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Zwischen ihm und dem Vater war es noch beim Alten. Ich merkte wohl, wenn ich bei Tafel aufwarten half, daß der Graf immer Streit mit dem Junker suchte, und daß ihm alles nicht recht war, was er that oder sagte. Es war, als nähm' er es ihm übel, daß er selber Respect vor ihm haben mußte, und daß der Sohn sich niemals vergaß, sondern immer gelassen blieb und seine Meinung ruhig verteidigte oder ganz schwieg. Gerade so hatte es auch die selige Gräfin gemacht, und daran mochte der Graf nicht erinnert werden. Er hätte nichts lieber gesehen, als daß sein Sohn auch so ein wilder Raubvogel geworden wäre, wie er selber trotz seiner Fünfzig noch immer war, kein Pferd zu hitzig, kein Degen zu spitzig, kein Weib zu witzig für ihn. Daß der Junker bescheiden war, konnte er ihm nicht vergeben. Ja, ich glaube gar – Gott verzeih mir die Sünde! – der Sohn hätte sich gegen den eigenen Vater vergessen dürfen, wenn er nur auch vergessen hätte, daß er seiner Mutter Sohn war. Darum brachte der Graf das Gespräch immer wieder auf die alte Zeit, wo es loser und lockerer in der Welt zugegangen sei, und jetzt sei es nur ein Leben für Duckmäuser und Bärenhäuter. Dann erzählte er, besonders wenn er ein Glas mehr als gewöhnlich getrunken hatte, allerlei galante Abenteuer aus seinem Leben, wobei der junge Graf ganz still vor sich hinsah und nichts erwiederte. Ich aber entsetzte mich bei mir selbst und dachte: Da macht wahrhaftig der Vater beim eigenen Sohn den Verführer, blos weil dessen unschuldiges Gemüth ihm selber ein Vorwurf ist!

Ich wußte freilich, für meinen Junker war das kein Weg zur Verführung. Auch behielt er trotzdem seinen kindlichen Respect vor dem Vater; nur daß es ihn über die Maßen traurig machte, gar keine Liebe von ihm zu erfahren, sah ich ihm wohl an den Augen an. Gesprochen hat er nie darüber, selbst mit mir nicht, der er sonst Alles sagte. Und so war ich fast froh, als er nach einer Woche das Schloß wieder verließ, um auf Universitäten zu gehen, und in den folgenden fünf Jahren kein einziges Mal den Vater wieder besuchte, so sehr er das Schloß und den Wald liebte und in manchem Brief an mich sich nach Allem erkundigte.

Es war mir fast lieb, sage ich, und dazu hatte ich später noch meine besonderen Gründe.

Im dritten Jahr nämlich mochte der junge Graf abwesend sein, da fiel ich in eine schwere Krankheit, von der mir lange noch eine große Schwäche in allen Gliedern zurückblieb, so daß ich mich die vielen Treppen nur mühsam auf und ab schleppen konnte. Ich hatte aber schon damals vom Grafen alle Schlüssel bekommen, und Niemand durfte über den Silberschrank, den Keller und die Vorrathskammern, als die Mamsell Flor. Als daher der Graf zur Jagd wieder hier ankam und sah mich, wie ich am Stock so elend hinschlich, Flor, sagte er, sie thut über Ihre Kräfte. Ich will, daß Sie Sich eine Hülfe nimmt, eine Wirthschafterin, die unter Ihr steht und Ihr das Treppensteigen abnimmt. – Sehen Sie, so gütig war er dann auch wieder, und da half kein Wehren und Sträuben, Tags darauf stand es im Anzeigeblatt, daß man auf dem Schloß eine Wirthschafterin suche.

Es meldeten sich denn auch eine Menge Frauenspersonen der verschiedensten Art, aber mir gefiel Keine. Ein paar hatte ich sogar im Verdacht, daß sie nicht übel Lust hätten, beim Grafen, der immer noch für einen gar galanten Herrn galt, eine noch vornehmere Stellung – oder gemeinere, wie man davon denkt – als die einer Haushälterin anzunehmen. – Ich war es beinahe zufrieden, daß sich Keine fand. Ich nahm es viel zu genau mit Allem, und die Wenigsten machten mir eine Arbeit zu Dank. So war die Sache beinah wieder eingeschlafen, als eines Nachmittags eine große, schlanke junge Person zu mir ins Zimmer trat, in Trauerkleidern und mit sehr abgehärmten Augen. Sie war ein paar Tagereisen weit her gekommen aus einer Stadt, in der ihre beiden Eltern kurz nach einander gestorben waren und sie in großer Hülflosigkeit zurückgelassen hatten. Der Vater war ein angesehener Beamter gewesen, hatte aber nichts als seinen Gehalt. Ihr einziger Bruder war Ingenieur und gerade jetzt in England beim Bau einer Eisenbahn, wo er nicht gut abkommen konnte, ohne seine ganze Zukunft aufs Spiel zu setzen. Darum hatte sie ihm sogleich geschrieben, daß sie eine Stelle auf einem herrschaftlichen Gute angenommen habe und versorgt sei, Willens, wenn sie auf dem Schloß nicht angenommen würde, mit einer noch geringeren Unterkunft fürlieb zu nehmen.

Obwohl alles, was ich von dem armen Kinde sah und hörte, untadelig war und sie auch mein Examen von A bis Z bestand, war doch was in mir, das mich warnte, sie ins Haus zu nehmen. Ich sagte es ihr geradezu, ich meinte, es sei nicht zu ihrem Besten, auch sei sie noch zu jung, und was dergleichen mehr mir einfallen wollte, und zuletzt, wie sie ganz ergeben, ohne mich mit Bitten oder Thränen rühren zu wollen, sich schon zum Fortgehen wandte, rief ich sie dennoch zurück und behielt sie da. Im Grunde fürchtete ich nur, sie möchte dem Grafen zu sehr gefallen; denn wie gesagt, sie war ein Staatsmädchen, prachtvoll gewachsen, mit einem ganz aparten, stolzen Gesicht und einem schweren Nest brauner Flechten, die ihr wohl dreimal ums Haupt reichen mochten. – Aber ich meinte wieder ein ernsthaftes, entschlossenes Wesen in ihr zu bemerken, dem nicht so leicht das Steuer zu verrücken sei. Ueberdies war Graf Heinrich, wie Monsieur Pierre geheimnißvoll unter die Leute brachte, gerade jetzt bis über die Ohren in eine Sängerin verliebt, die er in London kennen gelernt, und hatte sich nur auf kurze Zeit von ihr los gemacht, um gleich wieder in ihre Gefangenschaft zurückzueilen. So hatte er denn auch der Fremden nicht sonderlich Acht, als sie am Abend in der Speisehalle neben mir am Gesindetisch erschien, sah sie flüchtig von Kopf bis Fuß an, nickte dann zustimmend, und saß den ganzen Abend tiefsinnig und allein am Herrentisch droben und ließ einen prachtvollen grünen Ring im Schein des Candelabers blitzen, den er, wie Monsieur Pierre behauptete, von seiner Freundin zum Geschenk erhalten hatte.

Es muß auch wohl wahr gewesen sein, denn als er das nächste Jahr kam, trug er den grünen Stein nicht mehr am Finger, und Pierre wußte abenteuerliche Geschichten zu erzählen, mit denen ich Sie nicht unterhalten will. Als der Graf das Mädchen, die Mamsell Gabriele genannt wurde, zum ersten Mal durch den Saal gehen sah, merkte ich scharf auf sein Gesicht. Es war nicht viel anders, als wenn die Juden ihm Pferde brachten, die er sich im Hof vorführen ließ. Auch behandelte er sie nicht anders, wie uns alle, nur daß er noch seltener das Wort an sie richtete. Sie war inzwischen wieder ganz aufgeblüht von dem ruhigen, sorgenlosen Leben im Wald und der fleißigen Bewegung, hatte auch die Trauer abgelegt, und man hörte sie dann und wann sogar singen, besonders in dem Krautgärtchen, das sie ganz auf ihre eigene Hand unten im Schloßgraben angepflanzt hatte, damit wir unsere Gemüse nicht so weit her zu beziehen brauchten. So wie in diesem, war sie in allen Dingen, gescheit, ruhig und mit eigenem Willen; ich kann sagen, daß ich sie herzlich lieb gewann und meinte, ohne sie könne es gar nicht mehr gehen, und war doch lange ohne sie gegangen. Wir saßen dann auch manche liebe Stunde beisammen, spannen und plauderten. Ich erzählte von meinem Junker Ernst und ließ sie seine Briefe lesen, und als dann Graf Heinrich wieder da war, standen wir oft bis tief in die Nacht hinein am Fenster und horchten, wie er so schön Clavier spielte und die Nachtigallen dazu sangen. Sie sprach dann auch wohl von ihren Kinderjahren, und wie sie es bei den Eltern leicht und bequem gehabt, und viel von ihrem Bruder, aber ohne jeden bitteren Beigeschmack, daß ich sah, sie ward mit ihrer Lage je länger je zufriedener.

So kam es, daß ich mich zum ersten Mal ordentlich auf den Winter freute, wo wir recht einschneien und ganz für uns sein würden. Denn so lange der Graf da war, gab es immer große Unruhe, obwohl er nur Herren-Gesellschaft bei sich sah und recht ausgesucht, um vor den Damen und Landfräulein der Nachbarschaft sicher zu sein, alle Fahrstraßen eingehen ließ und nur ein paar Reitwege unterhielt. Diesmal aber kam es ganz anders. Der Graf reiste nicht wieder ab, und Monsieur Pierre gab zu verstehen, daß er noch immer seine ungetreue Liebschaft nicht verschmerzen könne und daher die Einsamkeit suche. Mir wollte das nicht in meinen alten Kopf, denn ich kannte den Herrn gar gut, daß er einer so dauerhaften Schwermuth um eine Amour kaum jemals fähig gewesen war. Aber es blieb wirklich dabei, wir schneiten ein und der Graf und Monsieur Pierre mit.

