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Unter andern Sehenswürdigkeiten der Stadt N. verdient eine besondere Aufmerksamkeit der öffentliche Garten. In der reichen Natur der mittleren Zone unseres Vaterlandes sind öffentliche Gärten ein vollständiger Luxus. Daher benutzt sie auch niemand, d. h. an Wochentagen. Was die Sonn- und Feiertage betrifft, so könnt ihr von sechs bis sieben Uhr abends die ganze Stadt in einem solchen Garten treffen. Aber um diese Zeit findet sich das Publikum nicht des Gartens wegen ein, sondern um zu sehen und gesehen zu werden.
Wenn der Gouverneur mit dem Regimentscommandeur auf gutem Fuß steht, so finden sich an diesem Tage Trompeter oder Tambours in demselben ein, je nach dem Militär, das in dem Gubernium steht; und die Ouvertüren aus Ladoiska und dem Chalifen von Bagdad, sowie französische Quadrillen, welche an die unvordenklichen Zeiten des griechischen Freiheitskampfes und des Moskauer Telegraphen erinnern, erfreuen das Ohr der sommerlich, das heißt in Sammt und Atlas, gekleideten Kaufmannsfrauen und jener Provinzialfräulein, denen niemand mehr den Hof macht, von denen übrigens fast keine unter vierzig Jahren zählt.
An Wochentagen, wie bemerkt, sind die Gärten leer. Kaum, daß irgend ein zugereister Fremder aus Verzweiflung darüber, daß er keine Postpferde bekommt, aus Verzweiflung, daß auch diese Stadt allen andern Städten ähnlich ist, sich in den Garten begiebt, in der Hoffnung, dort eine irgendwie erträgliche Aussicht zu finden.
Die Dichter haben schon längst darauf aufmerksam gemacht, daß die Natur in empörendem Grade gleichgiltig dagegen ist, was die Menschen in ihr treiben, daß sie weder über Verse weint, noch über Prosa lacht, sondern vollständig ihre eigene Bahn wandelt.
Ganz so verfuhr auch die Natur in N.; sie sah gar nicht darauf, daß in dem Garten niemand spazieren ging; wenn aber einmal jemand dort lustwandelte, so wandte er seine Aufmerksamkeit nicht den Bäumen, sondern der herrlichen Laube im chinesisch-griechischen Geschmack zu.
Diese Laube war wirklich wunderschön. Die Frau des Gouverneurs hatte sie sehr glücklich Monrepos getauft. Beruhigend war sie namentlich dadurch, daß das aus Blech geschnittene, lebkuchenartige Pferdchen, das die Funktionen einer Wetterfahne versah und auf der Spitze angebracht war, sich fortwährend drehte, wobei es einen eigenthümlich klagenden Ton von sich gab, der einen zu Träumereien stimmte und die Ueberzeugung gewährte, daß der Wind, der den Hut auf die linke Seite fortgetragen, wirklich von der rechten Seite herwehte.
Außer diesem Wetterpferdchen waren zwischen den Säulen struppige, sehr grimmige Löwenköpfe aus Alabaster angebracht, die, vom Regen gesprungen, stets im Begriff schienen, auf das Haupt des Vorübergehenden ihre Ohren oder ihre Nase herabzuschleudern.
Ungeachtet dieses kläglichen Geheuls des Wetterpferdchens und der Gefahr, durch die Löwen ums Leben zu kommen, wie in Daniels Löwengrube, entfaltete sich die gleichgültige Natur in herrlichster Weise, namentlich in den Seitenalleen, und zwar nicht aus Bescheidenheit, sondern weil der frühere Gartenaufseher in der Hauptallee die alten Linden hatte abschneiden lassen; ein solch eigenmächtiges Wachsthum der Linden erschien ihm unvereinbar mit der buchstäblichen Erfüllung seiner Amtspflichten.
Ihrer Wipfel beraubt, glichen diese Linden mit ihren zum Himmel starrenden Aesten unseren Sträflingen, denen man, um einer etwaigen Flucht vorzubeugen, den halben Kopf abrasirt hat, und es schien, als wiederholten sie mit Titanentrotz Oseroffs Vers:
Zwar Götter giebt's, doch herrschen Frevler hier.
Dagegen hatten die Bäume auf den kleinen Wegen völlige Freiheit zu wachsen, wie es ihnen beliebte, oder so weit ihr Saft reichte.
In einer derselben lustwandelten an einem warmen Frühlingstage – der sich wahrscheinlich nur darum in N. eingestellt hatte, damit die Bewohner später die ganze Kälte des ihm nachfolgenden Mai empfindlicher zu fühlen bekämen – eine gewisse Dame in weißem Burnus mit einem Herrn in schwarzem Ueberrock. Der Garten lag oben auf einer Anhöhe. Auf dem höchsten Punkt befanden sich zwei Bänke, die gewöhnlich mit allerlei Zeichnungen von unbekannter Hand illustrirt waren. Welche Mühe der Polizeiinspector sich auch gab, er vermochte niemals die Schuldigen abzufassen, und resignirt schickte er vor jedem Feiertag einen Soldaten von der Löschmannschaft – da diese einmal ans Zerstören gewöhnt waren – hin, um diese künstlerischen Erzeugnisse, die da periodisch auf der Bank zum Vorschein kamen, zu vernichten.
