes Wort, das er sagte, verstehen. Dennoch sprachen sie nicht viel mit einander. Er saß die langen Stunden bei ihr am Fenster, las in den alten Kalendern und wenigen Geschichtenbüchern, die noch vom Vater her stammten, und seine Hauptaufgabe bestand darin, möglichst viel von den ländlichen Festkuchen und anderen Lieblingsgerichten zu vertilgen, die sie ihm dann aufnöthigte. Es war ein feines Gemüth in dem alten Landkinde, und sie verstand den Sohn auch ohne Worte, wußte, wie er an ihr hing, auch wenn er nach seiner keuschen Art mit Liebkosungen kargte. Einen einzigen Wunsch hatte sie noch: ihn glücklich zu sehen mit einer guten Frau, die ihn liebte, ähnlich wie sie. Jedesmal forschte sie an ihm herum, wie es mit dieser Lebensfrage stehe. Doch brach er immer so eilig ab, daß sie den Muth sinken ließ.
Nur acht Tage blieb er bei ihr. Immer, wenn er kam, brachte er einen ganzen Koffer voll Sachen mit, die sie gut brauchen konnte, und nahm dafür allerlei von ihr selbst Gefertigtes mit zurück. Sie war nicht arm; Geld von ihm anzunehmen hatte sie sich stets aufs Lebhafteste geweigert. Was er nicht brauche, solle er zurücklegen für seinen eigenen künftigen Hausstand. – Dies war ihr ganzer Verkehr; denn sie konnte zum Schreiben nicht mehr genug sehen, und was sie ihm zu sagen gehabt hätte, mochte sie keinem Fremden dictiren. Er aber schrieb nicht, weil eine zarte Scham ihn ebenfalls abhielt, sein Innerstes gegen sie auszusprechen, sein äußeres Leben aber so einförmig verging, daß Nichts davon zu berichten war. Nur im Frühling und Herbst raffte er sich zu einer kurzen Epistel auf, die ziemlich nichtssagend war, da er wußte, daß der Lehrer sie ihr vorlesen mußte. Dann ließ sie ihm durch diesen antworten, es gehe ihr recht gut und sie freue sich auf Weihnachten.
So erschrak er nicht wenig, als er eines heißen Augustabends von der Arbeit weg nach Hause kam und einen Brief mit der Handschrift des Lehrers auf seinem Tische fand. Jetzt erst fiel es ihm aufs Herz, daß er in den letzten Wochen mit keinem Gedanken an die alte Frau gedacht hatte, so ganz war er von dem Zauber seiner neuen Gefühle umsponnen gewesen. Er riß den Brief mit Herzklopfen auf und las die wenigen Zeilen, die ihm mittheilten, seine Mutter sei plötzlich erkrankt, der Arzt wisse nicht recht, was er daraus machen solle, auch habe die Kranke streng verboten, den Sohn davon zu benachrichtigen, und sei übrigens gut verpflegt. Schreiber dieses habe es dennoch für seine Pflicht gehalten u. s. w.
Jonathan mußte sich einen Augenblick niedersetzen; er athmete mühsam und war von dem Gedanken, dem er nie ins Gesicht gesehn: diese alte Frau könne sterben! – wie gelähmt. Dann stand er entschlossen auf, warf das Nothwendigste in einen Handkoffer und schrieb ein paar Worte an den Baudirector, sein plötzliches Ausbleiben in den nächsten Tagen zu entschuldigen und für einen Ersatzmann zu sorgen.
Das Köfferchen bat er seine Hausfrau an den Bahnhof zu schicken, da er mit dem Abendzuge in einer Stunde fort wolle. Er selbst machte sich auf den Weg zu Eduard, der ihn heut erwartete. Der Schluß des dritten Aktes sollte gelesen und geprüft werden. Was war ihm heute das Trauerspiel auf dem Papier, da sein Herz voll war von leibhaftiger Angst und Trauer. Nur, ohne einen letzten Händedruck sich von dem Freunde wegzustehlen, war ihm unmöglich.
Als er in das große, schon dämmerige Zimmer trat, sah er seinen Freund auf dem Sopha liegen, etwas Weißes um die Stirn. Eduard schien geschlafen zu haben, er schlug langsam die Augen auf und grüßte ihn mit einem matten Blick.
Du kommst gerade recht, sagte er. Ich habe ein kleines Malheur gehabt. Queen Mab ist eine falsche Creatur, sie hat mich an einem Zaun, über den ich sie zu springen nöthigen wollte, tückisch zu Fall gebracht, zum Glück war ein Haus in der Nähe, wohin ich mich schleppen konnte, auch ein Arzt bald bei der Hand, und von meinen festen Theilen scheint nichts beschädigt zu sein. Doch für die weicheren Organe steht er noch nicht gut – Fieber – ein Höllenschmerz im Gehirn – sie haben es mir ganz mit Eis bepackt, daß ich mich nicht rühren kann, und das soll alle Stunden erneuert werden. Ich würde dich gar nicht incommodiren, Hans, wenn meine Aufwärterin nicht schon bei Tage ein Murmelthier wäre. Aber da du ja ein Nachtvogel bist – o wie das sticht! Bitte, reiche mir das Glas da vom Tische. Das soll ich gleichfalls alle Stunden leer trinken. Schön, daß ich dein gutes Gesicht zu sehen kriege! Du glaubst nicht, was das für ein Trost ist. Wenn es mit mir dennoch aus sein sollte, mußt du mir versprechen, bei unserm verwais'ten Buchhändler Vaterstelle zu vertreten, das Fragment herauszugeben, ein paar Worte dazu, wie es hätte endigen sollen, wenn der Himmel dem Verfasser ein längeres Leben –
Er sank mit leisem Aechzen auf das Kissen zurück. Jonathan war hinzugetreten, in großer Herzensqual. Der Gedanke schoß ihm durch den Kopf, eilig nach einer Diaconissin zu schicken, den Arzt aufzusuchen, zu fragen, ob wirklich eine ernste Gefahr drohe. Aber er brachte es nicht übers Herz, seine Hand loszumachen, die der Leidende fest umklammert hielt. Er sah nach der Uhr, er hatte noch eine halbe Stunde Zeit. Mechanisch reichte er ihm das Glas und erneuerte den Eisumschlag. – Du bist gut! flüsterte der Kranke. Du hast eine so leise Hand, obwohl du mein großer Hans bist. Nun bin ich doch nicht allein mit meinen wühlenden Gedanken. Weißt du, du mußt mir aus dem Platen vorlesen, das ist wie ein Wiegenlied, das beschwichtigt den Schmerz. Wer hieß mich auch, heute ausreiten zu wollen? Freilich – ich hatte es versprochen – an einem gewissen Fenster wartete man darauf, daß ich vorbeikam – verwünschte Weiber!
Ein Lächeln glitt über den blassen Mund, das sogleich verschwand, als die Thüre ging und die Aufwärterin sich zeigte. Sie können nur gehen! rief der Kranke ihr zu. Herr Jonathan wird hier bleiben. Sorgen Sie nur für etwas zu essen und zu trinken und stellen Sie die Lampe dort hinter mich auf den Pfeilertisch. Das Licht thut mir weh.
Die halbe Stunde war vergangen, Jonathan saß regungslos in dem Lehnstuhl neben dem Sopha, den Blick starr auf den Teppich gerichtet. Der Kranke war eingeschlafen, doch warf er sich unruhig hin und her, sprach verworren aus dem Traum und stöhnte dazwischen. Nach Mitternacht wurde er ruhiger, das Fieber hatte offenbar ausgetobt, die Glut in der Stirn schmolz das Eis langsamer. Als der Morgen graute, fuhr er in die Höhe. Er sah die überwachten Augen seines Getreuen mit einem trübsinnigen Ausdruck auf sich gerichtet.
Du bist hier? sagte er. Wie kommst du denn – Ach ja, du bist deinem Amt als mein privilegirter Lebensretter treu geblieben. Nun siehst du, diesmal ist dir's noch gründlicher geglückt, als das erste Mal. Denn wahrhaftig, ich fühle mich so gesund, wie ein Fisch im Wasser, und Nichts ist geblieben von dem tollen Sturz als
Im Aug' die Spur von hingeweinten Thränen
Und in der Brust die ungeheure Leere –
das heißt, etwas tiefer als die Brust, denn ich habe einen Hunger, daß ich eine Welt hingäbe für ein gebratenes Huhn. Bitte, ziehe die Klingel. Wir wollen frühstücken, und dann schick' ich dich nach Hause, du mußt diese Nachtwache wieder einbringen, alter Hans!
Jonathan erhob sich, er schwankte ein wenig auf seinen breiten Füßen. Ich kann nicht mit dir frühstücken, sagte er leise mit heiserer Stimme. Meine Mutter ist todkrank, ich muß eilig zu ihr reisen – vielleicht ist's noch nicht das Letzte – aber wer kann wissen –
Deine Mutter – und du bist am Ende meinethalb – o Hans, wie soll ich dir jemals –
Jonathan war schon in der Thür. Er sah nicht mehr zurück, er konnte in diesem Augenblick das Gesicht seines Freundes nicht ertragen, das bleich und verstört ihm nachstarrte. – –
Nach vier Tagen kam er zurück. Er hielt sich still in seinem Zimmer, und auf die Frage seiner Wirthin, ob sie Herrn Eduard nicht benachrichtigen solle, schüttelte er nur düster den Kopf. Eduard aber, der täglich hatte nachfragen lassen, kam heute selbst. Sobald er herein trat, sagte ihm der Florstreifen um Jonathan's linken Arm, daß er einen Verwais'ten vor sich sehe.
Du hast sie noch lebend getroffen? rief er ihm entgegen.
Ich kam zu spät, erwiderte der Andere dumpf. Sie hat mir nur durch den Lehrer –
Er stockte und wandte sich ab.
Armer, armer Hans! Zu spät! Viel zu spät?
Um sechs Stunden. Aber laß dich das nicht kümmern. Ich – ich habe es schon – willst du nicht Platz nehmen? Wie geht es dir? Bist du fleißig gewesen?
Statt aller Antwort warf sich Eduard an seinen Hals und brach in Thränen aus. Jonathan's Auge blieb trocken.
*
Eine seltsame Starrheit hatte sich seiner bemächtigt, ein hartes, ehernes Band schien all seine Lebensgeister zu fesseln. Die schwerfälligen Glieder bewegten sich mechanisch, wie ein Schlafwandler all sein Thun verrichtet; die Augen sahen über Menschen und Dinge hinweg; er konnte Viertelstunden lang auf einen Fleck starren, als wollte er mit Blicken durch die Erde dringen, um irgend ein Etwas dort zu suchen. Auf die zuthulichen Fragen seiner Hausfrau, wie es bei dem Ende der Mutter zugegangen, gab er nur unverständliche Laute zur Antwort. Eduard schwieg ganz von ihr, nachdem ein erster Versuch, den starren Kummer zu lösen, gescheitert war.
Doch fühlte er an leisen, unscheinbaren Zeichen, daß seine Nähe dem Verdüsterten wohlthat, und ein gewisses Schuldbewußtsein, gemischt mit der Empfindung seiner persönlichen Macht, ließ ihn Alles aufbieten, sich als ein rechter David an diesem von Gespenstern heimgesuchten Geist zu erweisen. Er sah, daß Jonathan's Auge klarer und sanfter wurde, wenn er ihm eine geglückte Scene seines Stückes vorlas. Das befeuerte seine hin und wieder bedenklich erlahmende Lust an dieser Arbeit. Auch besiegte Jonathan sofort seine Zerstreutheit, sobald es sich um das Gedicht handelte. Ja, seine Schwermuth schien sein kritisches Vermögen geschärft zu haben. Er drang mit seinen Bemerkungen immer mehr in die Tiefe und war nie so reich an Vorschlägen zu Aenderungen gewesen. Zuletzt wirst du das Stück gemacht haben! sagte Eduard lächelnd. Wir schreiben dann auf den Titel: Trauerspiel in fünf Akten von David und Jonathan. – Ich? versetzte der Andere mit einem trüben Blick. Ich mache überhaupt Nichts. Ich bin nur der Pfahl, an den ein junger Stamm angebunden wird, damit er nicht schief wächs't. Behauenes Holz schlägt nicht mehr aus.
Er schien nur noch Eine Lebensfreude zu kennen: zu sehen, wie sich alle Kräfte und Gaben dieses Glückskindes entfalteten, der Leuchter zu sein, auf welchem die schlanke Kerze sich höher erhöbe und ihre Flamme weiter umher zur Freude aller Menschen leuchten ließe.
Es waren die heißesten Tage des Jahrs. Doch hatten sie ihre abendlichen Gartenfreuden eingestellt. Jonathan war nicht zu bewegen, sein hochgelegenes Zimmer zu verlassen; er erkannte es aber als ein Freundschaftsopfer an, daß Eduard gleichwohl Abend für Abend zu ihm hinaufstieg und oft bis Mitternacht bei ihm aushielt. Kein Wort wurde darüber gewechselt. Wie er selbst jeden Verzicht zu Gunsten des Anderen natürlich fand, nahm er jetzt das Vorrecht des Schmerzes als etwas Selbstverständliches in Anspruch.
Da traf es ihn um so schwerer, als Eduard eines Abends ihm zögernd mittheilte, er müsse auf unbestimmte Zeit verreisen. Sein Chef, der Bankier, schicke ihn in einer Geschäftssache nach Paris – es könne vier bis sechs Wochen dauern – die Sache sei von großer Wichtigkeit. Daß er gerade mich dazu ausersehen hat, fügte er lächelnd hinzu, wäre mir eine große Ehre, wenn ich einen sonderlichen kaufmännischen oder diplomatischen Ehrgeiz hätte. Auch dann aber dürfte ich mir nicht gar zu Viel auf diese Mission einbilden. Ich verdanke sie nämlich nicht sowohl meinem bischen Französisch und meiner Geschäftsgewandtheit, als – nun ja, warum soll ich gegen dich ein Geheimniß daraus machen? Das Fräulein Millionärin steckt dahinter, ohne es zu ahnen. Das gute garstige Ding hat sich's merken lassen, daß es mich liebenswürdiger findet, als einen steinreichen ältlichen Herrn, einen Geschäftsfreund des Papa's, der um sie geworben hat. Nun soll ich mit guter Manier aus dem Wege geräumt werden, damit das Töchterchen mich hoffentlich, wie aus den Augen, aus dem Sinn verliere. Ich wünsche hier nicht den Spielverderber zu machen und hoffe bei meiner Rückkehr Fräulein Bettine versorgt und aufgehoben zu finden. Du weißt ja, Hans, wie sauer es mir schon bei den Sonntag-Diners wurde, die süßen Augen zu erdulden, mit denen sie mich beehrte.
Vier bis sechs Wochen? sagte Jonathan vor sich hin.
Vielleicht auch kürzer, wenn die Götter gnädig sind und der Herr Zukünftige die Zeit zu Rathe hält. Geldsack und Geldsack haben ohnehin, eine natürliche Anziehungskraft, die unfehlbar wirkt, wenn kein fremder Körper dazwischensteht. Komm' ich dann Anfang October zurück, so bleibt nur noch unser letzter Akt zu schreiben, der ja in den Grundzügen felsenfest steht. Ich lasse dir die vier ersten zurück. Du kannst nach Gutdünken darin herumwirthschaften, ändern und streichen. Glaub mir, Hans, ich gäbe Viel darum, wenn ich gerade jetzt dich nicht allein zu lassen brauchte. Du versitzest dich ganz und fängst Grillen. Paris – ich versichere dich, es lockt mich gar nicht. Eh' ich nicht etwas geworden bin, einen Erfolg aufzuweisen habe – und dann, man fühlt sich als armer Teufel, mit einer nur anständig gefüllten Reisekasse, nirgend so gedemüthigt, wie dort. Doch selbst wenn ich bei Véfour soupire, werde ich ein Heimweh fühlen nach dem vortrefflichen Thee und kalten Braten der Madame Groß.
Sie trennten sich heute erst nach Mitternacht. Jonathan begleitete den Freund nach seinem Hause, das er seit jener Nacht nicht mehr betreten hatte. Er scheute sich, das Zimmer wiederzusehen, in welchem er die Todesnacht seiner Mutter zugebracht hatte. Als Eduard ihn zum Abschied umarmte, drückte er ihn mit ungewohnter Heftigkeit an sich. Geh mir nicht verloren! war Alles, was er ihm mit auf den Weg gab.
Ich schreibe dir jeden dritten Tag! rief Jener ihm noch in der Thüre zu.
Jonathan wandte sich ab. Ihm war zu Muth, als wäre diese Trennung auf so kurze Wochen der größte Schmerz seines ganzen Lebens. Er schämte sich vor sich selbst, daß er ihn selbst in dieser Trauerzeit so bitter empfand.
Wie nun vollends ein Tag nach dem andern hinging und ihn nichts Erquickendes am Abend heimsuchte, versank er wieder in jene Starrheit, die ihn gegen alle Außenwelt abschloß, und verrichtete seine tägliche Pflicht fast wie eine Maschine. Auch seine frühere Gewohnheit, sich in architektonischen Entwürfen zu ergehen, hatte er schon seit Monaten verloren. Er konnte stundenlang im Sopha sitzen wie ein alter Mann, der ein langes Leben hinter sich hat und nur noch das Athemholen als ein wichtiges Geschäft betreibt. Zuweilen stand er auf, trat ans Fenster und sah in die schwüle Landschaft hinaus, als warte er, daß von draußen irgend etwas kommen solle. In solchen Stunden der Dumpfheit war sonst der treue Raffel zu ihm geschlichen und hatte die kalte Nase gegen seine schlaff herabhängende Hand gerieben. Er hatte ihm dann den Kopf gekraut und einen kleinen Discurs mit ihm gehalten und darauf eine Pfeife angezündet und sich wieder an den Zeichentisch gesetzt. Jetzt waren alle diese Hausmittel gegen die einsame Melancholie verloren gegangen. Er nahm zuletzt wohl ein Buch und las einige Seiten. Meistens brachte er auch das nicht zu Stande, sondern warf sich aufs Bett und schlief zu ungewöhnlich früher Stunde ein. Am liebsten hätte er die ganze leere Zwischenzeit, die ihm nicht lebenswerth schien, verschlafen.
*
So waren zwei Wochen vergangen. Eduard's Briefe wurden seltener und unergiebiger. Er hatte in der ersten Zeit versucht, den Ton eines sentimentalen Weltwanderers anzuschlagen, der sich vor seiner eigenen allzuwarmen Empfindung in den Humor rettet. Aber die Yorick'sche Ader versiegte bald. Die Blätter wurden mit trockenen Notizen über den Tageslauf gefüllt und Jonathan auf die mündliche Ergänzung der Lücken vertröstet. Am Schluß stand dann ein Schmeichelwort, das für alles Fehlende Ersatz bieten sollte. Diese zärtlichen Versicherungen ewiger Liebe und Treue las der Einsame wohl ein Dutzend Mal, da er von ihnen leben mußte. Die Kahlheit und Leere des Uebrigen nahm er sich nicht zu Herzen. Er selbst antwortete in kurzen Zetteln; wie konnte er verlangen, daß der Freund im Getümmel dieser neuen Welt nur für ihn lebte und Zeit fände, ihn auf Schritt und Tritt an der Seite zu behalten.
