Alexander Herzen
Wer ist schuld?
Alexander Herzen

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Sechstes Kapitel.

Iwan Afanassjewitsch Medusin, Lehrer der lateinischen Sprache und Inhaber einer Privatschule, war ein sehr vortrefflicher Mann. Er glich in nichts einer Meduse. Aeußerlich nicht, weil er kahlköpfig, innerlich nicht, weil er nicht von Bosheit, sondern von Liqueur erfüllt war.

Medusin wurde er im Seminar genannt, erstens weil er überhaupt irgend einen Namen haben mußte, und dann zweitens, weil die Haare des zukünftigen Gelehrten alle von einander abstanden und sich durch eine ungewöhnliche Dicke auszeichneten, so daß man sie für Draht hätte halten können; allein die zerstörende Macht der Zeit und der Wind hatten sie zerstreut.

Aus dem Seminar brachte Iwan Afanassjewitsch außer dem angenehmen mythologischen Familiennamen jene gründliche Bildung mit heim, welche gewöhnlich die Seminaristen bis zum letzten Tage ihres Lebens geleitet und ihnen jenes eigentümliche Gepräge verleiht, an welchem man bei allen Aufzügen den ehemaligen Seminaristen erkennt. Aristokratische Manieren waren nicht die hervorstechendsten Eigenheiten Medusins: er konnte sich niemals entschließen, seine Schüler mit »Sie« anzureden und in der Unterhaltung Worte zu vermeiden, die in guter Gesellschaft selten gebraucht werden.

Iwan Afanassjewitsch stand in den Fünfzigern. Erst hatte er in verschiedenen Familien Unterricht gegeben, dann es aber dahin gebracht, daß er sich eine eigene Schule gründen konnte.

Einst traf ihn ein Lehrer, Namens Kafernaumski, der sein Freund und in alten Zeiten ebenfalls ehemaliger Seminarist war und sich dadurch auszeichnete, daß er seit dem Tage seiner Geburt niemals aus dem Schweiß gekommen und bei dreißig Grad Frost sich fortwährend die Stirn wischte, während es bei dreißig Grad Wärme einfach von seinem Gesicht tropfte, – dieser Mann also traf Iwan Afanassjewitsch im Schulzimmer und sagte zu ihm – absichtlich und in Gegenwart von Zeugen:

»Ich glaube, Iwan Afanassjewitsch, wenn ich mich nicht irre, naht Ihr Namenstag heran. Natürlich werden wir ihn auch in diesem Jahre in gewohnter Weise feierlich begehen.«

»Wollen sehen, Verehrtester, wollen sehen,« antwortete Iwan Afanassjewitsch lächelnd und beschloß, diesmal seinen Namenstag großartiger denn je zu feiern.

Das Hauswesen des Iwan Afanassjewitsch war nicht »eingerichtet«. Seit fünfzehn Jahren lebte er in N.; allein man konnte glauben, er habe sich erst gestern in der Stadt niedergelassen und noch nicht die Zeit gefunden, sich etwas anzuschaffen. Das geschah weniger aus Geiz, als vielmehr aus vollständiger Unkenntnis der Dinge, die ein in der bürgerlichen Gesellschaft lebender Mensch braucht. Indem er die Vorbereitungen zu einem Balle traf, musterte er seine Wirtschaft: es zeigte sich, daß er sechs Theetassen hatte; zwei davon hatten sich in Gläschen verwandelt, weil sie den einzigen Henkel verloren hatten; für alle zusammen waren drei Untertassen vorhanden; dann hatte er noch einen Samowar, einige Teller, die auf dem Tische wackelten, da die Köchin dieselben als Ausschuß gekauft hatte, ferner zwei Weingläser, die Medusin bescheiden seine »Schnapsgläschen« nannte, und drei Pfeifenrohre, die sich mit einem gewissen Schmutz verstopft hatten, – wahrscheinlich damit kein Zugwind hindurchdringe.

Das war alles. Nun aber hatte er sämmtliche Schullehrer eingeladen. Lange sann er hin und her, wie er's anfangen sollte, und endlich rief er seine Köchin Pelagia herbei (wohlgemerkt: er nannte sie niemals Pelagia, sondern, wie der Name eigentlich lautet, Pelagea).

Pelagia war die Frau eines tapferen Kriegers, der eine Woche nach der Hochzeit zur Armee abgegangen war und seitdem keine Zeit gefunden hatte zurückzukehren oder Nachricht von seinem Tode zu senden, wodurch er Pelagia in die sehr unangenehme Lage einer Witwe brachte, welche im Verdacht steht, daß ihr Mann noch am Leben sei.

Ich habe tausend Gründe zu glauben, daß die dicke große Pelagia, das Haupt mit einem Tuche umwunden, mit einem Wahrzeichen im Gesicht und mit sehr dunklen Brauen geschmückt, nicht nur die Küche, sondern auch das Herz Medusins leitete; aber ich werde euch dieselben nicht angeben, weil mir Privatgeheimnisse heilig sind.

Pelagia erschien.

Er erklärte ihr, in welch schwieriger Lage er sich befinde.

»Aber Sie sind doch ein so kluger Mann,« antwortete Pelagia, »und obendrein so gelehrt, – verzeih mir's Gott, so gelehrt wie ein unvernünftiger Knabe! Rufen da so eine Menge zusammen und ein ander Mal kann man Ihnen nicht einmal zehn Kopeken Waschgeld abzwacken! Was sollen wir jetzt beginnen? Es ist ja eine Schande vor den Leuten: wir sind ja wie abgebrannt.«

»Pelagea!« rief Medusin mit Donnerstimme, »mißbrauche meine Geduld nicht; ich will einmal meinen Namenstag mit meinen Freunden feiern; da dulde ich keinen weiblichen Widerspruch.«

Hier war der Einfluß Cicero's für jeden deutlich zu erkennen; aber Pelagia war durch die Nachricht von dem Fest in solche Aufregung gerathen, daß sie an Cicero nicht dachte.

»Meinetwegen, nun ich schweige ja auch; es steht Ihnen ja frei, das Geld zum Fenster hinauszuwerfen, wenn Ihnen das Vergnügen macht. Geben Sie mir fünfzig Rubel und ich kaufe alles – ohne die Getränke.«

Pelagia wußte sehr wohl, daß Medusin ihre Worte nicht gefallen würden, und als sie daher ihren Spruch gesagt hatte, stemmte sie im Bewußtsein ihrer persönlichen Würde den Ellenbogen in die eine Hand, und erwartete ruhig die Wirkung ihrer Worte.