Die Dame und der Herr nahmen auf der Bank Platz. Die Aussicht war nicht übel; die Landstraße, die allerdings sehr schmutzig war, wand sich wie ein Saum rings um den Garten und verlor sich in dem Flusse. Der Fluß war über seine Ufer getreten. Auf beiden Seiten standen Telegen, Karren, Tarantasse, ausgespannte Pferde, Weiber mit Körben, Soldaten und Leute aus der Stadt. In einem fort gingen zwei Fähren herüber und hinüber. Ganz vollgepfropft von Menschen, Pferden und Wagen bewegten sie sich langsam mit den Rudern; sie glichen gewissen vielfüßigen Insekten, die ihre Füße nacheinander heben und senken.
Die verschiedenartigsten Töne drangen an die Ohren des auf der Bank sitzenden Paares: Räderknarren, Schellengeklingel, das Rufen der Fährleute und die kaum hörbare Antwort von der andern Seite her; das Zanken der sich drängenden Passagiere, das Getrappel der Pferde, das Brüllen der mit den Hörnern an die Wagen angebundenen Kühe, und am Ufer das laute Reden der Bauern, die sich um ein Feuer gesammelt hatten.
Die Dame und der Herr unterbrachen ihre Unterhaltung und blickten und horchten schweigend in die Ferne. Warum wirkt aus der Ferne alles so mächtig auf uns ein? Warum ergreift es uns so? . . . Ich weiß es nicht; aber ich weiß, daß die Viardot und Rubini Gott danken würden, wenn man immer mit solchem Herzklopfen auf sie hörte, wie ich manchem langgezogenen, endlosen Liede eines Schiffers gelauscht, der des Nachts die Barke bewachte, – einem schwermüthigen, vom Plätschern des Wassers und dem in den Weiden rauschenden Winde unterbrochenen Liede. Und an was dachte ich nicht alles, wenn ich die eintönigen, schwermüthigen Klänge vernahm? Mir war, als ob mit diesem Liede der arme Schiffer aus seiner niedrigen Sphäre in eine andere emporstrebe; daß er, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, seinen Gram zu unterdrücken suchte; daß seine Seele töne, weil sie traurig sei, weil sie sich gedrückt fühle u. s. w. u. s. w. Das war jedoch früher, in meiner Jugend!
»Wie schön ist's hier,« sagte endlich die Dame in dem weißen Burnus. »Wollen Sie nun nicht eingestehen, daß auch die nordische Natur sehr schön ist?«
»Wie überall. Wo der Mensch auch hinblickt, wie und wann der Mensch die Natur und das Leben mit offenem Herzen, ehrlich und ohne Selbstsucht betrachtet, gewähren sie ihm stets eine Fülle von Genüssen.«
»Das ist wahr. An allem in der Welt kann man seine Freude haben, wenn man nur will. Mir geht oft eine seltsame Frage durch den Kopf – warum vermag der Mensch an allem sich zu freuen, an allem etwas Schönes zu finden, nur nicht an dem Menschen?
»Begreiflich ist das schon, aber darum wird es nicht anders und besser. Wir tragen in unsern Beziehungen zu unsern Mitmenschen stets einen Hintergedanken hinein, der sofort das poetische Verhältnis mit der niedrigsten Prosa vernichtet. Der Mensch sieht im Menschen stets einen Feind, mit dem er kämpfen, den er überlisten, dem er günstige Friedensbedingungen abgewinnen müsse. Wo sollte da eine ungetrübte Freude herkommen? Damit sind wir aufgewachsen, und es ist uns fast unmöglich, das los zu werden. Wir sind alle mit jener bürgerlichen Selbstsucht behaftet, die uns nöthigt, stets um uns zu blicken und auf unserer Hut zu sein; die Natur dagegen ist kein Nebenbuhler des Menschen, sie fürchtet er nicht. Es ist uns so leicht, so frei zu Muth in der Einsamkeit; da geben wir uns dem Entzücken vollständig hin; nehmen Sie Ihren theuersten Freund mit sich, und es ist Ihnen schon nicht mehr möglich.«
»Ich verkehre überhaupt wenig mit Menschen, und fast gar nicht mit solchen, die mir nahe ständen; allein ich glaube, daß doch wenigstens eine solche Sympathie zwischen den Menschen möglich ist, daß alle Mißverständnisse zwischen ihnen schwinden, und daß sie sich in keiner Lebenslage einander stören können.«
»Ich bezweifle, daß Ihnen solche Sympathie auf die Dauer möglich sei; das sagt sich zwar sehr leicht. Diejenigen, welche vollständig mit einander sympathisiren, haben sich noch nicht über diejenigen Gegenstände ausgesprochen, über welche sie entgegengesetzter Ansicht sind; aber früher oder später werden sie sich aussprechen.«
»Aber immerhin können sie, bis sie sich ausgesprochen, Augenblicke voller Sympathie haben, wo sie einander in dem Genuß der Natur und ihrer selbst nicht stören.«
»Und diese Augenblicke sind die einzigen, an die ich glaube. Das sind die heiligen Augenblicke seelischer Hingebung, wo der Mensch nicht geizt, wo er alles hingiebt, und selbst über seinen Reichthum und seine Liebesfülle staunt. Aber diese Augenblicke sind sehr selten; und in den meisten Fällen verstehen wir sie, so lange sie währen, nicht zu würdigen, nicht werth genug zu halten, ja in der Regel lassen wir sie uns sogar entschlüpfen, vernichten sie durch allerlei Thorheiten, und so gehen sie am Menschen vorüber, und lassen nur eine krankhafte Herzbeklemmung und eine dumpfe Erinnerung an etwas zurück, das schön hätte sein können, es aber nicht war. Man muß gestehen, der Mensch richtet sein Leben sehr dumm ein: neun Zehntel davon bringt er in thörichtem, kleinlichem Thun hin und das letzte Zehntel versteht er gar nicht auszunutzen.«
»Warum aber sollte derjenige solche Augenblicke verloren gehen lassen, der ihren Werth kennt? Auf ihm lastet doppelte Verantwortlichkeit,« bemerkte Lubonka lächelnd; »Sie sehen und begreifen so klar.«
»Ich weiß nicht blos solche Augenblicke, sondern überhaupt jeden Genuß zu schätzen; aber das ist leicht gesagt: verlieren Sie solche Augenblicke nicht; eine einzige falsche Note – und die Harmonie ist vernichtet. Wie kann man sich vollständig hingeben, wenn man sofort allerlei Gespenster sieht . . . die mit dem Finger drohen . . . die uns höhnisch ansehen . . .«
»Was für Gespenster? Sind das nicht etwa die eigenen Launen?« bemerkte Lubonka.