Womit sich der Herr die langen Wintertage vertrieb, wüßt' ich nicht zu sagen, denn vom Studiren war er nie ein Freund gewesen. Wir hörten ihn freilich lang auf dem Flügel phantasiren, und dann ritt er auch mitten in den verschneiten Wald hinein, und es war prachtvoll anzusehen, wenn er nach Hause kam, die langen Eiszapfen klirrend an seinem Bart, sein stolzes, strenges Gesicht roth von dem scharfen Winde, und eine Wolke um ihn her aus den Nüstern des dampfenden Pferdes. Er war noch immer ein schöner Mann, und gegen die Haare, die schon dünner und grauer wurden, schienen die Augen nur um so schwärzer und feuriger. Ich meinte immer, in der Nachbarschaft müsse er was Liebes haben. Aber man hörte von nichts, und man hörte doch sonst jedes Blatt fallen in unserer Stille; die Butterfrauen und Marktweiber sorgten dafür. Auch Besuch kam keiner, und kein Mensch wurde eingeladen. Ich schüttelte immer nur den Kopf, und Monsieur Pierre auch, der war an ein flotteres Leben gewöhnt und hatte sich nicht träumen lassen, daß der Graf auch nur bis Weihnachten aushalten würde. Mamsell, sagte er zu mir, il y a du mystère, so wahr ich Pierre heiße. – Dann pfiff er die Marseillaise und zwinkerte mit den Augen, aber er wußte gar nichts, der Tropf. Für die Langeweile fing der Bursche auch an, der Mamsell Gabriele den Hof zu machen, da kam er schön an! So bescheiden sie war, so konnte sie doch zu Zeiten den Kopf auf eine Art zurückwerfen, daß man meinte, man hab' es mit einer Herzogin zu thun. Er merkte auch bald, daß er keine seiner Pariser Näherinnen vor sich hatte, aber weil es doch partout etwas Französisches sein mußte, machte er sich an den Bordeaux in unserm Keller und war manches Mal so betrunken, daß er dem Herrn nicht bei Tische aufwarten konnte. Der ließ es ihm hingehen, ohne was zu sagen; er war überhaupt Sanftmüthiger, als sonst, gab Keinem im Hause ein böses Wort und beschenkte uns alle reich zu Weihnachten. Vom neuen Jahr an speiste er auch Mittags unten in der Halle, und Abends kam er schon früh herunter und setzte sich mit der Zeitung an den Herrentisch, ganz einsam, konnte es aber nicht leiden, wenn wir still waren. Vielmehr mußten wir nach dem Essen noch beisammen bleiben und Lieder singen. Der Forstgehülfe hatte einen schönen Baß, und Mamsell Gabriele sang wie die Waldfrau selbst, und so blieben wir manche Nacht bis nach Eilf zusammen, und es klang wunderschön von den alten Gewölben wieder, daß der Graf manchmal die Zeitung in den Schooß legte und still vor sich hin sah, die Stirn in die Hand gestützt. Ich aber dachte an meinen jungen Grafen, wie lange der fort blieb, und erzählte dann der Mamsell Gabriele noch viel von ihm, und sie schlief oftmals darüber ein, was ich ihr sehr übel nahm.

Sonst waren wir nach wie vor die besten Freundinnen, und ich erschrak nicht wenig, als sie mir eines Morgens eröffnete, sie müsse die Stelle aufgeben, ihrer Gesundheit tauge das Leben im Schloß nicht, sie wolle sich nach einem anderen Dienst umthun. Nun hatte sie freilich die Nacht unruhig geschlafen und sah auch am Morgen noch fieberhaft aus, die Augen ganz geröthet, und zitterte über den ganzen Leib,, so oft man sie beim Namen rief. Ich aber dachte, es sei nur eine Erkältung, denn sie war gestern von einem späten Gang durch den Wald sehr erhitzt und schwerathmig heimgekommen und hatte sich gleich zu Bett gelegt, ohne am Abend zum Essen zu kommen. Kind, sagte ich, das wird vorübergehen. Es ist doch eine ganz gesunde Luft hier im Schloß, und Sie finden einen so leichten Dienst nicht zum zweiten Mal, und einen so gütigen Herrn, von meiner Wenigkeit ganz zu schweigen. – Aber sie wurde nur eigensinniger, je mehr ich ihr zuredete, und wollte ich ihr Fieber nicht verschlimmern, mußte ich auf der Stelle hinauf zum Grafen und ihm anzeigen, daß Mamsell Gabriele gekündigt habe.

Der Graf hörte mich ganz ruhig an und sagte dann: Weiß Sie den Grund, Flor, warum die Mamsell fort will? – Als ich dann von ihrer Gesundheit Sprach, fragte er: Wo wohnt die Mamsell?

Ich habe sie zu mir genommen, Herr Graf, sagte ich. Ew. Gnaden kennen die Zimmer, im ersten Stock gerade gegenüber dem Schlafzimmer Ihrer seligen Gnaden der Frau Gräfin. Die zwanzig Jahre und drüber, daß ich dort wohne, habe ich kein ungesundes Lüftchen dort gespürt.

Er besann sich eine Weile und sagte endlich: Am Fortgehen können wir die Mamsell nicht hindern; sie ist ihr eigener Herr. Aber sie soll nicht sagen, daß sie in meinem Schloß ihre Gesundheit eingebüßt hat. Ihre Zimmer, Flor, liegen nach dem Wald, und die Westwinde bestreichen die Fenster. Es ist da immer feucht und im Winter keine Hand breit Sonne. So lange Mamsell Gabriele noch hier ist, soll sie in den Zimmern gegenüber wohnen, nach dem Hof hinaus. Die Morgensonne steht voll darauf. Und für eine Anzeige in der Zeitung um einen anderen Dienst hat Sie Sorge zu tragen, Flor.

Ich sah ihn groß an. Das Zimmer Ihrer seligen Gnaden soll ich der Mamsell anweisen?

Er nickte rasch mit dem Kopf. So ist mein Wille, sagte er kurz.

Aber die ganze Einrichtung ist ja noch wie damals, rief ich, ohne auf seine gerunzelte Stirn zu achten. Ich kann doch nicht Tisch und Bett und Toilette der seligen Gräfin an die fremde –

Sie kann, wenn ich Ihr befehle, erwiederte er ganz ruhig und nachdrücklich. Es bleibt Alles, wie es war.

Und wenn das arme Ding kränker wird, wen hat sie dann in der Nähe, nach ihr zu sehen? sprach ich immer eifriger fort. Er aber sagte:

Es ist ja nur der Corridor dazwischen. Wird der Mamsell unwohl, so wird sie Sie leicht abreichen. Und nun kein Wort mehr!

Er setzte sich wieder an den Flügel und fing an zu spielen, und ich mußte wohl gehen. Aber ich kann sagen, lieber Herr, so lieb mir die Mamsell war, es schnitt mir in die Seele, als ich die Treppe vom Grafen herunter kam und die schönen Zimmer aufschloß, wo nun eine Dienerin wohnen sollte. Denn das war sie doch immerhin, so gut wie ich selbst. Auch gefiel mir das Gesicht gar nicht, mit dem sie mich anhörte, als ich ihr den Willen des Grafen sagte. Erst wurde sie ganz blaß, als erschrecke sie heftig, dann aber wieder dunkelroth und den Mund warf sie fast verächtlich auf und sagte: Es ist gut; ich bin auch da nicht von Gott verlassen. – Nur ihr einfaches Bett nahm sie mit hinüber und wollte ihre paar Habseligketten aus dem Koffer nicht in eine der schön eingelegten Commoden packen, sondern behielt Alles reisefertig beisammen. Das gefiel mir wieder an ihr, und ich umarmte sie und bat ihr im Stillen ab, daß ich ihr die Zimmer nicht gegönnt hatte. Da schluchzte sie heftig los in meinem Arm, und ich konnte sie lange nicht wieder beruhigen, schob aber Alles auf das Fieber.

Deshalb ließ ich auch Nachts meine Thür nach dem Corridor halb angelehnt und horchte, ob sie ruhig schliefe. Bis Mitternacht blieb Alles drüben still. Auf einmal aber war mir's, als ob ich sie laut und heftig sprechen hörte. Ich springe gleich aus dem Bett, und bis ich in die Pantoffeln fahren kann, hör' ich noch immer ihre Stimme, aber die Worte kann ich nicht verstehen. Nur draußen auf dem Corridor vernehm' ich deutlich, wie sie ausruft: Ich bin nur ein armes Mädchen, aber dieses Schloß soll eher über mir zusammenstürzen –

Indem klopf ich schon an die Thür, die sie auf meinen Rath für alle Fälle verriegelt hatte, und rufe: Kind, Kind, um Gottes willen, was ist Ihnen? Mit wem reden Sie? Sehen Sie Gespenster? – Alles still. Ich sehe durchs Schlüsselloch – Alles dunkel. Nach einer ganzen Weile, während ich immer poche und rufe, kommt erst eine vernünftige Antwort: Sind Sie es, Mamsell Flor? Warum klopfen Sie so spät? – Und endlich höre ich, wie sie vom Bett aufsteht und den Riegel wegschiebt. Da stand sie im Halbdunkel vor mir, durchs Fenster schimmerte nur der Schnee herein, und ich faßte ihre Hand, die war eisig und bebte, und sie fragte: Was treibt Sie zu mir, gute Mamsell Flor? Habe ich so laut aus dem Schlaf gesprochen? Ach ja, ich habe das Fieber, es schüttelt mich stark, fühlen Sie nur! – Und dann brach sie in Thränen aus.