»Fünfzig Rubel für dieses Zeug! Na, da müßt' ich ja vollkommen verrückt sein! Fünfzig Rubel ohne die Getränke?! Welch' eine Verrücktheit! Welch' ein dummes altes Weib? Hast du denn gar kein Gewissen? So geh nur zum Popen Joanikius, bitte ihn, zum vierundzwanzigsten dieses Monats zu mir zu kommen und leihe dir von ihm Geschirr für einen Abend.«

»Das ist ja herrlich – in fremden Familien Geschirr zusammenbetteln!«

»Pelagea, ist dir dieser Mann bekannt?« fragte Medusin, auf einen in der Ecke stehenden Stock zeigend.

Als Pelagia ihren Bekannten erblickte, ging sie hinaus in die Küche, um ihren Mantel und ihr seidenes Tuch umzunehmen, und begab sich dann brummend zum Vater Joanikius. Medusin jedoch setzte sich an den Schreibtisch und verbrachte eine Stunde in tiefem Grübeln; dann ergriff er plötzlich ein Blatt Papier und schrieb – ihr glaubt wohl: einen Commentar zur Aeneïde oder zu Eutrop's Abriß der Geschichte? Aber da irrt ihr euch. Er schrieb Folgendes:

1) Russische Grammatik und Logik verbraucht viel.
2) Geschichte und Geographie ziemlich viel verbraucht.
3) reine Mathematik schlecht.
4) französische Sprache viel Wein.
5) deutsche Sprache sehr viel Bier.
6) Zeichnen und Schönschreiben blos Liqueur.
7) ReligionIn der ersten in Rußland erschienenen Ausgabe hatte die Censur die »Religion« mit »griechischer Sprache« vertauscht. verschlingt alles.

Nach diesen anthropologischen Bemerkungen brachte Iwan Afanassjewitsch das entsprechende Programm zu Papier:

1 Eimer Santorin 16 Rubel Kop.
½ " Brantwein 8 " "
½ " Bier 4 " "
2 Flaschen Meth " 50 "
10 " Medoc 10 " "
3 " Jamaika 4 " "
1 Flasche Liqueur 2 " 50 "

Summa: 45 Rubel Kop.

Medusin war mit der Berechnung zufrieden; es war nicht sehr theuer und doch genug zum Trinken da; außerdem bestimmte er noch eine bedeutende Summe Geld zum Ankauf von Kuchen, Schinken, Caviar, Citronen, Heringen, Tabak und süßen Pastetchen, – letztere schon mehr aus Luxus als aus Notwendigkeit.

Gegen sieben Uhr kamen die Gäste an. Gegen neun Uhr strömte schon von Kafernaumski's Gesicht ein Platzregen; um zehn Uhr wollte der Lehrer der Geographie, als er mit dem Lehrer der französischen Sprache von dem Tode seiner Frau sprach, vor Lachen vergehen, obgleich jener durchaus nicht begreifen konnte, was denn eigentlich an dem Tode der ehrenwerthen Dame lächerlich sei. Aber noch weit bemerkenswerther ist, daß auch der Franzose, der trostlose Witwer, wenn er ihn anblickte, in Lachen ausbrach, obgleich er nur Wein getrunken hatte.

Medusin ging seinen Gästen selbst mit gutem Beispiel voran. Er trank unablässig alles, was Pelagia ihm präsentirte: Punsch und Bier, Brantwein und Santorin; es glückte ihm sogar, ein Glas Meth zu erwischen, wovon es nur zwei Gläschen gab. Durch ein solches Beispiel ermuntert, blieben die Gäste hinter dem Wirth nicht zurück.

Nur Kruziferski, den der Hausherr anstandshalber eingeladen hatte, weil er dem höheren Gelehrtenstande der Stadt angehörte, – nur Kruziferski betheiligte sich nicht an dem allgemeinen Lärmen und Schmausen. Er saß in einer Ecke und rauchte seine Pfeife.

Der scharfe Blick des Wirths traf endlich auch ihn:

»Dmitri Jakowlewitsch, ist Ihnen nicht ein Glas Punsch mit Citronensaft gefällig? . . . Na, in der That, Sie dürfen nicht den Kopf so hängen lassen; trinken selbst nicht und stören noch die andern.«

»Sie wissen, Iwan Afanassjewitsch, ich trinke niemals.«

»Von solchem Unsinn mag ich nicht hören, mein Verehrtester; Sie mögen trinken oder nicht; aber auf einem Freundesschmause muß poculirt werden; und dann freundschaftliche Unterhaltung und . . . Pelagia, bring mal ein Glas Punsch, – und zwar recht starken!«

Die letztere Bemerkung motivirte sich der Wirth wahrscheinlich damit, daß Kruziferski auch keinen schwachen Punsch trinken mochte.

Pelagia brachte ein Glas Kislarschen Spiritus, in welchem ein sichtlich sinnlos betrunkenes Stückchen Citrone lag und worin einige Theelöffel voll heißen Wassers spurlos verschwunden waren.

Kruziferski nahm das Glas, um sich des Wirths zu entledigen und in der Hoffnung, daß er Gelegenheit finden werde, drei Viertel des Inhalts zum offenen Fenster hinauszuschütten. Das war jedoch nicht so leicht, weil Medusin seine Bostonpartie von einem andern spielen ließ und sich zu Kruziferski setzte.

»Siehst du, Dmitri Jakowlewitsch, ich muß dir aufrichtig sagen, du hast mich außerordentlich verbunden, wahrhaft freundschaftlich verbunden; das ist doch nichts, in deinen Jahren sich zu Hause einsperren; natürlich hast du ein junges Weibchen; na, aber man muß doch auch mal einen Blick in eine andere Welt thun. Na, Dmitri Jakowlewitsch, dafür laß dich küssen.«

Und ohne die Erlaubnis abzuwarten und ohne Rücksicht darauf zu nehmen, daß er einen Dunst ausströmte wie eine offene Wirthshausthür, drückte er seine dicken Lippen ziemlich fest auf Kruziferski's Wange. Dann umarmte auch Kafernaumski, von welchem der Schweiß förmlich herabströmte, ohne ein Wort zu sagen, Dmitri Jakowlewitsch. Dieser wollte sich das Gesicht abwischen, ohne seinen Collegen von der Volksaufklärung sichtlich zu beleidigen, und so trat er in eine Ecke und zog sein Taschentuch hervor.

