Paul Heyse
Marienkind
Paul Heyse

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So schien denn alles für immer aus und zu Ende zu sein, das Marienkind durch nichts in seinem eigenwilligen Entschluß irre zu machen, die Ihrigen auf den schwachen Trost angewiesen, daß es so der Wille des Himmels sein möchte, Franz Florian auf den Leichtsinn seiner jungen Jahre, der gescheiterte Herzenshoffnungen in der Regel nicht allzuschwer zu verwinden pflegt.

Vorläufig jedoch wollten alle Heilungsversuche, die er nach der beschämenden Abweisung von der Klosterschwelle in einem Gefühl gekränkten Stolzes anstellte, nicht anschlagen. Er versank mehr und mehr in Trübsinn, unternahm Bild auf Bild, ohne nur eins zu Ende zu führen, und ergab sich den Sommer über einem unfruchtbaren Herumstudieren an allerhand technischen Problemen, da er sich nicht eingestehen mochte, daß er auch an seiner künstlerischen Theorie irre geworden war, und doch zum Einschlagen einer selbständigen Richtung nicht Gemütsruhe und Freudigkeit genug verspürte.

Das abgelehnte Heiligenbild hatte er gleich nach seiner Rückkehr dem Regierungsrat geschickt, mit einem paar Zeilen, worin er ihn bat, dieses Gemälde, zu welchem die Erinnerung an rasch entschwundene schöne Tage ihn angeregt habe, zum Dank für so viel Freundliches, das er in seinem Hause genossen, von ihm anzunehmen.

Dem Medizinalrat, dem er im Winter zuweilen begegnet war, wich er aus, verschloß sich gegen seine früheren Kameraden und strich wochenlang in den Bergen oder den kleineren Nachbarstädten umher, mit sich selbst darüber zerfallen, daß er nicht Manns genug war, eine so völlig hoffnungslose Leidenschaft wie ein wucherndes Unkraut aus seinem Busen auszujäten.

So kehrte er eines Vormittags wieder einmal in die Stadt zurück, da ihm auch sonst nirgend wohl geworden war. Seine Bekanntschaft mit dem Mädchen, das er zu vergessen sich bemühte, jährte sich gerade. Alles, was ihm in Wald und Feld begegnete, hatte ihn an jene verhängnisvolle Zeit erinnert, bis er endlich beschloß, sich in die heiße Stadt zu flüchten, wo er vor solchen Gespenstern sicher war und sein schwermütiges Wesen treiben konnte, ohne sich den Menschen gegenüber Zwang anzuthun.

Denn die meisten seiner Bekannten unter den Kunstgenossen waren auf Studienfahrten ins Freie gezogen, wo sie ihrem Götzen Pleinair nach Herzenslust opfern konnten, und überdies hatte er schon im vorigen Herbst seine Werkstätte in einem weitentlegenen Hause am rechten Isarufer aufgeschlagen, wohin nur selten ein unwillkommener Besuch sich verirrte.

Als er jetzt aber vom Bahnhof weg durch die Kaufingerstraße seiner Wohnung zu fuhr und zu der Peterskirche gelangte, neben deren Portal der große eherne Erzengel seiner Aufgabe, den Drachen zu besiegen, sich so schwungvoll entledigt, sah er einen offenen Doktorwagen bei der Kirchenthür vorfahren und einen langen, ganz schwarzgekleideten Herrn heraussteigen, in welchem er schon von weitem seinen alten Gönner, den Medizinalrat, erkannte. Er zog den Hut tiefer in die Stirn, um unbemerkt vorbeizukommen, der Alte jedoch hatte auch ihn bereits erkannt und machte dem Droschkenkutscher mit der schwarzbehandschuhten Rechten ein Zeichen, anzuhalten.

