Paul Heyse
Marienkind
Paul Heyse

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Am Tage darauf verfehlte Franz Florian nicht, zur feierlichen Kondolenz im Trauerhause sich einzufinden.

Es war eines der alten Münchener Bürgerhäuser im Mittelpunkte der Stadt, mit vier oder fünf Fenstern Front und drei Stockwerken, deren untere vermietet waren, da der Hauseigentümer, Annerls Vater, ziemlich ungesellig lebte und eine größere Wohnung, als die fünf bis sechs Zimmer des obersten Geschosses, nicht nötig hatte. Der Maler hatte die Geschwister einigemal besucht, doch in den lichtlosen, mit altmodischen Möbeln ausgestatteten Räumen, deren bester Schmuck nun für immer fehlen sollte, sich nie behaglich gefühlt. Heute war der sogenannte »Salon« noch ungemütlicher als sonst, obwohl das schöne Bild der heiligen Anna den Ehrenplatz über dem Sofa erhalten hatte. Wohl ein Dutzend der näheren Bekannten der Verstorbenen hatte auf den Plüschsesseln um den Sofatisch Platz genommen, mit den Beileidsmienen und einförmigen Trostsprüchen, die bei solchen Anlässen hergebracht sind. Die Tochter des Hauses war, als der Maler hereintrat, nicht im Zimmer. Erst eine Weile später glitt sie wie ein wandelndes Cypressenbäumchen geräuschlos herein und pflanzte sich auf ein »Hockerl«, das neben der Thüre stand. Sie sprach keine Silbe und blickte, die schönen breiten Augenlider gesenkt, beharrlich auf den Teppich. Ihre Ordenstracht hatte sie schon des blauen Bandes wegen abgelegt und war in ein Trauerkleidchen gehüllt, das ihre reizende Figur und die Elfenbeinfarbe ihres Gesichts aufs vorteilhafteste hervorhob. Sie weinte nicht, ließ sich auch von gutmütig zudringlichen Fragen, ob und wann sie ihr Noviziat antreten werde, nicht aus ihrer starren Versunkenheit herauslocken, und nur als Franz Florian wieder gehen wollte und ihr zum Abschied schüchtern die Hand hinhielt, legte sie die ihre ruhig hinein und würdigte ihn eines kurzen, nicht unfreundlichen Blicks, wobei sie leicht errötete.

Ihr Vater hatte beim Abschiede leise zu ihm gesagt: Wir hoffen, Sie nun doch zuweilen zu sehen. Ich bin ja nun ganz verwaist. Worauf er nur mit einer tiefen Verbeugung erwidert hatte.

Er hatte sich's aber gesagt sein lassen, und so klar er darüber war, daß er sein heimliches Leiden nur verschlimmern würde, wenn er den Anblick des geliebten Marienkindes nicht streng vermiede, konnte er es doch nicht über sich gewinnen, sie in der Stadt zu wissen und nicht die drei finsteren Stiegen zu ihrer Wohnung hinaufzusteigen.

Zuerst machte er von der freundlichen Aufforderung des Papas nur jeden dritten Tag Gebrauch, in der zweiten Woche hatte er sich schon wieder daran gewöhnt, wie draußen in der Villa, allabendlich zum Nachtessen sich einzustellen. Doch kam er damit nicht weit. Zwischen ihm und dem Annerl wurde mit keinem Wort jener Kirchenscene gedacht, die das aufgeschreckte fromme Gemüt zu so plötzlicher Flucht angetrieben hatte. Da die gute Tante nun fehlte, die das Hauswesen geführt hatte, war es nur natürlich, daß die Tochter des Hauses für sie eintrat – bis zu ihrer neuen Entfernung nach Ablauf des Urlaubs, den sie von der bonne mère erhalten hatte. Franz Florian, während er nur selten das Wort an sie richtete, mit dem Vater Schach spielte oder einen bescheidenen Tarok, so oft der Medizinalrat sich dazu einfand, beobachtete das jugendliche Hausfräulein scharf, und es schien ihm, als gebe ihr das stille Schalten und Walten nun erst vollends einen Reiz, dem kein wohlgeschaffenes Herz widerstehen könne. Auch sah es nicht so aus, als übe sie die Pflichten der Häuslichkeit und Gastfreundschaft nur widerwillig. Wie sie so geräuschlos ging und kam, den Tisch besorgte, den Wein in das Kühlgefäß stellte und den Blumen in der Vase frisches Wasser aus dem feinen Spritzchen zukommen ließ, konnte niemand ahnen, daß er eine kleine Himmelsbraut vor sich habe, die alle weltlichen Sorgen nur für Hindernisse auf dem Wege zum ewigen Heil ansähe.

Darüber waren vier Wochen vergangen. Der Medizinalrat hatte anfangs sein Patenkind auffallend kühl behandelt, nach und nach aber schien er ganz vergessen zu haben, daß ihre Gegenwart nur ein geliehenes Gut sei, und scherzte mit ihr in alter zärtlicher Vertraulichkeit. Der junge Hausfreund hatte sich ebenfalls zu einer sorglosen Freude an diesem Zusammenleben verleiten lassen und zunächst sich aller Zukunftsgedanken entschlagen.

Um so bestürzter war er, als er eines Abends in den Salon des dritten Stocks eintrat und der Hausherr ihm allein entgegenkam, mit der Nachricht, das Annerl sei heute früh abgereist, ins Kloster zurück, da ihr Urlaub abgelaufen sei. Sie lasse ihn grüßen und für die schönen Rosen danken, die er ihr zufällig gerade eine Stunde vor ihrer Abfahrt geschickt hatte.

»Sie hat sich nicht deutlich ausgesprochen,« setzte der betrübte Mann seufzend hinzu, »aber ich glaube doch, wir werden sie wiedersehen. Sie weiß jetzt, wie schwer ich das Leben ohne sie ertragen würde, und sie ist ein gutes Kind, was sie mir auch für Schmerzen bereitet hat. Ueber Gewissenspflichten kann man nicht hinaus, und soll es auch nicht. Aber vielleicht gibt der Herr mir die Gnade, daß ich sie doch noch behalte, wär's auch nur, bis ich selbst die Augen schließe, worauf sie wohl nicht allzu lange zu warten haben wird.«

 


 


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