Da stand der Lehrer der französischen Sprache, der trostlose Witwer, vor ihm, jedoch mit dem Rücken, ferner Gustav Iwanowitsch, der Lehrer der deutschen Sprache, der in diesem Augenblick sein Bier vollständig ausgetrunken hatte und seine Pfeife rauchte.

Beide bemerkten Kruziferski nicht und setzten in halblautem Ton ihr Gespräch fort. Es versteht sich von selbst, daß Kruziferski gar nicht hätte hören mögen, was sie sprachen; aber der Name Beltoff wurde zugleich mit seinem eigenen ziemlich laut genannt, – da fuhr er zusammen und hörte instinktmäßig zu.

»Das ist ein alter Scherz,« sprach der Franzose; »und wenn Adam keine Hörner getragen hat, so kam das nur daher, weil er im Paradies der einzige Mann war.«

»Ja, ja,« antwortete Gustav Iwanowitsch, »ja, ja, dieser Beltoff ist ein wahrer Don Juan!« Und nach einigen Augenblicken lachte er laut auf.

Er hatte nämlich nach deutscher Weise nachträglich eine tiefsinnige Betrachtung darüber angestellt, was der französische Lehrer von Adam gesagt hatte. Als er endlich den Sinn herausgefunden, nahm er die von seinen germanischen Zähnen vollständig zerbissene Pfeife aus dem Munde und setzte mit großer Befriedigung hinzu: »Ich habe die Pointe. Sehr gut!«

Aber den größten Eindruck machte diese Pointe nicht auf Gustav Iwanowitsch, sondern auf jemanden, der sie nur halb gehört hatte, nämlich auf Kruziferski. Was bedeuteten diese beiden Namen neben einander? Wäre es möglich, daß das schreckliche Geheimnis, welches er kaum ahnte, das er sich selbst noch nicht gestehen mochte, schon zum Stadtklatsch geworden. Und hatten jene das wirklich gesagt? Gewiß hatten sie das gesagt, – da standen sie noch an derselben Stelle, und Gustav Iwanowitsch fuhr noch immer fort zu lachen . . .

Es war Kruziferski, als sei in seiner Brust etwas zerrissen, als füllte sie sich mit heißem Blut, als steige dies höher und immer höher, als wollte es bald zum Munde heraussprudeln . . . Der Kopf drehte sich ihm, es wurde ihm blau vor den Augen, er fürchtete irgend jemandes Blicken zu begegnen, er fürchtete zu Boden zu sinken und lehnte sich an die Wand . . .

Plötzlich ergriff ihn eine schwere Hand am Arm; er erbebte am ganzen Körper.

»Was giebt's da noch?« dachte er.

»Nein, mein lieber Dmitri Jakowlewitsch, so benehmen sich anständige Leute nicht,« sagte Iwan Afanassjewitsch, Kruziferski mit der einen Hand am Aermel festhaltend und mit der andern das Glas emporhebend. »Nein, Freundchen, du hast dich bei Seite gedrückt und denkst wohl: nun ist die Sache erledigt? Das ist nun einmal so Regel bei mir, du magst dir dein Glas nehmen oder nicht, das steht dir frei; aber hast du's genommen, so mußt du's auch austrinken.«

Kruziferski sah und hörte lange hin – etwa so wie Gustav Iwanowitsch vorhin über die Bemerkung des französischen Lehrers nachgegrübelt hatte; endlich begriff er dunkel, um was es sich handelte, nahm das Glas, trank es auf einen Zug aus und lachte hell auf.

»Das lob ich mir. Bravo! Und da sagt er noch: ich trinke nicht; ein solcher Schlaukopf! Nun, Dmitri Jakowlewitsch, – Mitja, bring noch ein Gläschen . . . Pelagea,« fügte Medusin hinzu, aus Kruziferski's Glase mit seinem eigenen Finger das Citronenstückchen herausnehmend, »noch ein Glas Punsch, aber etwas stärker . . . Willst du trinken?«

»Her damit!«

»Bravo, bravo!«

Und Medusin küßte jetzt Kruziferski nur darum nicht, weil sein Mund mit der Citrone beschäftigt war, die er mit Schale und Kernen verzehrte, wie zur Erläuterung die Bemerkung hinzufügend:

»Saures schmeckt ausgezeichnet, wenn das Fundament gelegt ist.«

Der Punsch wurde gebracht, Kruziferski trank denselben wie ein Glas Wasser. Niemand bemerkte, daß er wachsbleich geworden und daß seine blau angelaufenen Lippen bebten, – vielleicht weil den Gästen die ganze Erde zu beben schien.

Während noch immer gespielt wurde, stellte die unermüdliche Pelagia auf ein kleines Tischchen ein Theebrett mit einer Flasche und Gläsern, dann einen Teller mit rauchdurchwürzten Heringen. Die Heringe waren zwar durchschnitten, im übrigen aber ihrer Gräten durchaus nicht beraubt, was ihnen eine eigenthümlich angenehme Schärfe verlieh.

Das Spiel endete mit kleinem Verlust und großem Zank unter den Personen, die während einer ganzen Bostonpartie zusammen gewesen waren. Medusin befand sich unter den Gewinnenden und war deshalb in der glücklichsten Stimmung.

»Gut, gut,« rief er, »nehmen wir lieber, und Gott gebe seinen Segen dazu, nehmen wir lieber etwas Kantafresner zu uns.«

Iwan Afanassjewitsch nannte den Brantwein Kantafresner; aber ich weiß nicht warum, doch vermuthe ich, er that's nach glaubwürdigen vollständig zuverlässigen Quellen.

Die Gäste setzten sich zu Tisch.

»Dmitri Jakowlewitsch, hoffentlich schlägst du doch den Kantafresner nicht aus?«

»Gieb mir auch den Kantafresner her,« antwortete Kruziferski und leerte ein ungeheures Glas Brantwein, der mit verschiedenen Kräutern gemischt war, die widerlich schmeckten, aber – wie gewisse Leute glauben – gut für den Magen waren.

Die Begeisterung der Gäste war unbeschreiblich; da brachte Pelagia eine Pastete von unglaublicher Größe . . .

Uebrigens bin ich der Ansicht, daß wir jetzt in den Charakter des Balthasarschen Gelages, mit welchem Medusin seinen Namenstag feierte, genügend eingeweiht sind; um so mehr halte ich es für überflüssig, den weiteren Verlauf desselben zu schildern, da ich meine Leser versichern kann, daß der Schmaus ganz in derselben Richtung und auf derselben Basis fortgesetzt wurde.