So hatte er eben wieder einen Brief bekommen, der auf drei kleinen Seiten nur fremde Namen von Menschen und Oertlichkeiten enthielt, und saß am Fenster in der Abendkühle, still vor sich hin sinnend, als es an seine Thür klopfte und gleich darauf ein Mädchen bei ihm eintrat, dem ein halbwüchsiger Knabe einen Korb nachtrug. Es war der Tag, an welchem er seine Wäsche von der Wäscherin zurückerhielt, einer kleinen, lebhaften Frau, der Wittwe eines Seminarlehrers, die diesen Erwerb ergriffen hatte, als ihr Mann sie in schlechten Verhältnissen zurückließ. Sie hatte mehrere Weiber in ihren Sold genommen, die am Waschfaß standen, während sie selbst mit einer anderen Gehülfin das Bügeln verrichtete, und da sie eine geschickte und sorgsame Arbeiterin war, fand sie bald so viel Kunden unter den wohlhabenderen Familien der Stadt, daß sie ihr Personal verdoppeln und verdreifachen mußte. Gleichwohl ließ sie es sich nicht nehmen, jeden Sonnabend bei der Ablieferung der Wäsche selbst zugegen zu sein. Sie hatte zwei Waisenknaben zu sich genommen, die ihr Handwägelchen durch die Stadt fahren mußten. Während der eine unten vor den Häusern wartete, trug ihr der andere den Korb mit der blanken Wäsche hinauf, der oben mit der neu zu waschenden gefüllt wurde. Denn sie hielt darauf, sich zu überzeugen, daß Jeder das Seine bekam, und notirte in einem Büchlein den jedesmaligen Ab- und Zugang mit größter Pünktlichkeit.
Jonathan war sie besonders gewogen, weil er das Doppelte an Leibwäsche brauchte von dem, was andere junge Leute für nöthig fanden, obwohl er keinen Staat damit machte. Auch ihm gefiel das gute, offene Gesicht und das flinke Wesen der kleinen Frau, und er unterbrach gern seine Arbeit, um ein paar Worte mit ihr zu wechseln.
Darum sah er betroffen auf, als das unbekannte Gesicht hereintrat mit einer Entschuldigung, daß Frau Crusius heute nicht kommen könne, sie habe sich ein Plätteisen auf den rechten Fuß fallen lassen und liege zu Bett. Er brummte ein Wort des Bedauerns und bedeutete mit einem Wink der Augen dem Knaben, die Wäsche liege in der Kammer am gewohnten Ort. Als aber jetzt das Mädchen sich forschend umsah und endlich mit einem unmerklichen Lächeln bat, ihr den Kommodeschlüssel zu geben, die Mutter habe ihr schon gesagt, wie Herr Jonathan es damit zu halten pflege, konnte er nicht umhin, ein wenig roth zu werden und nun selbst aufzustehen, um die Fächer zu öffnen.
Er setzte sich aber sogleich wieder auf seinen Fensterplatz und verfolgte von da aus jede Bewegung des Mädchens. Sie war ganz schlicht gekleidet, mit einer weißen Schürze über dem Kattunrock, ein weißes, rothgerändertes Tuch um den Kopf gebunden, das ihre Stirn verschattete. Ihre Gestalt war groß und schlank, von schönem Ebenmaß, und wie sie sich bückte, um die Hemden und Strümpfe in die Schubfächer zu legen, sah er an ihrem Nacken eine Menge krauser, brauner Löckchen, die seinen Blick ganz besonders fesselten, er wußte nicht recht warum. Im Stillen wunderte er sich, daß diese große, stattliche Person, die sich so ruhig und gemessen bewegte, die Tochter seiner kleinen, wuseligen guten Freundin sein sollte, der sie in keinem Zuge glich. Er hätte gern ein Gespräch mit ihr angeknüpft, doch wußte er, nachdem die Fragen über das Befinden der Mutter erschöpft waren, nicht das Mindeste zu ersinnen, was ihm schicklich erschienen wäre. Sie aber war nur auf ihr Geschäft bedacht und schrieb die Liste der neuen Wäsche, die ihr der Knabe aus der Kammer vorsagte, ruhig in ihr Büchlein. Schon war Alles wieder in den Korb verpackt, als ihr noch ein eben abgeliefertes Stück in die Augen fiel. Da ist eine kleine Naht aufgegangen, sagte sie erröthend; meine Mutter hat diesmal nicht so genau nachsehen können. Wenn Sie erlauben – ich habe Nadel und Faden bei mir – es ist in zwei Minuten gethan.
Er stand auf und bot ihr den Platz am Fenster, den sie mit einem dankenden Kopfnicken annahm. Der Knabe war mit dem Korbe vorausgegangen, zu seinem Kameraden hinunter. Jonathan stand am Tisch und betrachtete unverwandt das Mädchen, dem das Tuch in den Nacken geglitten war, so daß ihr schönes Haar frei geworden und der Umriß des Kopfes dunkel gegen den silbernen Abendhimmel sich abschattete. Er zeichnete in Gedanken die schlichten, festen Linien nach und fragte sich, wo er schon etwas Aehnliches gesehen habe. An ihrer Stirn und Schläfe sah er ganz deutlich ein paar leichte Narben von den Blattern, die ihre übrige Haut verschont, ihr nur den Glanz genommen hatten. Auch das aber schien ihm einen aparten Reiz zu haben. Es erinnerte an edlen Marmor, der hie und da verwittert ist, oder dessen oberste Fläche die Spur einer leisen Verletzung trägt. Und jetzt ging es ihm auf, woran das Gesicht mit den breiten Wangenflächen und dem kräftig gerundeten Kinn ihn erinnerte: dort an der Wand hing die Photographie jenes Tempelchens auf der Akropolis, dessen Gebälk von Karyatiden gestützt wird. So trug auch dies schlichte Mädchen das Haupt auf den Schultern, und mit so ruhigen Augen blickte es in die Welt.
Er sah, daß ihre Arbeit bald gethan sein würde. Nun endlich überwand er seine Schüchternheit und sagte: er habe gar nicht gewußt, daß Frau Crusius eine Tochter habe. – Das sei auch nicht leicht zu wissen gewesen, erwiderte sie und lächelte, daß eine Reihe fester weißer Zähne zum Vorschein kam. Bis vor wenigen Monaten habe sie im Hause eines Landpfarrers gedient, wohin sie gleich nach ihrer Einsegnung von der Mutter gebracht worden sei, da sie damals nicht die kräftigste Brust gehabt und der Arzt gerathen habe, sie nicht in der Stadt aufwachsen zu lassen. Sie sei zwar nur als Dienerin dorthin gekommen, aber ganz wie ein Kind im Hause gewesen, und habe mit den Töchtern des Pfarrers allerlei lernen dürfen, was ihr gut zu Statten gekommen sei. Nun seien die Töchter beide verheirathet, der Vater auf eine entfernte Stadtpfarre versetzt worden, da habe die Mutter sie endlich wieder zu sich genommen und könne sie nun gut brauchen.
Damit stand sie auf, legte das ausgebesserte Stück in den Kasten zurück und wünschte Jonathan eine gute Nacht. Er war so in den Anblick der kräftigen und doch edlen Gestalt und ihrer ruhig leichten Bewegungen vertieft, daß er sogar zu danken vergaß. Erst als sie schon auf der Treppe war, überlief es ihn glühend, wie unbeholfen er verstummt war. Er eilte ihr nach, riß die Thüre auf und rief ihr die Treppe hinab einen Dank für ihre Mühe und einen herzlichen Genesungswunsch für die Mutter nach. Ein leises Lachen und eine wiederholte »Gute Nacht!« antwortete ihm aus der dunklen Tiefe, und wie träumend kehrte er mit langsamen Schritten in sein Zimmer zurück.
*
Da stand er noch eine Weile, wie wenn er sich in ein fremdes Gemach verirrt hätte, nahe bei der Schwelle und sah sich zerstreut an den Wänden um. Das Bild mit den Karyatiden fiel ihm ins Auge. Er begriff jetzt nicht, wie diese stummen steinernen Gesichter ihm vorhin mit jenem lebenden verwandt scheinen konnten. Er fuhr sich mit der breiten Hand über die Stirn und seufzte tief auf. Eine schwere Traurigkeit, ein Gefühl grenzenloser Verlassenheit überfiel ihn. Er schwankte nach seinem Tische hin, wo in einer sauberen Mappe die vier Akte des Buchhändlers von Logroño lagen. Er hatte, wenn es ihm gar zu bitter wurde, Eduard entbehren zu müssen, diese Blätter vorgenommen und sie wieder und wieder durchgesehen. Es war nun nichts mehr daran zu verbessern. Jetzt aber kam ihm der Gedanke, eine saubere Reinschrift davon zu verfassen. Er nahm einige Bogen feines schönsten Zeichenpapiers, faltete sie in ein großes Quartformat zusammen und fing nun an, mit seiner großen, feierlichen Handschrift, wie er sie auf seinen Plänen brauchte, eine monumentale Copie des Stückes zu machen. Aber zwischen den regelmäßigen Zeilen schritt auf und ab eine junge Gestalt mit einem Tüchlein um den Kopf und einer weißen Schürze um die schlanken Hüften, deren ruhiger, eigener Gang die stolzen Jamben alle Augenblicke aus dem Takt brachte. Als er den sechsten Schreibfehler ausradiren mußte, merkte er, daß er auch zu diesem bescheidenen Geschäft die Fähigkeit verloren hatte. Aergerlich stand er auf, zerriß den großen beschriebenen Bogen, knetete ihn zu einer weißen Kugel zusammen und warf diese aus dem Fenster.
Er war ergrimmt gegen sich selbst, daß die neue Erscheinung ihm seine beiden innigsten Gedanken, die Trauer um die Todte und das Vermissen des Lebenden, so gewaltsam verdrängen wollte. Als er aber, am anderen Morgen erwachend, gleich wieder den Karyatidenkopf mit dem rothgesäumten Tuch vor seinen Augen stehen sah, ergab er sich ohne Widerstand in das jedem Starken süßeste Gefühl, vergewaltigt zu werden. Es war um so märchenhafter, weil er es in solcher Weise zum ersten Mal in seinem Leben empfand.
Also ging er wie ein Mensch, der über Nacht einen Schatz gehoben hat, an sein tägliches Geschäft. Doch vermochte er es in der Mittagspause nicht, seinen Stammsitz hinter dem gedeckten Tisch aufzusuchen. Er klopfte sich sorgfältig den Staub der Arbeit vom Rock, bürstete mit dem Aermel seinen Hut und schlug den Weg nach dem Hause der Frau Crusius ein.
Was er da wollte, wußte er selber nicht. Doch als er in der Hausthür stand, überlegte er, es sei doch kläglich, sich wieder davonzuschleichen, ohne auch nur den Zipfel des Kopftüchleins gesehen zu haben. Also faßte er sich ein Herz und stieg möglichst gelassenen Schrittes die steile Treppe hinauf.
Die Frau, die ihr Waschgeschäft im Hof und in einem geräumigen Hintergebäude hatte, wohnte selbst im dritten Stock. Eines der jungen Mädchen in ihrem Dienst öffnete und führte ihn sogleich in das Wohnzimmer. Hier hatte sich die Verwundete auf einem alten Sopha ihr Bett aufschlagen lassen, um durch die offene Thür in dem anstoßenden größeren Raum, wo die Bügelarbeit geschah, beständig nach dem Rechten sehen zu können. Sie empfing ihren Kunden mit großem Erstaunen. Als er aber, ohne sie anzusehen, seine wohlbedachte Rede hervorstammelte: er sei vorbeigegangen, und da sei ihm eingefallen, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen; er wisse, wie man in solchen Fällen zu leiden habe; ihm sei auch einmal der Fuß halb zerquetscht worden – wurde sie sehr munter und dankte ihm für die Güte und Ehre, die er ihr anthue. Es bessere sich schon, doch werde sie vor vierzehn Tagen nicht aufstehen dürfen. Ob sie Herrn Jonathan nicht einen Stuhl anbieten dürfe? Es sei freilich nicht ordentlich aufgeräumt, ihre Mädchen seien wie die hungrigen Spatzen mit dem Glockenschlag weggestoben und hätten Alles stehen und liegen lassen.
Er dankte, sich entschuldigend, daß er ebenfalls Eile habe, blieb aber stehen, an einen Schrank gelehnt, und hörte das zutrauliche Geplauder der kleinen Frau zerstreut mit an. Das Räthsel beschäftigte ihn, wie diese Mutter zu dieser Tochter gekommen, bis seine Augen auf ein dürftig gemaltes lebensgroßes Oelbild fielen, das zwischen den Fenstern in schlechtem Lichte hing. Es sei ihr Seliger, sagte die Frau und erging sich in seinem Lobe. Das war die breite, klare Stirn und die gerade, unten sanft abgestumpfte Nase der Tochter und ihre schlanke Figur. Gesine! rief die Alte jetzt. Gesine! Komm doch herein. Rathe, wer uns die Ehre giebt!
Eine Seitenthür öffnete sich, und das Mädchen, eine Näharbeit in Händen, erschien auf der Schwelle. Sie gönnt sich nicht einmal über Mittag Ruhe! fuhr die Mutter fort. Wenn ich das Kind nicht hätte! – Ein Canarienvogel, der in Gesinens Kammer hing, fing überlaut an zu schmettern, von dem Sonnenstrahl ergötzt, der aus dem Wohnzimmer in den dämmrigen Raum fiel. Das Mädchen war sichtlich betroffen, als sie den Besucher erkannte. Doch faßte sie sich sogleich und begrüßte ihn höflich, während er wieder ganz verstummt war. Er hatte sich auf den Stuhl niedergelassen, den Gesine ihm gebracht, und hörte das Geplauder der Mutter so tiefsinnig mit an, als ob sie ihm die wundersamsten und erhabensten Gedanken mittheilte. Das Mädchen anzusehen, das gleichmüthig hin und her ging und allerlei im Zimmer ordnete, getraute er sich nicht, so heftig ihn danach verlangte. Aber schon so verstohlen ihre Bewegungen zu belauschen, erregte ihm einen wonnigen Schauer.
Als nach einer halben Stunde die Arbeiterinnen zurückkamen, ein halb Dutzend leichtgeschürzter junger Geschöpfe, merkte er, daß er schon zu lange verweilt habe, und stand linkisch auf. Er trat zu der Frau hin, reichte ihr die Hand und wünschte gute Besserung. Leben Sie wohl, Fräulein Gesine! murmelte er mit einer respectvollen Verbeugung. Er fühlte, wie die hellen, ruhigen Augen des Mädchens auf ihm ruhten und ihm das Blut ins Gesicht trieben. Da wagte er es noch auf der Schwelle, sie anzusehen; auch sie war roth geworden, aber sie lächelte nicht, nur ihre Augen winkten ihm einen Gruß zu, der ihm ins innerste Herz hinein wohlthat.
Er hatte zwar versprochen, seinen Krankenbesuch zu wiederholen, aber eine seltsame Scheu, das Mädchen vor fremden Zeugen wiederzusehen, hielt ihn zurück. Nur durch die Gasse ging er, wo sie wohnte, obwohl er wußte, daß ihre Kammer nach dem Hofe lag. Sie begegnete ihm kein einziges Mal. Er hatte das Bild aber, wo er ging und stand, vor Augen.
Wie dann der Sonnabend herankam, wo er ihr Kommen erwarten durfte, war er in einer Aufregung, daß ihn seine Hausfrau besorgt ansah und mehr als ein Mal fragte, ob ihm auch wohl sei, ob er Verdruß mit seinen Arbeitern oder dem Baudirector gehabt habe, oder ob Herrn Eduard's Briefe etwas Unliebsames gemeldet hätten. Eduard's Briefe! Was hatte er jetzt an denen? So viel er sich selbst seinen Verrath an der Freundschaft vorwarf – die Gegenwart war mächtiger als alle Stimmen aus der Ferne, selbst wenn sie zärtlicher geklungen hätten, als die sparsamen Liebesworte aus Paris.
Doch bei all seiner beklommenen Zerstreutheit war er doch durch die Noth erfindungsreich gemacht worden und hatte einen künstlichen Anschlag ausgeheckt, wie er das Glück, das ihn alle sieben Tage nur auf eine kurze Viertelstunde besuchte, ein wenig länger bei sich festhalten könnte.
Er hatte allerlei Kleidungsstücke hervorgesucht und überall künstliche kleine Schäden daran angebracht, hier einen Knopf abgeschnitten, dort mit seinem Federmesser säuberlich eine Naht aufgetrennt oder ein Schlitzchen sorgsam verfertigt, wie wenn er im Vorbeistreifen an einem Nagel hängen geblieben wäre. All diese listigen Vorbereitungen verbarg er wieder in seinem Schrank und legte nur eine Weste, deren Futter einen unscheinbaren Riß erhalten hatte, in das oberste Fach zu seiner Wäsche.
Sein Zimmer war nicht festlicher zu gestalten, als es durch die Bilder ohnehin erschien. Doch hatte er einen großen Strauß vielfarbiger Nelken in einem Wasserglas auf den Zeichentisch gestellt und vertiefte seine Blicke in der Dämmerung darein, während er am Fenster saß und wartete.
Dann kam sie endlich mit dem unvermeidlichen Knaben, der den Korb trug. Er hatte sich vorgenommen, heute nicht wieder so tölpelhaft zu verstummen, und empfing sie auch mit einer ganz beredten Erkundigung nach der Mutter. Wie er aber ihre Stimme hörte und ihren stillen Blick empfand, schlug ihm das Herz wieder bis in den Hals hinauf.
Sie besorgte ihr Geschäft augenscheinlich in größerer Eile, als sonst. Es war fast gethan, da machte er in der Angst, sie so rasch zu verlieren, eine gewaltige Anstrengung und holte selbst die Weste, deren böse Stelle ihr nicht in die Augen gefallen war, aus dem Hinterhalt hervor. Ob er sie wieder damit bemühen dürfe? Auch habe er an einem Sommerrock gestern einen kleinen Schaden bemerkt – es sei zwar schon ein wenig dunkel –
Er verstummte, da er sie so wunderlich lächeln sah, wie ein kluges Weib zu lächeln pflegt, wenn es eine List entdeckt, die aus Liebe zu ihr ersonnen wurde: zugleich geschmeichelt und ein wenig des Schadens froh, den sie angerichtet. Ohne ein Wort zu sagen, nahm sie wieder den Platz am Fenster ein und steckte das Fingerhütchen an. Als er aber, während sie noch am ersten arbeitete, ein Stück nach dem anderen von seinem Vorrath herbeischleppte, lachte sie plötzlich hell auf und erhob sich von ihrem Stuhl.
Das ist Arbeit für einen halben Tag, sagte sie, und ich habe nicht so lange Zeit. Die anderen Kunden wollen auch beschickt sein. Wenn es Ihnen recht ist, lasse ich Alles zusammen morgen früh abholen; Sie bekommen es noch am Abend wieder. Gute Nacht, Herr Jonathan.
Sie knüpfte das Tüchlein fester um den Kopf und ging nach der Thür. Fräulein Gesine, sagte er – verzeihen Sie diese Zumuthung – darf ich Ihnen nicht – es sind zwar nicht besonders schöne Blumen, aber diese dunklen Nelken dort – ich habe an Sie gedacht, als ich sie heute Nachmittag –
Sie sind sehr schön, erwiderte das Mädchen leise. Aber ein solcher Strauß paßt nicht zu meinem Anzug. Wenn Sie mir diese zimmetfarbene geben wollen, will ich sie vorn in mein Kleid stecken. Ich danke Ihnen, Herr Jonathan. Und gute Nacht!
Sie reichte ihm unbefangen die Hand, die er eine Weile festhielt; doch wagte er nicht, sie zu drücken. Sie machen mich sehr glücklich – sagte er verworren. Da entzog sie ihm die Hand und eilte hinaus.
*
Die sieben Tage, die nun folgten, schlichen ihm wie die sieben mageren Jahre der Egypter dahin. Seine Mußestunden waren indeß nicht leer. Er füllte sie mit den fabelhaftesten Plänen, wie er es anstellen sollte, am nächsten Sonnabend die flüchtige Erscheinung, deren Nähe ihm so wohlthat, länger zu fesseln, da seine erste List kläglich zu Schanden geworden war. Als sie dann aber wirklich bei ihm eintrat, schienen plötzlich, diesem schlichten Auge gegenüber, seine feinsten Anschläge nur plumpe und alberne Fallstricke, die sie alsbald durchschauen und durchhauen würde. So stand er niedergeschlagen und rathlos da und verfolgte nur unverwandt jede ihrer Bewegungen.