Franz Florian konnte nicht umhin, auszusteigen und sich dem alten Arzt zu nähern. Er sah jetzt, daß er einen Flor um den Hut und Aermel trug, und daß sein hageres, sonst so frischgefarbtes Gesicht sehr blaß, die Augen hinter den großen Brillengläsern gerötet waren.

»Da sind Sie ja, junger Freund,« rief der alte Herr, indem er ein Schnupftuch hervorzog, um sich geräuschvoll zu schnäuzen, wobei ihm die Augen wieder überflossen. »Der verdammte Katarrh! Sie scheinen aber ganz frisch und munter zu sein; natürlich haben Sie draußen gute Tage gehabt, während wir in dem mörderischen Staubnest – aber Sie wissen ja noch gar nicht – ich dachte mir's gleich, als kein Kranz von Ihnen kam und Sie auch bei der Beerdigung fehlten –«

»Beerdigung? Um Gottes willen, wer ist denn – doch nicht am Ende – das Fräulein?«

»Was Fräulein!« brummte der Alte und schüttelte heftig den Kopf. »Sie denken natürlich nur an die eine, das Annerl. Wenn's nur die wäre! der Querkopf, das herzlose Rabenkind, das seinem Vater solchen Kummer machen konnte! Weiß Gott, ich hielt große Stücke auf sie, ich war ordentlich eitel auf mein Patchen, aber ob sie jetzt da draußen in ihrer lebendigen Nonnengruft steckt, oder unterm Rasen liegt – die Wahl thäte mir wahrhaftig weh. Nein, eine viel Bessere haben wir begraben müssen, ich darf wohl sagen, die Beste ihres Geschlechts, und denken zu müssen, daß sie noch frisch und gesund herumgehen könnte, wenn sie nicht eine so große Dummheit gemacht hätte, es ist, um sich die Haare auszuraufen!«

»Tante Babette?« entfuhr es dem erschrockenen Maler.

Der Alte antwortete nicht sogleich. Er lüftete den Hut, sich die Stirn abzutrocknen, hauptsächlich aber, um sich verstohlen die Augen zu wischen. Die Fältchen um seinen Mund und die Flügel der großen Cäsarennase zitterten von mühsam zurückgedrängtem Weinen.

»Ja,« sagte er endlich, als er sich ein wenig gefaßt hatte, »Tante Babette, keine Geringere, das beste Weib, das seit fünfundvierzig Jahren die Sonne beschienen hat. Sie haben sie nicht so lange gekannt, wie ich, aber glauben Sie mir, so was kommt nicht wieder, so viel gesunder Menschenverstand, Bravheit, Humor und gerade so viel Eitelkeit, wie eine richtige Evastochter braucht, um vor Gott und Menschen wohlgefällig zu sein. Können Sie mir eine andre aufweisen, die in ihrem Leben bloß zwei Dummheiten begangen hätte? So viel muß man der Gescheitesten zugestehen, wenn sie kein Engel sein soll. Ihre erste war, daß sie den Apotheker heiratete. Hätte sie die nicht begangen, sondern statt dessen mich genommen, so wäre ihr auch die zweite Dummheit nicht passiert, und wir hätten sie nicht in der Blüte ihrer Jahre begraben müssen. Sie hat nämlich, als sie krank wurde, darauf bestanden, daß ich nicht gerufen würde. Sie wissen, das verrückte Vorurteil ihres Seligen gegen unsre Zunft, und vielleicht war's nicht einmal so aus der Luft gegriffen. In diesem Falle aber – ich darf's nicht denken, ohne mir eine Gelbsucht auf den Hals zu ziehen – ich, der ich ihre Konstitution so gut kannte und eine Krankheit, an der keine blutarme Nähterin stirbt, wenn bei Zeiten dazugethan wird – und ihr Simpel von Bruder, der sich von ihr einschüchtern läßt und erst nach mir schickt, als nichts mehr zu retten war – und nun sind wir so niederträchtig um sie gekommen, und da drinnen wird eben der Trauergottesdienst für sie gehalten, was ihr so wenig hilft, wie uns. Denn wenn der liebe Gott sich auf seinen Vorteil versteht, wird er dies vortreffliche Wesen in seinem Paradiese ganz dicht neben sich sitzen lassen, um sich an ihrer guten Laune zu ergötzen, ohne daß erst die Pfaffen ihre Seele aus dem Fegefeuer loszubeten brauchen, und was die Komödie uns für Trost gewähren soll – aber ich will heute nicht lästern. Ich gehe hinein, obwohl ich kaum mehr weiß, wie eine Kirche von innen aussieht. Meinem alten Freunde bin ich's schuldig. Kommen Sie nicht mit? Sie haben freilich keine Trauertoilette gemacht, aber da Sie erst vom Lande zurückkehren – Ihre Reisetasche können Sie in meinen Wagen legen und die Droschke wegschicken. Ich fahre Sie nachher in meine Wohnung.«