Am folgenden Tage hatte Kruziferski eine lange Unterredung mit Lubonka.

Sie stand in seinen Augen wieder sehr hoch, so unerreichbar hoch . . . er konnte sie begreifen und würdigen; aber es hatte sich irgend etwas zwischen sie gedrängt, und der schreckliche Gedanke: man spricht davon, vernichtete ihn.

Uebrigens sagte er ihr hiervon kein Wort. Es wurde ihm schwer, mit ihr zu sprechen, und er eilte ins Gymnasium. Da er hier ankam, ehe die vorhergehende Stunde beendet war, so stellte er sich im Erholungszimmer ans Fenster. Wie lange war es her, daß er so ruhig zu diesem Fenster hinausgeblickt, wie lange war es her, daß er auf dem Gipfel menschlichen Glücks angelangt, so schnell nach Hause geeilt war? Und da hatte sich mit einem Male alles geändert, er hätte aus seinem Hause fliehen mögen . . . Und dennoch drückte ihn ihre Größe und Geisteskraft; er begriff, daß sie nicht weniger litt als er, daß sie aber aus Liebe zu ihm alle diese Leiden verberge.

Aus Liebe zu mir! Aber kann sie mich denn lieben? Kann man den Balken lieben, der auf dem Wege zu unserm Glücke liegt? . . .

Warum konnt' ich's ihr nicht verheimlichen, daß ich alles weiß? Wäre ich vorsichtiger gewesen, so würde sie nicht so leiden. Und gern möchte ich doch alles thun, um sie glücklich zu sehen . . . Aber was beginnen . . . Fliehen, fliehen – wohin? . . .


Kafernaumski hielt ihn an. Offenbar hatte er sich von dem gestrigen Schmause noch nicht wieder erholt; seine Augen waren roth und von einer Art Hof umgeben, wie der Mond an frostigen Winterabenden; Nase und Wange zeigten rothe Flecken.

»Nun, alter Freund,« sprach Kafernaumski, sich den Schweiß vom Gesicht wischend, »wie geht's? Katzenjammer?«

Kruziferski schwieg.

»Ich selber bin mehr todt als lebendig.

Sahst du ein Wrack auf hoher See?
Dem gleich' ich jetzt in meinem Weh.

Was sagen Sie zu diesem Medusin? Der alte Hund, wie der mal losgegangen ist! Und Sie, Dmitri Jakowlewitsch, noch nicht wieder flott? Ich denke immer: ein Keil auf den andern . . .«

»Wieder flott? – Wie meinen Sie das?«

»Das will ich Ihnen auseinandersetzen: man sieht's Ihnen gleich an, Sie sind noch ein Neuling; kommen Sie mit zu mir, ich wohne hier ganz nebenan –

»Komm mit in meine Klause,
Dort giebt es Rum zum Schmause . . .«

Kruziferski ließ sich von Kafernaumski mitnehmen. Warum? Das wußte er selbst nicht. Statt Rum setzte ihm übrigens Kafernaumski ein Gläschen Schnaps und Gurken vor. Kruziferski trank und bemerkte zu seinem Erstaunen, daß ihm in der That leichter ums Herz wurde. Eine solche Entdeckung konnte ihm natürlich niemals angenehmer sein, als zu einer Zeit, da unablässig ein so tiefer Gram an ihm nagte . . .


Gegen zehn Uhr erschien Semen Iwanowitsch Krupoff in dem kleinen Saal der Stadt Keresberg. Mit zornigem finsterem Gesicht begann er auf und nieder zu schreiten. Nach einigen Minuten ging die Thür zu Beltoffs Zimmer auf und heraus trat Gregor mit einer Bürste und einem Rock auf dem Arm.

»Dein Herr schläft wohl noch?«

»Er ist soeben aufgestanden.«

»Sage ihm, daß ich hier sei und ihn zu sprechen wünschte.«

»Semen Iwanowitsch!« rief Beltoff sich an der Thür zeigend, »bitte, treten Sie ein!«

»Haben Sie ein halbes Stündchen für mich übrig?« fragte er.

»Sogar den ganzen Tag,« antwortete Beltoff.

»Ich habe Sie doch nicht gestört? Es scheint, Sie beschäftigen sich des Morgens mit Nationalökonomie?«

Der Greis suchte ihm nicht im mindesten den ironischen Ton seiner Frage zu verbergen.

»Es scheint, Sie sind heute zwar früh aufgestanden, aber mit dem linken Fuße,« sprach Beltoff, der die Bemerkung des alten Isegrimms mit der größten Sanftmuth hinnahm.

»Na, dann bin ich just so aufgestanden, wie ich's wollte.«

»Wenn ich bitten darf,« sprach Beltoff, nach der Thür zeigend.

Schweigend trat Krupoff in das Zimmer.

»Wladimir Petrowitsch,« begann dieser, und welche Mühe er sich auch gab, kalt und ruhig zu erscheinen, es war ihm nicht möglich – »ich bin gekommen, um ein Wort mit Ihnen zu reden, und diesen Schritt habe ich mir zuvor wohl überlegt. Es thut mir weh, Ihnen bittere Wahrheiten sagen zu müssen; aber es war mir ja auch nicht leicht ums Herz, als ich sie erfuhr. Man hat mich noch in meinen alten Tagen zum Narren gehalten; ich habe mich in einem Menschen so getäuscht, daß ein sechszehnjähriger Knabe darüber erröthen müßte.«

Beltoff sah den Greis erstaunt an.

»Da ich einmal zu reden begonnen habe, so werde ich, wie der lacedämonische Krieger, die Dinge beim rechten Namen nennen, – es komme, was da wolle.