Auch sie war still und verzeichnete jedes einzelne Stück so ernsthaft in ihrem Büchlein, als handle sich's um eine Abrechnung auf Leben und Tod. Als der Knabe mit dem Korbe dann hinaus war, steckte sie das Geschriebene wieder ein, wobei sie lange die Tasche suchte, und sagte jetzt mit plötzlichem Aufblicken: Leben Sie nun wohl, Herr Jonathan! Nächsten Sonnabend kommt die Mutter wieder. Sie sollte sich zwar noch schonen, aber alles Zureden ist umsonst. Wenn Sie etwas auszubessern haben – –
Sie stockte, knüpfte das Tüchlein fest, sah sich noch einmal im Zimmer um und wandte sich nach der Thür. Da schüttelte er gewaltsam den Druck von sich, der seine Lebensgeister gelähmt hatte. Mit einem Schritt war er dicht bei ihr und haschte nach ihrer Hand. Fräulein Gesine, stammelte er, Sie wollen mich – Sie werden nicht wieder – das ist ja unmöglich – das – das ertrage ich nicht –
Sie rührte sich nicht. Sie hatte die Augen niedergeschlagen, und er sah, wie die kräftigen Nasenflügel zitterten.
Gesine, fuhr er leise fort, ich – ich habe Tag und Nacht – Sie freilich – Sie denken gar nicht an mich – wie sollten Sie auch? – Was bin ich in Ihren Augen? – Verzeihen Sie, daß ich so rede – ich – Sie werden mich vergessen –
Da lächelte sie ganz unmerklich, und er sah, wie sie mühsam nach Worten suchte. Glauben Sie? sagte sie halblaut. Ich vergesse Niemand, dem ich einmal gut geworden bin.
Weiter brachte sie nichts hervor. Denn sie fühlte sich plötzlich von zwei starken Armen umfaßt und so heftig an eine breite Brust gerissen, daß ihr der Athem wohl vergehen mußte. Sie gab aber nicht den kleinsten Laut der Angst von sich; wenn er sie in seinem gewaltigen Freudensturm erdrückt hätte, wäre es ihr kein schlimmes Ende erschienen. Seinen Mund hatte er gegen ihr Stirnhaar gepreßt, er stieß unverständliche Freudentöne aus, die jeden Dritten zum Lachen gebracht hätten.
Plötzlich ließ er die Arme von ihrem Nacken niedergleiten und trat, wie von einem kalten Schauer berührt, von ihr zurück.
Mein Gott, rief er, was habe ich gethan! Sie – Sie müssen denken, ich sei wahnsinnig geworden – können Sie mir je verzeihen? – Ich Elender – so Ihr freundliches Vertrauen zu mißbrauchen – hier in meinem Zimmer – freilich, ich bin nicht weit entfernt vom Tollwerden – weil Sie mir sagen, daß Sie mir ein wenig gut sind –
Hab ich »ein wenig« gesagt? unterbrach sie ihn. Sehr – sehr gut, so gut, wie sonst keinem Menschen – da haben Sie meine Hand darauf!
Er ergriff ihre weiche Hand mit seinen beiden großen Tatzen. Gesine, ist das wirklich Ihr Ernst? Einen Menschen, den noch Niemand – noch kein Weib außer der eigenen Mutter – Sie irren sich – sehen Sie mich nur an – ich neben Ihnen –
Ich habe Sie mir schon hinlänglich angesehen, lachte sie jetzt und hatte ihre ganze Unbefangenheit wieder erhalten. Ich glaube wohl, daß es Schönere giebt, aber Bessere schwerlich. Auch die Mutter sagt's. Wenn Sie hörten, wie die Ihr Lob singt – schon vom Hörensagen hätte ich Ihnen gut werden müssen. Aber nun lassen Sie mich gehen. Wenn es Ihnen doch wieder leid werden sollte –
Er hielt ihre Hand wie in einer eisernen Klammer gefangen, bis er sie dahin brachte, sich wenigstens auf den Stuhl neben der Thür zu setzen. Dann sagte er ihr, daß er in Jahr und Tag eine feste Anstellung zu erhalten hoffe, und fragte sie, ob sie so lange warten wolle? Denn er begriff nicht, daß nicht Jeder, der sie sah, den Wunsch fühlen mußte, sie ihm streitig zu machen.
Ihr eile es wahrlich nicht, sagte sie, und der Mutter auch nicht. Der aber müsse sie es gleich heute mittheilen, sie habe nie ein Geheimniß vor ihr gehabt. Und nun möge er ihr irgend etwas auszubessern mitgeben, es fehle ihm ja nie daran, scherzte sie mit einem lieblichen Lachen, das wolle sie ihm morgen Abend zurückbringen und ihm dann sagen, wie die Mutter von der Sache denke. Sofort lief er nach seiner Kommode, zog das erste beste Stück heraus und machte mit seinem Taschenmesser einen fußlangen Schnitt hinein, daß sie ihm in den Arm fiel und ihn beschwor, die unschuldige Leinwand zu schonen. Darauf legte sie das mißhandelte Tuch sorgsam zusammen und gab ihm nochmals die Hand. Sie hätte ihm auch wohl den Mund nicht versagt. Er aber stand wieder so schüchtern vor ihr, wie wenn Nichts zwischen ihnen vorgefallen wäre. Nur die Hand drückte er so herzhaft, daß sie einen leisen Schrei ausstieß und wie ein Vogel, der eben noch dem Griff des Knaben entwischt, aus der Thüre fuhr.
Als er sich nach dem ersten Rausch und Taumel einer ungeahnten Seligkeit ein wenig gefaßt hatte, machte er sich selber Vorwürfe, daß er sie so leichten Kaufs wieder hatte entschlüpfen lassen. Er fühlte ein brennendes Verlangen, seine Lippen wieder in ihr weiches Haar zu drücken, und traute sich jetzt sogar den Muth zu, ihre Augen und ihren Mund zu küssen. Doch wenn er daran dachte, daß er dies Wagniß morgen auf alle Fälle ausführen würde, stürmte ihm alles Blut zum Herzen, und ein purpurner Nebel flimmerte ihm vor den Augen. Er zwang sich, an Anderes zu denken; zunächst schien es ihm eine dringende Pflicht, dem Freunde in Paris zu melden, was sich soeben hier mit ihm zugetragen. Aber eine seltsame Scheu hielt ihn ab. Was mußte sein David denken, wenn er las, Jonathan habe sich mit der Tochter seiner Wäscherin verlobt! Ja, wenn er sie sähe! In der Ferne konnte er es nur für eine Tollheit halten. – Dann dachte er an seine gute Mutter, und ein bitterer Schmerz durchfuhr ihn, daß er ihr diese Tochter nicht zuführen sollte, die so recht nach ihrem Herzen gewesen wäre. Es litt ihn nicht in seinem dunklen Zimmer. Er stürmte hinaus und kam erst gegen Mitternacht, abgemattet von zwecklosem Herumschweifen, zu seiner besorgten Wirthin zurück.
Als dann am andern Abend Gesine wieder bei ihm eintrat, fand sie einen Halbverzagten, der in den langen Tagesstunden fast dahin gekommen war, das ganze Abenteuer für einen Traum zu halten. Nun eilte er ihr zitternd mit ausgebreiteten Armen entgegen, aber sie wies ihn mit einem ernsthaften Kopfschütteln zurück und wollte sich nicht einmal zum Sitzen bequemen. Die Mutter sei sehr glücklich und stolz auf einen so trefflichen Schwiegersohn, doch verlange sie, daß Alles geheim bleibe bis vier Wochen vor der Hochzeit, und daß Herr Jonathan niemals ihr Haus betrete, weil es sonst unvermeidlich ein Gerede geben würde. – So soll ich Sie nicht mehr sehen?! rief der schwer Enttäuschte. – O doch, fuhr sie eifrig fort und weidete sich an seinem unverhohlenen Entsetzen. An jedem Sonnabend darf ich hier herauf kommen und so lange bleiben, wie sonst. Es ist zwar nicht gerade Brauch, daß ein junges Mädchen zu ihrem Bräutigam geht. Aber die Mutter meint, Sie seien ein so braver Herr, wie unter Tausenden nicht Einer, Ihnen könne eine Mutter ihr Kind ruhig anvertrauen. Auch soll der Fritz mit dem Korbe warten, daß wir uns nicht zu lange verplaudern. Sind Sie nun zufrieden?
Ich muß wohl! seufzte er. Und jetzt dachte er freilich daran, die Gunst der kurzen Stunde zu benutzen und sie in seine Arme zu schließen. Aber was sie ihm von seiner Bravheit gesagt, hielt ihm die Glieder gebunden, obwohl sie mit einem fragenden Lächeln ihm gegenüber stand. Hier ist Ihr Tuch, sagte sie endlich. Sie sehen, schön ist's nicht geworden – Sie haben gar zu unbarmherzig hineingeschnitten – nun soll es Ihnen ein Pfand sein, daß ich's ehrlich meine. – Wie schön Sie hier wohnen! Und was Sie für kostbare Bilder haben!
Sie trat einen Augenblick neben ihn ans Fenster, er wagte leise den Arm um ihre Schulter zu legen, die fast bis zur seinigen heraufreichte. Dann führte er sie, indem er sie so behutsam umfaßt hielt, als wäre sie ein sehr zerbrechliches Kleinod, vor die Peterskirche und das Pantheon und freute sich innig an ihrem klugen Staunen und sinnigen Betrachten. Ehe er es dann hindern konnte, war sie ihm unter dem Arm durchgeschlüpft, hatte ihr Körbchen ergriffen und ihm eine gute Nacht zuwinkend die Thür hinter sich geschlossen.
Er wollte es das nächste Mal klüger anfangen, daß sie länger bei ihm aushalten sollte. Er dachte sich eine treffliche Kriegslist aus, wie er den Knaben mit einem Auftrag zu der Mutter zurückschicken wollte, seine Liebste aber überreden, die Rückkehr ihres kleinen Tugendwächters hier abzuwarten. Als der Sonnabend heranschlich, war er sehr geschäftig, allerlei Obst und Naschwerk einzukaufen und in seinem Schrank, auf zwei ganz neuen Schalen – denn die Teller der Madame Groß schienen ihm einer solchen festlichen Aufwartung nicht würdig – zierlich aufgeschichtet, zu verschließen. Auch einen bescheidenen goldenen Ring mit einem blutrothen edlen Stein kaufte er und besah ihn wohl zehnmal des Tages. Nun war's schon herbstlich draußen in der Landschaft, doch schien ihm der Wald mit seinem bunten Laube und die Ebereschen zwischen den abgeernteten Feldern und die Heerden, die auf den Stoppeln weideten, schöner und lustiger, als in den blühendsten Frühlingstagen, und daß die Dämmerung früher kam, war ihm vollends lieb; desto früher durfte er sein Glück erwarten. Er hatte keine Ruhe, bis er die Hängelampe angezündet hatte, obwohl es noch hell genug war, die Härchen in Gesinens Augenbrauen zu zählen; dann ging er hin und her, öffnete einmal den Schrank und besah die Aprikosen und frühen Trauben, überlegte sich, was er sagen wolle, wenn sie durchaus nicht zu halten wäre, – und plötzlich hörte er die Hausthür gehen und Schritte auf der Treppe. Aber das waren nicht die ruhigen, leichten Tritte seines Mädchens, das kam heraufgesprungen in großen Sätzen, nun wurde an der Glocke gerissen – ein Freudenschrei von Madame Groß – ein munteres Pochen an seiner Thür, und Eduard flog herein und dem ganz Entgeisterten an den Hals.
Er sei vor einer Stunde erst angekommen, habe noch nicht einmal ausgepackt, sei so nüchtern wie das Hauptbuch seines Principals, aber das Verlangen, seinen großen Hans wiederzusehen, habe ihn an nichts Anderes denken lassen. Dies Nest sei ihm nie so schauderhaft eng und arm vorgekommen, wie jetzt, da er noch alle Sinne voll habe von dem Brausen und Tosen der Märchenstadt. Nur einen Freund habe er dort nicht gehabt, sonst Alles, Mehr als der tollste Traum einem Dichter vorgaukeln könne. Aber der Rausch habe ihn fast um den Verstand gebracht, den hoffe er hier bei seinem Jonathan wiederzufinden. Die junge Millionärin sei glücklich verlobt, er könne nun ohne alle Gefahr so liebenswürdig sein, wie er wolle. Niemand als Frau Groß werde davon bezaubert werden – der er etwas sehr Hübsches aus dem Magazin du Louvre mitgebracht habe! – setzte er hinzu, als seine Gönnerin eben eintrat, um zu fragen, ob sie den Thee wie sonst herrichten solle.
Jonathan war wie aus allen Himmeln gestürzt. Seine peinliche Stimmung wurde nicht wenig gesteigert durch den Gedanken, daß es Verrath an der Freundschaft sei, den endlich Heimgekehrten, der sich so herzlich bezeigte, hundert Meilen weit wegzuwünschen. Doch fiel seine Beklommenheit dem Freunde, der wußte, daß er in Freude und Leid nicht von vielen Worten war, kaum sonderlich auf, zumal er selbst vor Allem sich auszuschütten begehrte und eine unerschöpfliche Reihe bunter Abenteuer auszukramen hatte. Man schien in den Kreisen, wo er verkehrt hatte, gegen seine mannichfachen Vorzüge nicht blind gewesen zu sein und ihn eifrig verzogen zu haben. Doch pflegte er seine persönlichen Erfolge zu sehr als etwas Selbstverständliches zu betrachten, um anders als in gelegentlichen Andeutungen davon zu sprechen. Am lebhaftesten wurde er bei der Schilderung des Glanzes, der verschwenderischen Ueppigkeit, der fabelhaften Schätze, in denen die Reichen dort mit nachlässiger Hand wühlen könnten, während ein armer Teufel von Commis sich besinnen müsse, ob er sich einen neuen Frack gönnen dürfe. Er war von Kopf bis Fuß von einem Pariser Kleidervirtuosen umgeschaffen worden und sah bildschön aus.
Jonathan wurde immer unsteter in seinen Gedanken und Geberden, je näher die Stunde heranrückte, wo Gesine kommen sollte. Er zermarterte sich das Gehirn, einen Vorwand zu erfinden, um Eduard zum Nachhausegehen zu veranlassen. Es war aber Alles wie sonst, nie hatte der Freund den Sophawinkel so behaglich, den Thee und die Butterbrödchen der Madame Groß so delicat gefunden, selbst nach allen Leckerbissen Véfour's und der Freres Provençaux. Sollte Jonathan eine Botschaft an Gesine schicken? Aber durch Wen? Und wenn er seine Wirthin darum bat, mußte sie nicht Unrath merken?
Dein Stück wirst du ganz vergessen haben, sagte er endlich, um doch etwas zu sagen. Erst als Eduard lachend erwiderte, er habe so prachtvoll Komödie spielen sehen, daß er für die Ehre, von deutschen Brettern herab seine Zeitgenossen zu langweilen, keinen rothen Heller mehr gebe, erst da wachte in dem ehrlichen Gemüth des großen Hans wieder ein Interesse an der Freundschaft auf, das durch die Liebe fast verdrängt worden war.
So dürfe er nicht reden, sagte er ernst. Wenn die Reisenachwehen erst verflogen seien, müsse er gleich an den letzten Akt gehen, die ersten vier seien in bester Ordnung. Er sei es sich schuldig – jetzt erst recht müsse er zeigen, daß ein wahrer Dichter all diesen Flitterkram verachte – was könne ihn hindern, sich das Leben durch sein Talent so schön und groß zu gestalten, daß aller äußere Glanz dagegen verblasse? – und wenn man lese, wie die großen Dichter auch in Paris als bescheidene Fußgänger aufgetreten seien –
Er vollendete den Satz nicht. Denn in diesem Augenblick trat Gesine herein, der Knabe hinter ihr. Jonathan erhob sich mit abgewendetem Gesicht, seine tödtliche Verwirrung zu verbergen. Er that dem Mädchen ein paar Schritte entgegen, fuhr sich mit der Hand über die Stirn und murmelte kaum verständlich die Worte: Guten Abend, Fräulein – Sie treffen hier – lassen Sie sich nicht abhalten –
Sie war in ihrer ruhigen Weise, nachdem sie einen raschen Blick auf den Fremden geworfen, nach der Kammer gegangen, hatte das Licht dort angezündet und ihr Geschäft stillschweigend mit Hülfe des kleinen Fritz vorgenommen. Jonathan starrte ihr rathlos nach. Er fand die Worte nicht, ihr den Zusammenhang klar zu machen. Als er sich nach Eduard umwendete, sah er dessen Augen fest an der großen, schlanken Gestalt hangen.
Das ist ja eine Figur, die es mit unserer lieben Frau von Milo aufnehmen könnte, sagte er halblaut, doch so, daß es drinnen in der Kammer durch die offene Thür deutlich verstanden werden konnte. Seit wann besorgt dir denn eine solche Nymphe dein Weißzeug? Nein, wie sie die Arme bewegt! Wie der kleine Kopf auf den herrlichen Schultern sitzt!
Jonathan sah ihn flehend an und hob den Zeigefinger gegen die Lippen. Sie kommt nur statt ihrer Mutter, stotterte er leise hervor. Ein sehr anständiges Mädchen – ich bitte dich, Eduard –
Gesine trat wieder herein. Ihr geröthetes Gesicht ließ erkennen, daß es ihr geeilt hatte, fertig zu werden. Sie hatte nicht einmal die Liste in ihr Büchlein verzeichnet. Gute Nacht, Herr Jonathan! sagte sie mit einem kurzen Neigen des Hauptes.
Eduard war aufgesprungen und dicht vor sie hingetreten. Sie mußte ihn jetzt gleichfalls ansehen, da er das Wort an sie richtete. Doch war ihre Unbefangenheit auf einmal von ihr gewichen, und sie schlug den Blick rasch wieder zu Boden. Ob sie wohl auch seine Leibwäsche übernehmen wolle? Er sei unzufrieden mit seiner bisherigen Wäscherin – und eben habe er so feine neue Hemden aus Paris mitgebracht, um die es Schade wäre, wenn sie nicht in die rechten Hände kämen. – Sie wolle die Mutter fragen und durch Herrn Jonathan Bescheid sagen lassen. – Sie könne es ihn auch direct erfahren lassen, warf er hin, von ihrem abweisenden Ton stutzig gemacht. Er wohne da und da. Uebrigens dränge er seine Kundschaft nicht auf.
Sie sah ihn noch einmal flüchtig an, dann ging sie in ihrer gewohnten stolzen Haltung hinaus.
Du hast dir da eine Prinzessin ins Haus gewöhnt, sagte Eduard mit gezwungenem Lachen. Ja wahrhaftig, die wird noch eines schönen Tages ihre Verkleidung als Wäschermädchen abwerfen und mit irgend einem Prinzen im goldenen Wagen davonfahren. Eine süperbe Person!
Sie ist ein ganz einfaches, braves Mädchen, murmelte Jonathan. Aber soll ich dir nicht noch eine Tasse Thee einschenken?
Eduard dankte. Er war plötzlich zerstreut geworden, ging schweigsam im Zimmer auf und ab, stieß an die Hängelampe, daß sie hin und her pendelte, und griff endlich nach seinem Hut. Es sei denn doch wohl schicklich, daß er sich bei seinem Principal noch heute zurückmelde. Er habe seine Mission mit Ehren ausgeführt und könne erwarten, von jetzt an für voll angesehen zu werden. Morgen Abend erwarte er Jonathan in seinem Zimmer. Er müsse ihm seine Pariser Bibelots zeigen.
