Paul Heyse
Marienkind
Paul Heyse

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Diese längere Rede, in so ruhigem Ton sie auch vorgetragen wurde, ließ keinen Zweifel darüber, daß in dem alten Herrn ein satirischer Schalk steckte, dem es mit seiner Zustimmung zu den künstlerischen Grundsätzen seines neuen Bekannten von Anfang an nicht Ernst gewesen war. Die heftige Erwiderung aber, die dem jungen Maler auf der Zunge brannte, wurde noch zur rechten Zeit, um einen unfruchtbaren Zank zu ersticken, abgeschnitten. Denn gerade in diesem Augenblick riß die gewaltige dunkle Wolkenmasse zu Häupten der beiden Wanderer krachend entzwei. Blitz und Wetterschlag folgten einander in atemloser Hast, und ein Sturzregen prasselte nieder, der die auflodernde ästhetische Zornesflamme erstickte.

Zum Glück war das Gasthaus zur Post, nach welchem sie hinstrebten, in einem kurzen Wettlauf über den leeren Marktplatz erreicht. Aufatmend und die triefenden Schirme schüttelnd, selbst aber leidlich trocken, betraten die beiden Geborgenen das Gastzimmer, in welchem nur wenige durch das Wetter zurückgehaltene Bauern schläfrig bei ihren Bierkrügen saßen, und wandten sich sofort dem inneren Verschlage, dem sogenannten Herrenstübel zu, das völlig leer war. Die stattliche Wirtin begrüßte sie höflich, ihnen Glück wünschend, daß der Wolkenbruch sie nicht auf freiem Felde überrascht habe, und fragte, womit sie ihnen aufwarten könne. »Zunächst mit einer Tasse Kaffee,« erwiderte der alte Herr; und ob in ihrem Hause noch ein gutes, ruhiges Zimmer frei sei. Er gedenke, etliche Tage, vielleicht eine Woche sich hier aufzuhalten. Die Frau, die für den jovialen und ritterlichen Graukopf sofort eine lebhafte Verehrung empfand, versicherte, er werde unter ihrem Dache aufs beste aufgehoben sein, und verließ, da auch ihr jüngerer Logiergast Kaffee bestellte, hurtig das Zimmer, um die Herren nicht warten zu lassen.

»Ich habe hier draußen nämlich einen alten Freund und Universitätsgenossen,« bemerkte der Medizinalrat, während er die Botanisiertrommel auf den großen Eichentisch legte und eine Haarbürste und frische Krawatte daraus hervorzog. Vor dem kleinen Spiegel in der Ecke stehend, besorgte er dann gleichmütig seine Toilette, knüpfte einen neuen Halskragen um und ordnete sein zerstäubtes dünnes Haupthaar. »Mein Freund,« fuhr er fort, »hat sich hier draußen eine artige Villa gebaut und mich eingeladen, bei ihm zu wohnen. Ich bin aber nicht gern irgendwo zu Gast, selbst bei dem vertrautesten Freunde, und ziehe das bescheidenste Wirtshäuschen einer solchen Einquartierung bei einer Familie vor. Alte Junggesellen, wissen Sie, haben ihre Eigenheiten und sind nicht gerne geniert. Nun aber konnte ich dem wackeren Freunde – er ist ein Regierungsrat a. D. – seine Bitte nicht abschlagen, wenigstens in seiner Nähe ein paar Tage zuzubringen. Es ist aber ein Kranker im Hause, seine einzige Tochter, noch dazu mein Patenkind, ein wunderlicher Fall, nicht eigentliche physische Verstimmung, mehr Gemütsaffektion, die aber behutsam zu behandeln und jedenfalls eine Zeitlang zu studieren ist. Und da will ich denn gleich, sobald das Wetter vorübergezogen, zu den guten Leuten hinauf, um nach dem Rechten zu sehen.«

Der junge Maler hörte das mit an, ohne ein Wort dazuzugeben. Er saß am Fenster und sah in das tobende Element hinaus, die Stirn in finstere Falten gelegt. Der Alte beobachtete ihn im Spiegel und nickte vor sich hin, als ob er bei sich selber spräche: Ich habe dir ein bitteres Tränkchen eingegeben, junger Thor. Aber wenn dich's auch ein bißchen wurmt, schaden kann dir's nicht, und wer weiß, ob es dir nicht am Ende ersprießlich ist. Denn du scheinst bei alledem eine gesunde Natur zu haben.