»Was liegt mir daran, ich bin alt, aber einen Feigling soll mich niemand nennen; und niemals werde ich eine gemeine That aus Feigheit edel nennen.«

»Hören Sie, Semen Iwanowitsch! Ich bin überzeugt, daß Sie kein Feigling sind, und noch fester bin ich überzeugt, daß auch Sie mich nicht für einen solchen halten. Es wäre mir jedoch sehr unangenehm, käme ich in die Nothwendigkeit, Ihnen, den ich aufrichtig schätze, das beweisen zu müssen. Ich sehe, Sie sind in gereizter Stimmung, darum wollen wir's, mag vorkommen, was da will, zur Bedingung machen, keine groben Ausdrücke zu gebrauchen. Die üben eine seltsame Wirkung auf mich. Sie lassen mich alles Gute an dem vergessen, der sich zum Schimpfen erniedrigt. Durch Schimpfen wird nichts erklärt, und darum zur Sache, und halten Sie mir mein Aviso zu gute.«

»Sehr wohl. Ich werde mich höflich ausdrücken, verehrter Herr, außerordentlich höflich. Gestatten Sie, daß ich mir die Freiheit nehme, Wladimir Petrowitsch, Sie zu fragen: wissen Sie's oder wissen Sie's nicht, daß Sie das Glück einer Familie zerstört, an der ich vier Jahre hindurch meine Freude hatte, und die mir eine eigene Familie ersetzte? Sie haben ihr Leben vergiftet und vier Menschen zugleich unglücklich gemacht. Weil ich Mitleid fühlte mit Ihrer Einsamkeit, führte ich Sie in diese Familie ein. Sie wurden wie ein Verwandter aufgenommen, man hätschelte Sie dort förmlich. Und wie haben Sie das vergolten? Bedenken Sie wohl: heute oder morgen wird der Mann sich erhängen oder ertränken, – ich weiß nicht, ob in Wasser oder in Wein; – sie wird die Schwindsucht bekommen, dafür bürge ich Ihnen; das Kind bleibt als Waise in fremden Händen, – und um der Sache die Krone aufzusetzen, posaunt die ganze Stadt Ihren Sieg aus. Gestatten Sie auch mir, Ihnen zu gratuliren!«

Der edle Greis bebte vor Zorn, als er die letzten Worte sprach. »Indeß,« fügte er nach kurzem Schweigen hinzu, »vielleicht hat dies von Ihrem höheren Standpunkt nichts zu bedeuten.«

Beltoff stand vom Sopha auf und schritt heftig im Zimmer auf und nieder; dann blieb er plötzlich vor dem Greise stehen.

»Gestatten Sie nun mir, Sie zu fragen, wer Ihnen das Recht gab, so frech und roh an das heiligste Geheimnis meines Lebens zu rühren. Woher wissen Sie, daß ich nicht doppelt so unglücklich bin als die andern? Aber ich will Ihren Ton vergessen; wohlan, ich antworte Ihnen: Was wollen Sie denn von mir wissen? Ob ich diese Frau liebe? Ja, ich liebe sie! Ja, ja, tausendmal wiederhole ich's Ihnen, ich liebe diese Frau mit der ganzen Kraft meiner Seele. Hören Sie's, ich liebe sie!«

»Warum richten Sie sie denn zu Grunde? Wären Sie ein Mann von Herz, so würden Sie auf der ersten Stufe Halt gemacht und Ihre Liebe nicht offenbart haben. Warum mieden Sie dieses Haus nicht?«

»Warum? – Fragen Sie lieber: warum leben Sie überhaupt? Wirklich ich weiß es nicht. Vielleicht, um diese Familie zu Grunde zu richten, um das beste Weib, das mir je begegnet, ins Verderben zu stürzen. Ihnen wird es so leicht zu fragen und zu verurtheilen! Man sieht es, Ihr Herz hat von Jugend auf ruhig geschlagen; sonst würde Ihnen doch irgend etwas in der Erinnerung geblieben sein. Gut . . . gut, ich will Ihre Fragen beantworten; ja ich empfinde jetzt das Bedürfnis nicht, mich zu rechtfertigen – denn ich erkenne keinen Richter über mich an außer mir selbst – sondern mich auszusprechen; zudem haben Sie mir ja doch nichts mehr zu sagen. Ich habe Sie wohl verstanden; Sie könnten es nur noch versuchen, dieselben Dinge in eine mehr oder minder beleidigende Form zu bringen; schließlich würden wir beide dadurch gereizt, und ich wünsche wirklich nicht, daß wir an der Barriere uns gegenüber stehen; unter anderm schon darum nicht, weil Sie dieser Frau unentbehrlich sind.«

»Reden Sie, reden Sie; ich will hören.«

»Ich kam hierher in einem der schwersten Abschnitte meines Lebens. Ich hatte mich kurz vorher im Auslande von meinen Freunden getrennt; hier gab es keinen Menschen, der mir nahe stand; in Moskau begegnete ich zwar verschiedenen Leuten, aber wir hatten nichts miteinander gemein. Das bestärkte mich noch mehr in dem Entschluß, nach N. zu reisen. Sie wissen, was ich hier trieb und ob ich ein fröhliches Leben führte. Da plötzlich begegne ich dieser Frau . . . Sie lieben und achten sie; aber Sie kennen sie durchaus nicht, gerade so wenig, wie Sie mich kennen. Sie haben ihr Familienglück, ihre Liebe zu Mann und Kind hoch zu schätzen gewußt; aber – nehmen Sie mir's nicht übel – es giebt Augenblicke, in denen man nicht blos süße Worte sagt, – glauben Sie nicht, daß äußere Vertraulichkeit oder eine gewisse Anzahl von Jahren die Seele eines Menschen erfaßt, o durchaus nicht! Gar oft bleiben Menschen, die zwanzig Jahre zusammen gelebt, bis an ihr Grab sich fremd, während andere sich gegenseitig lieben, ohne es zu wissen; das Mitgefühl einer verwandten Seele aber offenbart in einem Augenblick zehnmal mehr; zudem haben Sie bei Ihrer Gewohnheit zu moralisiren, von Ihrer doctoralen Höhe auf sie herabgeschaut, während ich über ihre ungewöhnliche Kraft erstaunt, mich vor ihr beugte. Ein wunderbares Wesen!