»Was für Gespenster?« wiederholte Beltoff, dessen Stimme vor innerer Aufregung nach und nach einen andern Klang angenommen hatte; »es würde mir schwer, Ihnen das klar zu machen, aber mir ist es sehr klar; der Mensch hat sich so eingeengt, daß er es nicht wagt, auch nur einem Gefühle freien Lauf zu lassen. Hören Sie, ich will Ihnen ein Beispiel anführen, just das, welches ich nicht anführen sollte, – aber ich will es doch sagen . . . da ich einmal angefangen habe, vermag ich nicht mehr an mir zu halten. Seit den ersten Tagen unserer Bekanntschaft habe ich Sie liebgewonnen, – ist das Freundschaft, Liebe, oder einfach Sympathie? – Aber das weiß ich, daß Ihre Gegenwart mir unentbehrlich geworden ist; das weiß ich, daß ich ganze Vormittage in kindischer Ungeduld, in krankhafter Erwartung des Abends hingebracht habe . . . Da kam endlich der Abend, und ich eilte zu Ihnen, athemlos bei dem Gedanken, daß ich Sie sehen würde; vollständig beraubt, von allen Seiten mit Kälte umgeben, betrachtete ich Sie als meinen letzten Trost . . . Glauben Sie mir, in diesem Augenblick liegt mir nichts ferner, als Redensarten zu machen . . . Aufgeregt überschritt ich die Schwelle Ihres Hauses, trat kaltblütig ein und sprach von gleichgiltigen Dingen; und so vergingen die Stunden . . . Wozu diese dumme Komödie? . . . Ja, ich sage noch mehr – auch Sie sind nicht gleichgültig gegen mich geblieben; wahrscheinlich haben auch Sie mich manchen Abend erwartet, ich bemerkte Freude in Ihren Augen bei meinem Erscheinen, und in solchen Augenblicken schlug mein Herz so heftig, daß es mir den Athem versetzte, und Sie behandelten mich mit erkünstelter Höflichkeit, setzten sich fort von mir, und wir thaten fremd gegen einander. . . . Warum denn? . . . Gab es vielleicht etwas in meiner oder in Ihrer Seele, dessen wir uns hätten schämen müssen, das wir vor den Augen der Menschen verbergen mußten? Nein! . . . Was sage ich, vor den Augen der Menschen? Noch lächerlicher: wir verbargen es vor einander trotz unserer Nähe; jetzt reden wir zum ersten Mal hiervon und auch jetzt ist es mir, als verschwiegen wir noch die Hälfte. Die reinste Empfindung wird scharf und brennend und trübe, – um nicht ein anderes Wort zu gebrauchen – wenn man sich davor fürchtet; wenn man es versteckt, so beginnt es sich selbst für verbrecherisch zu halten und wird es dann auch, in der That, etwas heimlich zu genießen, wie der Dieb das Gestohlene bei verschlossenen Thüren, auf jedes Geräusch horchend – das erniedrigt den Gegenstand des Genusses sowohl wie den Menschen.«
»Sie sind ungerecht,« antwortete Lubonka mit bebender Stimme; »ich habe meine Freundschaft für Sie niemals verheimlicht und brauchte das auch nicht –«
»So sagen Sie mir,« entgegnete Beltoff, ihre Hand ergreifend und fest drückend, »so sagen Sie mir, warum hatte ich, – gequälten Herzens, und von dem Verlangen erfüllt, Ihnen zu beichten, mich gegen Sie auszusprechen, warum hatte ich mit meinem Herzen voll Liebe zu einem Weibe nicht die Kraft, vor dieses Wesen hinzutreten, ihre Hand zu ergreifen, ihr ins Auge zu schauen, und ihr zu sagen – zu sagen . . . daß . . . und mein müdes Haupt an ihre Brust zu lehnen? . . . Warum konnte sie mich nicht mit den Worten empfangen, die ich auf ihren Lippen bemerkte, die aber niemals über ihre Lippen kamen?«
»Darum,« antwortete Lubonka mit einer gewissen verzweifelten Energie, »darum, weil dieses Weib einem andern gehört und diesen andern liebt . . . Ja, ja, ihn von Herzen liebt.«
Beltoff ließ ihre Hand los.