Ich schaffte sie eilig wieder zu Bett und verließ sie die ganze Nacht nicht mehr. Anderen Tages war sie so elend, daß sie nicht aufstehen konnte, und so blieb sie fast noch eine Woche. Der Graf schickte jeden Morgen Monsieur Pierre, sich nach ihr zu erkundigen, schien aber sonst nicht viel daraus zu machen, Nur als sie das erste Mal wieder im Speisesaal erschien, ging er auf sie zu und sprach ein paar Worte mit ihr, worauf sie still und nachdenklich an ihren gewöhnlichen Platz ging. Und still und nachdenklich blieb sie seitdem, schlief aber ruhig die Nächte und that ihre Arbeit musterhaft. Manchmal fragte sie mich, ob Niemand auf die Anzeige in der Zeitung sich nach ihr gemeldet habe. Die Briefe gingen alle durch Monsieur Pierre, und der wußte von nichts, und sie schien auch minder ungeduldig, als zuerst. Mir konnt' es nur lieb sein, wenn wir sie behielten.

Und sehen Sie, lieber Herr, so kam das Frühjahr und noch immer unser junger Graf nicht. Statt seiner aber fand sich eines schönen Abends ein sehr widerwärtiger Herr aus England im Schloß ein, der dem Grafen, wie ich wohl sah, nicht wenig ungelegen kam. Aber als einem alten Bekannten war er ihm alle Höflichkeit schuldig, ritt mit ihm in der ganzen Nachbarschaft herum, lud ihm mehr als einmal eine Spielgesellschaft ein, die dann bis an den Morgen droben beisammen blieb und alle feinen Sorten im Keller durchkostete und kam die ganze Zeit nicht ein einziges Mal in die Halle hinunter. So dauerte das vierzehn Tage, und ich war froh, als es hieß: der Lord reist morgen wieder ab. Die Herrschaften waren den letzten Mittag auf dem Gute des Barons, drei Stunden von hier zu Gast, und es ging schon auf neun Uhr, als wir die Pferde in den Schloßhof hereinsprengen hörten. Wir saßen gerade alle beim Nachtessen zusammen, und ich stehe auf, nehme den Leuchter und will hinaus, um den Herren die Treppe hinauf zu leuchten. Da, eh sich's einer versieht, treten sie schon zur Thür herein, voran der englische Herr, mit so Augen, wie er sie immer machte, wenn er von Tisch kam, unser Graf hinterdrein, die Stirn zusammengezogen, die Reitpeitsche unterm Arm, und trat sehr stark auf mit den klirrenden Sporen, woran ich merkte, daß er schlecht gelaunt war. Wir, so viel unser in der Halle waren, machen unsere schuldige Verbeugung, der Lord aber, den Hut auf dem Kopf, nickt ganz gnädig und sagt: Was der Teufel, Harry, ich mag heute keine Treppen mehr steigen, ich bin wie gerädert. Laß uns den Grog hier ans Kamin bringen, ich habe Lust, mich etwas herabzulassen zu deinen getreuen Unterthanen. – Damit mustert er Einen nach dem Andern und hört es gar nicht, was ihm der Graf auf Französisch zuraunt. – Plötzlich bemerkt er die Mamsell Gabriele und schnalzt ganz laut mit der Zunge. Harry, rief er, alter Fuchs, hast du auch solche Tauben in deinem Hühnerstall? Foi de gentilhomme – und dabei lachte er so unverschämt, daß mir 's Blut zu Gesicht stieg – dieses Täubchen laß uns auf den Abend serviren und ein Glas Burgunder dazu. Gerupft hast du sie ohne Zweifel schon längst. – Und wieder ein schallendes Gelächter. Mir stand das Herz still. Ich sah nur das arme Mädchen an, das war bleich wie die Wand, und dann den Grafen. Aber wie der aussah, lieber Herr, ist nicht zu beschreiben. Er trat dicht vor den Lachenden hin und sagte laut auf Französisch: Sie werden dem Fräulein für diese Ungezogenheit auf der Stelle Abbitte thun und sodann die Halle verlassen. Ich weiß meine Leute vor allen Insolenzen zu schützen, mögen sie ausgehen, von wem sie wollen.

Der Lord schien in seinem Rausch das kaum zu hören, sondern blickte unverwandt nach dem Mädchen hin. Gott verdamm' mich, sagte er mit seiner vom Trinken schweren Zunge, eine verteufelt schmucke Creatur, und ich bin acht Tage hier und – ein verteufelt schlauer Fuchs, der Harry – nicht ängstlich, mein Täubchen –

Und damit streckt er den Arm aus, das arme Kind zu sich heranzuziehen, das, wie vom Schlage getroffen, regungslos gegen die Mauer lehnte. Aber in demselben Moment hörten wir's durch die Luft pfeifen, und mit einem Fluch zog der Lord die Hand zurück; denn die Reitpeitsche unseres Grafen hatte einen breiten rothen Striemen darüber hin gezogen.

Ich will Ihnen nicht haarklein Alles hererzählen, wie sich's in der Nacht noch weiter zutrug. Genug, daß sich Morgens um sieben Uhr unser Graf mit dem Fremden droben, wo man's die Wolfsschlucht heißt, ganz ohne Secundanten auf Pistolen schlug; wir hörten die vier Schüsse deutlich in der stillen Februarluft, und eine halbe Stunde darauf kam der Graf mit Monsieur Pierre zurück und blutete an der linken Hand, schickte aber nicht weiter nach einem Wundarzt, sondern ließ sich's von seinem Kammerdiener verbinden. Wir hörten von Monsieur Pierre, daß der Lord weit übler daran sei, er habe aber noch das Pferd besteigen und bis in die nächste Stadt reiten können.

Was das arme Ding, die Gabriele, dazu sagte? Lieber Himmel, die schwieg, wie wenn sie an jenem Abend wirklich zu Stein geworden wäre. Was mich aber wunderte, sie verlangte gar nicht, sich beim Grafen zu bedanken, und eben so wenig war mehr die Rede vom Weggehen. Seit dem Morgen, wo wir das Schießen im Walde gehört, erkannte ich sie gar nicht wieder. Sie that nach wie vor ihre Pflicht, war aber weder traurig noch froh, nur zerstreut, daß sie oft am Abend Stunden lang da sitzen und wie verzückt ins Licht starren konnte. Es stand ihr das wundersame Wesen ausnehmend gut, man konnte ordentlich sehen, wie sie schöner wurde von Tag zu Tag; Alle im Haus bemerkten es, und von den jüngeren Beamten war keiner, der sich nicht sterblich in sie verliebt hätte. Aber sie that, als bemerke sie es nicht, und Niemand konnte sich rühmen, auch nur einen freundlicheren Blick von ihr bekommen zu haben.

Darüber war es Sommer geworden, und blieb Alles beim Alten, unser Graf im Schloß, Monsieur Pierre den halben Tag hinter der Flasche, alle Welt voll Wundern und Mutmaßen, was das Leben zu bedeuten habe, und jede Woche eine neue Partie für den Grafen in der Leute Mäuler. Denn allerdings war er viel heiterer geworden, ließ sich gern von den Nachbarn einladen und gab auch kleine Feste auf dem Schloß, wobei er die Liebenswürdigkeit in Person war. Ich hatte ihn nie so gut aufgelegt gesehen und dankte meinem Herrgott dafür, denn nun stand im Herbst die Rückkehr des jungen Grafen bevor, und es hätte mir das Herz gebrochen, wenn Vater und Sohn nicht freundlich und friedlich sich wiedergesehen hätten.

Ach, lieber Herr, als es hieß, heut Abend kommt unser junger Graf, der Vater reitet ihm bis zur Eisenbahnstation entgegen, und er kommt aus Berlin zurück und hat sein Examen zur Diplomatie mit großen Ehren bestanden – mir war doch wahrhaftig zu Muth, als ob ich seine rechte Mutter wäre. Und als er so groß und schön neben seinem Herrn Vater durch den grünen Triumphbogen von Tannenreisern einritt, den ihm unsere Knechte über der Brücke errichtet hatten, und das schöne Transparent überm Thor ihm Willkommen zurief und die Jagdhörner plötzlich bliesen, während der Monsieur Pierre die Raketen von seinem Feuerwerk bis hoch übers Dach steigen ließ, da mußte ich laut losweinen und konnte ihm gar nichts sagen, außer, daß ich seine Hand ergriff und sie in Einem fort küßte. Er aber war ganz wie sonst und strich mir mit der Hand übers Gesicht und machte seine alten Späße, die Niemand außer uns Zweien verstand. Lieber Herr, das war ein schönes Wiedersehen. Und auch der Graf, ich meine den Vater, der stieg ganz freundlich und stolz neben seinem Herrn Sohn die Treppe hinauf, und konnte sich freilich auf solch einen Sohn was zu Gute thun. Ich wurde jenen Abend der Gabriele ordentlich gram, als ich sie fragte, wie unser junger Graf ihr gefallen habe, und sie wußte kaum, ob er braun oder blond sei. – Als ich mir's aber überlegte, war mir's doch lieber, als wenn sie sich in ihn vernarrt hätte. Davor hatte ich mich oft gefürchtet. So kurzsichtige Gedanken machte ich mir damals noch!

Denselbigen Abend wurde ich noch hinaufgerufen, bei Tafel zu helfen – denn sie speisten auf des Grafen Heinrich seinem Zimmer. Der Monsieur Pierre hatte sich bei seinem Feuerwerk eine so heiße Kehle geholt, daß er mit keiner Gewalt aus dem kühlen Keller zu bringen war. Mir war nichts lieber, so konnte ich doch meinen jungen Grafen recht mit Muße betrachten. Aber die Freude wurde mir schlimm verbittert. Denn nicht lange währt' es, so war der Graf wieder bei seinem alten leidigen Gespräch von der guten alten Zeit und wie jetzt die jungen Leute zu nichts taugten, als hinterm Ofen zu hocken, die Nase in die Bücher zu stecken und wohl gar selber in die Zeitungen zu schreiben. Es ist mir noch dies und jenes, was mir besonders abscheulich vorkam, im Gedächtniß geblieben. Vor Allem an Eins werd' ich gedenken, so alt ich werden mag.