»Wie geschah es nur, daß dieselben Resultate, um welche ich mein halbes Leben geopfert, zu denen ich mit Mühe und Qualen gelangte und die mir so neu erschienen, daß ich sie für theure Errungenschaften hielt, für sie ganz einfache selbstverständliche Wahrheiten waren? Ihr erschienen sie als etwas ganz Gewöhnliches. Es ist mir unfaßbar. Ich bin vielen Menschen begegnet. Mit jedem kommt man früher oder später an den fernen Horizont, an einen Abgrund, über den er nicht hinüber gelangen kann; bei ihr sah ich diesen Horizont nicht. Welche Augenblicke wahrer Glückseligkeit erlebte ich jeden Abend, wenn wir lange mit einander plauderten! . . . Ich erholte mich von aller Kälte, welche ich in meinem Leben empfunden. Ein Mensch erfährt zum ersten Mal, was Liebe, was Glück ist, und Sie fragen, warum er sie empfunden? Das wird ja geradezu lächerlich; so viel Vernunft besitze ich nicht; übrigens hätte das auch nichts genutzt. Als ich mir Rechenschaft darüber geben wollte, als ich es selbst begriffen, – da war es zu spät.«

»Aber so sagen Sie mir doch nun endlich, welches Ziel haben Sie vor Augen? Wo wollen Sie nun hinaus?«

»Daran habe ich nie gedacht und kann es Ihnen darum auch nicht sagen.«

»Da liegen nun vor Ihren Augen die Früchte Ihrer Unbedachtsamkeit.«

»Sie meinen, ich sähe diese Früchte gleichgültig an, ich hätte erst darauf warten müssen, daß Sie mir das sagten? Ich habe es schon vor Ihrem Besuch gefühlt, daß mein Glück dahin, daß ein Lebensabschnitt voll Poesie und Seligkeit für mich vorüber, daß man dieses Wesen zu Tode quälen wird, weil – weil sie wunderbar hoch steht.

»Dmitri Jakowlewitsch ist ein vortrefflicher Mensch, er liebt sie über alles, aber bei ihm ist die Liebe zum Wahnsinn geworden, er richtet sich selbst zu Grunde mit seiner Liebe . . . Was ist da zu machen? . . . Das Schlimmste dabei ist, daß er auch sie zu Grunde richtet.«

»Nach Ihrer Ansicht also hätte er es kaltblütig mit ansehen sollen, daß seine Frau einen andern liebte?«

»Das sage ich nicht. Wahrscheinlich mußte er thun, was er gethan hat; jede Natur bleibt ihrem innersten Wesen treu, namentlich in kritischen Augenblicken. Aber wissen Sie, was er hätte thun sollen? Sein Leben nicht mit einem solchen Wesen wie sie vereinen.«

»Das habe ich ihm schon vor der Hochzeit gesagt; aber Sie werden zugeben, daß es jetzt zu spät ist, davon zu reden, und daß sie bis zu Ihrer Ankunft glücklich waren.«

»Semen Iwanowitsch, das wäre nicht immer so geblieben. Mißverständnisse dieser Art offenbaren sich uns früher oder später; wie können Sie in diesem Punkte so inconsequent sein!«

»Wirklich, es ist eine schwierige Sache. Ach, nicht umsonst habe ich's immer gesagt, daß das Familienleben etwas Gefährliches sei; aber ich predige wie Johannes in der Wüste; niemand hört auf mich. Sie sollten schon aus Mitleid –«

»Ich weiß wirklich nicht, was Sie von mir verlangen. Nach ihrer Krankheit bemerkte ich ihren Gram und seine zärtliche maßlose Verzweiflung. Ich kam fast niemals mehr in ihr Haus, das wissen Sie; und was mich das gekostet hat, das weiß ich allein; zwanzigmal nahm ich mir vor, ihr zu schreiben; aber um ihren Zustand nicht noch zu verschlimmern, schrieb ich ihr nicht; war ich bei ihnen, dann schwieg ich, was haben Sie mir also vorzuwerfen? Was verlangen Sie von mir? Ich hoffe doch, daß Sie nicht der bloße Wunsch zu mir geführt hat, mir ein paar beleidigende Worte ins Gesicht zu sagen.«

»Wladimir Petrowitsch, zeigen Sie jetzt, daß Sie ein starker Mann sind; ich glaube ja, daß es Ihnen schwer fallen wird; aber bringen Sie ein Opfer, ein schweres Opfer . . . und vielleicht retten wir diese Frau noch. Wladimir Petrowitsch, reisen Sie ab!«

Und die gezwungene Härte hatte einer gewissen Zartheit weichen müssen; die Stimme des Greises bebte. Er hatte Beltoff lieb.

Beltoff öffnete seine Mappe, suchte unter den Papieren herum und übergab ihm einen angefangenen Brief.

»Lesen Sie,« sagte er.

Es war der Anfang eines Briefes an seine Mutter. Er theilte ihr darin seinen festen Vorsatz mit, so bald wie möglich wieder ins Ausland zu reisen.

»Sie sehen, ich will ja fort, und denken Sie wirklich, sie könnte dadurch gerettet werden?« fragte er traurig und schüttelte den Kopf, »denken Sie das wirklich, lieber Doctor?«

»Aber was nun beginnen?« fragte Krupoff mit einer gewissen Verzweiflung.

»Das weiß ich nicht,« antwortete Beltoff.

»Semen Iwanowitsch, ich will ihr einen Brief schreiben und Sie sollen ihr denselben überbringen. Ihr Ehrenwort, daß Sie ihn ihr übergeben wollen!«

»Ich gebe es,« antwortete Krupoff.

Beltoff begleitete den tief erschütterten Arzt bis an die Thür. Dann kehrte er an seinen Tisch zurück und warf sich, wie völlig entkräftet, auf das Sopha. Es war ihm anzusehen, das Gespräch mit Krupoff hatte ihn furchtbar ergriffen; er konnte es noch nicht begreifen, nicht für möglich halten, nicht bewältigen.

Zwei Stunden lag er da, die erloschene Cigarre im Munde; dann ergriff er ein Blatt Papier und begann zu schreiben.

Nachdem er den Brief beendet, faltete er ihn, kleidete sich an, steckte den Brief in die Tasche und ging zu Krupoff.

»Da ist der Brief,« sagte Beltoff; »können Sie mir Gelegenheit verschaffen, sie zu sprechen, in Ihrer Gegenwart, auf ein paar Minuten – ja?«

»Wozu denn?«

»Warum fragen Sie erst? Schlimmer als es ist, kann es nicht werden. Wenn Sie jemals die geringste Neigung zu mir hatten, so erweisen Sie mir diese Gefälligkeit!«

»Wann reisen Sie?«

»Morgen früh.«

»Seien Sie gegen acht Uhr im Garten!«

Beltoff drückte ihm die Hand.

»Ihn habe ich heute in dem bedauernswerthesten Zustande gesehen.«

»Halten Sie an, kein Wort mehr, lieber Doctor, ich beschwöre Sie!«

* * *

Bleich, abgemagert, mit verweinten Augen ging die unglückliche Lubonka an Krupoffs Arm. Sie fieberte und ihre Augen hatten einen schrecklichen Ausdruck. Sie wußte, wohin sie gingen und auch warum. Sie kamen an jene Bank und setzten sich. Sie weinte, sie hielt einen Brief in den Händen. Und Krupoff, der nicht einmal erbauliche Bemerkungen machen konnte, trocknete sich Thräne auf Thräne.