Der Maler machte keine Einwendungen. Auch ihn hatte die Kunde von dem plötzlichen Hinscheiden der heitern, lebensfrohen Frau, die seine warme Gönnerin gewesen war, heftig erschüttert, wenn er auch die Ansicht ihres alten Verehrers nicht teilte, daß der Tod ihrer jungen Nichte minder beklagenswert gewesen wäre. In die Kirche zog ihn überdies die heimlich aufblitzende Hoffnung, bei diesem traurigen Anlaß eben dies entschwundene Marienkind wieder zu sehen.

Und seine Ahnung hatte ihn nicht betrogen.

Denn kaum hatte er sich neben dem alten Herrn in einem der Kirchenstühle niedergelassen, wo schon eine ansehnliche Trauergesellschaft dem feierlichen Amt beiwohnte, während um den schwarzbehangenen Katafalk in der Mitte die Kerzen auf den hohen silbernen Kandelabern mit rötlichzuckenden Flammen leuchteten, so erblickte er in dem vordersten Stuhl auf der Seite, wo die Frauen saßen, eine tief verschleierte knieende Gestalt, von deren Antlitz er durch den schwarzen Kreppüberhang kaum ein blasses Streifchen erkennen konnte. Sein Herz aber sagte ihm und sein scharfes Auge bestätigte es, daß so nur eine einzige auf den Knieen liegen und den Kopf auf die gefalteten Hände gedrückt halten könne. Nun verwandte er, während die Geistlichkeit mit allem Pomp eines Totenamts erster Klasse ihre lateinischen Bräuche vollzog, den Katafalk umschritt und Gesang und Weihrauchduft die hohen Kirchenräume erfüllte, keinen Blick von der Trauernden, ganz in ihre Andacht Versunkenen, und in so aufrichtiger Rührung er selbst sich zu der wehmütigen Feier gesellt hatte, – als sie beendet war und alles sich erhob, erfüllte ihn nur der eine Gedanke, daß er die Verlorengeglaubte nun endlich wiedersehen sollte.

Der Medizinalrat hatte während der ganzen Zeit still in sich hineingeweint. Nun faßte er sich gewaltsam, wartete seinen Freund ab, der, die Tochter am Arm führend, sich jetzt dem Ausgang näherte, und drückte ihm und dem Annerl die Hand. Franz Florian hielt sich hinter ihm. Er glaubte zu bemerken, daß die Augen des dichtverschleierten Fräuleins ihm einen raschen, scheuen Blick zusandten. Erst draußen, als das Paar in die schwarze Kutsche stieg, konnte er sich dem Papa vorstellen und sich entschuldigen, daß er bisher kein Zeichen des Beileids gegeben. Der Regierungsrat, der beständig die Augen zu trocknen hatte, nickte nur zerstreut zu seinen Worten; das Annerl stieg, ohne ihn weiter zu begrüßen, in den Wagen, der gleich darauf fortrollte.

 


 


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