Graf Heinrich nämlich war als ein eben halbwüchsiger Junker mit seinem Herrn Vater in Paris gewesen, da gerade das Kaiserthum dort im Glanz war, und weil der alte Herr bei keinem Gott höher schwor, als bei dem Napoleon, wurden sie aufs beste aufgenommen. Der Alte aber, unserm Grafen Ernst sein Großvater, hatte viele Jahre während der Revolution in Paris gesessen, und die meisten der furchtbaren Blutmenschen waren seine guten Bekannten gewesen. Von denen erzählte nun Graf Heinrich seinem Sohne. Meinst du, sagte er, der Kaiser hätte seine Schlachten gewonnen mit den guten Bürgern von heutzutage? Er hatte Bestien gezähmt und ließ sie nun wieder los gegen seine Feinde. Die Luft, noch unter dem Empire, war in Paris mit einem eigenen Blutgeruch geschwängert, in dem alle zarten Pflanzen und weichen Gemüther bang und unheimlich den Kopf hängen ließen; aber wer eine feste Mannesseele mitbrachte, den berauschte der Schwüle Geruch, daß er es mit allen Teufeln aufgenommen hätte. Und wie die Männer, so die Weiber, alle hatten Blut gekostet, und Blut trinken macht klarere und beherztere Augen, als Staub schlucken. Siehst du, sagte er, heutzutage, wenn man die Welt und zumal unsere deutsche Welt betrachtet, scheint Alles so reinlich und schnurgerade, wie in einem holländischen Garten; wofür die braven Hausväter und der Herr Schulmeister, oder gar die wohlweisen Professoren nicht sorgen, dafür sorgt die löbliche Polizei. Rührt sich irgendwo die Bestie im Menschen, sogleich wird sie polizeilich abgewandelt. Aber die Bestie läßt nicht mit sich spaßen. Sie muß Blut saufen, und wird es ihr nicht kübelweise gereicht, so saugt sie es tropfenweise dem lieben Nächsten aus und wird ein elendes, heuchlerisches Hausthier. Pfui über unsere zahmen, kleinen, tückischen Gesellschaftslaster, die zu Allem noch langweilig sind und, wenn es einmal eine große That gilt, die ohne vollblütigen Trotz nicht in die Welt treten kann, dieses armselige Geschlecht schmählich im Stich lassen. Wer blutscheu ist und keinen Wurm zertreten kann, wird er nicht auch winseln, wenn es sich drum handelt, sein eigenes Blut zu verspritzen? Die Pariser von damals waren mit dem Tod auf Du und Du, darum gewannen sie dem Kaiser seine Schlachten. – Und dann erzählte er, wie sein Herr Vater, noch vor dem Napoleon, mit getanzt habe auf einem Ball, den man Bal des Zéphyrs genannt habe, nämlich auf dem Gottesacker einer Kirche, deren Namen mir entfallen ist. Ueberm Portal sei eine transparente Inschrift gewesen, Bal des Zéphyrs, darunter in Stein gehauen ein Todtenkopf über zwei gekreuzten Menschengebeinen, und man habe über den Gräbern und um die Leichensteine wie besessen getanzt bis an den lichten Morgen.

Bei all diesen Reden saß mein theurer junger Graf ganz still dem Vater gegenüber, und ich sah es ihm wohl an, daß sie ihm so gottlos vorkamen wie mir. Aber er antwortete ganz gelassen, die wunderschönsten Sachen, wie er glaube, daß die Menschheit seit jenen Tagen dennoch fortgeschritten sei, und daß es freilich mehr Schweiß und Fleiß koste, aufzubauen, als umzureißen, und ihm scheine, ohne etwas Heiliges falle die Welt auseinander, wie ein Gebäude ohne Mörtel, und dergleichen mehr, was ich leider vergessen habe. Denn so lange er sprach, sah ich ihm mehr nach den Augen, als nach dem Munde, weil ihm die Augen ordentlich wie durchsichtig waren. Nur Eins fällt mir noch ein, daß er sagte: Ein Geschlecht, das auf den Gräbern seiner Vorfahren tanzen mag, wird schwerlich sich um seine Nachkommen bekümmern, und wer seine Vergangenheit mit Füßen tritt, ist auch keine Zukunft werth.

Das war ihm so entfahren, und augenblicklich wurde er roth, denn er fürchtete, den Vater beleidigt zu haben. Den aber focht so etwas nicht an. Bah! sagte er, es machen es Alle nicht besser, nur lassen sie sich nicht gerade von Geigen und Clarinetten Tanzmusik dazu machen. Jedes Geschlecht denkt nur an sich und hat ein Recht dazu. Da war zu derselben Zeit noch ein anderer Ball in Paris, der Bal des Victimes. Du weißt, daß der Convent die Güter aller Guillotinirten confiscirt hatte, und erst nach dem neunten Thermidor wurden sie ihren Erben wieder zurück erstattet. Da kam Mancher zu Vermögen von Robespierre's Gnaden, und die jungen Leute fingen an ihr Leben zu genießen und gaben Bälle, wo nur Tänzer und Tänzerinnen geduldet wurden, die nachweisen konnten, daß ihnen ein naher Verwandter geköpft worden war. Es war eine Art Ahnenprobe des Schaffottes, und um mitten im Rausch und Taumel dankbar daran zu erinnern, hatten sie eine eigene Art, sich zu begrüßen. Der Herr näherte sich der Dame und machte mit dem Kopfe eine Bewegung, als wollte er ihn in das Loch unter das Fallbeil stecken, und die Dame erwiederte auf dieselbe Art den Gruß. Das nannten sie Salut à la victime, und dazu Walzer und Allemande und Kerzenglanz und Champagner. Ich will das nicht gerade löblich finden; es war Modesache und keine von den anmuthigsten. Aber ist viel damit gebessert, daß die jungen Leute heutzutage den Mund voll nehmen von der Heiligkeit der Bande des Bluts, von der Pietät gegen Vorfahren und Eltern, und doch im Stillen nach der Stunde seufzen, wo sie selbst an die Reihe kommen, wenn auch ohne Robespierre's Mitwirkung?

Ich ging aus dem Zimmer, ich konnte das nicht länger mit anhören, dieses Gespräch von einem Vater mit einem solchen Sohn. Ich wartete im Vorzimmer, bis ich den Grafen Ernst herauskommen sah, um zu Bett zu gehen. Er war still und traurig im Gesicht und ging auch an mir vorbei, ohne mich zu bemerken, und ich nahm das Licht und folgte ihm stillschweigend. Draußen auf dem Corridor blieb er auf einmal stehen und sah nach der Treppe, die von einer Lampe mit zwei Armen ziemlich hell erleuchtet war. Was hat er nur? dachte ich. Indem sah ich Mamsell Gabriele mit einem Silbergeschirr vom Söller herunter kommen und an uns vorbei die Treppe hinunter gehen. Sie war schon unten verschwunden, als der junge Graf sich zu mir umwendet und fragt: Wer ist das, Flor? Wer ist die Dame?

Ich sagt' es ihm. Aber er schüttelte den Kopf. Sollte ich mich so lebhaft täuschen? sagte er vor sich hin. Und dann nach einer Weile, als ich ihn hier herauf in sein Zimmer begleitet hatte: Flor, sagte er, ich habe doch recht gesehen. Sie war ja auch nur zum Besuch drüben im Städtchen und ist bald nach dem Ball wieder abgereist. Beide Eltern todt, sagst du? Und ganz ohne Vermögen zurückgeblieben, ohne Verwandte, daß sie nun dienen muß?

Sie hat es hier gut im Schloß, sagte ich, um ihn zu beruhigen, denn ich hatte es rasch zusammengereimt, daß sie seine alte Flamme war, um die er damals sich so gegrämt. Ja, lieber junger Graf, sagte ich, es könnte ihr nirgends besser gehen, als hier. Auch der gnädige Herr Vater ist gar gütig zu ihr und läßt ihr durchaus nichts zu Leide oder Unehre geschehen. – Aber es war, als hörte er gar nicht zu, so saß er nur immer vor sich hin dort in dem großen Armsessel am offenen Fenster, und mir wurde ordentlich bange um ihn. Denn es schien heftig in ihm zu arbeiten, und alles, was er wohl längst verwunden zu haben glaubte, rührte sich wieder. Dazu das Wiedersehen der alten Räume, hier die Tapeten mit der Jagd, die Möbel aus seiner Knabenzeit, der dunkle Wald vorm Fenster, das garstige Gespräch mit dem Vater – ich verdacht' es ihm nicht, daß er die alte Flor darüber vergaß. Ich wollte mich endlich ganz sacht aus dem Zimmer Stehlen, aber er merkte es, stand auf und legte mir beide Hände auf die Schultern.

Flor, sagte er, wenn es wirklich so kommen sollte, wie ich's kaum zu hoffen wage, es wäre doch eine wunderbare, freundliche Fügung.

Wenn es wie käme? fragte ich, denn so lieb mir das Mädchen war, der Gedanke, daß sie Frau Gräfin werden könnte, war mir nie auch nur im Traum durch den Sinn gefahren.

Stellen wir Alles dem Schicksal anheim, sagte er ernsthaft. Gute Nacht, Flor.

Und damit trat er wieder ans Fenster, und ich ging in mein einsames Zimmer hinunter, wo ich aber, so ungestört ich war, die halbe Nacht nicht einschlafen konnte.