Beltoff kam. Alle Heiterkeit war aus seinem Gesicht verschwunden. Jeder seiner Züge verrieth heftiges Leid. Todtenbleich faßte er ihre Hand.

»Leben Sie wohl,« sagte er mit kaum vernehmlicher Stimme. »Ich muß wieder fort; aber unsere Begegnung, Ihr Bild bewahre ich in meinem Herzen . . . Es wird mich trösten im letzten Augenblick meines Lebens.«

»Muß es für immer sein?« fragte sie.

Er schwieg.

»Mein Gott!« sagte sie und verstummte. »Leben Sie wohl, Woldemar,« fügte sie flüsternd hinzu. Und dann plötzlich, als hätten ihre Kräfte sich verzehnfacht, stand sie auf, drückte seine Hand und sagte laut und deutlich:

»Woldemar, vergessen Sie nicht, daß ich Sie unaussprechlich geliebt habe . . . unaussprechlich, Woldemar!«

Sie ging, er hielt sie nicht zurück; sie hatte noch Muth genug, mit festeren Schritten fort zu gehen, als sie gekommen war.

Er schaute ihr nach; und seine Augen folgten, so weit sie konnten, dem Schimmer des weißen Burnus zwischen den Birken. Sie hatte nicht die Kraft, sich umzublicken.

Wladimir blieb zurück. ›Muß ich,‹ dachte er, ›sie denn wirklich verlassen, – und auf immer?‹ Er stützte das Haupt auf die Hand, schloß die Augen und saß so eine halbe Stunde, vernichtet, erdrückt von seinem Leid, als ihn plötzlich jemand beim Namen rief; er hob den Kopf und erkannte mit Mühe das allgemeine Rathsgesicht des Raths.

Beltoff grüßte ihn trocken.

»Wie es scheint, Wladimir Petrowitsch, kommen Sie hierher, um sich Ihren Träumereien und Betrachtungen hinzugeben.«

»Ganz recht, und eben darum bin ich gern allein!«

»Daran thuen Sie sehr wohl, und auch ich bin der Ansicht, für einen gebildeten Mann kann es nichts besseres geben als die Einsamkeit,« bemerkte der Rath und setzte sich auf die Bank. »Uebrigens giebt es manchmal auch Gesellschaft, die ebenso angenehm ist wie die Einsamkeit. Soeben begegnete ich dem Doctor Krupoff. – Welch' ein Dämchen er da gefischt hat!«

Beltoff war in demselben Augenblick aufgestanden, als der Rath sich gesetzt hatte, und wollte schon gehen; aber dessen letzte Worte hielten ihn zurück. Das spöttische Gesicht des Raths verrieth nur zu deutlich, in welcher Absicht er das gesagt hatte. Höchst wahrscheinlich war er auch nur in Folge eines geheimen Auftrags einer gewissen Maria Stepanowna in den Garten gerathen.

»Ich kenne die Dame, Doctor, welche Krupoff begleitete,« sagte Beltoff, vor Wuth fast erstickend.

»Ja, ja, wie sollten Sie sie auch nicht kennen? Ha, ha, ha!« bemerkte der gesprächige Rath; »ihr jungen Leute kennt ja alle hübschen Frauenzimmerchenl«

»Sie sind entweder verrückt oder ein Narr. In beiden Fällen: Adieu!« sagte Beltoff und ging die Allee hinunter.

»Wie können Sie die Kühnheit haben, mich so zu nennen!« schrie der Rath, roth wie ein Krebs werdend, und sprang von der Bank auf.

Beltoff blieb stehen.

»Was wünschen Sie von mir?« fragte er den Rath. »Soll ich mich mit Ihnen schießen? Gut! So widerwärtig es mir auch ist, ich bin bereit. Wenn nicht, so entschuldigen Sie, ich habe die abscheuliche Gewohnheit, diejenigen, welche mich beim Spazierengehen stören, mit dem Stock fort zu jagen.«

»Wieso mit dem Stock, wie meinen Sie das?« fragte der Rath. »Wer sind Sie denn, daß Sie sich erdreisten, mir mit dem Stock zu drohen?«

Bei jeder anderen Gelegenheit würde Beltoff über den Rath von ganzem Herzen gelacht haben; aber in diesem Augenblick, da er ohnehin heftig gereizt war und kaum recht begriff, was er that, bewies er dem Rath, wie er es meinte.

Dieser machte große Augen. Beltoff ging.

Früh am folgenden Morgen war Gregor eifrig mit dem Einpacken beschäftigt; Beltoff ging im Zimmer auf und nieder; in Kopf und Brust empfand er eine solche Leere, es war ihm, als lebte er nur halb, es war ihm so schrecklich und weh zu Muth, es ergriff ihn eine Art Beben – und plötzlich traten ihm Thränen in die Augen.

Schon zehnmal hatte sich Gregor mit einer Frage an ihn gewendet; aber er antwortete immer: »Es ist mir alles gleich,« und in der That war es ihm in diesem Augenblick nicht blos gleich, welchen Rock er auf der Reise anziehe, sondern auch, wohin er reise, ob nach Paris oder nach Tobolsk.

Da trat Semen Iwanowitsch in das Zimmer, ganz anders als gestern; in seinen Augen waren Spuren von Thränen zu sehen, er ging ganz langsam; strich mit dem Aermel über den Hut, stand eine Weile am Fenster, sagte dann Gregor, daß etwas am Wagen nicht ordentlich befestigt sei, kurz, befand sich in einer ganz eigenthümlichen Stimmung.

»Sind Sie mit mir zufrieden, Semen Iwanowitsch?« sagte Beltoff, halb lachend, halb weinend.

»Ich habe Sie gestern beleidigt, verzeihen Sie mir, was ich that . . . Wenn Sie abreisen sollten« – und die Stimme ließ den Greis im Stich.

»Genug, genug, Semen Iwanowitsch, wie können Sie nur –«

Beltoff streckte ihm beide Hände entgegen.