So ging er. Erst wie er schon im Flur war, fiel ihm ein, daß er den Händedruck zum Abschied vergessen hatte. Er kehrte noch einmal zurück, da sah er Jonathan am Tische stehen, etwas in Händen haltend, das er wunderlich anstarrte. Es blitzte wie Gold, da es der Ueberraschte eilig in die Westentasche steckte. Nimm doch auch den Buchhändler von Logroño mit, sagte er. – Mit dem hat's Zeit, großer Hans! rief der Jüngling. Die Lorbeern, die mir dereinst wachsen sollen, lassen mich noch schlafen. Wenn ich sie freilich vor den Augen der Duchessen und Marquisen pflücken könnte! Hier aber – was ist hier der Mühe werth, wo nur aus Versehen einmal ein ganz unliterarisches Wäschermädchen ein Gesicht aufsteckt wie eine junge Herzogin!
*
Nun ging das Leben zwischen ihnen seinen alten Gang; doch war es das alte Leben nicht mehr. Allabendlich saßen sie stundenlang bei einander, Eduard unerschöpflich im Erzählen seiner Pariser Erlebnisse, Jonathan bemüht, diesen fernen Dingen ein Interesse abzugewinnen, während sein Herz nicht bei der Sache war. Jeden Abend, wenn sie sich trennten, gelobte Eduard feierlich, morgen in aller Frühe wieder an das Stück zu gehen, und mußte beim Wiedersehen gestehen, daß er immer noch keinen Strich gethan. Eine Unstäte war in seinem Blick, eine Zerfahrenheit in seinen Gedanken – siehst du, Hans, sagte er zwischen Lachen und Seufzen, ich bin wie ein Fisch, der aus dem Altwasser plötzlich in den großen Strom gerathen und dann wieder in sein seichtes Bett zurückgeworfen ist. Eine große Leidenschaft, ein starker Wirbel, der mich umtriebe, daß ich meine Kräfte spürte – aber so! aber hier! Ich habe diese bürgerliche Stickluft satt, diese schmalstirnigen Männer und engbrüstigen Weiber.
Jonathan hatte Nichts zu erwidern auf solche Declamationen. Doch sah er mit einer förmlichen Verzweiflung, wie Tag um Tag verging, ohne daß der Freund sich ermannte. Der Gedanke, daß es nur noch Eines festen Schrittes bedurfte, um das Ziel zu erreichen, das ihm seit Monaten vorgeschwebt, nur noch einer geringen Geduld und Liebe, um das Werk zu vollenden, das seinen Verfasser vor der Welt in jenem Lichte zeigen sollte, in welchem bisher nur die Augen des Freundes ihn gesehen, und daß es nun wie ein Bann über ihm lag und jede Willenskraft lähmte, marterte ihn unsäglich. Soviel er aber herumdenken mochte, er fand keine Hülfe.
Darüber war die Woche wieder vergangen. Am Sonnabend sollten sie bei Eduard zusammenkommen, vorher aber Gesine sich bei Jonathan einfinden. Er hoffte heute sie und sich zu entschädigen für Alles, was bei ihrem letzten Besuch vereitelt worden war. Er hatte noch schönere Früchte gekauft und einen gehäuften Teller voll frischer kleiner Kuchen. Doch wie sie nun kam, sah er auf den ersten Blick, daß ihr nicht nach Süßigkeiten zu Muth war.
Sie fertigte den Knaben rasch ab und trat, als sie mit Jonathan allein geblieben, ihm etwas näher, als sonst ihre Art war. Sie müssen mir Eins sagen, Herr Jonathan, brachte sie nicht ohne Stocken hervor: haben Sie Ihrem Freunde, dem Herrn, der das letzte Mal hier war, anvertraut, wie es zwischen uns steht?
Wie können Sie glauben, Gesine, daß ich unser Geheimniß –
Ich glaub' es auch nicht! unterbrach sie ihn wieder. Ich wollte Sie aber bitten, daß Sie es doch lieber thun möchten, da ich selbst meiner Mutter fest versprochen habe, es keiner Sterbensseele zu verrathen. Sie aber – Sie müssen es thun – ich weiß sonst nicht mehr –
Sie verstummte, und ein finsterer Schatten flog über ihr Gesicht. Wie er nun in großer Bestürzung in sie drang, erzählte sie, der junge Herr sei ihr schon zwei Mal in der Dämmerung begegnet, habe sie angeredet, und da sie seine freie Manier scharf abgewiesen, in einem ganz anderen Ton zu ihr gesprochen, Worte, die sie sich zu wiederholen scheue, da sie unmöglich ernst gemeint sein könnten, von Sterben und Verderben, wenn sie ihn nicht freundlich ansähe, von der Ahnung, die er in der ersten Stunde gehabt, sie werde sein Schicksal sein, und andere Tollheiten mehr. Sie habe ihm jede Hoffnung abgeschnitten, doch auf die Frage, ob sie noch frei sei, weder Ja noch Nein antworten mögen. Er aber habe sich bei Himmel und Hölle verschworen, nicht zu ruhen, bis er ihr Herz gerührt und ihre Hand gewonnen –
Ihre Hand? fuhr Jonathan aus seinem Brüten auf.
Ja, ihre Hand! Sie wisse, daß es damit nicht ernst gemeint sei. Ein armes Ding wie sie, und ein so schöner und vornehmer Herr –
Also finde sie ihn schön? Aber wie sollte sie nicht! Sie habe doch Augen im Kopf. Wenn sie die zugedrückt habe, als sie ihm – Jonathan – gesagt, daß sie ihm gut sei, so seien sie ihr nun freilich aufgegangen. Nein, er mache ihr keine Vorwürfe, er habe es gewußt, daß es so kommen würde – nur daß es ihm nicht bitter sein sollte, könne Niemand verlangen!
Er warf sich auf den Stuhl am Fenster und starrte vor sich hin. Eine wilde Jagd von streitenden Gedanken fuhr ihm durch den Kopf.
Was ist Ihnen nur, Herr Jonathan? hörte er nach einer Weile ihre ruhige Stimme sagen. Was ist denn geschehen, das Sie so außer sich bringt? Wenn Sie Ihrem Freunde sagen, daß er mich in Frieden lassen, mir nicht mehr auflauern und keine übertriebenen Reden an mich verschwenden soll –
Wenn nun aber Alles so ist, wie er sagt, wenn er zu Grunde geht ohne die Hoffnung – denn daß ein Mensch so fühlen kann, hab' ich das nicht an mir selbst erlebt? – Und er ist jünger und hitziger und ein Künstler, ein verwöhntes Glückskind – und nun sieht er, daß ich, den er für seinen Freund hält –
Diese abgerissenen Sätze stieß er halb für sich selbst hervor. Das Mädchen aber verstand genug davon, um mit immer erstaunteren Augen den wunderlichen Liebhaber anzustarren.
Ich werde nicht klug daraus, sagte sie; ich glaube, Sie oder ich haben sich getäuscht. Sagen Sie mir, woran ich bin, ich habe es gleich gedacht, daß es nur so ein Einfall von Ihnen sein möchte, daß es Ihnen leid werden würde. Alles, was Sie wollen, bloß wissen muß ich, was ich davon zu denken habe, ob ich Ihnen glauben darf –
Er stand mit einer gewaltsamen Anstrengung auf. Gesine, sagte er, sehen Sie mich nicht so finster an. Ich – Gott weiß, daß ich niemals – es handelt sich ja gar nicht um mich – um Ihr Glück handelt es sich und um seines. Er ist schön, und liebenswürdig und wird einmal von sich reden machen – Ich – nun, ich bin, wie Sie mich hier sehen, und werde nie etwas Anderes sein. Wenn ich Sie nun an mich reiße und festhalte, weil Sie mir gesagt haben, Sie seien mir gut, – ehe Sie ihn kannten, – Gesine, wir werden alle Drei unglücklich, während jetzt – ich bin ohnehin nicht zum Glück geboren – es geht in Einem hin, obwohl freilich, wie ich es überstehen soll – aber es geschieht mir schon Recht, warum hab' ich mir's auch einmal so wohl sein lassen wollen, wie Andere –! Und nun sehen Sie wohl, Gesine, an Ihnen ist es, zu sagen, was werden soll, – Sie ganz allein –
Er sah sie mit inbrünstiger Angst und Aufregung an, er hing an ihren Lippen, die seltsam zuckten, halb trotzig, halb wie dem Weinen nahe. Ihre Augen waren den seinigen nicht begegnet während der ganzen langen Rede, die ihr wie das Geschwätz eines Halbirrsinnigen vorkam. Sie hörte nur das Eine heraus, daß er sie nicht festzuhalten wagte, nicht, wie bitter ihm der Gedanke war, daß sie ihm verloren gehen könne. Und da sie ein bescheidenes Geschöpf war und seine phantastischen Worte über ihren Werth ihr gar keinen Eindruck machten, stieg nur das Gefühl in ihr auf, daß hier ein frevelhaftes Spiel mit ihr gespielt, daß sie vom Einen dem Anderen zugeschoben werde, wie eine Sache, die keinen freien Willen habe und sich nicht selbst regiere. Dazu kam, daß sie seine scheue Zurückhaltung mißdeutete. Hätte er sie nur ein einzig Mal herzhaft in die Arme genommen und geküßt und geliebkos't, wie es ein richtiger Verlobter mit seiner Braut nach allgemeinem Menschenrecht zu thun pflegt, so wäre es ihr nicht eingefallen, sich von ihm abzuwenden. Nun aber wußte sie nicht einmal von dem Ring, den er ihr zugedacht hatte und jetzt völlig vergaß. Sie hörte seine mühsamen Worte und sah sein Bestreben, sich von ihr fernzuhalten. Da wallte plötzlich ein heftiges Gefühl der Beschämung in ihr auf, ihr ganzer mädchenhafter Stolz und Trotz, geschürt durch die peinliche Erkenntniß, daß sie diesen Mann nicht zu verstehen vermochte. Sie zog die Brauen düster zusammen und blitzte ihn mit glühenden Augen an.
Es ist gut! sagte sie. Ich merke, wo Sie hinauswollen. Von meiner Seite will ich Ihnen keine Schwierigkeiten machen. Wenn Sie es so für besser finden, kann ich es mir wohl auch gefallen lassen, und so hätte ich denn Nichts mehr hier zu suchen. Leben Sie wohl!
Sie drehte ihm den Rücken zu und schritt nach der Thür, Gesine! rief er, um Gotteswillen, Gesine, so hören Sie doch! Ich bin – Sie müssen nicht denken –
Er hatte ein Wort auf der Zunge, das vielleicht die ganze Verwirrung noch gelös't haben würde. Zum Unglück trat in diesem Augenblick seine Hausfrau ins Zimmer, der die längeren Besuche des Mädchens verdächtig erschienen waren. Da versagte ihm die Geistesgegenwart. Er konnte ihr nur nachrufen, daß er die Rechnung das nächste Mal berichtigen würde. Er war aber in seinem Innersten so zerrüttet, daß er ein plötzliches Unwohlsein vorschützend an Eduard Botschaft sandte, ihn heute nicht zu erwarten.
Statt indeß zu Bette zu gehen, saß er bis an den frühen Morgen auf und schrieb einen Brief an seine gekränkte Geliebte, der ihr Alles auseinandersetzte, was er von Mund zu Mund nicht klar hervorgebracht hatte. Mit dieser Generalbeichte war er ziemlich zufrieden, siegelte sie sorgfältig ein und legte sich endlich schlafen. Er hörte Eduard in der Frühe des Sonntagmorgens bei seiner Wirthin sich nach ihm erkundigen. Da er sich aber eingeriegelt hatte, wagte Keines ihn zu stören. Als er endlich aufgestanden war, schickte er den Brief sofort durch einen Boten an seine Adresse und saß dann und wartete fieberhaft auf die Antwort. Schon nach einer halben Stunde klopfte es an seine Thür. Der kleine Fritz trat ein mit einem größeren Brief. Als er ihn öffnete, fiel ihm sein eigener – unentsiegelt – entgegen und ein Zettel von der Hand der Mutter: Nach dem, was ihre Tochter gestern ihr mitgetheilt, sehe sie das Verhältniß als aufgelös't an und bitte nicht ferner an sie zu schreiben. Auch möge er seine Kundschaft einer Anderen zuwenden. Sie bedauere, jeden Verkehr mit ihm abbrechen zu müssen.
Worauf wartest du noch, Fritzchen? sagte der Unglückliche. Ja so, auf deinen Botenlohn! – Er ging zum Schrank, nahm die Teller mit Früchten und Kuchen heraus und füllte dem Knaben beide Taschen seines Sonntagsröckchens. So, und nun geh und bestelle, es wäre Alles in Ordnung. Geh! Ich muß allein sein.
Als der Knabe hinaus war, zog Jonathan den Ring aus der Tasche. Er betrachtete ihn einen Augenblick mit einem bitteren Lächeln. Dann öffnete er das Fenster und warf ihn so weit er konnte hinaus, daß er in der Wiese jenseits der Stadtmauer unter Gras und Brennnesseln verschwand.
*
Eine Stunde später trat er bei Eduard ein. Sein Gesicht war ganz ruhig, nur etwas bleicher als sonst. Er sei wieder ganz wohl, versicherte er; ein tiefer Morgenschlaf habe ihn gestärkt, nun sehe er wieder mit klaren Augen in die Welt. – Sein Blick ruhte lange auf dem Freunde, der eben eine besonders umständliche Toilette machte, da er bei seinem Principal zu Tisch geladen war. Er nickte still vor sich hin, als wollte er sagen: Kann ich es ihr verdenken, daß sie an diesem Gesicht und dieser Gestalt größeres Wohlgefallen findet, als an meiner Ungeschlachtheit? – Er ging dabei schweigend über den weichen Teppich hin und her, während Eduard sich die Cravatte um den schneeweißen Hals schlang und allerlei lustige Geschichten erzählte.
Plötzlich stand Jonathan still und sagte: Höre, Lieber, ich wollte dir noch sagen, du mußt endlich Ernst machen. Du bist zu gut, um dich an all solche Eitelkeiten wegzuwerfen. Erinnere dich, daß du eine Zukunft hast, die aber immer in der Ferne bleibt, wenn du nur der abgeschmackten Gegenwart angehörst – und ich – bin ich nicht dafür verantwortlich, daß das aus dir wird, was du selbst in dir fühlst – was ich selbst – nein, lache nicht! Ich spreche im heiligsten Ernst. Es liegt mir verdammt wenig an meinem eigenen Leben, aber Alles an deinem. Ich schwöre dir, ich verstehe da keinen Spaß – ich werde Alles aufbieten –
Seine Stimme zitterte, er hatte sich nach dem Fenster gewendet und die Stirn an die Scheibe gedrückt. Da fühlte er, wie der Arm des Freundes sich um seinen Nacken legte.
Du willst die Predigt nachholen, die ich heut geschwänzt habe, hörte er Eduard sagen. Aber du hast Recht; ich verdiene noch viel schlimmer gezaus't zu werden, ich bin ein elender Tagedieb gewesen und habe meinem Lebensretter schlecht gedankt für all seine Mühe. Das soll anders werden, heute noch. Ich bin mit einer ganz hübschen Idee für meine erste Scene aufgewacht, die ist dann wieder verduftet – auch war ich deinetwegen in Sorge – aber du sollst sehen, Hänschen, daß ich nicht unrettbar verloren bin.
Er ging nach seinem Schreibtisch, warf ein paar Zeilen auf eine Karte und klingelte. Besorgen Sie das Billet sogleich, befahl er der Aufwärterin. Dann zu Jonathan gewendet: Ich lasse mich für heut Mittag entschuldigen. Die Einladung der Muse geht vor. Und nun schicke ich auch dich fort, theurer Seelsorger. Morgen Abend bring' ich dir die Scene, mit der ich heut meinen Feiertag heiligen werde.
Ein freudiges Lächeln erhellte einen Augenblick Jonathan's düsteres Gesicht. Er drückte dem Freunde die Hand und sah ihm voll in die Augen. In dieser Stunde kam es ihm wieder vor, als ob kein Opfer zu schwer sein könne, das er dem Glück dieses seines Auserwählten je gebracht und fernerhin bringen würde.
Auch er blieb den ganzen Tag allein; er hatte die Logroño-Mappe wieder vorgenommen und die Reinschrift begonnen. Wie er so im halben Traum Zeile für Zeile hinschrieb, zuckte ihm wohl noch zuweilen das Herz, im Nachgefühl des harten Stoßes, den es heute Morgen erlitten. Dann war ihm wieder, als läge das Alles schon weit hinter ihm.
Auch sorgte Eduard dafür, daß er nicht Zeit fand, viel an sich selbst zu denken. Die Arbeit ging so rasch von Statten, daß schon am Ende der nächsten Woche der letzte Akt fertig vor ihm lag. Er war nicht schlecht gerathen, die Stimmung des jungen Autors ging in hohen Wogen, seit der Rückkehr von Paris hatte er sichtbar an Schwung und Freiheit des Geistes gewonnen. Sie feierten eine glückliche Stunde, als das Finale gelesen und gutgeheißen worden war. Das ist nun doch wieder dein Werk, großer Hans! sagte Eduard und streichelte ihm die Schulter. Ohne dich hätte die arme Seele meines Buchhändlers noch immer nicht die ewige Ruhe gefunden. Und nun wollen wir auf seine und deine Gesundheit trinken!
Er zog eine Flasche Champagner hervor, die er heimlich mitgebracht hatte. Beim vierten Glase hielt er plötzlich inne, sah Jonathan prüfend an und sagte: Höre, hast du mich auch wirklich damals nicht ein bischen belogen, als du nur sagtest, dies Fräulein Gesine sei dir ganz gleichgültig?
Schweig davon! brach es rauh aus der Brust des Schwergetroffenen hervor. Ich weiß nichts von Weibern – will nichts von ihnen wissen – ich und ein Weib, es ist lächerlich, das nur zu denken –
Und er stürzte, das Glas auf einen Zug hinunter und ging zu seiner Wirthin hinaus, daß sie eine zweite Flasche besorgen sollte.
Nun begann eine sehr geschäftige Zeit für Jonathan. Nachdem er die Abschrift säuberlich vollendet hatte, galt es die nöthigen Schritte zu thun, um das Werk vor die Lampen zu bringen. Hiezu wollte aber der junge Dichter sich in keiner Weise verstehen. Er äußerte, nachdem es mühsam genug zur Welt gebracht war, eine große Gleichgültigkeit gegen sein eigenes Geschöpf, hatte den Kopf voll neuer Pläne, ließ auch die wieder fallen und ergab sich einem träumerischen Nichtsthun, das seine besonderen Süßigkeiten haben mußte. Wenigstens schwammen seine schönen Augen oft in einem feuchten Glanz und Feuer, und er konnte lange vor sich hin schweigen und lächeln wie ein Mensch, der ganz ausgefüllt ist von geheimnißvoller Wonne.
So mußte denn Jonathan das sauber gebundene Manuscript unter den Arm nehmen und sein Glück damit versuchen. Die Stadt war im Besitz eines nicht ganz verächtlichen Theaters, das freilich fast jeden Herbst an einen neuen Director verpachtet wurde, aber hinlängliche Mittel hatte, um selbst größere Aufgaben, und die eine reichere Ausstattung forderten, nicht zu scheuen. Jonathan überreichte das Trauerspiel mit einer nachdrücklichen Empfehlung, die er sich sorgfältig überlegt hatte. Es werde jedenfalls schon des Verfassers wegen, der ein Stadtkind sei, volle Häuser machen und die Kosten vollauf hereinbringen. An spanischen Costümen könne daher wohl Einiges aufgewendet werden. Uebrigens sei die Handlung so spannend, daß sie selbst in geringerer Costümtreue und mit weit bescheidneren Kräften ihre Wirkung nicht verfehlen werde.