So verschlief ich mich denn auch richtig ganz gegen meine Gewohnheit und schämte mich nicht wenig, als ich die helle Sonne mir ins Fenster scheinen sah. Man konnte aus meinem Stübchen gerade in den Krautgarten sehen, den Mamsell Gabriele angelegt hatte, und wie ich hinaus blickte, ging sie auch schon zwischen den Beeten hin und her und schnitt Gemüse in einen Korb ab für die Tafel. Ich wollte ihr gerade zurufen, wie lange ich geschlafen, da sehe ich Graf Ernst aus dem Wald treten und auf das Gärtchen zugehen. Er grüßte sie, und ich sah, wie sie sich ganz unbefangen aufrichtete und für den Gruß mit allem Respect dankte. Keine Spur, daß sie ihn wiedererkannt, und auch während er mit ihr sprach, nichts von Erinnern oder Verlegenheit, daß sie ihrem ehemaligen Tänzer nun als ihrem Herrn gegenüberstand. Er war offenbar viel befangener als sie. Und wie sie so neben einander durch das Gärtchen hingingen, mußte ich mir sagen, wenn's wirklich Gottes Wille sein sollte, ein schöneres Paar könnte man schwerlich finden, und ich gönnte in dem Augenblicke dem armen Kind alle Ehre und Freude der Welt, nur meinen jungen Grafen mußte sie so glücklich machen, wie er es verdiente.

So denkt der Mensch, und Gott lenkt, heißt's im Sprüchwort. Das sollte ich denn auch diesmal erfahren.

Ich hatte ihnen nicht lange so zugesehen, da kam Monsieur Pierre eilig in den Garten und bestellte, daß der Graf seinen Herrn Sohn zu sprechen begehre. Bald darauf ritten sie auch beide fort, und es nahm sich gut aus, der stattliche Vater auf seinem wilden Rappen und daneben der schlanke Sohn, der eine lichtbraune arabische Stute ritt, und nun im Galopp über die Brücke in den Wald. Monsieur Pierre erzählte, es sei schon ganz früh eine Einladung vom Baron drüben eingetroffen, für beide Grafen zu Tisch. Da der Vater nicht habe anbeißen wollen, wurde nun eilig die Angel nach Graf Ernst ausgeworfen. Und freilich hatten die drei Baronessen nicht mehr viel Zeit zu verlieren. Nun, dacht' ich, die machen auch die Rechnung ohne den Wirth.

Von unserer Gabriele aber war nicht viel mehr herauszubringen, als daß sie allerdings vor Jahren einmal im Städtchen drüben eine Freundin besucht und dort auch mit dem Junker getanzt habe. Er schien aber so schüchtern zu ihr gewesen zu sein, daß sie keine Ahnung hatte, wie lange ihr Bild ihm zu schaffen gemacht. Auch jetzt sprach sie von ihm, wie von jedem Andern, was mich heimlich verdroß. Aber im Grunde war es doch wieder ganz recht und gut, und ich nahm mir vor, meine Hand ganz aus dem Spiel zu lassen und mit keinem Wink noch Wort dem Himmel vorzugreifen.

Abends, da die Grafen zurückkehrten, hatte ich endlich einmal wieder ein langes und vertrauliches Ausschwatzen mit meinem Grafen Ernst. Zuerst war er ganz lustig und beschrieb mir den Aufputz und die Manieren der drei strohfarbenen Baronessen, die seit den vier oder fünf Jahren, daß er sie nicht gesehen, sehr viel jugendlicher, verschämter und lachlustiger geworden seien, mit seinem Vater zierlich geschmollt hätten, daß er schlechte Nachbarschaft halte, und deutlich zu verstehen gegeben, daß der Sohn die Sünden seines Vaters wieder gut machen würde. Und so Ein Auge auf den Vater gerichtet, Eins auf den Sohn, hätten sie einen angenehm schielenden Anblick gewährt. Ach, Flor, sagte er, es war recht dazu angethan, mir diese standesmäßigen Partieen zu verleiden. Fast habe ich meinen Vater im Verdacht, daß er mir absichtlich gleich am ersten Tage dieses Fest veranstaltet hat, um mich vor den Töchtern des Landes zu warnen und mir den Werth meiner Freiheit deutlich zu machen. Er weiß nämlich, wie schwer ich mich entschließen würde, zur Gesandtschaft nach Stockholm zu gehen, wohin man mich gern schicken will. Ich bliebe so viel lieber hier in meinem Wald und würde wieder ein rechter Jäger und mit der Zeit auch ein Bauer, und, Flor, wie ich dich kenne, treue Seele, würdest du mich nicht wegjagen von hier. Aber nur hinzuwerfen braucht' ich das, wie eine romantische Grille, da merkt' ich wohl, daß ich die letzte gute Meinung meines Vaters verscherzen würde, wenn ich an bleiben dächte. Und ich habe Ursache, sagte er mit einem zitternden, stillen Ton in der Stimme, der mich schrecklich traurig machte, ich habe alle Ursache, Flor, die väterliche Freundschaft nicht auf zu harte Probe zu stellen. Man hat doch nur Einen Vater.

Armes Kind! das war das einzige Mal, daß er sich's merken ließ, wie es ihn grämte, keine Liebe bei seinem Herrn Vater zu finden.

Lieber Graf Ernst, sagte ich, Sie wissen, wie ich Ihnen alles gönne, was Ihr Herz begehrt. Aber man muß sehr glücklich oder unglücklich sein, um es bei jungen Jahren in dieser Einsamkeit auszuhalten.

Und wie hast du es zu Stande gebracht, Flor? fragte er.

Ich war eben glücklich, sagte ich, daß ich einen so lieben Junker aufzuziehen hatte, der mich nie empfinden ließ, daß ich nicht seine Mutter war, sondern nur ein armes, geringes Mädchen.

Da gab er mir die Hand und sagte: Du hast Recht, liebe Alte. Aber wenn man denn hier durchaus Alles oder Nichts haben muß, warum soll ich ein für alle Mal verzweifeln, ein glücklicher Mensch zu werden?

Ich schwieg, denn ich getraute mir nicht, von der Einen Hauptsache zu seinem Glücke selber anzufangen. Aber er errieth meine Gedanken schnell und sagte: Es ist wahr, auch wenn mein liebstes Glück sich mir nicht versagen wollte, dürfte ich denn die Hand danach ausstrecken? Wie wunderlich widersprechen sich die Menschen! Mein Vater, der nicht mehr zu Hofe geht, weil er behauptet, der heutige Adel habe all sein Vollblut nur noch in seinen Pferdeställen, was würde er für Augen machen, wenn ich ihm vorschlüge, ein unbescholtenes Mädchen, das in seinem Dienst gestanden, zur Schwiegertochter anzunehmen! Aber das sind auch törichte Einfälle. Ich werde wohl nie in die Versuchung kommen, ihm so etwas zu sagen.

Das beste Mittel dazu, sagte ich, da er ganz kleinlaut schwieg, würde dennoch sein, bald wieder abzureisen. Denn ich bin gewiß, lieber Graf Ernst, wenn das Fräulein Gabriele thut, als hätte sie keine Augen für ihren jungen Gebieter, so weiß sie, was sie thut, als das verständige Mädchen, das sie ist, und es wäre auch ein großer Jammer um das liebe Kind, wenn das Herzchen mit den Augen durchginge, und dann wäre kein Halten mehr, denn das Mädchen kenn' ich, die hat einen heftigen und starken Geist, und wenn der sich einmal entschlossen hat: Ich will dies und das Schicksal auf mich nehmen, und sollt' ich drum sterben und verderben, so stirbt und verdirbt sie, und Keiner hört eine Klage von ihr. Der Himmel weiß, sagt' ich, daß mir's sauer wird, so was vorzubringen, aber besser, mein Herzenssohn, ich muß Sie nach kurzer Zeit schon wieder verlieren, als Sie machen sich und das arme Kind zugleich unglücklich. Denn was Sie von dem Herrn Vater gesagt haben, ist nur gar zu wahr und gewiß, und so sehr ich weiß, daß Sie mit dem Kinde gut durchs Leben fahren würden, so deutlich seh' ich auch, Ihr Schiff scheitert, noch eh es ausgelaufen ist, und dann ist's eine große Unseligkeit für Viele, und mir bricht's das Herz.

So redete ich und meinte Wunder wie vorsichtig und weise gethan zu haben. Aber ich sollte bald erleben, daß ich das Uebel nur ärger gemacht hatte. Denn wenn er Anfangs nicht die geringste Hoffnung gehegt hatte, er könne dem Mädchen so sehr gefallen, wie sie ihm, so legte er jetzt ihre gleichmäßige Art und ihr gemessenes Betragen günstiger für sich aus, als thue sie sich diesen Zwang an, um sich nicht über Gebühr fortreißen zu lassen, und leide selbst darunter. Ich selbst war steif und fest derselben Meinung. Mir schien nicht minder, daß sie seit der Ankunft des jungen Grafen noch viel träumerischer und ernsthafter geworden sei, und ich sah oft Blaß und Roth auf ihrem schönen Gesicht wechseln ohne allen erdenklichen Grund. Ich nahm mir vor, bei der nächsten Gelegenheit noch einmal meinem Grafen Ernst kräftig ins Gewissen zu reden, daß er ein Ende machen müsse, so oder so. Aber die Gelegenheit kam nicht, und sie vom Zaun zu brechen, versäumte ich aus Zärtlichkeit, denn es war mir nichts Kleines, meinen Liebling so bald wieder herzugeben. Und so gingen acht, vierzehn Tage, drei ganze Wochen hin, und täglich sah ich, wie das Unheil wuchs, und andere Augen sahen es auch. Wenigstens hinterbrachte mir der Monsieur Pierre, es sei zwischen den beiden Grafen von der Stockholmer Reise die Rede gewesen und Graf Heinrich habe darauf bestanden, daß sie nicht aufgeschoben werden sollte, wogegen Graf Ernst sich noch eine Bedenkzeit ausgemacht hätte. Seitdem aber sorgte der Vater dafür, daß sie alle Tage von früh bis in die Nacht Ausflüge machten und sein Sohn mit der Schönen Mamsell nicht mehr so lange Conversation machen könne. C'est drôle, sagte der schlaue Mensch, wenn mein Herr selbst in das Mädchen verliebt wäre, könnte er sie nicht sorgfältiger bewachen. Mais je vous en réponds, es ist nichts damit, nicht der Schatten von einer liaison, es wäre das erste Mal, daß mein Herr dergleichen ohne mich zu Stande brächte. Und wie wär' es auch möglich? Haben nicht Alle im Schloß Augen und Ohren offen? Ich meine fast, es steckt was ganz Anderes dahinter, der Graf hat etwa mit ihrer Mutter – Sie verstehen! Aber lassen Sie es unter uns, Mamsell Flor.