»Denken Sie sich: gerade diese Antwort hatte ich nicht erwartet; und jetzt ist es mir, als ob etwas anderes gar nicht zu erwarten war. Aber erlauben Sie: müssen Sie sich denn unbedingt von dem einen Wesen abwenden, um sich dem andern zuwenden zu können? Als ob dem Menschen ein ganz bestimmtes Maß von Liebe gewährt sei!«
»Mag sein. Aber eine Liebe zu zwei Menschen begreife ich nicht. Mein Mann hat sich, von allem andern abgesehen, schon durch seine unendliche Liebe große, heilige Rechte auf meine Liebe erworben.«
»Warum vertheidigen Sie die Rechte Ihres Mannes? Niemand hat dieselben ja angegriffen. Und zudem vertheidigen Sie sie noch schlecht. Also wenn seine Liebe ihm solche Rechte erworben hat, warum hat denn die Liebe eines anderen, die aufrichtige, tiefe Liebe gar keine Rechte? Das ist seltsam! . . . Hören Sie, Lubonka, seien Sie offen, nur ein einziges Mal im Leben, dann will ich immerhin gar nichts mehr sagen, sogar fortgehen, wenn Sie's verlangen . . . Sie sagen, Sie begriffen die Möglichkeit nicht, außer Ihrem Mann noch einen andern zu lieben. Sie begreifen das wirklich nicht? Greifen Sie doch tiefer in Ihr Herz und sehen Sie, was jetzt, in diesem Augenblick darin vorgeht. Nun, haben Sie doch den Muth, zu gestehen, daß ich Recht habe, sagen Sie wenigstens, daß Sie das alles jetzt erst fühlen, fühlen und denken, ich weiß dieses ja, ich sehe diese Gedanken auf Ihrer Stirn, in Ihren Augen.«
»Ach Beltoff, Beltoff, wozu dies Gespräch?« sprach Lubonka mit einer Stimme voll finsterer Traurigkeit. »Es war uns so wohl . . . jetzt ist das nicht mehr möglich . . . das werden Sie sehen . . .«
»Das heißt, so lange wir die Dinge nicht bei ihrem Namen nannten? Wie kindisch!«
Beltoff schüttelte betrübt den Kopf und blinzelte mit den Augen; sein Gesicht, das vor einem Augenblick noch Begeisterung, noch grenzenlose Zärtlichkeit ausgedrückt, nahm eine spöttische Miene an.
Mit Thränen und mit Entsetzen betrachtete ihn das erschreckte Weib . . . Lubonka war in diesem Augenblick auffallend schön; sie hatte den Hut abgenommen; ihr schwarzes, vom feuchten Abendwinde gelöstes Haar wallte auseinander; jeder Zug ihres Antlitzes war belebt, redete, und Liebe strömte aus ihren blauen Augen; bald drückte ihre bebende Hand das Tuch, bald ließ sie es fallen und zupfte an dem Bande des Hutes; von Zeit zu Zeit hob sich tiefaufathmend ihr Busen, aber es schien, als vermöchte die Luft nicht bis in die Lungen zu dringen. Was wollte dieser stolze Mann von ihr? . . . Er wollte ein Wort, er verlangte einen Triumph, als ob es dieses Wortes bedurft hätte; wäre sein Herz noch jünger gewesen, hätten in seinem Kopfe sich nicht so lange bittere, seltsame Gedanken festgesetzt, er würde dieses Wort nicht verlangt haben.
»Sie sind ein schrecklicher Mensch,« sprach endlich die arme Lubonka, und sah ihn mit ihrem ängstlichen Blick an.
Er hielt diesen Blick aus und sagte:
»Wo nur dieser Semen Iwanowitsch bleiben mag? Er wollte doch sofort kommen. Sollte er uns nicht in den andern Alleen suchen? Gehen wir ihm entgegen, sonst wird es ganz dunkel.«
Sie regte sich nicht von der Stelle; der Ton der letzten Worte verletzte sie.
Nach kurzem Schweigen hob sie den Blick wieder zu Beltoff empor und sprach mit leiser, flehender Stimme zu ihm:
»Ich stehe so tief da in Ihren Augen; Sie haben vergessen, daß ich ein einfaches, schwaches Weib bin.«
Und die Thränen stürzten ihr aus den Augen. Da besiegte wie immer die Liebe und die Innigkeit des Weibes den anspruchsvollen Sinn des Mannes. In tiefster Seele gerührt, ergriff Beltoff ihre Hand und drückte sie an seine Brust; sie fühlte das Pochen seines Herzens, sie hörte, wie heiße Thränen auf ihre Hand fielen . . . er war so schön, so hinreißend mit seiner stolzen Leidenschaft . . . und in ihr selbst wallte das Blut so heftig, es war ihr so wirr im Kopf, und in ihrem Herzen war ihr so wohl, sie war so reich an Gefühlen, daß sie wie in einem besinnungslosen Drang sich in seine Arme warf, – und wie im Strom flossen ihre Thränen über Wladimirs geblümte Pariser Weste.
Fast in demselben Augenblicke ließ sich Krupoffs Stimme vernehmen: »Wo seid ihr?« rief er, »wo seid ihr denn?«
»Hier,« antwortete Beltoff, und reichte Lubonka den Arm.
Beltoff war trunken vor Glück; seine eingeschlummerte Seele erwachte plötzlich mit all ihrer Kraft. Die bisher zurückgehaltene Liebe entfaltete sich in ihm, er empfand eine unaussprechliche Seligkeit in seinem ganzen Wesen. Es war ihm, als hätte er gestern, vorgestern noch nicht gewußt, daß er liebte und geliebt wurde.
Von Kruziferski's Haus kehrte er in den Garten zurück und warf sich auf dieselbe Bank, das Herz war ihm so voll und die Thränen flossen ihm über die Wangen. Er war erstaunt, daß er noch so viel Jugend und Frische besaß . . . Freilich mischte sich bald etwas Unbehagliches in seine überströmende Freude, etwas, worüber er die Stirn runzelte; aber als er zu Hause angekommen war, ließ er sich nach dem Abendessen eine Flasche Champagner geben, und darin versank das unbehagliche Gefühl, während das freudige desto heller wurde.