Er ließ jedoch hiervon nichts verlauten, beendete mit aller Muße seine Toilette und wandte sich erst wieder um, als die Kellnerin eintrat und auf einem sauberen Brett den bestellten Kaffee brachte. Ihr folgte nach einiger Zeit die Postwirtin selbst, als die beiden Männer schon bei der zweiten Tasse waren, und knüpfte von neuem einen zuthulichen Diskurs mit dem neuen Gaste an. Dieser, da der Regen noch nicht nachlassen wollte, hatte sich eine Cigarre angezündet und auch seinem jungen Gefährten sein Täschchen dargeboten, der jedoch, immer noch unwirsch, einsilbig ablehnte und sich eine Cigarette zu fabrizieren anschickte. So saßen sie ein Weilchen in dem niederen Raum, der dann und wann von roten Blitzen erleuchtet wurde, plaudernd beisammen und ließen die Kerze brennen, die ihnen die Kellnerin auf den Tisch gestellt hatte. Erst als die Wirtin von einer Magd abgerufen wurde, wandte sich der alte Herr wieder zu dem schweigsamen Maler und sagte in seinem freundlichsten Ton: »Wir werden uns wohl noch eine gute Weile hier gedulden müssen, bis der himmlische Segen sich erschöpft hat. Wie wär's, lieber Herr, wenn Sie mir inzwischen gestatteten, Ihr Skizzenbuch zu betrachten?«

Franz Florian machte eine ablehnende Bewegung mit der Schulter.

»Sie würden wenig Vergnügen daran haben,« sagte er gereizt. »Sie wünschen es auch überhaupt nur, um sich über diese ›Mönchsarbeiten‹ lustig zu machen. Erlauben Sie mir, die Zeugnisse meiner unfreiwilligen Armut für mich zu behalten.«

Eine kleine Stille folgte auf diese Worte. Man hörte nur das Klatschen des Regens gegen die Steine vor dem Hause und aus dem Gastzimmer nebenan das laute Schnarchen eines Bauern, der über seinem Maßkrug eingenickt war.

Der alte Herr stand ruhig auf und trat zu dem verstimmten Künstler in die tiefe Fensternische.

»Ich habe Sie mit meinem harmlosen Scherz verletzt, lieber Herr,« sagte er. »Halten Sie mir diese Unart mit der Abneigung zu gute, auf dergleichen theoretische Fragen, die jeder nach seinem Geschmack oder Gewissen zu lösen hat, mit pedantischer Weitläufigkeit mich einzulassen. Auch käme bei einem ernsthaften Wortgefecht zwischen einem Alten und einem Jungen nichts heraus. Die Waffen sind zu ungleich. Der Alte hat das schwere Geschütz der langen Erfahrung für sich, die Jugend ihr Schnellfeuer hitziger Meinungen, Wünsche und Bedürfnisse. Damit Sie aber sehen, daß ich vor Ihrem ernsthaften Streben aufrichtige Achtung habe, will ich Ihnen unverhohlen gestehen, daß ich in der neuen radikalen Richtung auf das Charakteristische, worüber das Schöne gänzlich zu kurz kommt, allerdings nur eine Entwickelungskrankheit unsrer Zeit erblicke. Dergleichen Erscheinungen darf eine weise ästhetische Pathologie so wenig unterdrücken wollen, wie die rationelle physische Hygiene die Reinigungsprozesse in einem menschlichen Körper hemmen darf, wenn sie recht kräftig auf die Haut schlagen. Entschuldigen Sie dieses Gleichnis, das nicht gerade respektvoll klingt. Ich habe auch nicht vor, es weiter auszuführen. Genug, daß ich auch den Zustand, in welchem sich gegenwärtig die Künste befinden, für einen heilsamen Naturvorgang ansehe, dessen man sich nicht zu schämen habe, wenn auch manches dabei nicht eben eine besondere Augenweide bietet. Es ist sehr wahrscheinlich, daß wir mit unsrer schulgerechten Aesthetik nachgerade aufs Trockne gekommen wären ohne diese gewaltsame Reaktion. Und so lasse ich mir auch ihre abenteuerlichsten Auswüchse gern gefallen und denke mit dem alten Herrn in Weimar: Wenn sich der Most auch ganz absurd gebärdet –! Zudem – ich bin von Jugend auf viel mit talentvollen Künstlern umgegangen, als Freund oder Arzt, und habe viele ›Richtungen‹, die sich für die allein wahren ausgaben, im Sande verlaufen und neuen, noch ›wahreren‹ Platz machen sehen, so daß ich mit einiger Gemütsruhe zuschauen kann, wenn heutzutage alles als akademischer Zopf verschrieen wird, was einen Gemütswert beansprucht, oder durch Reiz und Adel der Form entzücken will, und als verlogener Atelierspuk verdammt wird, was nicht unter freiem Himmel gemalt ist. Dergleichen Einseitigkeiten und Uebertreibungen korrigieren sich von selbst, wenn sie eine Weile bis zum Ueberdruß nachgesprochen worden sind. Was mir jedoch schon heute gelegentlich die Galle reizt, ist der Schwindel, den ganz talentlose Streber mit diesen Stichworten treiben, und die Stirn, mit der sie das urteilslose Publikum, ja ihre eignen unschuldigen Kollegen durch haarsträubende Mißgeburten ihres Pinsels zu verblüffen suchen. Mit solchem nichtsnutzigen Gesindel, das nur dazu dient, den guten Keim in der neuen Kunstblüte zu fälschen und zu vergiften, haben Sie, mein werter Herr Florian, nicht das Mindeste gemein. Das Wenige, was ich von Ihnen gesehen – verzeihen Sie dem Laien, daß er sich ein Urteil erlaubt – zeugt für ein gesundes, robustes, sehr ernstliches Talent, das freilich – aber genug des Geschwätzes. Zeigen Sie mir jetzt Ihre Skizzen und lassen Sie uns gute Freunde bleiben!«