Mir gab das alles viel zu denken. Aber ich kam zu keinem Ende, bis es sich endlich von selber und ganz anders auflöste, als mein dummer Kopf sich's träumen ließ.

Denn sehen Sie, eines Abends im October, da gerade einmal kein Ritt in die Nachbarschaft gemacht worden war, sondern Graf Heinrich saß auf seinem Zimmer und rechnete mit dem Verwalter, Graf Ernst aber war mit der Büchse und seinen schweren Gedanken nach Tische schon in den Wald gegangen, da höre ich plötzlich im Hof eine unbekannte Stimme, die einen der Knechte nach Fräulein Gabriele fragt. Das Mädchen war gerade wieder im Garten und schnitt die letzten Georginen und Astern von den Stöcken zu einem Strauß für die gräfliche Abendtafel. Ich also in den Hof und dem Fremden entgegen, und frage nach seinen Wünschen, und bin voller Freuden, als ich höre, daß er der Bruder von Mamsell Gabriele ist und aus England herüber gekommen, nur um seine Schwester einmal wiederzusehen. Sein Wesen, das sehr ernsthaft, einfach und männlich war, gefiel mir, obwohl er von Gesicht und Gestalt viel unscheinbarer war, als die Schwester, und auch in der Kleidung fast nachlässig. Ich heiße ihn herzlich willkommen, sage, wie sich das gute Mädchen freuen würde, ihn wiederzusehen, und führe ihn durchs Schloß nach dem Ausfallthürchen, wo man in den Wall und zu dem Garten gelangt. Da sehen wir denn auch gleich unsere Gabriele zwischen den hohen Blumen stehen, und sie erkennt ihn im Nu. Aber für ein Wiedersehen zweier Geschwister nach so langer Trennung war es doch seltsam, daß sie nicht freudiger auf einander zustürzten. Sie erblaßte wie in einer Ohnmacht, und er streckte ihr mit wenig Worten, die fast mitleidig klangen, die Hand entgegen. Es mag ihnen beiden wohl einfallen, dacht' ich, daß sie sich zuerst als Waisen wiedersehen; ich muß sie nur allein lassen! – Und so ging ich auf mein Zimmer, von wo ich sie im Auge behalten konnte, und sah sie dort noch immer so bei einander stehen, wie ich sie verlassen hatte; nur er sprach lebhaft und, wie es schien, nicht eben fröhliche Dinge, während sie mit gesenktem Kopf ihm zuhörte.

Eine Viertelstunde mochte darüber vergangen sein, da trat plötzlich aus den Buchen mein Graf Ernst heraus und stand still, als er die Beiden im Garten mit einander reden sah, dann ging er stracks auf den Fremden zu, begrüßte ihn artig, und ich sah, wie er sich in ihre Unterhaltung mischte. Was sie sprachen, konnte ich nicht verstehen, da es erst sehr gelassen und leise blieb. Aber jetzt hörte ich den jungen Grafen ausrufen: Sie werden sich's noch überlegen, werther Herr. Wie ist es möglich, über Nacht plötzlich so entscheidende Entschlüsse zu fassen! Und was sagt Ihre Schwester dazu? Wie denken Sie, Gabriele? Sie sehen, lieber Herr, Ihre Schwester ist ganz bestürzt von dem überraschenden Eingriff in ihr bisheriges Leben. Nein, Sie dürfen mit all Ihrer brüderlichen Treue und Sorge doch auch nichts Gewaltsames thun. Ihre Schwester ist uns allen zu werth, zu unentbehrlich, und so viel ich weiß, hat sie bisher keinen Grund gehabt, eine Aenderung ihrer Lage zu wünschen. Bleiben Sie einige Zeit unser Gast und überzeugen Sie sich, daß es sich ganz leidlich in unserer Wildniß leben läßt.

Er reichte dem Fremden die Hand, und dieser nahm sie zögernd, sagte aber einige Worte, die ich nicht verstand, verbeugte sich und ging ins Schloß zurück. Graf Ernst blieb bei dem Mädchen stehen; er schwieg erst und sah ihr nur immer forschend ins Gesicht, das sie zu Boden gesenkt hatte. Dann sprach er rasch und leise, und ich glaubte jedes Wort zu ahnen, was er über die Lippen brachte. Auf einmal ließ sie den Strauß fallen, bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und schritt blindlings mit heftig vorbrechenden Thränen von ihm weg dem Walde zu.

Er blickte ihr lange in tiefen Gedanken nach, wagte aber nicht, ihr zu folgen. Doch wie er sich nach dem Schlosse wandte, sah ich sein Gesicht, das wie strahlend war, und einen Ausdruck hatte, dessen ich mich aus seinen Kinderjahren noch wohl entsann, wenn er nach dem langen Winter zum ersten Mal wieder die Sonne überm Wald heraufsteigen und die schöne Frühlingszeit ankündigen sah.

Ich war so bewegt, daß ich nur still die Hände faltete und betete, was mir gerade einfiel. Indem hörte ich auf dem Corridor draußen die Stimme des Fremden, der Monsieur Pierre fragte, ob der Herr Graf jetzt zu sprechen sei. Er blieb lange droben beim Herrn, und ich hörte über meinem Kopf hin- und hergehen und bei den offenen Fenstern laut und gebieterisch reden. Dann kam der Fremde wieder herunter und bald darauf auch Graf Heinrich, und dann ließ sich Monsieur Pierre bei mir blicken und schüttete alle Neuigkeiten aus, die er oben im Vorzimmer belauscht hatte.

Ja, lieber Herr, es hatte seine Richtigkeit damit, der Bruder war eigens aus England gekommen, um die Gabriele aus dem Schloß fortzunehmen. Aber wissen Sie, was ihn dazu gebracht hatte? Das Duell mit dem Lord, das war an Allem Schuld. Es war was davon in die englischen Zeitungen gekommen, mit Namen unseres Grafen und darauf hatte man ein paar Tage lang in London davon gesprochen, und eine Menge alter Liebes- und Ehrenhändel unseres Herrn waren wieder aufgewärmt worden, daß es dem Bruder keine Ruhe ließ; er reiste Tag und Nacht, und wollte nichts Geringeres, als seine Schwester nur so gleich wie sie ging und stand an die Hand nehmen und wieder umkehren mit ihr nach England. Mon cher, hatte der Graf ganz kaltblütig erwiedert, Sie sind ein großer Thor. Aber das ist Ihr eigener Schade, und ich will mit Ihnen nicht einmal darüber streiten, durch wen der Name Ihrer Schwester mehr compromittirt wird, durch mich, der eine Insolenz, mit der man ihr zu nahe getreten, in geeigneter Weise gezüchtigt hat, oder durch Sie, der Sie das Mädchen aus einem Orte, wo Jeder sie kennt und achtet, Knall und Fall an einen fremden Ort wegführen wollen, wo es mehr insolente Lords giebt, die Ihnen dann nicht den Gefallen thun werden, sich von Ihnen zerschießen zu lassen. Aber, wie gejagt, das ist Ihre Sache. Die meine dagegen ist, erstens, daß Sie den freien Willen Ihrer Schwester respectiren, da sie großjährig ist, und zweitens, daß der Kündigungstermin eingehalten werde. Ich kann meine Dienstleute nicht so von heut auf morgen entlassen, wie es ihnen vielleicht bequem ist.

Darauf hatte der junge Mann eine Menge Einwendungen gemacht, immer in einer kurz angebundenen, geschäftsmäßigen Art und ließ sich sogar von seiner Hitze fortreißen, dem Grafen eine Entschädigungssumme für den gebrochenen Contract anzubieten, worauf aber der Graf ihm den Rücken zukehrte, ins Nebenzimmer ging und den kecken Mann stehen ließ. Der hatte sich noch eine Weile besonnen und war dann eilig aus dem Schloß fortgegangen, wahrscheinlich, sich beim Bürgermeister im nächsten Ort Raths zu erholen, wie weit er sich in seinem Falle auf das Gesetz berufen und den Grafen zwingen könne, die Schwester herauszugeben.

Mir sauste und summte von alle dem der Kopf, daß ich noch weniger als sonst für die abgestandenen Späße des Monsieur Pierre Ohren hatte, sondern nichts wünschte, als geradezu die Gabriele zu befragen, wie es ihr ums Herz sei. Denn das war doch endlich die Hauptsache. Also ging ich in das Zimmer der Mamsell hinüber, um sie dort abzuwarten. Es sah da noch immer genau so aus, wie zuerst, als sie es bezog, die vergoldeten Spiegel, Bilderrahmen und Möbel, die Tapeten von grüner Seide mit großen Mustern in Velours, und unter dem Baldachin mit den grünseidenen Umhängen das ganz schlichte Domestikenbett, und der Koffer mit den paar Kleidern der Mamsell daneben an der Wand. Zum ersten Mal dacht' ich ernstlicher darüber nach, wie das wohl sein würde, wenn hier wieder eine junge Gräfin wohnte, und male mir das alles so aus und betrachte dabei das Bild vom Grafen Heinrich aus seiner Bräutigamszeit, das unten überm Sopha hängt – Sie können es morgen sehen – und wische, wie ich's so in Gedanken zu thun pflege, mit meiner Schürze hie und da ein Stäubchen von den Marmortischen – da höre ich ein Geräusch, wie von Mäusen, die hinter der Tapete rascheln, und stehe still, um zu horchen, woher es wohl kommt. Nun ist da ein großer Wandspiegel im Zimmer mit breiten Rococorahmen, lebensgroß und bis an den Boden reichend, genau wie jener im oberen Geschoß in des Grafen Heinrich Zimmer. Dahinter schien es zu nagen und zu rascheln, und ich suche schon mit den Augen unten am Parket nach einem Mausloch, da fängt der Boden an, sich zu verschieben, mein Bild im Spiegel kreist, wie wenn mir's schwindelte, ich fahre erschrocken zurück und sehe, wie sich hinter dem aufgähnenden Spiegelrahmen die Wand öffnet, und ins Zimmer tritt – mein junger Graf Ernst!