Lubonka hatte sich todtenbleich von Beltoff an ihrem Hause verabschiedet, wohin sie auch der Doctor begleitet hatte. Sie wagte nicht, klar daran zurückzudenken, was geschehen war . . . Aber eins kam ihr in furchtbarer Weise von selbst in die Erinnerung, an eines mahnte sie ihr ganzer Organismus . . . das war jener brennende, flammende, lange Kuß auf die Lippen; sie hätte ihn vergessen mögen, aber er war so schön, daß sie die Erinnerung daran um nichts in der Welt hätte hingeben können. Doctor Krupoff wollte nach Hause gehen; da erschrak Lubonka und sie bat ihn, mit einzutreten; sie scheute sich, allein ihre Schwelle zu überschreiten, es war ihr so schrecklich zu Muth.
Sie traten ein.
Ihr Mann saß am Tisch und las in irgend einem Journal; es schien, als sei sein Aussehen ruhiger und ungetrübter als gewöhnlich.
Gutmüthig lächelte er den Eintretenden zu, schob das Journal von sich und fragte, indem er seiner Frau die Hand reichte:
»Wo seid ihr denn spazieren gegangen? Ich wartete und wartete auf dich, und es wurde mir schon ganz schwer ums Herz.«
Die Hand seiner Frau war kalt und mit Schweiß bedeckt, wie es bei Todtkranken der Fall zu sein pflegt.
»Wir sind im Garten gewesen,« antwortete Krupoff statt ihrer.
»Was fehlt dir?« fragte Kruziferski, »deine Hand – wie ist dir denn? Und dein Gesicht, liebes Kind, du bist ja kreidebleich?«
»Mir ist etwas schwindlig, aber sei nur unbesorgt, Dmitri, ich gehe ins Schlafzimmer und trinke ein Glas Wasser und es ist gleich vorüber.«
»Erlauben Sie, erlauben Sie, wohin wollen Sie denn so schnell? Lassen Sie mal sehen . . . Haben Sie denn vergessen, daß ich Arzt bin? . . . Was ist das? Ihr wird übel? Dmitri Jakowlewitsch, legen wir sie aufs Sopha, fassen Sie so, unter die Arme . . . so, so . . . Ich bemerkte es schon unterwegs, daß ihr nicht recht wohl war. Die Frühlingsluft, eine gewisse Schärfe im Blut, dann die Ausdünstungen, die das thauende Eis ausströmt, – aller mögliche Unrath thaut jetzt auf . . . Wenn nur englischer Senf zur Hand wäre, dann könnte man ein Pflästerchen machen, ein ganz kleines, fast handgroßes . . . mit Schwarzbrot und Essig . . . Ist Ihre Köchin zu Hause? . . . Schicken Sie sie zu meinem Koch, er weiß schon . . . einfach Senf verlangen . . . das binden wir unter die Füße und hilft das nicht, dann noch ein zweites tief unter die Achseln, da auf die weiche Stelle.«
»Ich bin nicht krank, ich bin nicht krank,« wiederholte Lubonka mit schwacher Stimme, wieder zu sich kommend und am ganzen Leibe bebend. »Dmitri, komm her zu mir, Dmitri, ich bin nicht krank . . . Gieb mir deine Hand.«
»Was fehlt dir, was fehlt dir, mein Engel?« fragte sie der Mann, der selbst schon krank war und in Thränen ausbrach.
Sie sah ihn mit einem seltsam traurigen Blicke an, vermochte aber nicht zu sagen, warum sie ihn zu sich gerufen. Er fragte sie noch einmal.
»Gieb mir einen Trunk Wasser . . . und dann laß mich ein wenig schlafen, dann wird mir wieder wohl, mein Lieber.«
Einige Stunden später lag Lubonka, innerlich mit Gewissensbissen, äußerlich mit Senfpflaster für Beltoffs Kuß bestraft, in tiefem, lethargischem Schlafe, oder vielmehr in einer Art Betäubung im Bett. Die Erschütterung war zu heftig gewesen, ihr Organismus hatte es nicht zu ertragen vermocht. Im Wohnzimmer lag Krupoff vollständig angekleidet auf dem Sopha. Sowohl der Kranken als auch Kruziferski's wegen, der ganz besinnungslos geworden, war er geblieben. Krupoff ärgerte sich ganz entsetzlich über die Federn des Sopha's, welche demselben durchaus nichts Elastisches gaben, sondern ihm vielmehr jene Eigenschaften verliehen, welche es dem Fasse ähnlich machten, in welchem die Karthager den Regulus herumwälzten, – nach einer Viertelstunde schlummerte er süß und mit der Ruhe eines Menschen ein, der sich weder von seinem Gewissen noch von seinem Magen beschwert fühlt.
Am Lager der Kranken brannte in einer Untertasse ein Nachtlicht, das einen ziemlich hellen Schein auf die Decke des Zimmers warf, der in einem fort größer oder kleiner wurde, je nach den Bewegungen der flackernden Flamme.