Der Director, der den Ingenieur in seinen großen Stiefeln mit mißtrauischer Verwunderung begrüßt hatte, wurde zutraulicher, als er ihn zu Ende gehört hatte, und versprach, binnen vier Tagen seinen Bescheid zu geben. Wie dann Jonathan wieder bei ihm erschien, lobte er die Arbeit mit allerlei Vorbehalten, entschuldigte sich, daß er nicht mit größerer Wärme auf ein solches Werk höheren Stils sich einlassen könne, das seine Kräfte übersteige, wollte jedoch aus persönlichen Rücksichten den Versuch nicht ganz von der Hand weisen, wenn seine Primadonna, die beim Publikum großen Credit habe, die Hauptrolle zu übernehmen sich geneigt erklärte. Dies werde einige Schwierigkeiten haben, da sie noch nicht in das Fach der edlen Mütter übergegangen sei, sondern die Julien und Jungfrauen von Orleans zu spielen vorziehe. Wenn sie sich entschließen könne, die übrigens so dankbare Rolle der Madame Alvarez zu übernehmen, obwohl sie drei erwachsene Zigeunerjünglinge zu Söhnen haben müsse, fürchte er keinen Augenblick, daß das Stück nicht Erfolg haben möchte.
Mit diesem Bescheid kam Jonathan voller Freuden zu Eduard zurück, von dem er erwartete, daß ihm die Ueberredung einer schönen Schauspielerin eine Kleinigkeit und kein unangenehmes Geschäft sein würde. Zu seiner Ueberraschung wollte der junge Dichter davon Nichts hören. Er schien die Dame von früher her zu kennen und nicht die beste Meinung von ihr zu haben, lehnte daher jeden Schritt bei ihr zu seinen eigenen Gunsten aufs Entschiedenste ab. Wieder mußte Jonathan sich dazu bequemen, auch diese Station des langen Passionsweges zu erklimmen. Er that sogar das Unerhörte, daß er sich einen reputirlichen Anzug machen ließ und ein Paar feine Stiefel kaufte, da er von der Verwöhnung und den Ansprüchen solcher Damen eine übertriebene Vorstellung hatte. Er wurde aufs Freundlichste empfangen und ruhig angehört, während die Hände der schon etwas verblühten Schönen nachlässig in dem Manuscript blätterten. Als er zum Schluß mit seinem Haupttrumpf herausrückte: er selbst sei nur ein schlichter Ingenieur, aber alle seine Arbeiter würde er in das Stück schicken, und »die Kraft der Fäuste und des Athems Hauch« von etwa sechzig solcher Naturmenschen sei gewiß keine verächtliche Bürgschaft für den Erfolg, – streckten sich die beiden weißen, etwas zu stark gepuderten Hände nach ihm aus und drückten seine breite ehrliche Rechte wie die eines alten Freundes. Was an ihr liege, werde gewiß geschehen. Mitte December sei noch eine sehr gute Zeit. Bis dahin hoffe sie mit dem Studium der Rolle, die ja keine unbedeutende Aufgabe sei, zu Ende gekommen zu sein. Er möge den Verfasser grüßen, dessen sie sich aus einer früheren Begegnung dunkel erinnere.
Eduard lachte, da Jonathan ihm diesen guten Erfolg seiner diplomatischen Sendung berichtete. Nun erst gestand er, daß er als blutjunger Theater-Enthusiast diese Künstlerin verehrt und sie mit Gedichten überlaufen habe. Auch habe sie sich Anfangs sehr huldvoll gegen seine achtzehn Jahre bezeigt, bis es darüber zwischen ihr und ihrem legitimen Anbeter, einem reichen älteren Herrn, zu einem jähen Bruch gekommen. Die Reue hierüber habe sie ihn, den sehr Unschuldigen, entgelten lassen. Da sie ihn aber jetzt wieder zu Gnaden anzunehmen wünsche, werde er nicht unterlassen dürfen, ihr sofort in Person zu danken.
Dies geschah mit gutem Erfolge, wie der junge Autor sich nun auch den übrigen Mitwirkenden aufs Beste zu empfehlen wußte. Dem Helden des Stückes studirte er die Rolle umständlich ein, bei der Heldin begnügte er sich mit einzelnen Andeutungen. Coulissen und Costüme wurden mit dem Director berathen, die ersten Proben festgesetzt, kurz, diese Angelegenheit füllte die Gedanken der beiden Freunde so gänzlich aus, daß auch Jonathan sich oft mit Lächeln darauf ertappte, von »unserem« Stück zu reden und nur von unserem Stück. Auch in die Kreise der Stadt, wo man von solchen Dingen Notiz nahm, war die Neuigkeit bereits gedrungen, daß ein junger Commis, der »schöne« Vanesse, der bisher nur für einen unbedeutenden kleinen Don Juan gegolten, als Dramatiker mit einem ernsthaften Stück auftreten werde. Eduard erzählte allerlei drollige Erlebnisse, die sich an diesen Vorruhm, diese Unsterblichkeit auf Credit, wie er sie nannte, knüpften. Jonathan's Stimmung war fieberhaft erregt. Doch die glückliche stolze Zuversicht auf das Gelingen überwog die hie und da sich herandrängende Furcht vor einem Fehlschlagen ihrer Hoffnungen. Wie konnte einem Liebling der Götter etwas Menschliches begegnen?
*
Ueber alle Dem war es Winter geworden. Die weite Landschaft vor Jonathan's Fenster lag hoch überschneit; daß noch Leben in ihr war, merkte er nur an den Sperlingen, die täglich zweimal das Futter holten, das er ihnen auf das Gesims streute. Es wurde zeitig die Hängelampe angezündet, dann aber war es trotz aller Bemühungen des guten Ofens und der wackeren Madame Groß doch oft recht öde und einsam dort oben.
In der letzten Zeit hatte Eduard sich seltner blicken lassen. Seine Abende gehörten dem Theater, den Künstlern, die ihn in ihre Kreise zogen, allerlei anderen einflußreichen Personen, mit denen er, wie er behauptete, es gerade jetzt nicht verderben dürfe. Im Stillen warf ihm Jonathan vor, daß er so manche kleine Mittel nicht verachtete, um sich den Erfolg zu sichern. Doch wußte er, daß selbst berühmte Männer in solcher Lage sich nicht für zu gut halten, auch an die Troßknechte der Literatur Händedrücke auszutheilen und um Stimmen zu werben. Er hätte es freilich des Freundes würdiger gefunden, wenn er in stolzem Gleichmuth die Entscheidung erwartet und inzwischen über einem seiner anderen Pläne gesonnen hätte.
Nun entbehrte er das, was ihm zuletzt unentbehrlich geworden war, und versank in eine Schwermuth, die einer moralischen Hungersnoth glich. Es konnte nicht fehlen, daß das Bild des Mädchens, von dem er so unselig geschieden war, in dieser öden Zeit hin und wieder vor seine bedürftige Seele trat. Was war aus ihr geworden? Wie dachte sie von ihm? Nie war zwischen den Freunden ihr Name mehr genannt worden. Ein Versuch, zu ihrer Mutter zu dringen, war mißglückt; die junge Person, die ihm geöffnet, hatte ihn entschieden abgewiesen, da sie ihn sofort wiedererkannte. Nun glaubte er freilich, ihretwegen sich Nichts vorwerfen zu müssen; und doch beschlich ihn eine peinliche Bangigkeit, so oft er an dies seltsame Finden und Verlieren dachte, und Etwas in ihm raunte ihm zu, daß er vielleicht das einzige wahrhaft treue Glück verscherzt habe, da er sie nicht mit beiden Händen festgehalten.
Die Arbeiten im Freien waren schon seit Monaten eingestellt, doch beschäftigte ihn sein Baudirector auf dem Bureau und ließ ihn, so oft er wollte, für seine Rechnung zu Hause arbeiten. Er schätzte ihn überaus und warf ihm Nichts vor, als seinen Mangel an Ehrgeiz. So hatte er ihm eines Nachmittags wieder eine wohlwollende Strafpredigt gehalten. Eine Concurrenz war ausgeschrieben worden zur Herstellung eines großen Bahnhofs, da noch eine neue Eisenbahnlinie bei der Stadt ausmünden sollte und die alten Baulichkeiten längst nicht mehr genügt hatten. Mit dem neuen Bau sollte zugleich ein Festsaal für städtische große Gelegenheiten verbunden werden, so daß dem Architekten eine schöne und reich lohnende Aufgabe gestellt war. Hier könnten Sie nun einmal zeigen, was Sie vermögen, hatte der alte Gönner zu Jonathan gesagt. Sie schwärmen ja für große Räume, kunstreiche Ueberwölbungen und feierliche Proportionen. Machen Sie sich daran! Hier sind die Bedingungen mit allem Detail. Wenn ich noch ein junger Mann wäre und nicht mit dem verdammten Maulwurfsgeschäft meine Kräfte ruiniren müßte, diesen Wettlauf ließe ich mir nicht nehmen. Sie können da auf Einen Schlag ein berühmter Mann werden.
Jonathan hatte sein übliches Achselzucken zur Antwort gehabt und den alten Kehrreim: er sei zu nichts Großem berufen. Doch um nicht allzu halsstarrig zu erscheinen, hatte er die Papiere zu sich gesteckt und den Heimweg angetreten. Nach längerer Pause erwartete er heut wieder Eduard's Besuch. In den nächsten Tagen sollte die erste Probe stattfinden.
Den Hut tief in die Stirn gedrückt, den alten Mantel dicht um die Schultern geschlagen, stapfte er durch die schneeüberhäuften dunklen Straßen nach Hause. Ein scharfer Wind sauste um alle Ecken und wehte Eisstaub und scharfe Schneekrystalle von den Dächern herab dem Schreitenden ins Gesicht. Auch waren trotz der Adventszeit nur wenige Gaffer an den Schaufenstern, und man sah es den hastigen Schritten an, daß es Niemand unter freiem Himmel geheuer fand.
Jonathan aber, der immer unempfindlich gegen Wind und Wetter gewesen, ging auch heute so gelassen seinen Weg, als mache es ihm ein besonderes Vergnügen, seine hohen Stiefel in den weichen Schnee einzudrücken. Doch war ihm nicht besonders leicht und lustig zu Muth. Mehrmals stand er still, betrachtete die Spielsachen hinter einem hellen Fenster so andächtig, als habe er für eine kleine Heerde von Kindern Auswahl zu halten, seufzte dann schwer und setzte den Weg langsamer fort.
Er war, ohne es zu merken, von der geraden Richtung abgekommen, der Gegend zu, in welcher Gesine wohnte. Als er es inne wurde, schlug er sofort die Straße ein, die zu ihrem Hause führte. Wie oft war er hier gegangen, ohne daß ein glücklicher Zufall ihm die Ersehnte entgegenführte. Heute konnte er es weniger hoffen als je; die Straße war wie ausgestorben. Um so seltsamer fiel ihm eine einzelne weibliche Gestalt auf, die, einen großen wollenen Shawl über Kopf und Schultern gehüllt, mit langsamen Schritten vor sich hinging, wie wenn sie die Witterung ganz lieblich fände oder sonst einen Grund hätte, nicht zu bald nach Hause kommen zu wollen.
Er schritt nun weiter aus, um die einsame Pilgerin einzuholen. Als er aber unter einer Laterne sie erreichte, blieb er in plötzlicher Erschütterung stehen.
Gesine! rief er.
Die Gestalt fuhr sichtbar zusammen. Alsbald aber beschleunigte sie ihren Schritt und fing förmlich zu laufen an. Da fühlte sie eine feste Hand, die ihren Arm ergriff und sie unentrinnbar stillzustehen zwang.
Gesine! wiederholte er, – Sie wollen auch hier vor mir entfliehen! – Aber ich bin, Gottlob! schneller und stärker als Sie – Sie müssen mir –
Lassen Sie mich! hörte er sie heftig hervorstoßen, während sie mit der freien Hand sich bemühte, den Shawl noch dichter um ihr Gesicht zu ziehen. – Warum fallen Sie mich hier an? Was haben wir uns noch zu sagen?
Alles haben wir uns zu sagen – Alles! – Oder wollen Sie mir auch den Mund versiegeln, wie Sie mir meinen Brief zurückgeschickt haben? Ich will – ich muß wissen, was ich Ihnen zu Leide gethan, daß Sie mich plötzlich behandeln, wie einen Feind, da ich doch keinen andern Gedanken gehabt habe – nein, Gesine – ich will sterben, wenn ich je an etwas Anderes gedacht habe, als wie du am glücklichsten werden könntest – und jetzt –
Ein bitteres, leises Lachen kam aus dem verhüllten Munde. Und jetzt? wiederholte sie höhnisch. Wollen Sie jetzt sehen, wie weit Sie es gebracht haben? Da sehen Sie, wie eine Glückliche aussieht!
Sie ließ plötzlich den Shawl vom Kopf zurückgleiten und zeigte ihm ihr Gesicht. Es war hager und todtenblaß. Die Augen lagen tief in den Höhlen und brannten mit einem unstäten Feuer.
Gefall' ich Ihnen so? fuhr sie fort, da er vor Schreck und Kummer verstummt war. Steht mir das Glück nicht gut zu Gesicht? Sehen Sie, das kommt davon, wenn man einer armen Närrin den Laufpaß giebt und sie frei herumlaufen läßt. Es kann ja sein, daß Sie es gut mit mir gemeint haben; es ist mir nur so herzlich schlecht bekommen, daß ich jetzt wollte, – ich – wie Sie mich da sehen – ich läge hundert Klafter tief unter der Erde – oder meine arme Mutter hätte sich nie die Mühe gegeben, mich mit Schmerzen zur Welt zu bringen!
Sie hatte ihren Arm aus seiner umklammernden Hand losgemacht, doch blieb sie vor ihm stehen, als hätte sie ihm noch viel zu sagen; nur den Shawl zog sie langsam wieder über den Kopf.
Ist es möglich! rief er dumpf, Eduard – nein, eher alles Andere – o mein Gott! – und ich –
Was können Sie dafür? sagte sie mit einem verächtlichen Zucken der Lippe. Sie – waren Sie nicht auch behext, wie alle Menschen, von diesen nichtswürdigen Augen und diesem Schlangenlächeln? Hat nicht sogar die alte Madame Groß zu mir gesagt: Wenn er mich bäte, ihm zu Liebe aus dem Fenster zu springen, ich glaube, ich müßte es thun –? Die ehrbare alte Frau! Aber man braucht nur seine Stimme zu hören, so ist's aus mit aller Besinnung und Bravheit und Gescheidtheit. Nein, Sie können nichts dafür, daß Sie einen solchen Freund gehabt haben, oder haben Sie ihn noch? Ist er Ihnen treuer gewesen, als anderen Menschen? Nun, so seien Sie glücklich, bis die Reihe auch an Sie kommt. Und nun lassen Sie mich gehen, die Mutter wird schon auf mich warten.
Sie wandte sich und setzte ihren Weg fort, langsam wie vorher. Er aber ging dicht neben ihr.
Und doch sind Sie mit Schuld daran! fuhr sie plötzlich heraus, während ihm in seiner qualvollen Betäubung alle Worte versagten. Wenn Sie damals zu mir gesagt hätten: Gesine, du bist verrückt, wenn du dir einbilden kannst, er meint es ernsthaft; sei keine eitle Närrin, ich bin dir gut, ich will dir treu sein, wir wollen uns Beide gegen den Versucher wehren – wahrhaftig, ich wäre noch zu retten gewesen. Aber hören zu müssen, daß man so leichten Kaufs wieder hergegeben werden soll, daß, wenn Einer kommt, der reicher und schöner ist, man sein Recht ohne Murren wieder aufgiebt –
Hättest du den Brief gelesen, stöhnte Jonathan in wildem Ingrimm, – nur den einen Brief – ich – du weißt es ja – ich kann meine Worte oft nicht so finden, wie ich möchte – was hab' ich denn gesagt an jenem entsetzlichen Abend?
Beruhigen Sie sich! sagte sie jetzt mit ihrem früheren stillen Ton. Es ist nun wie es ist. Ich mache Niemand Vorwürfe. Auch ihm nicht. Ihn hasse ich nur, aber das geht Niemand was an. Ich hasse ihn so sehr, daß, wenn er jetzt auf den Knieen vor mir läge und bettelte um Vergebung, und morgen sollte unsere Hochzeit sein – nein! ich sähe ihn nicht mehr an. Er mag nur seine Braut heimführen – er mag mit ihr glücklich oder unglücklich werden –
Jonathan blieb stehen. Um Gottes willen, Gesine, rief er, was reden Sie da! So sprechen Sie am Ende gar nicht von ihm – nicht von Eduard! Denn Der – das kann ich Sie versichern – der ist so wenig mit einer Anderen verlobt, wie ich selbst – glauben Sie mir – und lassen Sie mich dafür sorgen, daß noch Alles gut werde, daß er Alles, was er Ihnen schuldet –
Sie schüttelte düster den Kopf. Es ist aus, sagte sie, es ist zu spät, so oder so! Wenn er wirklich noch frei ist, so hat er gelogen, um von mir loszukommen. So oder so muß ich ihn verachten. Geben Sie sich doch keine Mühe mit einer armen Verlorenen! Wenn mich Niemand mehr sucht, – mein Schöpfer und Richter wird mich schon zu finden wissen. Ich danke Ihnen, daß Sie es noch so gut mit mir meinen. Ja Sie! Sie waren ein wahrer Freund. Aber einen solchen hab' ich wohl nicht verdient. Nun, Jeder liegt, wie er sich gebettet hat. Mein Bett ist hart – das ist nun nicht zu ändern. Wünschen Sie mir eine gute Nacht, Herr Jonathan, und – vergessen Sie mich! Das ist für uns Beide das Beste.
Gesine! rief er in leidenschaftlicher Verzweiflung und wollte sie an sich reißen. Ich kann Sie so nicht gehen lassen – Sie müssen mir sagen, wann – wo –
Nie! nirgends! Lassen Sie mich! – Machen Sie mich nicht noch unglücklicher, als ich bin. – Was liegt daran? Eine mehr! – Aber Sie – Sie sollen glücklich werden – dafür will ich zu Gott beten – Still! Es kommen Leute! Vergessen Sie mich! Gute Nacht!
Sie riß sich so plötzlich von ihm los, daß er einen Augenblick nicht wußte, wohin sie entflohen war. Als er ihr endlich nachstürzte, hatte sie schon die Thür ihres Hauses erreicht und war im Innern verschwunden.
*
Er ging seines Weges weiter, besinnungslos in den Schnee zu seinen Füßen starrend. Ein wildes Gefühl von Beschämung füllte ihn so ganz aus, daß für die Entrüstung gegen Den, der an diesem jungen Leben gesündigt, kaum noch Raum blieb. Er selbst war der Schuldige, er ganz allein. Hatte er nicht gewußt, wie der Leichtherzige es mit Allem, was ihm gefiel, zu halten pflegte? daß er es nur so lange schonte, als es ihm gefiel? War es ihm je eingefallen, dies Naturrecht, seine Herrschaft rücksichtslos auszuüben, dem Liebling der Götter, dem verzogenen Kinde zu bestreiten?
Nur freilich, da er ihm sein eigenes Anrecht auf Glück geopfert hatte, nun auch das nach kurzem Spiel wieder weggeworfen, unter die Füße getreten zu sehen – nein, das durfte er nicht dulden, das mußte gesühnt, wieder gut gemacht, gegen jede neue Laune geschützt werden. Wie das anzufangen, war ihm freilich noch nicht klar. Aber eine herbe Entschlossenheit durchdrang ihn, Dem, der ihn bisher in Allem nach seiner Willkür gelenkt, nun endlich den Meister zu zeigen.
So kam er nach Hause. Er fand sein Zimmer dunkel und kalt. Als er die Hängelampe angezündet hatte, sah er einen Zettel auf dem großen Reißbrett liegen. Seine Wirthin theilte ihm darin mit, daß sie zu einer plötzlich erkrankten Freundin habe gehen müssen. In der Küche sei indessen Alles für das Abendessen bereit gestellt.