Er streckte ihm seine lange, magere Hand hin. Der Maler sprang auf, schlug treuherzig ein und sagte, nun wieder mit entwölkter Stirne: »Ich bin ein Narr gewesen, daß ich Ihre Neckereien nicht mit besserm Humor aufgenommen habe. Aber die Arbeit in der Schwüle hatte mich nervös gemacht. Sie haben recht: Jeder thut, was er nicht lassen kann, und man ist von aller Verantwortung frei, wenn man nur immer mit Leib und Seele das Seine thut. Wenn das Meinige Ihnen keinen Spaß macht, kann ich nicht dafür. Warum bestehen Sie darauf, meinen Kram sich ansehen zu wollen?«

Er legte bei diesen Worten das große Skizzenbuch auf den Tisch, rückte die Kerze näher heran und wanderte dann, eine frische Cigarette anzündend, das Zimmer auf und ab. Der Arzt hatte sich behaglich auf einem der Holzstühle niedergelassen und wendete langsam Blatt für Blatt um, hin und wieder ein Hm! oder Ha! vor sich hinbrummend. Indessen ließ draußen das Unwetter nach, und als der Betrachter bei dem Mädchen auf dem Brunnentrog angelangt war, schien eine helle Abendsonne durch das Fenster, in deren rotem Strahl das Kerzenflämmchen erblich.

»Ich danke Ihnen,« sagte jetzt der Alte, indem er das Buch zuklappte und sich vom Tische erhob. »Meine Erwartung hat mich nicht getäuscht: Sie besitzen ein starkes, seiner Mittel überall mächtiges Talent und eine große Feinheit des Blicks für das Entscheidende in allen Naturgebilden. Die wunderliche Marotte, an dem Erfreulichen, Großartigen, Lieblichen vorbeizusehen und sich mit dem Dürftigen, Verwahrlosten und selbst Widerwärtigen so liebevoll zu beschäftigen, als ob das allein in der Welt wäre, oder doch allein der Mühe wert, hat sogar – aber Sie dürfen sich nicht wieder beleidigt fühlen – etwas Rührendes. Es verrät ein gutes Gemüt, wie wenn ein junger Tänzer auf einem Balle die schönen jungen Damen verschmäht und nur die sonst Sitzenbleibenden, die sogenannten ›Mauerblümchen‹ engagiert. Ich habe als junger Mensch ähnliche edle Regungen verspürt. Indessen, Mitleid und Liebe sind doch zwei sehr verschiedene Gefühle und wie man sich in diese baumlosen dürren Unkrautflecke, diese ruppigen und trottelhaften Hüterbuden verlieben kann – Sie lächeln. Ich weiß, daß Sie sagen wollen, der Gegenstand mache es nicht, nur was man an künstlerischer Intention hineinlege. Da wären wir denn glücklich wieder bei unsrer alten Debatte und könnten bis Mitternacht fortzanken. Nun, ich will jetzt meinen Besuch machen, das Wetter hat sich ja aufgeklärt, und wenn meine Freunde mich in der Villa auch zum Nachtessen behalten sollten, ich finde Sie hernach doch wohl noch hier unten, und Sie sind mein Gast bei einer Flasche roten Tiroler, den man hier herum schon recht trinkbar vorzufinden pflegt.«

So verließ er den Maler mit einem freundlichen Kopfnicken.

 


 


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