Kruziferski saß bleich und verstört an dem kleinen Tisch, auf dem das Nachtlicht stand. Wer jemals in der Lage war, eine Nacht an dem Lager eines Schwerkranken, eines Freundes, eines Bruders, eines geliebten Weibes durchzuwachen, namentlich eine unserer ewig lange dauernden Winternächte, der wird begreifen, wie es dem nervösen Kruziferski ums Herz war. Ein dumpfes und zugleich dummes Gefühl der Hilflosigkeit, die Angst vor der Zukunft, gepaart mit aufregender Schlaflosigkeit und Müdigkeit, hatten ihn in einen gereizten Gemüthszustand gebracht. In einem fort richtete er sich auf, um nach ihr zu sehen, legte ihr die Hand auf die Stirn, und fand, daß die Hitze sich gemindert, und dachte sich dann, das sei vielleicht ein schlimmes Zeichen, die Krankheit könnte nach innen gedrungen sein. Er stand auf, setzte das Nachtlämpchen und das Arzneifläschchen zurecht, sah nach der Uhr, hielt sie ans Ohr, und ohne gesehen zu haben, wie spät es sei, legte er sie wieder hin; dann setzte er sich wieder an den Tisch und begann die Augen auf den zitternden Lichtschein an der Decke zu richten, verlor sich in Sinnen und Träumen – und seine entflammte Einbildungskraft ging fast in Wahnsinn über.
Nein, dachte er, das ist unmöglich, vollständig unmöglich, ganz und gar unmöglich; wie, ich habe ja nur sie allein auf der Welt, und sie ist so jung. Gott sieht meine Liebe, er wird sich unser erbarmen. Es ist ja nur eine Kleinigkeit und wird vorübergehen; ja, ja, die kalte, feuchte Luft, das scharfe Blut, das aufthauende Eis – aber Frühlingserkältungen sind ja so schrecklich. Ein Nervenfieber, Schwindsucht, wie kommt es, daß man die Schwindsucht noch immer nicht zu heilen versteht? Eine schreckliche Krankheit! . . . Uebrigens ist sie ja doch nur bis zum achtzehnten Jahre gefährlich . . . Aber die Frau unseres französischen Lehrers war dreißig Jahre alt und starb doch an der Schwindsucht, ja, ja, sie starb . . . und wenn . . . Und leibhaftig sah er im Zimmer einen mit einem Bahrtuch bedeckten Sarg stehen; er vernahm das Todtengebet, Doctor Krupoff steht traurig daneben, die Wärterin in ein weißes Tuch geschlungen, hält Jascha auf dem Arm.
Und dann schwebte ihm noch Schrecklicheres vor: daß auch der Sarg verschwunden, im Zimmer alles aufgeräumt, der Fußboden abgewaschen sei . . . es riecht nur noch nach Weihrauch . . . Einer Ohnmacht nahe, stand er auf und ging zu seiner Frau.
Ihre Wangen glühten, schwer ging ihr Athem, ein krankhafter Schlaf hielt ihren Körper gefesselt . . . Kruziferski faltete die Hände über der Brust und begann bitterlich zu weinen . . .
Ja, dieser Mann verstand zu lieben, man brauchte ihn nur anzusehen; er sank auf die Kniee, ergriff die brennende Hand seiner Frau und drückte sie an seine Lippen.
»Nein,« sagte er laut, »nein, er wird sie mir nicht nehmen, sie wird mich nicht verlassen; was sollte ohne sie aus mir werden?«
Und er richtete die Blicke gen Himmel und betete . . .
Da kam Krupoff mit ganz verschlafenem Gesicht herein: sein linkes Auge wollte sich durchaus nicht öffnen, wie sehr er auch die dem Auge zu diesem Zwecke extra angewiesene Muskel anstrengte.
»Na, phantasirt wohl, wie?«
»Nein, sie schläft ganz ruhig.«
»Hab's doch selbst gehört, mein Bester; oder sollt's mir im Schlaf nur so vorgekommen sein?«
»Jedenfalls hat Ihnen das nur geträumt, Doctor,« entgegnete Dmitri Jakowlewitsch mit dem Gesicht eines ertappten Schulknaben.
Krupoff trat ans Bett.
»Hitze ist noch da; hat aber allem Anschein nach nichts zu sagen; Sie aber, Dmitri Jakowlewitsch, sollten sich zu Bett legen – na, was nützt Ihnen denn das, daß Sie sich abhärmen?«
»Nein, ich lege mich nicht hin,« antwortete Dmitri Jakowlewitsch.
»Das steht Ihnen vollkommen frei,« bemerkte Krupoff, gähnte und lenkte seine Schritte wieder nach dem harten Sopha, auf welchem er ruhig bis halb acht schlief; um diese Zeit stand er täglich auf, mochte er sich um zehn Uhr abends oder sieben Uhr morgens niedergelegt haben.
Nachdem er die Kranke betrachtet hatte, entschied Semen Iwanowitsch, daß es ein ganz leichtes Erkältungsfieber sei, wie er sich ausdrückte, und er fügte noch hinzu, das liege jetzt in der Luft.
Was nach diesem Fieber sich ereignete, mag Lubonka selbst erzählen.
Hier sind einige Bruchstücke aus ihrem Tagebuch.
18. Mai.
Wie lange habe ich schon nicht mehr in dieses Buch geschrieben – seit länger als zwei Monaten . . . länger als zwei Monat! Manchmal denke ich, es seien Jahre verflossen seit dem Tage, da ich krank wurde. Jetzt ist mir, als sei alles vorüber und das Leben fließe wieder still und ruhig dahin.