Er wußte kaum, was er gelesen. Mit schweren, gleichmäßigen Schritten, ohne nur den Mantel abzuwerfen, ging er im Zimmer auf und ab, die Arme über der Brust gekreuzt. Da hörte er Eduard's Schritt draußen auf der Treppe, und ein heftiges Zittern überfiel ihn. Als die Klingel ertönte, schüttelte er diese Schwäche entschlossen ab und ging, dem Ankömmling zu öffnen.
Er bot ihm aber nicht wie sonst die Hand. Auch Eduard schien in so tiefe Gedanken versunken, daß er mit einem kurzen Guten Abend, Hans! an ihm vorüberging. Er machte ein paar Bemerkungen über das schlimme Wetter und warf sich, da Jonathan stumm blieb, in seine gewohnte Sophaecke.
Er war ganz schwarz gekleidet, wie wenn er aus einer Gesellschaft käme, was die Weiße seiner Haut und seinen schlanken Wuchs aufs Vortheilhafteste hob. Auf seine bleiche, feingewölbte Stirn fiel der Lampenschein, und die schöngeschnittenen Augen leuchteten um so geheimnißvoller unter den zarten Brauen hervor. Langsam zog er die Handschuhe von den schmalen Fingern und strich sich durch das Haar, das Wind und Schnee durchsaust hatten.
Du scheinst nicht gut aufgelegt, Hans, sagte er nach einer Weile. Nun, so haben wir uns heute nichts vorzuwerfen. Auch ich bin in einer nichtswürdigen Stimmung, und habe leider nur allzu guten Grund dazu!
Jonathan, noch immer im Mantel, saß auf dem Zeichentisch und erwiderte kein Wort.
Es ist kalt hier, fuhr der Andere fort. Aber laß gut sein, fürs Erste ist es mir lieber so, da Alles in mir glüht und kocht, wie wenn ich eine kleine Hölle in mir trüge. Man hat mir freilich tüchtig eingeheizt. Und solche Stunden, die über unser ganzes Leben entscheiden –
Aber du fragst gar nicht, wo ich war und was mir zugestoßen ist. Nun, selbst wenn ich nicht wüßte, daß du es brüderlich mit mir meinst, ich müßte jetzt mein Herz vor irgend einem Wesen ausschütten, das ein Menschenantlitz trägt. Aber ruhig, ruhig! So wenig episches Talent ich habe, ich will doch versuchen, mit dem Anfang anzufangen.
Zwar, den kann ich uns schenken, der liegt vor der Pariser Reise und ist dir wie mir bekannt. Wie ich dann zurückkam und hörte, das gute Kind, das einen Narren an mir gefressen, habe sich inzwischen zur Vernunft bekehrt und sei eine glückliche Braut – ich kann dich versichern, Hans, meine Eitelkeit war nicht im Mindesten gekränkt. Ich machte ihr meine Gratulationsvisite ohne allen Neid auf den goldenen Esel, den sie mir vorgezogen, damals merkte ich auch nicht, daß noch ein Funken unter der Asche glimmte. Sie zeigte mir mit einem Erröthen, das ich für eine jungfräuliche Wallung nahm, ihre schöne Ausstattung, sehr viel spitzenbesetzte Wäsche und kostbare Geschenke ihres Bräutigams. Wir sprachen von Paris – sie erkundigte sich theilnehmend nach meiner Dichterei – die ganze Frohne war in fünfzehn Minuten vollbracht.
Seitdem kam sie mir völlig aus den Augen. Einmal, wie du weißt, war ich zu Tische geladen und ließ absagen, dem fünften Akt zu Liebe. Bei den ferneren geselligen Herrlichkeiten in ihrem Hause wurde ich regelmäßig übergangen und fand das auch ganz in der Ordnung.
Doch war's in den letzten Wochen still geworden mit Soiréen und großen Abfütterungen. Fräulein Bettine sei leidend, hieß es. Der Papa ging mit sorgenvoller Miene herum, obwohl gerade jetzt die Geschäftslage brillanter ist, als jemals. Ich machte mir keine Gedanken darüber, ich hatte den Kopf von anderen Dingen voll. Aber in den letzten Tagen waren mir die Blicke auffallend, mit denen mein Principal mich musterte; dazu die Gespräche, die er mit mir vom Zaune brach. Ein paar Mal schien er im Begriff, mir irgend eine wichtige Eröffnung zu machen, schwieg aber immer wieder. Endlich, heut Nachmittag, wurde ich zu ihm beschieden –
Er war aufgesprungen, das Blut trat ihm in die Wangen, er fühlte sich sichtbar beklemmt durch das steinerne Schweigen des Freundes, dessen Augen nicht ein einziges Mal die seinen gesucht hatten.
Nun trat er vor ihn hin und legte ihm beide Hände auf die Schultern.
Sitz nicht da wie ein alter Höllenrichter, rief er, und laß mich einmal deine Stimme hören! Glaubst du, daß ich dir jetzt nicht tausendmal lieber beichtete, ich hätte die Kasse meines Principals angegriffen und das Geld in einer tollen Nacht verspielt, als daß ich dir mittheilen muß: Fräulein Bettine und Herr Eduard Vanesse – empfehlen sich als Verlobte?
Still! fuhr er fort, durch ein jähes Auffahren Jonathan' s erschreckt, der die beiden Hände des Freundes wie in einem unwillkürlichen Schauder abgeschüttelt hatte. Jetzt höre mich erst aus bis zum letzten Wort. Meinst du, ich wüßte nicht Alles, was sich von einem höheren und höchsten Standpunkt dagegen sagen läßt, daß man sich für ein ganzes Leben an ein Weib bindet, das man nicht liebt? Und doch – wenn du an meiner Stelle gewesen wärst, den Kummer des Vaters, die jammervollen Blicke der Mutter gesehen hättest, denen ihr Kind erklärt hatte: sie stürbe, wenn sie einem andern Manne, als Herrn Eduard Vanesse, angetraut würde, – o Jonathan, es giebt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere sittliche Weltanschauung sich träumen läßt!
Er hatte sich wieder auf das Sopha geworfen, die Füße heraufgezogen und lag in sich zusammengeschmiegt, die Stirn in die Hand vergraben.
Bist du zu Ende? hörte er endlich Jonathan sagen.
Mit der Hauptsache, ja. Denn dies Eine schließt alles noch Uebrige in sich. Die Hochzeit soll schon in sechs Wochen sein, sobald der Zustand des armen Dings es gestattet. Die Aerzte sind der Meinung, wenn das Gemüth erst beruhigt sei, werde das junge Blut sich bald wieder besänftigen. Ich avancire natürlich, vom Commis zum Compagnon. Mit wie süßsaurer Miene mein Herr Chef mir diese Eröffnung machte, kannst du denken. Zum Ersatz für das Opfer, das sein Stolz mir damit gebracht, hat er freilich ein anderes von mir gefordert, das mich tausendmal härter ankommt. Er verlangt nämlich – nun wirst du aus der Haut fahren, aber ich bitte dich, stelle dich auf seinen Standpunkt, auf den eines Menschen, für den alle neun Musen so wenig existiren, wie für dich der Courszettel, – kurz und gut, ich soll mein Stück zurückziehen und in Zukunft, wenn ich durchaus das Dichten nicht lassen könne, diese freie Kunst nur in camera caritatis exerciren, wie man allenfalls in seinen vier Wänden Klavier spielt, auch wenn man über ein tägliches Einkommen von tausend Mark verfügt.
Er wagte nicht Jonathan anzusehen. Der saß scheinbar zerstreut und gleichgültig immer noch auf dem Tische. Nur ein seltsames Spiel mit der Hängelampe, die er in eine schwingende Bewegung gebracht hatte, verrieth, daß Leben in ihm war.
Was sagst du dazu? fuhr Eduard fort. Unser Stück – unser Schmerzenskind – das endlich so weit gediehen ist, um sich sehen lassen zu können, – und nicht einmal davon hat er hören wollen, daß er es noch irgend einer kritischen Autorität vorlegen und nur, wenn das Urtheil zu meinen Gunsten ausfiele, die Aufführung ihren Gang gehen lassen sollte. Ich kann zu meinem Compagnon keinen jungen Mann brauchen, der mit Komödianten umgeht und sich von dem ersten besten Gassenjungen auspfeifen lassen muß. Das ist's, siehst du. Einen berühmten Dichter zu seinem Schwiegersohn zu haben, das würde am Ende seiner Eitelkeit schmeicheln, und er wäre reich genug, auch diesen Luxus sich zu gestatten, wenn auch geschäftlich Nichts dabei herauskommt. Aber einen Anfänger, der noch gründlich durchfallen kann – und mit einem Trauerspiel, das natürlich langweilig sein muß, – er würde in seiner Loge auf glühenden Nadeln sitzen! Die Tochter bat für das arme Stück, das sie schon unbesehens bewundert. Sie war wirklich liebenswürdig in ihrem Eifer, mir diesen Verzicht zu ersparen. Aber der Herr Papa blieb unerschütterlich. Und so –
Und so – kam ein dumpfer Laut aus Jonathan's schwerarbeitender Brust – so hast du – deine Seele – verkauft –
Hans! rief der Andere in großer Qual, ich beschwöre dich – bei Allem – was dir heilig ist.– laß nur du mich nicht im Stich – verstehe du mich wenigstens nicht falsch, wie so Viele thun werden – gieb nur du mich nicht auf, weil ich – zwischen zwei Pflichten eingeklemmt – die Erhaltung meiner selbst und die Rettung eines unglücklichen Mädchens, das ohne mich dahinstirbt –
Jonathan hatte das Spiel mit der Lampe scheinbar ruhig fortgesetzt. Doch immer heftiger wurden die Stöße, immer weiter der Bogen, den der leuchtende Pendel beschrieb. Er stieß dabei unverständliche Laute aus, und der Tisch schlitterte unter der Last seines schweren Körpers. Jetzt brach ein kurzes, rauhes Lachen von seinen Lippen.
Um Gottes Willen, Hans – was thust du? Was soll das mit der Lampe? Warum redest du nicht? Sage was du willst – schilt – fluche – tobe – nur das nicht – dies entsetzliche – bei unserer alten Freundschaft –
Reden soll ich? fuhr Jonathan plötzlich heraus. Nun denn, ich will reden – ich habe dir nicht Viel zu sagen – nur eine ganz kurze Frage – wenn du darauf eine Antwort hast, die mich zufriedenstellt – so heirathe Wen du willst – so werde was du magst –
Eine Frage? – welche Frage?
Die Lampe schwang sich immer gewaltsamer gegen die Decke.
Wenn diese deine Braut nicht reicher wäre, als die Tochter einer Wäscherin: würdest du es auch dann für deine Pflicht halten, ihr Leben zu retten um den Preis des deinigen, deiner Zukunft, deines Ruhmes, der Achtung aller guten Menschen und deines einzigen wahren Freundes? Antworte! – Antworte!! sag' ich: was ist aus Gesine geworden? Und wenn ich dir sage, daß auch sie ohne dich elend hinstirbt, was gedenkst du zu thun? Hörst du mich nicht? Sind dir auf einmal alle schönen Worte ausgegangen? Antworte – aber antworte gut! – oder so wahr ich dich einst geliebt habe, so wahr muß ich dir jetzt bekennen: daß du der ehrloseste, feigste, jämmerlichste Schurke bist, den der Erdboden trägt!
Ein gewaltiger Krach und Knall folgte auf dieses Wort. Die Lampe war, mit einem letzten sausenden Ruck gegen die Zimmerdecke geschleudert, in taufend Stücke zerschellt und augenblicklich erloschen. Man hörte in der plötzlich entstandenen Finsterniß das Oel auf den Tisch herabtropfen und leise die Ketten klirren, die nach der heftigen Erschütterung nur allmählich wieder zur Ruhe kamen.
Eduard war aufgesprungen, er stand zitternd an allen Gliedern mit verhaltenem Athem am Sopha, nach der Stelle hinspähend, wo die furchtbaren Worte hergekommen waren. Denn es dämmerte nur ein schwacher Schein von dem Schneehimmel draußen in die schwarze Nacht des Zimmers herein, aus welcher als eine dunkle Masse die Gestalt Jonathan's im Mantel vor ihm aufragte. Er rang nach Fassung, nach einem Wort, das ihm sein Selbstgefühl zurückgäbe nach diesem zerschmetternden Schlage. Endlich sagte er tonlos:
Du bist betrunken, Hans – oder toll! Willst du mich ruhig anhören? Hast du vergessen, daß ich dem Mädchen, das ich nicht für besonders tugendhaft hielt – und überhaupt, wenn du wüßtest, wie mir selber dabei zu Muth ist –
Er verstummte wieder. Dann hörte er plötzlich Jonathans Stimme, ganz kalt und gemessen:
Ich verbitte es mir, noch ferner Hans genannt zu werden. Es erinnert mich an Eine, an die ich jetzt – gerade jetzt – nicht denken darf, wenn ich nicht wirklich toll werden soll! Auch Die hab' ich geopfert – diesem – diesem – Nein, kein Wort mehr! Es ist aus. Ich bin bankerott – nun ja – aber der mich dahin gebracht hat, ist selbst so bettelarm an alle Dem, was ich zum Leben bedarf – Nichts, Nichts könnte er mir wiedergeben, wenn ich ihn auch vor Gericht schleppte. Und darum –
Ich glaube nun wirklich, daß du aus dem Fieber sprichst, stammelte der Andere, oder daß hier ein ungeheures Mißverständniß – laß uns nur zehn Minuten vernünftig reden – und vor Allem, zünde wieder Licht an, man sieht Gespenster in dieser egyptischen –
Still! unterbrach ihn Jonathan, mit so nachdrücklichem Ton, daß Eduard wieder in sich zusammensank. Es soll hier dunkel bleiben, denn ich will nie wieder dies Gesicht sehen, das mich so teuflisch betrogen hat. Es kocht etwas in mir – es ist besser, das wird nicht geschürt. Nur noch ein einziges Wort: willst du gut machen, was du an Gesine verbrochen hast?
Aber so nimm doch nur Vernunft an! flehte der Geängstigte. Sieh die Dinge, wie sie sind. Es mag ja sein, daß das gute Wesen sich allerlei in den Kopf gesetzt hat. Ich – das kann ich schwören – ich habe niemals – frage sie doch selbst, ob ich ihr irgend ein Versprechen –
Es ist gut! sagte Jonathan. (Eduard hörte, wie er von seinem Sitz auf dem Tisch sich erhob und sich schwerfällig auf seine Füße stellte.) Ich sehe, daß Nichts mehr zu retten ist, daß ich mich auf eine unerhört jämmerliche Weise in diesem Menschen geirrt habe. Ich hielt ihn für einen Ehrenmann – und er ist ein Schuft; für einen Künstler – und er ist ein engherziger Philister; für ein Wesen, das hoch über mir stünde, – und er ist so tief unter mir, daß es mich entehrt, ihn je geliebt zu haben. Ein Mensch, der dies Alles so klar einsieht, ist doch wohl über den Verdacht erhaben, als ob er den Verstand verlieren würde. Und doch – wenn ich denke, was ich ihm Alles geopfert habe, was für stolze Hoffnungen, welche Schätze von – still! Er ist schon eitel genug. Ich will ihm den Gefallen nicht thun, ihm vorzuwinseln, was dieser furchtbare Betrug mich kostet. Und übrigens – da er selbst sich hier noch immer wohl zu fühlen scheint – will ich ihm den Platz räumen und mir bessere Gesellschaft suchen!
*
Er war aus dem Zimmer gestürmt, die Treppe hinab, in die rauhe Nacht hinaus, und erst, als er den Wind spürte, der ihm einzelne eisige Tropfen gegen das heiße Gesicht trieb, kam es ihm vor, als ob er nun in Sicherheit wäre. Doch traute er dem Gefühl der Rettung noch nicht ganz. Immer noch horchte er zurück, ob ein wohlbekannter Fuß ihm nicht nacheilte, ein schmeichelnder Arm sich um seine Schultern legte. Nein, das sollte nie wieder geschehen! Dachte er jetzt daran zurück, so stieg ein tödtlicher Ekel in ihm auf, wie wenn Jemand von einer süßen Speise gegessen hat und erfährt, die Hand, die sie gekocht, sei mit Aussatz bedeckt gewesen. Er durchschritt das Thor und betrat die Lindenallee, die jetzt traurig kahl ihre verfrorenen Wipfel gegen den Nachthimmel streckte. Da ging er so vor sich hin, ohne ein Ziel, selbst ohne einem festen Gedanken nachzuhängen. So oft ein solcher auftauchen wollte, drängte er ihn gewaltsam in den Grund seiner Seele zurück. Nur das fühlte er, daß er nie elender, in allen Lebensgeistern herabgewürdigter, wunsch- und hoffnungsloser gewesen war. Ja er wunderte sich, daß überhaupt ein Mensch, dem so zu Muthe war, noch so richtig und schnurgerade einen Fuß vor den andern setzen könne. Ganz dunkel entsann er sich jenes Abends im Sommer, wo er denselben Weg gegangen war, und wohin der geführt hatte. Das schien ihm dann einen Augenblick unerhört spaßhaft, daß er damals einen Menschen aus dem Fluß gefischt, der ihn zum Dank dafür des Heiligsten beraubt, des Glaubens an Menschenwürde und an sein eigenes sicheres Gefühl, an die Untrüglichkeit seines Herzens. Doch schwand auch das wie ein Rauch, der im Winde zerflattert. Nur seltsam war es, daß er genau in denselben Feldweg einbog, der ihn damals an das Brückchen gelockt hatte. Es war noch hie und da in den nachbarlichen Gehöften Licht, die Hunde bellten – zum ersten Mal nach langer Zeit kam ihm die Erinnerung an den Getreuen, den er von sich gejagt. Ein Moloch! murrte er zwischen den Zähnen. Ein Moloch! – Wo mag das verstoßene Thier jetzt sein? Es hat natürlich längst den unmenschlichen Herrn vergessen, den wahnsinnigen, der Treue mit Schlägen lohnt und seinen eigenen Nacken den Geißelhieben der Tücke und Falschheit bietet. Vorwärts! Auch an diesem Memento vorbei! Nichts mehr denken, nicht zurück, nicht vorwärts! Wie aber wäre ein Zustand zu hoffen, der nicht durch die Erinnerung an diese Nacht vergiftet würde?
So war er an die Uferstelle gekommen, wo er damals geruht hatte. Er lehnte sich an den nassen, schwarzen Baum, der seine tausend Tropfen über ihn herabschüttelte. Den Brückensteg zur Linken sah er, das Flußbett zu seinen Füßen. Es war jetzt fest zugefroren. Aber in der Mitte hatte man ein viereckiges Loch gehauen, unter der starren Decke rauschte da die schwarze Flut, er hörte deutlich die geschäftig gurgelnden Töne – wie wär's, wenn er – ein Sprung hinein, und es riß ihn unaufhaltsam unter die schwere krystallene Sargdecke hinab – –
Wohl eine Viertelstunde stand er und brütete über dem Gedanken: ein Ende zu machen, dem Ekel, der ihn quälte, zu entrinnen, den Sohn seiner Mutter, der sich so weggeworfen hatte an das Unwürdige, so entehrt durch Anbetung eines armseligen Götzen, diesen hinfort nicht mehr Lebenswerthen und -fähigen auszustreichen aus der Liste der Lebendigen. In diesem Augenblick kam es ihm vor, als habe nie ein Sterblicher den Sprung in den Abgrund aller Räthsel gethan, der am diesseitigen Ufer weniger zurückgelassen hätte, als er. Wie er aber eben schon den Hut lüftete und den Mantel um die Brust lockerte, wie Jemand, der sich sprungbereit macht, sah er noch einmal nach dem Holzbrückchen hinauf, und plötzlich führte ihm eine scharfe Sinnestäuschung die helle Gestalt vor Augen, die damals dort am Geländer gelehnt und dann hinabgeglitten war. Da half der tiefe Abscheu, der ihn gegen jenen so lange Vergötterten nun ganz und gar erfüllte, ihm ins Leben zurück. Das nachthun, was er gethan! Es konnte nur eine That der elendesten Schwäche sein, da er sich dazu entschlossen hatte. Nein! Ins Leben zurück! Den harten Grund und Boden wieder fest unter die Füße genommen und seines Weges weiter gekeucht. Pfui, wenn man ihn eines Tages, nachdem das Eis zergangen, aus diesem Fluß heraufgeholt und er dann hätte denken dürfen, ihm sei das Leben zur Last gewesen, da er es nicht mehr mit ihm getheilt!