»Da haben Sie etwas, das ich Ihnen zum Andenken übergeben möchte; ich habe Sie aufrichtig lieb gehabt und möchte Ihnen« – und er übergab ihm ein ziemlich großes Saffianfutteral – »möchte Ihnen etwas Kostbares, mir sehr Kostbares, geben.«

Beltoff öffnete das Futteral, sah den Greis an und fiel ihm um den Hals. Der Greis schluchzte und sprach:

»Ich muß mich wirklich schämen, bin rein von Sinnen, eine solche Dummheit, werde in meinen alten Tagen noch ein Greiner.«

Beltoff warf sich auf einen Stuhl und hielt das Futteral vor sich . . .

Es war ein Aquarellporträt Lubonka's.

Krupoff stand vor ihm und um Beltoff vollständig davon zu überzeugen, daß er gar nichts empfinde, gab er ihm folgenden Commentar, wobei er heimlich seine Thränen trocknete:

»Vor zwei Jahren kam ein englischer Maler hier durch, ein tüchtiger Künstler; er malte große Porträts überall, so z. B. hat er das Porträt der Frau des Gouverneurs gemalt, das in diesem Zimmer hängt. Ich beredete Lubonka, ihm zu sitzen, im ganzen dreimal; hätten Sie das wohl gedacht?«

Beltoff hörte ihn nicht an, und so war es kein großes Unglück, daß Krupoffs Rede durch den Gastwirth unterbrochen wurde, der athemlos herbeistürzte, um die Ankunft des Herrn Polizeimeisters zu melden.

»Was will denn der?« fragte Beltoff.

»Er hat mit Ew. Gnaden zu reden,« antwortete der Gastwirth.

»Lassen Sie ihn eintreten!«

Der Polizeimeister trat ein, laut mit dem Säbel rasselnd. Von weitem wurde durch die geöffnete Thür ein hagerer Polizeicommissar sichtbar so wie der Kellner, der ängstlich den Mantel des Polizeicommissars auf dem Arm hielt.

Beltoff stand auf und seine ganze Gestalt drückte nur eine Frage aus, sodaß es der Worte nicht bedurfte. Die Frage lautete selbstverständlich, was er denn von ihm wolle.

»Es thut mir sehr leid, Wladimir Petrowitsch, daß ich Sie einige Augenblicke aufhalten muß; wie es scheint, – haben Sie die Absicht, unsere Stadt zu verlassen?«

»Ja!«

»Der General bittet Sie, sich zu ihm zu bemühen. Peter Jelkanowitsch hat Ihnen in einem Privatschreiben den Vorwurf gemacht, Sie hätten seine Ehre angegriffen. Es ist mir sehr peinlich, aber Sie begreifen selbst, daß ich meine Pflicht erfüllen muß; Sie werden mir zugestehen, es bleibt mir nichts anderes übrig.«

»Das kommt mir sehr ungelegen. Erlauben Sie mir eine Frage: Kann das lange dauern?«

»Das wird von Ihnen abhängen; Peter Jelkanowitsch ist ein sehr anständiger Mann; er wird die Sache sicherlich nicht in die Länge ziehen, wenn Sie eine Erklärung abgeben.«

»Welche Erklärung?«

»Ach, Wladimir Petrowitsch, was kann man mit Ihnen anfangen? Sie verstehen aber auch gar nichts,« bemerkte Krupoff.

»Na, wenn Sie wollen, machen Sie mit einem Polizeimeister die Sache in einer Viertelstunde ab.«

»Sie würden mich sehr verbinden.«

»Ich bitte sehr,« bemerkte der Polizeimeister, »das ist ja unsere heilige Pflicht; denn nichts kann uns angenehmer sein, als wenn wir so etwas auf friedlichem Wege und zu allgemeiner Zufriedenheit beilegen können.«

Und so geschah es denn auch.

* * *

. . . Vierzehn Tage später kam über den Damm, der von Bjeloje-Pole nach der Landstraße führt, ein vierspänniger Reisewagen angefahren. Gregor saß auf dem Bock und rauchte seine Pfeife; der Postillon redete den Pferden zu, besseren Schritt zu machen, und um sich ihrem Fassungsvermögen besser anzupassen, sprach er in lauter Vocalen: . . . O, o, o . . . u, u, u . . . a, a, a! u. s. w.

Diesseits des Flusses stand eine alte Frau in weißer Haube und weißem Kleide; sie stützte sich auf den Arm ihres Dienstmädchens und winkte mit einem schwer von Thränen befeuchteten Taschentuch einem Manne, der sich zu dem Wagen hinauslehnte und ebenfalls mit einem Tuch winkte.

Der Weg wandte sich ein wenig nach rechts; als der Wagen dort umlenkte, war nur noch der hintere Theil zu sehen, und bald war er von einer Staubwolke verhüllt, und dieser Staub zerstreute sich, und dann war nichts mehr zu sehen als die nackte Straße. Aber die alte Frau stand noch immer da, hob sich auf die Fußspitzen und spähte in die Weite.

Oede und verlassen wurde es der alten Frau in Bjeloje-Pole. Sonst kam doch Wladimir immer ein- oder zweimal wöchentlich; sie war so daran gewöhnt, schon von ferne auf dem Berg das Schellengeklingel zu hören und sich auf den Balkon hinaus zu begeben, auf welchem sie ihn einst als sonnenverbrannten Knaben mit hell leuchtenden Augen erwartet hatte. Jetzt zog es sie nach N. Dort lebte die Frau, die ihren Sohn liebte und die das unglückliche Opfer ihrer Liebe zu ihm geworden.

Und in der That übersiedelte die alte Frau im Winter nach der Stadt. Sie fand Lubonka im Erlöschen, hoffnungslos.

Doctor Krupoff, der noch einmal so finster geworden, schüttelte den Kopf, wenn man ihn fragte, wie es um sie stände; Kruziferski verging vor Gram, betete und trank.

Frau Beltoff bat um die Erlaubnis, die Kranke pflegen zu dürfen, und ganze Tage brachte sie an ihrem Lager zu; und es lag etwas ungemein Poetisches in dieser Gruppe, dieser sterbenden Schönheit und diesem schönen Alter, in diesem verwelkenden Weibe mit den eingefallenen Wangen, mit den großen glänzenden Augen und dem nachlässig auf die Schultern herabfallenden Haar, wenn sie, das Haupt auf die abgemagerte Hand gestützt, mit halb geöffnetem Munde und einer Thräne im Auge den endlos langen Erzählungen der alten Mutter von ihrem Sohne lauschte, – von Woldemar, den sie beide so über alles liebten und der jetzt so fern von ihnen weilte . . .

 

Ende.

 


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