Gestern ging ich zum ersten Male aus. Wie froh wurde mir, als ich die frische Luft athmete! Das Wetter war herrlich . . . Aber ich bin doch sehr schwach geworden während meiner Krankheit. Ich ging einige Mal in unserm Gärtchen auf und nieder, und da war ich so müde, daß mir geradezu schwindlig wurde. Dmitri erschrak, aber es ging gleich wieder vorüber. Mein Gott, wie er mich liebt! der gute, gute Dmitri. Wie er mich gepflegt hat! Ich brauchte des Nachts nur die Augen aufzuschlagen, mich nur zu rühren, – gleich stand er an meinem Lager, fragte, ob ich etwas wünschte, ob ich nicht trinken wollte . . . Der Arme! Er selbst sieht so angegriffen aus, als wäre auch er krank gewesen. Wie leidenschaftlich er liebt! Man müßte ein Herz von Stein haben, um einen solchen Mann nicht wiederzulieben. O, ich liebe ihn, es wäre mir unmöglich, ihn nicht zu lieben.
Der Vorfall im Garten – er hat nichts zu bedeuten, die Krankheit war damals schon im Anzug, und ich befand mich in einer eigentümlichen Stimmung, meine Nerven waren in Aufregung.
Gestern sah ich ihn zum ersten Mal nach meiner Krankheit . . . Seine Stimme tönte mir ins Ohr wie im Traum, aber ich sah ihn nicht. Er war sehr erregt, aber er suchte es zu verheimlichen, und seine Stimme zitterte, als er zu mir sagte: ›Endlich, endlich also befinden Sie sich auf der Besserung.‹ Dann sprach er nur noch wenig mit mir, irgend ein Gedanke schien ihn zu beschäftigen, er fuhr sich wiederholt mit der Hand über die Stirn, als wollte er ihn verscheuchen, aber er kehrte immer wieder. Nicht die geringste Anspielung auf das Vergangene, er hat wahrscheinlich begriffen, daß es ein krankhafter Rausch war.
Warum habe ich nicht Dmitri alles erzählt? An jenem Abend, als er mir so sanft die Hand reichte, hätte ich mich ihm in die Arme werfen und ihm alles sagen mögen, aber ich hatte nicht die Kraft, mir war so schlimm zu Muth. Und dann ist ja auch Dmitri so zärtlich, daß dies ihn schrecklich gekränkt haben würde. Später werde ich ihm unbedingt alles sagen.
20. Mai.
Gestern waren Dmitri und ich in dem Garten. Er wollte sich auf jene Bank setzen, aber ich sagte, ich fürchtete mich vor dem Luftzug vom Flusse her, – ich hatte geradezu eine schreckliche Angst vor dieser Bank. Mir war als wäre es eine Beleidigung für Dmitri, sich auf dieselbe zu setzen.
Sollte es denn wahr sein, daß man zwei Menschen zugleich lieben könnte? Ich fasse es nicht. Man kann ja nicht blos zwei, sondern viele Menschen lieben, aber dies ist nur ein Spiel mit Worten; mit wahrer, echter Liebe kann man nur einen lieben, und mit dieser Liebe liebe ich nur meinen Mann.
Und dann liebe ich ja auch Krupoff, und scheue mich nicht, es zu gestehen, daß ich auch Beltoff liebe. Das ist ein so kraftvoller Mensch, daß es mir unmöglich ist, ihn nicht zu lieben. Dieser Mann ist zu Großem berufen, denn er ist ein ungewöhnlicher Mensch. Aus seinen Augen leuchtet Genie. Was braucht ein solcher Mann jene Liebe? Was ist ihm ein Weib? Sie vermag seine große Seele nicht auszufüllen . . . Er braucht eine andere Liebe . . .
Er leidet, leidet tief, und zärtliche Frauenfreundschaft vermöchte ihm diese Leiden zu lindern; er wird sie immer bei mir finden; nur daß er die Freundschaft zu feurig auffaßt – er faßt überhaupt alles zu feurig auf. Und zudem ist er so wenig an Beachtung, an Theilnahme gewöhnt; er lebte fast immer vereinsamt, und so wallt seine gekränkte, verbitterte Seele plötzlich auf, wenn er eine mitfühlende Stimme vernimmt. Das ist sehr natürlich.
23. Mai.
Man hat manchmal eigentümliche Augenblicke, ein unruhiges Verlangen nach einem noch volleren Leben. Ist das Undankbarkeit gegen das Geschick, oder ist der Mensch einmal so angelegt? Aber ich empfinde oft, namentlich seit einiger Zeit, ein Streben, ein Sehnen . . . es ist sehr schwer, dafür ein Wort zu finden.
Ich liebe Dmitri aufrichtig, aber manchmal verlangt meine Seele noch etwas Anderes, etwas, das ich nicht an ihm finde – er ist so sanft, so zärtlich, daß ich ihm jede Traurigkeit, jeden kindischen Gedanken, der mir flüchtig durch die Sinne geht, offenbaren kann; er weiß alles zu würdigen, er lächelt nicht spöttisch, er verletzt nicht mit einem kalten Wort und einer gelehrten Bemerkung. Aber das ist nicht alles. Es giebt noch ganz andere Anforderungen, die Seele sehnt sich nach Kraft, nach Kühnheit im Denken. Warum besitzt Dmitri nicht diese Eigenschaft, zur Wahrheit vorzudringen, sich mit Gedanken abzuquälen? Oft wende ich mich mit einer Frage, einem Zweifel an ihn, die mich lebhaft beschäftigen; aber er beruhigt und tröstet mich, er will mich einlullen, wie man Kinder einlullt . . . Aber das ist's durchaus nicht, was ich verlange . . . Auch sich selbst lullt er ein mit diesem kindlichen Glauben; ich vermag es nicht.