Er wickelte sich wieder fest in den Mantel und trat mit straffen Beinen auf. Da stieß sein Fuß unter der weichen Schneedecke auf etwas Hartes, das sich verschob. Er bückte sich gedankenlos danach, aber wie ward ihm, als er die kleine Pfeife in die Hand bekam, die er damals verloren! Hier hatte das alte Geräth die langen Monate überdauert, von Niemand entdeckt, und auf seinen Herrn gewartet. – Er stieß einen dumpfen Freudenruf aus, wie wenn er etwas Lebendiges wieder begrüßte, wischte Schnee und Erde sorgfältig ab und steckte die alte Freundin warm in seine Brusttasche. Dann verließ er das Ufer und schritt querfeldein nach der Stadt zurück. Als er sein Haus endlich wieder erreicht hatte, zauderte er eine Weile unten vor der Thür. Wie, wenn er sein Zimmer noch nicht leer fände, wenn etwa Der, dessen Gesicht er nie mehr sehen wollte, droben auf ihn gewartet hätte? Doch schämte er sich endlich seiner Feigheit und stieg mit so festen Schritten, als ob er nur eben von seinem Tagewerk zurückkehrte, die steile Treppe hinauf. Niemand wartete auf ihn. Auch seine Hausfrau war noch nicht zurückgekehrt. Er zündete eine Kerze an, und ehe er noch Hut und Mantel ablegte, machte er sich daran, die Scherben der zertrümmerten Lampe zusammenzusuchen und beiseit zu bringen. Als er den Zeichentisch, so gut es ging, von allen Spuren der Zerstörung gereinigt hatte, fing er an, seine triefenden Hüllen abzustreifen. Da zog er mit der wiedergefundenen Pfeife noch Etwas aus der Tasche, ein gedrucktes Heft in einem sauberen Umschlage. Es waren die Bedingungen zu jener Concurrenz, von der sein alter Director ihm gesprochen. Mechanisch las er die ersten Seiten. Auf einmal duldete es ihn nicht länger auf seinem Sitz. Er stand auf und ging eine Weile im Zimmer auf und ab, die Augen auf die Bilder an den Wänden geheftet. Wieder setzte er sich, las eine Strecke weiter, sprang wieder auf, und als er endlich auf diese wunderliche Weise bis an den Schluß gekommen war, stand er wohl eine Stunde lang unbeweglich mitten im Zimmer und starrte vor sich hin. Dann war es, wie wenn eine plötzliche Umwälzung seines inneren Menschen zu Stande gekommen wäre; er hob den Kopf mit einem kühnen, freudigen Ausdruck, wiegte beide Fäuste langsam vor der Brust, als schicke er sich an, eine große, gewichtige Last in Angriff zu nehmen, und ein Lächeln, wobei er ein wenig roth wurde, erschien einen Augenblick auf seinen Lippen. Darauf nahm er die Pfeife vom Tisch, ging nach dem Schrank in seiner Kammer, wo er im untersten Winkel noch ein Päckchen seines geliebten Varinas bewahrte, und fing an, sich sacht eine Pfeife zu stopfen, immer dazwischen absetzend und vor sich hin sinnend. Es schien ein wundervolles Gebilde, ein hohes und herrliches Traumgesicht ihm vorzuschweben. Die ganze übrige Welt war wie in einen bodenlosen Abgrund verschwunden, alle Qual dieser letzten finstern Stunden von ihm abgefallen.
Als um zehn Uhr die Wirthin bei ihm eintrat, fand sie ihn am Tische sitzend, in eine dicke Tabakswolke gehüllt, vor einem Reißbrett, auf dem ein großes, mit räthselhaften architektonischen Strichen bedecktes Blatt aufgespannt war. Er dampfte und strichelte eifrig weiter, ihren erstaunten Gruß nur mit einem Kopfnicken erwidernd. Erst als sie fragte, ob Herr Eduard dagewesen, sah er einen Augenblick auf und über das Blatt hinweg in die kleine Flamme der Kerze. Er ist fort, sagte er ruhig; er wird nicht wiederkommen, da er andere Geschäfte hat. Ich aber, Madame Groß – wenn Jemand nach mir fragen sollte – ich bin verreis't, hören Sie? Ich will Niemand sehen. Ihnen kann ich es ja sagen, daß ich eine große Arbeit vorhabe. Wenn sie nicht mißräth, kann ich mich noch einmal vor den Menschen sehen lassen.
*
Er schrieb am andern Morgen an seinen alten Freund, den Director, und bat, ihn von seinen Arbeiten für etliche Monate zu entbinden, da er sich an der Concurrenz zu betheiligen denke. Er habe einen guten Einfall für die Grundanlage gehabt, der sich bei näherem Studium als sehr fruchtbar erweise; jedenfalls denke er, seinem Meister keine Schande zu machen.
Der Alte schrieb zurück: er freue sich, daß er endlich den Muth seines Talentes gefunden habe. Er wünsche ihm Glück und hoffe, es werde etwas Schönes und Tüchtiges zu Stande kommen.
Noch eine andere Gewissenspflicht drückte ihn. Am Abend des folgenden Tages ging er schweren Herzens in das Haus der Frau Crusius. Er hatte sich vorgenommen, um jeden Preis ein Gespräch mit ihr zu erzwingen. Als man ihm dort sagte, sie sei mit der Gesine am frühen Morgen fortgereis't, man wisse nicht, wohin, wollte er diesem Bescheid nicht trauen. Er verlangte, durch alle Zimmer geführt zu werden. Erst als er nur zu deutlich die Spuren eines hastigen Aufbruchs wahrnahm, fand er sich in die traurige Gewißheit. Er schrieb seinen Namen auf und schärfte den Weibern, die dort nach wie vor arbeiteten, ein, ihn sofort zu benachrichtigen, wenn die Frau wiederkäme. Doch kam wochen- und monatelang keine Botschaft.
Von Eduard hatte er gleich am andern Morgen einen Brief erhalten. Es war ein sauber durchgearbeitetes Schriftstück, das kein Advocat geschickter hätte abfassen können. Jonathan las es von Anfang bis zu Ende mit so kaltem Auge, als wenn es in einer unverständlichen Sprache geschrieben wäre. Dann nahm er das Blatt, steckte es langsam in den Ofen und sagte der alten Aufwärterin, die auf Antwort wartete: Es sei gut. Sie möge Herrn Vanesse sagen, daß er heut verreise und nicht wisse, wann er wiederkomme.
Er setzte sich dann wieder an die Zeichnung und war fleißig bis in die sinkende Nacht.
Auch hatte er freilich keine Zeit zu vergeuden, wenn er den Termin einhalten wollte, der in den Anfang des April fiel. Nur zwischen Abend und Nacht gönnte er sich eine Stunde, die er vor dem Thore verschlenderte, es mochte Wetter sein, welches es wollte. Manchmal, wenn er nach Hause kam, mußte er es dann noch dulden, daß seine Wirthin, während sie die Lampe anzündete, ihn ein Weilchen unterhielt. Sie war Anfangs untröstlich gewesen, daß Herr Eduard, den sie heimlich vergötterte, sich nicht mehr blicken ließ. Jonathan, als er nicht mehr ausweichen konnte, hatte ihr gesagt, sein Freund mache eine sehr reiche Partie; da er in diese Kreise nicht hineinpasse, überdies seine Zeit zu Rathe halten müsse, hätten sie sich verständigt, den Verkehr einstweilen aufzuheben. Die kluge Frau that, als ob sie dies für baare Münze nähme, ließ auch in Zukunft ihren Miether mit seinem räthselhaften Freunde unbehelligt. Nur als die Hochzeit, von der die ganze Stadt sprach, gefeiert wurde, konnte sie sich nicht enthalten, am Abend ihrem Herzen darüber Luft zu machen, ein wie ungleiches Paar da wieder einmal vor den Altar getreten sei. Sie war natürlich in der Kirche gewesen, früh genug, um einen Platz zu finden, von dem aus sie den Putz der Braut aufs Genaueste studiren konnte. An dem sei nun freilich Nichts auszusetzen gewesen, aber du gerechter Gott! welch ein garstiges Schätzchen habe in den Brüsseler Spitzen gesteckt und die schönsten und blanksten Perlen um das dünne Hälschen getragen, während er neben ihr gestanden hätte schön wie ein junger Gott, und so ritterlich, als ob er ein Prinz sei, der aus Gnade und Barmherzigkeit eine Gänsemagd auf seinen Thron höbe! Einmal hätte er, indem er ruhig die gedrängte Menge umher betrachtete, auch sie entdeckt, und sie habe deutlich gesehen, daß er etwas röther geworden sei und die feinen Augenbrauen zusammengezogen habe. Das sei aber vergangen, wie ein Blitz. Nun, er müsse wohl wissen, was er thue; vielleicht sei die junge Frau von einer guten Gemüthsart, so daß er sich, zu ihren Millionen, eine solche Lebensgefährtin wohl gefallen lassen könne. Ob er denn aber Herrn Jonathan überhaupt nicht zur Hochzeit geladen, oder Der nur es vorgezogen habe, wie ein Bär in seiner Höhle zu hocken?
Da brummte Jonathan, der alles Uebrige trübsinnig mit angehört, mit einem wunderlichen stillen Lächeln und sagte: in Wasserstiefeln tanze man auf keiner Hochzeit. Darauf steckte er die Pfeife wieder an, die inzwischen ausgegangen war, und malte weiter an dem schönen großen Blatt, das einen Durchschnitt des Hauptgebäudes zeigte, mit dem Festsaal und den Nebenräumen, durch allerlei Galerieen so geschickt mit dem Bahnhof verbunden und zugleich von ihm getrennt, daß beide Zwecke, denen der Bau dienen sollte, ohne jede Störung sich mit einander vertrugen. Hier hatte er nun auch die Gelegenheit wahrgenommen, seiner besonderen Leidenschaft für freie und kühne Deckenconstructionen zu fröhnen. Er that dies um so ungebundener, als er von Anfang an nur sehr schüchtern die Hoffnung gehegt hatte, sein Plan werde gekrönt und die Ausführung ihm übertragen werden. Er fühlte aber eine hohe und reinigende Kraft in dieser Arbeit, die Alles, was an Gaben und Kenntnissen in ihm war, auf Einen Punkt sammelte und seinem schwer gedemüthigten inneren Menschen ein Gefühl seines eigenen Werthes gab, wie er es sich nie zuvor beizumessen gewagt hatte. Nur der Gedanke an Gesine verbitterte ihm dies einsame Glück, sich selbst gefunden, sich gleichsam entdeckt zu haben. Doch sobald er die Hände wieder frei habe, wollte er Alles daran setzen, ihre verlorene Spur wieder aufzufinden.
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Dies wurde ihm nun freilich durch ein unverhofftes Geschick vereitelt.
Sein Plan wurde nicht nur unbedingt als der glücklichste und schönste anerkannt und mit dem ersten Preise belohnt; er erhielt auch den Auftrag, sofort ans Werk zu gehen und dasselbe mit Aufbietung aller Kraft so rasch zu fördern, daß in Jahr und Tag der gewaltige neue Bau dem Betrieb übergeben werden könne.
Wenn er hierüber, wie billig, eine Freude empfand, die Balsam genug in sich barg, um sein schwerverwundetes Gemüth nach und nach zu heilen, so gab es doch zwei Menschen, die seinen Sieg als einen eigenen Triumph genossen und so viel Wesens davon machten, wie er selbst in seiner schlichten Art es nie vermocht hätte. Dies waren die gute Madame Groß, die behauptete, ihren bescheidenen Miether stets für ein großes Licht gehalten zu haben, das nur leider eine Leidenschaft dafür habe, sich selbst unter jeden ersten besten Scheffel zu verkriechen, und der alte Baudirector, der unsern Freund als seinen Schüler und Erben seiner künstlerischen Grundsätze betrachtete und den neuen Bau halb und halb als sein eigen Werk. Es war ein rührendes Schauspiel, wie der alte Mann sich förmlich bei dem jüngeren als erster Arbeiter und Gehülfe anstellen ließ und all seine Kraft und mannichfachen Verbindungen anspannte, um das Gedeihen des großen Unternehmens zu fördern. Daß er dabei im Stillen hin und wieder einen Blick auf seine beiden herangewachsenen Töchter warf, wie auch Madame Groß ihre Mühmchen und Bäschen von Neuem musterte, so oft die Rede auf Herrn Jonathan kam, wird im Uebrigen die Lauterkeit ihrer Gesinnungen nicht verdächtigen. Der, den alle diese frommen Wünsche betrafen, merkte nach wie vor nicht das Mindeste und hatte jetzt triftige Gründe genug in dem Drang und der Fülle von Arbeit, um jeder geselligen Lockung auszuweichen.
An solcher fehlte es auch von anderer Seite nicht, da das große Bauwerk Monate lang das Hauptgespräch in der Stadt bildete und Jonathan's Name auf Aller Lippen war. Desto weniger wurde seines David's gedacht, nachdem die rasche Carrière des schönen Jünglings vom Commis zum Krösus und sein plötzlicher Bruch mit der tragischen Muse ein paar Wochen lang zu reden gegeben hatte. Er war gleich nach der Hochzeit abgereis't und wollte das erste Jahr seiner Ehe in Italien verleben. So konnte der große Hans sein großes Werk betreiben, ohne daß ihm je das Gespenst jenes so kläglich zertrümmerten Ideals den Weg gekreuzt hätte.
Der arbeitsame Sommer verging wie im Fluge, der Herbst sah die stattlichen Hallenmauern bereits unter Dach, und da ein gelinder Winter folgte, konnte im Innern ohne Hemmung fortgearbeitet werden. So geschah, was Niemand für möglich gehalten: der Juni war kaum zur Hälfte verstrichen, und schon durfte an die Einweihung des Gebäudes gedacht werden.
Diese nun und das Fest, durch welches sie gefeiert werden sollte, hatte dem jungen Architekten schon seit Wochen als ein Angstbild vor Augen gestanden. So unerschrocken und kühl er sich als Anführer seines ganzen großen Heeres von Arbeitern betrug, so unfähig fühlte er sich, dem Kreuzfeuer von etlichen hundert müßigen Augen Stand zu halten, und nahm es sich durchaus nicht übel, daß er sich im letzten Augenblick durch eine Kriegslist aus der Affaire zu ziehen gedachte. Um diese wahrscheinlicher zu machen, hatte er hin und wieder mit Erröthen davon gesprochen, daß er sich nun wirklich einen Frack bestellt und eine weiße Halsbinde angeschafft habe. Diese feierlichen Zeugen seines guten Willens lagen denn auch an jenem Mittage, wo das Fest in dem prachtvoll geschmückten neuen Saal von Statten gehen sollte, nebst dem anderen Apparat eines Helden des Tages sorgfältig geordnet auf dem Zeichentisch, der fahnenflüchtige Held selbst aber hatte sich auf das Sopha gestreckt und ein nasses Handtuch um seine Stirn gewickelt, nachdem er seinem alten Gönner geschrieben hatte, der Kopf wolle ihm vor Schmerz zerspringen, er möge ihn um Gotteswillen entschuldigen, wenn er erst später oder gar nicht bei dem heutigen Fest erscheine.
Dieses listige diplomatische Nötchen, auf dessen scheinbar so höchst unschuldige Miene sich der Verfasser nicht wenig zu Gute that, war noch keine halbe Stunde expedirt, als es draußen auf der Treppe laut wurde und gleich darauf der alte Baudirector in voller Gala hereinpolterte. Er erklärte mit unwiderstehlicher Gelassenheit, das feuchte Tuch sei nichts Anderes als die decorative Verkleidung einer sehr schwachgestützten Construction. Er lasse sich von solchem Blendwerk nicht täuschen, werde vielmehr nicht vom Flecke weichen, bis Jonathan sich ermannt und zum Ueberstehen dieser ehrenvollen Unbequemlichkeit gerüstet habe. Sie sollen mit keinem Frauenzimmerschnack behelligt werden; Sie sitzen zwischen mir und dem Polizeipräsidenten, der bekanntlich nie eine Silbe spricht, sondern nur immer ißt und hört. Gegenüber steht ein stummer Tafelaufsatz mit Blumen; einen Wall von Champagnerflaschen werde ich rechts und links von Ihnen aufpflanzen. So bleiben Sie ganz unangefochten, wie wenn Sie das Getümmel hier aus Ihrer Stube mitansähen. Wenn man Sie etwa antoasten sollte, gebe ich Ihnen mein heiliges Wort, daß ich für Sie antworten will. Ich werde dann so beweglich die Lage schildern, in der ich Sie hier angetroffen, daß die Damen ihre Schnupftücher so naß weinen sollen, wie dort das Handtuch. Und Böses will ich Ihnen nachsagen, daß selbst die anspruchsvollste Bescheidenheit nicht Mehr verlangen kann.
Dieser Ueberrumpelung war kein Widerstand entgegenzusetzen. Seufzend und bleich, wie ein armer Sünder, der vor seinem letzten Gang jene oft beschriebene schauerliche Toilette macht, warf sich Jonathan in die ungewohnten Kleider, die er nicht einmal vorher probirt hatte, und ließ sich von seinem alten Mentor willenlos nach der Stätte führen, wo er jeden Stein kannte und wo heute ihn Alles so fremd und unheimlich ansah, als hätten feindliche Geister dies Zauberschloß über Nacht aus dem Boden wachsen lassen.
Das Fest hatte schon begonnen, als sie in die Halle traten. An fünf langen Tischen saß Alles, was in der Stadt Anspruch darauf machen konnte, bei öffentlichen Anlässen mit dazugerechnet zu werden. Die Herren trugen Uniformen oder sonstige Feierkleider, die Damen ihren schönsten Staat. Manches helle und dunkle Frauenauge richtete sich auf den großen, breitschulterigen jungen Mann, der als ein Nachzügler mit gesenktem Haupt durch die schimmernde Tafelgasse schritt, hinter dem kleinen fröhlichen Alten, der geradewegs auf seinen Sitz am mittleren Tisch zusteuerte. Hier war es wirklich, wie er es dem störrischen Einsiedler versprochen hatte. Als sie Platz genommen, versank Alles um ihn her, wie hinter den Wänden einer friedlichen Bucht, und wer nöthigte ihn, zwischen dem blinkenden Krystall, den Blumen und silbernen Confectschalen hindurchzuschielen, um irgend einem Blick zu begegnen, der etwa auf ihm ruhte? Nur zuweilen, wenn der Lärm der Tafelmusik ihn plötzlich aus seinen Gedanken aufschreckte, ließ er seine Augen an der hohen Decke des Saales herumgehen, die sein Liebling war. Dann überschlich ihn ein warmes Gefühl des Geglückten, Reinverkörperten, das seinen Träumen entsprossen, und eine große Stille durchdrang ihn, ein Hauch jenes Genügens, das den seligen Göttern nachgerühmt wird. Er fand, daß er seine Schuldigkeit gethan, ein Zeugniß seines Wesens rein und unverfälscht vor aller Welt aufgerichtet hatte. So genoß er, der Mäßige und Unverwöhnte, all die feinen Gerichte und edlen Weine mit einem seltsamen Vergnügen, wie wenn er, in ein fremdes Land verschlagen, dort an einer Königstafel ganz befremdliche Leckerbissen aufgetischt bekäme. Kein Wort sprach er mit seinen Nachbarn. Doch nahm er aus dem Strauß in der Mitte der Tafel in einem unbewachten Augenblick eine große gelbe Rose, an der er fleißig roch und sie dann wieder in sein Wasserglas stellte. Es wurde ihm mehr und mehr behaglich, je harmloser und unzudringlicher diese gefürchtete Festlichkeit verlief.