War ich entsetzt, so war er nur wie verwundert. Flor, sagt er, guten Abend! Da bin ich auf einem seltsamen Diebsweg zu dir geschlichen, von dem ich nie vorher etwas geahnt habe. Denke nur, ich gehe zu meinem Vater hinauf und finde ihn nicht, und denke: ich will ihn erwarten, denn die Nacht soll nicht darüber vergehen, bis Alles klar und im Reinen ist. Ich habe mit ihr gesprochen, der Bruder will sie uns entführen; ich fragte sie, ob es ihr leicht werde, uns zu verlassen, ob sie nicht mir zu Liebe bleiben würde, – da brach sie in Thränen aus und ging eilig von mir. Endlich glaube ich dir, Flor, es stand nichts zwischen uns, als das Wappen überm Portal. Wir können es ruhig stehen lassen und darunter weg in ein glückliches Haus eintreten. Und eben denke ich noch an alles, was ich dem Vater zu sagen habe, da sehe ich oben an einem Wandspiegel eine Stelle im Rahmen, die schadhaft ist, wie mir scheint. Ich bohre so in der Zerstreuung mit dem Finger daran, plötzlich setzt sich der Spiegel in Bewegung, die Mauer öffnet sich, und ich starre in einen engen, finstern Gang. Aber kaum habe ich ihn aus Neugier betreten, so schließt sich's hinter mir von selbst, und nun, da ich im Dunkeln weder einen Thürgriff noch eine Feder entdecken kann, bleibt mir nichts übrig, als tastend vorwärts zu gehen, erst eine Strecke weit gerade aus, dann ein Wendeltreppchen hinab, Alles stockfinster, bis ich unten wieder in einem engen Schlupfgange ankomme und vor einer Wand Halt machen muß. Ich gestehe, daß mich mehr wie Ein kalter Schauer überlief, bis ich Alles durchgetastet hatte und endlich hinter die Mechanik kam. Was tausend, sagte er ganz lustig, stecken in unserem Schloß noch mehr solcher Maulwurfs-Verließe? Und wo bin ich denn hier? Das ist doch nicht dein Zimmer, Flor? Das ist ja, wenn mir recht ist – ja wohl, hier hat meine arme Mutter gewohnt; und jetzt – wie ist mir denn? Wohnt jetzt nicht –

Er hielt plötzlich inne, sah mich mit einem Blick an, in dem eine furchtbare Angst aufflackerte, und schloß dann die Augen, als könne er den Anblick keines Menschen mehr ertragen. Ich selbst war mehr todt als lebendig. Aber ich nahm mich zusammen und sagte: Nur wegen der Gesundheit, weil dieses Zimmer die Sonne hat, hat der gnädige Herr Graf bestimmt, daß unsere Gabriele hier wohnen soll. Lieber, theurer Ernst, was ist Ihnen? Was kann Ihnen nur so heftig die Gedanken verstören? Der Gang – sehen Sie – Niemand wußte von ihm – schwerlich wohl Ihr Herr Vater selbst; die Mechanik ist freilich unverrostet und dreht sich ganz sacht in den Angeln; aber glauben Sie doch nicht, bester Ernst – und wie soll auch Staub und Nässe daran kommen, so wohlverwahrt wie Alles ist? Es ist ein Zufall, sagt' ich (und wollte mir's selber einreden) – wie wäre es nur möglich? Das Mädchen, das so streng auf seine Ehre hält, und der Herr Graf, der erst vor wenigen Monaten – und nun kramte ich in meiner Einfalt und Herzensangst die Geschichte von dem Duell aus, und meinte Wunder, wie sehr ich ihn und mich damit beruhigen müßte. Aber indem ich erzählte, fielen mir erst recht die Schuppen von den Augen. Schlägt man sich auch um die erste, beste Dienerin? Und wie ich das bedachte, kam ich plötzlich ins Stocken und konnte nichts Gescheiteres mehr vorbringen, als: Es wäre ja unerhört, und es muß ein Irrtum sein, oder ich werde irre an der ganzen Welt und dem Herrgott im Himmel.

Da schlug er die Augen wieder auf und sah nur zufällig das Bild des Vaters drüben an der Wand und streifte dann mit einem Blick den kleinen Koffer, der neben dem Bett stand und ich fühlte wohl, er glaubte an keinen Irrtum. Ich hatte in der Aufregung seine Hand gefaßt, die ganz welk und kalt war, aber ich spürte kein Zucken oder Leben an ihr. Flor, sagte er mit stiller Stimme, du wirst es Niemand sagen, daß wir uns hier getroffen haben. Niemand, Flor! Versprich mir das.

Ich drückte seine Hand mit meinen beiden und konnte kein Wort mehr sprechen, denn ich hatte ein Gewicht auf der Brust, wie von zehn Mühlsteinen. Er aber machte seine Hand sanft von mir los und ging aus dem Zimmer.

Wo er den Abend blieb, habe ich nie erfahren. Es wußte aber an jenem Tag überhaupt Niemand vom Andern; Graf Heinrich kam nicht in die Halle hinunter, der Bruder der Mamsell Gabriele blieb in der Stadt, sie aber steckte noch immer im Wald, da es schon ganz dunkel geworden war. Ich selbst, sobald mich meine Kniee wieder tragen wollten, retirirte mich in mein einsames Zimmer, denn ich wollte von der Welt nichts sehen und hören, am wenigsten aber der Gabriele begegnen. Ich muß es bekennen, lieber Herr, ich habe sie an dem Abend gehaßt, wie meine Todfeindin. Hundertmal habe ich vor mich hin gesagt: Wenn doch der Erdboden sich unter ihr aufthäte! Wenn doch der Wald über ihr zusammenschlüge und sie begrübe, ehe sie Vater und Sohn einander noch fremder macht, als sie sich leider schon sind! Hundertmal warf ich mir's vor, daß ich mich damals von ihren Trauerkleidern und dem blassen Gesicht bereden ließ, gegen meine Ahnung, sie ins Schloß aufzunehmen. Und nun stellte ich mir meinen Grafen Ernst, meinen Liebling vor, wie er jetzt wohl im halben Wahnsinn durch die Nacht herumschweife und sich aus dem schönsten Traum, den er je geträumt, aus der einzigen Lebensfreude, die ihm schon als blutjungen Menschen vorgeschwebt, ein Verbrechen mache, eine Versündigung an der Natur und an allem, was ihm heil war. Was soll daraus werden? jammerte ich immer wieder und rang die Hände und war so trostlos, daß ich meinte, wenn der Morgen anbreche, müsse die Welt untergehen.

Als ich so gegen Schlafenszeit das Mädchen draußen an meiner Thür vorüber und in ihr Zimmer gehen hörte, zitterte ich am ganzen Leibe vor Abscheu und Empörung, und ich hätte für nichts gestanden, wenn sie zufällig hereingekommen wäre. Hätte sie meinen Ernst mit Gift vergeben, ich wäre ihr minder gram gewesen. Nun stellte sich mir die Vergangenheit wieder vor Augen, und ich konnte nicht begreifen, daß ich so blind gewesen war; ich schalt sie, um mir nicht allzu einfältig vorzukommen, die verschmitzteste Heuchlerin, die jemals Männern nachgestellt und ihrem eigenen Geschlecht Sand in die Augen zu streuen verstanden habe, und band mir endlich ein großes seidenes Tuch fest über die Ohren, aus Furcht, ich möchte drüben in der Nacht ein Geräusch hören und unfreiwillig Zeuge sein, wenn sie Besuch empfing.

Ich weiß daher auch nicht, ob sie allein blieb oder nicht. Ich hatte mein Lämpchen angezündet und las im Gesangbuch; aber Gott verzeih mir's, ich wußte nicht, was ich las. Hunger hatt ich auch, da ich nicht zum Essen hinunter gegangen war, und auch da gab ich dem Mädchen Schuld, das nun einmal mein Sündenbock sein mußte. Denn dem Herrn Grafen noch irgend etwas übel zu nehmen, hatt ich mir längst abgewöhnt. Und so muß ich wohl endlich vor Hunger, Gram und Grübeln eingeschlafen sein, auf dem Lehnstuhl, wo ich gelesen hatte. Wenigstens erwachte ich auf einmal, wie sich eine Hand mir auf die Schulter legte, denn hören konnte ich ja nichts wegen des Tuchs.

Die Lampe war ausgebrannt, und durchs Fenster sah der erste graue Tag ins Zimmer. Neben meinem Stuhl aber stand meine Feindin, die Mamsell Gabriele. Ich starrte sie groß an, denn sie hatte ihr Strohhütchen auf und ein braunes Umschlagetuch über der Brust zugesteckt, dazu einen Sonnenschirm in der Hand. Nun mußte ich mich wahrlich besinnen, was sich gestern zugetragen hatte, und inzwischen hatte ihr stilles, trauriges Gesicht Zeit, mir durch die Rinde von Haß, die sich mir ums Herz gelegt hatte, durch und durch zu blicken. Ich band mir das Tuch vom Kopf, da sie zu sprechen anfing, und stand auf.

Um Gotteswillen, sagte ich, was führt Sie denn zu mir? Wie spät ist es denn, habe ich denn geschlafen?

Liebe Mamsell Flor, sagte sie, es ist etwa vier Uhr Morgens, und es thut mir leid, daß ich Sie habe wecken müssen. Aber ich habe notwendig mit Ihnen zu reden. Sie sind immer gütig gegen mich gewesen, und es würde mir weh thun, wenn Sie ungleich von mir dächten und den Schritt, den ich thun muß, nicht völlig begriffen.