Auch etliche Reden waren schon gehalten und mit großem Zujauchzen und musikalischem Tusch aufgenommen worden; der Landesherr, die Stadt, das Comité, das aus reichen heimischen und auswärtigen Geldmännern bestand, – Alle hatten schon ihren Dank geerntet, und Jonathan überlegte eben, ob es gerathen sei, sich auf das Versprechen seines alten Gönners zu verlassen, oder auf französisch fortzuschleichen, ehe das Aergste einträte und er selbst zum Gegenstande einer Huldigung gemacht würde. Da entstand plötzlich, wie auf einen Zauberschlag, so lebhaft der Wein auch schon die Zungen befeuerte, eine fast lautlose Stille. Aller Augen richteten sich auf einen Redner, der am Tische hinter Jonathan unter den Mitgliedern des Comités aufgestanden war. Auch der Baudirector hatte seinen Stuhl gerückt und sich umgedreht. Bloß Jonathan, von unheimlicher Ahnung ergriffen, starrte nur fester auf seinen Teller.
Und horch, da begann eine Stimme, die ihm plötzlich bis an den tiefsten Sitz seines Lebens drang, eine wohlbekannte, einschmeichelnde Stimme, ein Gedicht zu recitiren, in schönen achtzeiligen Strophen, zum Lobe der Kunst, die diese herrlichen Räume geschaffen, die das Nützliche und Nothwendige durch den Zauber des Maßes und Einklangs zu adeln gewußt habe, und was der volltönenden Worte mehr waren. Sie waren nicht schlecht gewählt und hätten wohl auch vor nüchternen Ohren Gnade gefunden. Besonders glücklich aber erschien Allen der Uebergang von der Kunst zu dem Künstler selbst, der mit wenigen Zügen in seiner genialen Seltsamkeit so treffend geschildert war, daß hie und da ein Lächeln aufblitzte, aber sofort wieder erlosch, da dieser Eingang nur dazu dienen sollte, den hohen Flug, den dieser schlichte Wanderer auf einmal entfaltet, um so überraschender darzustellen. Mehrere Ausdrücke trafen so sehr die Gesinnung der Anwesenden und ihre Stimmung gegenüber dem scheuen Hochbegabten, dessen Werk sie hier bestaunten, daß ein Beifallsgewitter losbrach, welches den Sturm der Musik weit übertönte.
Wie verschüttet unter dem Ausbruch eines Vulkans saß Der, dem all dieser Jubel galt; tief auf sein Glas herabgebückt, die geschlossenen Augen gegen die Rose gedrückt, das Gesicht über und über glühend vor Scham und Verwirrung, das Herz gepeinigt von den alten schauerlichen Schmerzen, die er längst überwunden glaubte. Diese Stimme an diesem Tage hören zu müssen, sein Lob, das Lob der Kunst und alles Hohen und Erhabenen von Lippen, die den eigenen Idealen abgeschworen hatten, Gönnerblicke erdulden zu müssen von einem Armseligen, den er so tief und bitter verachtete, – es riß und wühlte an seiner Seele, es folterte sein Gehirn – er verwünschte seine Schwäche, daß er sich hieher hatte locken lassen, – hundert Gedanken, wie er entrinnen könne, kreuzten sich vor seiner Phantasie – da – da hört er diese Stimme wieder – jetzt dicht hinter seinem Stuhl – die Hand des Alten legt sich auf seinen Arm, und er hört ihn flüstern: Sie müssen durchaus sich jetzt umwenden, lieber Jonathan – es hilft nichts – zu reden brauchen Sie nichts – aber ablehnen, was Ihnen so freundlich dargeboten wird –
Er richtete sich wie ein Gelähmter von seinem Stuhle auf und sah sich um. Vor ihm stand Eduard. In seiner rechten Hand trug er einen bis zum Rand gefüllten schlanken goldenen Becher, in der linken einen Lorbeerzweig. Die schönen Augen und Lippen lächelten, das Gesicht trug nicht die leiseste Spur von Befangenheit, kein Schatten der Erinnerung trübte diese weiße Stirn. Er trat Jonathan entgegen wie ein Reicher, der einem Armen ein großes Glück zu bescheren vermag und sich im Voraus an dessen Freude weidet. Mit seiner melodischen Stimme sprach er jetzt die letzte Strophe des Gedichts, die Widmung dieser Ehrengabe an den Künstler, die ihm aus der Hand der Freundschaft entgegengebracht werde. Als er die letzte Zeile gesprochen, berührte er den Kelch mit seinen Lippen und reichte ihn dann in seiner ganzen strahlenden Anmuth dem Versteinerten. Der hatte, da er kaum gesehen, wer vor ihn hingetreten, die Augen starr wieder auf den Boden geheftet, sein Haupt umkreis'te in tollem Tanz das Bild dieses Saales – sein Blick verdunkelte sich – er hörte nur verworren den unermeßlichen Lärm von Beifall und Zurufen, der den Saal durchbrauste, da wichen die Kniee unter ihm – die Hand zitterte heftig, die er abwehrend gegen den Becher ausgestreckt hatte, was Alle als eine Geberde der Bescheidenheit deuteten, – und plötzlich mit einem schweren Fall, den Becher heftig von sich schleudernd, daß der gelbe Wein weit über den Fußboden hinfloß, stürzte er in Ohnmacht hin, wie wenn ein Blitz ihn niedergeschmettert hätte.
*
Am folgenden Tage brachte das Localblatt der Stadt einen Festbericht, der drei Spalten füllte, sämmtliche Reden wörtlich wiedergab und an die »schwungvollen Strophen«, die den Architekten gefeiert hatten, folgende Betrachtungen knüpfte: »Wieder einmal hat es sich bewährt, daß die Furcht vor der Freude kein Aberglauben ist, daß ein Uebermaß des Glückes dem Menschen so verhängnißvoll werden kann, wie ein plötzlich auf ihn eindringendes ungeheures Unglück. Der junge Künstler, als ihm nach langer Dunkelheit plötzlich in blendendem Glanze der Ruhm entgegentrat, zu dessen Herold sich die Freundschaft selbst erboten hatte, wurde von der Größe des Moments überwältigt und verlor das Bewußtsein. Herr Eduard Vanesse, der eigens zu diesem Zweck seine Rückkehr aus Italien beschleunigt hatte, um seinem Jonathan als getreuer David an diesem Ehrentage ein begeistertes Wort zuzurufen, ließ es sich nicht nehmen, den Ohnmächtigen in seinem eigenen Wagen nach Hause zu geleiten. Ein schnell herbeigerufener Arzt erklärte den Anfall für ungefährlich, mit welcher Botschaft der Zurückkehrende die gedrückte Stimmung der Festgenossen verscheuchte, so daß nun bis an den frühen Morgen bei den Klängen der Musik in den herrlichen neuen Räumen Jugend und Frohsinn ihr Recht in Anspruch nehmen konnten....«
*
Diese Probe der mythenbildenden journalistischen Muse hob Madame Groß, sorgfältig rothangestrichen, für ihren Patienten auf, zumal noch allerlei Schmeichelhaftes über sein Werk vorausgeschickt war. Doch wollte weder bei ihr selbst, noch bei dem Arzt die gedrückte Stimmung so hurtig schwinden, wie unter der tanzbegierigen Gesellschaft jenes Sommerfestes. Wohl war das Bewußtsein des Kranken bald wieder zurückgekehrt, doch wie mit einem Nebel übersponnen, der ihm zumal die Gestalten der Vergangenheit fast völlig entzog und den Antheil am Gegenwärtigen lähmte. Stundenlang in der Nacht phantasierte er; der halbe Platen strömte dann von seinen Lippen, daß seine treue Pflegerin so andächtig wie in der Kirche an seinem Bette saß. Das währte vier lange Wochen, in denen er keine Silbe sprach, die eine klare Empfindung seines Zustandes verrieth. Als er die erste Nacht wieder tief und traumlos durchschlafen hatte und sich im Morgengrauen verwundert im Zimmer umsah, blieben seine Augen an dem goldenen Becher haften, der seinem Bette gerade gegenüber auf ein Tischchen gestellt worden war. Er betrachtete das schöne Gefäß, dessen geringe Beschädigungen durch den Fall sofort ausgebessert worden waren, mit einem seltsam gespannten Blick, der sich immer feindlicher und drohender schärfte. Zuletzt machte er eine Bewegung mit der Hand, um anzudeuten, daß man den Pokal ihm aus den Augen schaffen möge, was die gute Frau mit heimlichem Kopfschütteln alsbald ausführte. Sie hatte gedacht, ihn gerade an den rechten Platz zu stellen. Und freilich war es ihr dadurch gelungen, das Band zu sprengen, das die Besinnung des Kranken gefesselt gehalten. Er lag ein paar Stunden ganz still, mit ruhig nach innen gekehrtem Blick, und nach und nach schien Ordnung in seine verstörten Gedanken zurückzukehren. Seitdem machte die Besserung stetig Fortschritte. Am dritten Tage konnte er eine Stunde am Fenster sitzen und in die sommerliche Landschaft hinausschauen. Er war sehr still und weich, drückte der Wirthin öfters die Hand und bat sie, ihm etwas zu erzählen, was er dann mit geschlossenen Augen anhörte. Sie berichtete ihm getreulich, wer alles sich nach ihm erkundigt habe. Der Herr Vanesse habe täglich seinen Bedienten in der schönen Livree geschickt, der Herr Baudirector sei Tag um Tag selbst die hohen Treppen hinaufgestiegen, seine Arbeiter sogar hätten alle Augenblicke bei ihr angefragt. Auch der kleine Fritz von der Frau Crusius –
Der vor sich hin Träumende wandte das Gesicht plötzlich nach dem Fenster. Liebe Madame Groß, sagte er mit unsicherer Stimme, wissen Sie, wie es dort steht – ich meine, was die gute Frau – ich habe so lange nichts mehr von ihr gehört –
Sie haben auch nicht viel daran verloren, Herr Jonathan, versetzte die Frau kopfschüttelnd. Man spricht nicht gern davon – es wissen's nur Wenige, aber immer noch zu Viele. Nein, wer mir das noch vor Jahr und Tag gesagt hätte! – ein so verständiges und anständiges Mädchen, die Gesine, eine rechte Stütze ihrer Mutter und fleißig und eingezogen – aber man sieht Niemandem ins Herz, und Jugend hat nun einmal keine Tugend. Sie werden es nicht weitersagen, Herr Jonathan, aber ich hab' es von einer ganz zuverlässigen Person: es ist da ein Unglück geschehen, und sie kann noch von Glück sagen, daß das schreiende Zeugniß nicht die erste Stunde überlebt hat und Niemand weiß, was der kleine Hügel auf dem Dorftkirchhof zudeckt. Seitdem ist sie wieder bei der Mutter in der Stadt, aber sie kommt nie ans Tageslicht, sie glaubt, hat die Mutter, meine alte Gefreundete, mir selbst gesagt, sie sei nicht werth, daß die Sonne sie bescheine. Und doch, wenn sie nur reden wollte, – ein Gewisser, den sie nicht nennen will, gäbe einen großen Haufen Geld darum, ihr wieder den Mund zu verschließen. O lieber Herr Jonathan, es sind nicht alle jungen Leute so brav wie Sie, das hab' ich erst gestern meiner Frau Base gesagt, die auch mit ihren beiden Töchtern keine ruhige Stunde gehabt haben, bis Sie wieder aus der Gefahr waren.
Jonathan schwieg. Sein Gesicht, das während dieser Mittheilung sich dunkel geröthet hatte, war wieder todtenblaß geworden. Er gab zu verstehen, daß er allein sein wolle, und saß dann noch eine Stunde lang auf demselben Fleck, immer auf die Wiese hinunterblickend, auf die er damals den Ring mit dem rothen Stein hinabgeworfen hatte. Am andern Tage aber war er ganz heiter, aß und trank wieder, und seine Kräfte wuchsen so rasch, daß schon nach einer Woche der Arzt ihm den ersten Ausgang erlaubte.
Seine Wirthin erbot sich, ihn zu begleiten, da er doch noch schwach sei und vielleicht einer Stütze bedürfe. Er aber lehnte es mit freundlicher Entschiedenheit ab und ließ sich auch beim Anziehen nicht mehr helfen. Den neuen schwarzen Rock hatte er sich bringen lassen und die feinen Stiefel, worüber Madame Groß sich verwunderte, da sie wußte, wie viel er auf seine Joppe und die Kniestiefel hielt. Noch mehr befremdete es sie, als sie ihm aus dem Fenster nachsah, daß er nicht durch das nahe Stadtthor ins Freie ging, wie der Doctor ihm gerathen hatte, sondern um die Ecke bog und in die Stadt hinein wandelte. Sein Gang war noch unsicher; die freie Luft machte ihn ein wenig taumeln wie ein starker Wein. Doch nahm er sich zusammen und blieb nur manchmal auf seinen Stock gestützt stehen, um seine fliegenden Pulse zu beruhigen.
Wie hätte die gute Frau erst gestaunt, wenn sie ihn die drei Treppen hätte hinaufklimmen sehen, die zur Wohnung der Frau Crusius führten. Auch war seine Kraft gänzlich erschöpft, als er oben die Klingel zog. Da es die Mittagszeit war, öffnete die Frau ihm selbst, deren Gehülfinnen sämmtlich weggegangen waren. Als sie sein blasses Gesicht sah, erschrak sie sehr, hatte aber nicht den Muth, ihn abzuweisen, und so gingen sie schweigend mit einander in die große Stube, wo er sich sogleich mit einer verlegenen Entschuldigung, daß er sie zu stören wage, auf einen Stuhl warf. Er konnte von da in die Kammer nebenan sehen, deren Thür halb offen stand. Da sah er am Fenster vor einem Nähtischchen den Karyatidenkopf über eine Arbeit gebeugt, und sah gleich wieder weg, indem er mit einer Scheere spielte, die auf dem Tische lag. Die Frau hatte sich auf das Sopha gesetzt, es blieb eine Weile so still, daß man eine fallende Nadel hätte hören können. Dann faßte sich die Frau zuerst und fragte nach seinem Befinden. – Wie sie sehe, erwiderte er und versuchte zu lächeln, wobei er aber die Augenbrauen zusammenzog, gehe es wieder recht erträglich, bis auf einen Rest von Schwäche. Den aber hoffe er auch in Kurzem abzuschütteln, denn er habe jetzt keine Zeit zu einer langwierigen Reconvalescenz, er müsse an die Arbeit. Während er noch krank gelegen, sei eine schriftliche Anfrage an ihn geschehen, ob er die Stelle eines Stadtbaumeisters in der Hauptstadt der benachbarten Provinz annehmen wolle. Dahin müsse er schon in den nächsten Tagen reisen, um Alles persönlich abzumachen, und habe nur vorher noch kommen wollen, um Abschied zu nehmen, und – hier stockte er wieder und klirrte mit der Scheere gegen den Tisch, bis er sie plötzlich hinlegte und mit sichtlicher Mühe fragte, ob er mit Fräulein Gesine nicht ein Wort unter vier Augen reden dürfe. Ohne die Antwort abzuwarten, stand er auf und trat in die Kammer, deren Thür er leise nachzog, doch so, daß sie nicht ganz geschlossen wurde.
Das stille Gesicht am Fenster bückte sich tiefer auf die Arbeit. Er konnte die Züge, da das Licht draußen nur die Umrisse markirte, nicht sogleich deutlich erkennen, doch schien ihm dies Schattenbild nach der langen Entbehrung doppelt schön, und das Herz schlug ihm heftig von stürmischer Bewegung.
Gesine, sagte er, ich muß fort von hier. Wir haben uns lange nicht gesehen – es ist mir hart genug angekommen – soll das nun wieder so werden? Ich – ich kann mir nicht denken, wie ich es ertragen sollte.
Ihr Kinn war ganz auf die Brust gesunken, ihre breiten Augenlider hatten sich geschlossen, die Hände lagen müßig im Schooß.
Sie haben mir einmal gesagt, Gesine, fuhr er leiser fort, Sie könnten mir recht von Herzen gut sein. Ich habe nie begriffen, wie Sie dazu kamen – und dann – dann hab' ich mich so ungeschickt und feige aufgeführt, daß Sie mich hassen mußten. Aber ich brauche es zum Leben, Gesine, daß Sie mir ein wenig gut sind – nein, ich kann mir keine Zukunft mehr denken – keine ruhige und zufriedene Stunde, wenn Sie es nicht wieder übers Herz bringen, mir gut zu sein. Und darum – wenn Sie sich entschließen können, Alles, was hinter uns liegt, in einen Abgrund zu versenken –
Sie fuhr zusammen und sah plötzlich auf. In ihren Zügen lag eine tödtliche Angst. O mein Gott! hauchte sie – ich – mich entschließen? Und Sie – aber Sie wissen ja – Sie wissen Alles – und können davon reden? – Ob ich mich entschließen will? Was vermag da der gute Wille? Giebt es einen Abgrund, der tief genug ist, daß Nichts wieder aus ihm ans Licht kommt – Nichts – auch nicht – – die Schande?
Sie bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und brach in leidenschaftliches Schluchzen aus. Im nächsten Augenblick fühlte sie ihren Kopf von seinen beiden großen Händen umfaßt, die ihn zitternd und beschwörend drückten und ihr die Hände von den Augen zogen.
Schande? flüsterte er. Wer wagt das Wort auszusprechen, wenn du mich lieb hast und mein Weib werden willst? Was dein ist, soll mein sein, und was mein ist, dein. Und so wahr ich ein armer verblendeter Thor gewesen bin: in Zukunft denke ich mir einige Ehre zu machen, genug für dich und mich, daß, wenn ein Bube uns mit seinem Grinsen unsern Frieden stören will, er die Augen niederschlagen soll, nicht wir. Jener Armselige, der dich und mich betrogen, ist todt für uns Beide. Du bist seine Wittwe, und ich will mein Leben daran setzen, deine Wittwenthränen zu trocknen und dich wieder froh zu machen. Dazu brauch' ich nur Eins: die Gewißheit, daß er auch nicht mehr in dem dunkelsten Winkel deines Herzens lebt, anders als ein Name, ein ohnmächtiger Schatten – sondern daß du wieder dem Tage gehören willst und der Zukunft – und mir!
Er wartete in heftiger Angst und Ungeduld auf ein Zeichen von ihr. Da bog sie den Kopf zurück und schlug die Augen voll zu ihm auf, während die Lippen von dem schwachen Glanz eines ersten glückseligen Lächelns umspielt wurden. Er aber bog sich zu ihr hinab und berührte mit einem erstickten Ausruf des Entzückens zum ersten Mal diesen Mund, der ihm so oft im Traume vorgeschwebt hatte.
Die Mutter trat still herein, sie lachte und weinte in Einem Athem. Da entwand er sich in alter Schüchternheit den geliebten Armen. Komm, Liebste! sagte er; zieh dich an. Du mußt deinen schwachen Bräutigam, der noch nicht wieder fest auf den Füßen steht, durch die Stadt nach Hause bringen, und die Mutter soll uns begleiten. Ich glaube erst an mein Glück, wenn ich dich im Triumph in das Zimmer einführe, wo ich so viel kleinmüthige Qualen um dich ausgestanden habe.
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