Was haben Sie nur vor? unterbrach ich sie. Sie sind ja ganz reisefertig! Sie werden doch nicht vor Thau und Tage das Schloß verlassen? Und Ihr Bruder ist noch nicht einmal zurück.

Ich will ihm nach, sagte sie, und ihn bitten, daß er mit mir fliehen soll bis ans Ende der Welt. O, hätte ich früher die Kraft gehabt, mich loszureißen, ich wäre ja auch unselig gewesen und hätte mein Herz hier zurückgelassen, aber die Schuld folgte mir nicht nach, und ich könnte getrost von Ihnen Abschied nehmen, meine mütterliche Freundin. Jetzt werden Sie mir vergeben, das weiß ich wohl, weil Sie gut sind und mitleidig, aber es wird Ihnen immer weh thun, wenn Sie in Zukunft meinen Namen hören oder sich an mich erinnern, da ich so großes Unheil gestiftet und Ihrem theuren Pflegesohne den schwersten Schmerz bereitet habe, den ein Mann nur fühlen kann. Liebe Mamsell Flor, er hat gestern um mich geworben, und ich – ich gehöre seit dem Frühjahr seinem Vater an!

Darauf schwieg sie, wie erstarrt von dem Klang ihrer eigenen Worte. Ich aber, wie ich sie das alles selbst sagen hörte, was mich noch gestern so in Wuth und Abscheu gegen sie gebracht hatte – sehen Sie, lieber Herr, eine eigene Tochter hätte mich nicht schneller wieder gut gemacht. Dabei stand sie vor mir wie das Bild des Grams, die Augen eingedrückt, als schmerze sie jeder schwache Lichtstrahl, der auf ihr unglückliches, verlorenes Leben fiel, und nur ihre Brust arbeitete schwer und gewaltsam. Ich war auch ganz verstummt, und sagte endlich, um nur was zu sagen: Setzen Sie sich doch, sie haben einen weiten Weg vor sich! – und wurde dann roth über diese einfältigen Worte, die ja gar nicht hinpaßten. Sie that auch, als habe sie es nicht gehört, und sagte nach einer Weile: Sie wissen es wohl, daß ich allen Muth zusammen genommen habe, um mich noch bei Zeiten zu retten. Denn ich war mir bald genug darüber klar, wie es um mich stand. Ich habe keine leichtsinnige Gemütsart, liebe Flor, und in dieses Schicksal bin ich mit offenen Augen hineingegangen, und dachte genau den Weg zu kennen, den ich ging. Daß er an diesen Abgrund führen sollte, ahnte mir freilich nicht. »Mit offenen Augen«, sage ich? Waren sie denn auch klar? Standen nicht die Tränen noch darin, die ich weinte, als ich das Blut aus seinem verwundeten Arm tropfen sah und dachte, daß ich die Ursache sei? Er kannte mein Herz nur zu gut. Er hatte lange um mich geworben, und mehr als einmal hatte ich ihm erklärt, daß ich die Seine nicht sein würde, außer als sein angetrautes Weib. Das kann nie geschehen, hatte er gesagt. Ich habe einen Sohn, dem ich sein Erbe nicht schmälern darf, der scheel sehen würde, wenn ich ihm eine junge Stiefmutter gäbe. Und da wir uns ohnedies nur zur Noth vertragen, käme es durch diesen Schritt zum offenen Bruch. – Dies alles bewies er mir deutlich, aber es änderte meinen Sinn keinen Augenblick. Erst von ihm habe ich das Wort »Gewissensehe« gehört; meine ganze Religion stritt dawider, und dann war ein Stolz in mir, der lehnte sich auf gegen das Heimliche. Wenn Zwei es werth sind, sich anzugehören, und ihr Gewissen zum Zeugen nehmen dürfen, sollen sie es vor den Menschen verbergen, wie eine Sünde? So litt ich Tag und Nacht, und Gott weiß, wie es in mir kämpfte. Flor, diesen Mann, der so gewaltig ist, so herrisch und stolz – ihn bitten zu hören, ihn leiden zu sehen, und dabei in der einsamen Wildniß dieses Waldes neben ihm fortzuleben, wo uns Niemand zu Hülfe kommt, Niemand zu rathen vermag, als das eigene Herz, das ist furchtbar. Und das Furchtbarste war, als er Monate lang kein Wort mehr mit mir sprach, keinen Blick an mich wandte, und ich nur sah, wie die stumme Leidenschaft an ihm zehrte, und endlich das Blut an seinem Arm – da war ich zu Ende mit meiner Kraft, da gab ich mich besiegt, und, liebe Flor, wenn es wirklich einen Mädchenstolz giebt, der durch alle diese Blut- und Feuerproben nicht wankend geworden wäre, ich würde ihn kaum beneiden können.

Wir haben uns ewige Treue angelobt, fuhr sie fort, und ewiges Geheimniß. Ich war ruhig in meinem Gemüth, glücklich noch nicht. Nicht, daß ich an ihm gezweifelt hätte! Ich weiß es: was auch immer hinter ihm liegt – und er hat sich in meinen Augen nie besser machen wollen, als die Welt ihn kennt – von nun an wird er nie ein anderes Weib lieben, als mich, wie ich nie einen anderen Mann, als ihn. Aber eine schwere Ahnung von Traurigem, das unfehlbar bevorstände, umgab mich, und nun ist es eingetroffen, und mein Leben ist für immer zerstört.

Ich kann nicht stehen bleiben, fuhr sie fort, wo ich stehe, zwischen ihm und seinem Sohn. Hätte Graf Ernst, als er hierher kam, mich gefunden als seines Vaters rechtmäßige Gattin, so wäre die alte Jugendflamme schnell erstickt und Alles klar zwischen uns gewesen. Nun hat das unselige Geheimniß diese bittere Frucht getragen. Ich habe mich mit Gott berathen, sagte sie, was ich zu thun habe. Ich muß Alles auf mich allein nehmen und durch meine Flucht zu retten suchen, was noch zu retten ist; denn wäre ich jetzt todt, so wäre es für Alle das Beste. Nun muß ich dem Tode vorgreifen und mich hier aus dem Wege räumen, daß ich verschalle für immer. Ich werde meinem Bruder Alles gestehen, auch diese Buße soll mir nicht geschenkt sein, und den Rest meiner Tage werde ich einsam hinleben; aber es wird mir ein tröstlicher Gedanke sein, liebe Flor, zu glauben, daß Sie mir freundlich gesinnt bleiben.

Da ergriff ich erst ihre Hände, und dann streichelte ich ihr die Wangen und sagte: Liebe Gabriele, ich werde Sie nie vergessen, mein Herz wird Sie überall hin begleiten. – Und es war rührend, zu sehen, wie eine sanfte Freude bei diesen Worten ihr das Gesicht röthete und sie tief aufathmete, als fiele ihr ein Stein vom Herzen. Darauf bat sie mich noch, ihr beizustehen, daß ihre Flucht glücklich von Statten ginge. Wenn man im Schloß bemerkte, daß sie fort sei, möchte ich sagen, sie sei zu ihrem Bruder in die Stadt, um ihn zu bewegen, allein nach England umzukehren. Auf den Abend schon oder spätestens den anderen Tag werde sie wiederkommen. Ich schreibe dann an den Grafen, sagte sie, wenn ich jenseits des Meeres bin. Ihnen aber, beste, theuerste Freundin, werde ich diesen großen Dienst und all Ihre Liebe und Treue bis an meinen Tod nicht vergessen.

Sie fiel mir um den Hals und weinte so bitterlich, daß ich ebenfalls unter vielen Thränen sie zu trösten suchte, aber nur ganz einfältige Dinge sagte, denn es sah übel aus in meinem armen alten Kopf, und ich schluchzte nur immer: Armes Kind, Gott behüte Sie! vergessen Sie die alte Flor nicht ganz, ich habe Ihnen Unrecht gethan, sie sind viel zu gut, um so unglücklich zu werden! –

Als ob die guten Menschen auf Erden immer ein großes Loos ziehen müßten! Als ob meine selige Gräfin nicht schon hienieden ein Engel gewesen wäre!

Endlich hörten wir die ersten Vögel draußen im Wald, da richtete sich das holde Geschöpf muthig auf, trocknete ihre Augen und gab mir zum Abschied die Hand. Sie war so wunderschön, wie sie dann mit einem wehmütigen Lächeln mir auf der Schwelle der Thür noch einmal zunickte, daß ich selbst wie verliebt ihr nachsah und dann ans Fenster lief, um ihr auf dem Weg durch das Ausfallthürchen in den Wald noch einen Gruß nachzuwinken. Der Morgen graute langsam über den Bäumen; sie standen unbewegt wie im Schlaf, eben fing es an zu thauen, und es ist mir, als fühlte ich es noch heut, wie es meinem heißen Kopf wohlthat, zum Fenster hinauszulehnen und das Fieber darin austoben zu lassen, während die feuchte Luft mir ums Haar rieselte. Ich wußte noch gar nicht mich in Alles zu finden. Einen Augenblick dachte ich: Gott sei gelobt, der dem Mädchen so viel Muth und Besinnung ins Herz gegeben hat, zu gehen und so mit Einem Schritt Alles abzuthun; und dann kam mir's wieder in den Sinn: Wenn es seine Richtigkeit hat mit dem, was sie Gewissensehe genannt hat, wie darf das Weib vom Manne weggehen, als wäre sie noch Herr über ihr Leben? – Und doch wieder fiel mir, mit jedem Schritt, den sie vom Schloß weg in die Welt hinein that, ein Loth mehr von der Zentnerlast vom Herzen, und ich bildete mir ein, wenn mein armer Ernst sie nur sein Lebtag nicht wieder zu sehen brauchte, sei Alles gut, und für das Uebrige könne man den Himmel sorgen lassen.


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