24. Mai.
Jascha ist krank. Zwei Tage hatte er Hitze, heute hat sich ein Ausschlag gezeigt. Semen Iwanowitsch täuscht mich. Es ist zehnmal besser, alles gerade heraus zu sagen; man muß die Einbildungskraft erschrecken und ihr nicht die Zügel lassen: sie erfindet sich selbst noch viel Schrecklicheres, noch viel Aergeres. Ich kann Jascha nicht gerade in die Augen blicken. Das Herz blutet mir; das Kind leidet furchtbar.
Wie mager er geworden, der arme Schelm, und wie bleich er ist! . . . Und doch, kaum ist ihm einen Augenblick leichter, so lächelt er und verlangt nach seinem Ball. Der Gedanke, daß alles, was uns so theuer, so vergänglich sei, ist doch furchtbar; wie in einem Wirbel treibt und dreht sich alles, Gutes und Böses, auch der Mensch geräth hinein; bald wird er auf den Gipfel der Seligkeit gehoben, bald tief hinab geschleudert. Der Mensch bildet sich ein, er selbst bestimme das alles, aber er ist wie der Span, der sich auf dem Flusse in kleinem Kreise dreht, und mit der Welle fortgetragen wird – er wird irgendwo ans Ufer geschleudert, oder hinausgeführt in das Meer, oder er versinkt im Schlamme . . . Das ist schrecklich traurig.
26. Mai.
Er hat das Scharlachfieber. Dmitri hat drei Brüder durch das Scharlachfieber verloren. Semen Iwanowitsch härmt sich, zürnt und zankt, und verläßt Jascha nicht einen Augenblick. Mein Gott, mein Gott, was kommt doch alles über uns! Dmitri vermag sich kaum auf den Beinen zu halten. Ist dies das Glück, das ich dir gebracht habe?
27. Mai.
Still schleicht die Zeit dahin; noch immer dasselbe. Ob ein Todesurtheil oder Begnadigung . . . Aber nur recht schnell . . . Welch eiserne Gesundheit muß ich haben, daß ich dies alles ertragen kann. Semen Iwanowitsch sagt in einem fort: Geduld, Geduld . . . Jascha, mein Engel, gute Nacht . . . Gute Nacht, mein Junge!
29. Mai.
Die letzten anderthalb Tage sind ruhiger verlaufen, die Krisis ist vorüber. Aber auch jetzt noch bedarf es großer Vorsicht. Während dieser ganzen Zeit befand ich mich in einer solchen Spannung . . . Jetzt überkommt mich eine furchtbare, geistige Ermattung. Ich möchte mich so recht von Herzen aussprechen. Wie wohl thut es zu reden, wenn man so recht verstanden, ganz und voll und mit Theilnahme verstanden wird.
1. Juni.
Alles geht gut . . . Es scheint, diesmal ist die Wolke noch an seinem Haupte vorübergezogen. Jascha spielte heute zwei Stunden mit mir und seinem Pferdchen. Er ist noch so schwach, daß er sich nicht auf den Beinen halten kann. Guter, guter Semen Iwanowitsch! Welch ein Mann!
6. Juni.
Alles ist beruhigt. Jascha ist viel wohler, aber ich bin krank, krank, das fühle ich. Manchmal sitze ich an seinem Bettchen, und statt mich zu freuen, steigt ohne jede Veranlassung mit einem Male aus innerster Seele eine solche Traurigkeit auf . . . sie wächst und wächst, und plötzlich hat sie sich in dumpfen, grausamen Schmerz verwandelt; mir ist, als könnte ich sterben.
In diesen Tagen habe ich nicht Zeit gehabt, allein mit mir zu sein. Meine und Jaschas Krankheit und all die Sorgen ließen mir nicht eine Minute Gelegenheit, mich in mich selbst zu versenken. Kaum wurde es ruhiger und besser mit uns, da forderte mich eine klagende Stimme auf, einen Blick in mein Herz zu thun – und ich erkannte mich nicht mehr.
Gestern nach dem Essen war mir ein wenig unwohl. Ich setzte mich zu Jascha, legte mein Haupt auf sein Bettchen und schlief ein . . .
Ich weiß nicht, ob ich lange geschlummert, aber plötzlich ward mir so schwer, ich schlug die Augen auf und vor mir stand Beltoff. Sonst war niemand im Zimmer . . . Dmitri war ausgegangen, um Unterricht zu geben . . .
Er blickte mich an und seine Augen waren voller Thränen; er sagte nichts, reichte mir die Hand, drückte mir sie fest, so fest, daß es schmerzte . . . und dann ging er. Warum sagte er mir nichts? . . . Ich wollte ihn zurückhalten, aber die Stimme erstickte mir in der Brust.
9. Juni.
Den ganzen Abend war er bei uns und schrecklich heiter: in einem fort scherzte und lachte er, er war geradezu ausgelassen; aber ich sah, daß dies alles nur erkünstelt war; es schien mir sogar, als ob er viel Wein getrunken, um sich in dieser Stimmung zu erhalten. Es war ihm schwer zu Muth, er täuschte sich, er ist gar nicht so heiter. Wäre es möglich, daß ich, statt ihm Erleichterung zu bringen, seinem Herzen nur neues Leid zufügte?
15. Juni.
Heute war ein schwüler Tag, ich verschmachtete förmlich vor Hitze. Nach dem Essen zog ein Gewitter herauf, und der herabströmende Regen erfrischte mich vielleicht noch mehr als Gräser und Bäume.
Wir begaben uns in den Garten. Es war wunderschön da draußen: die Bäume strömten einen kräftigenden, feuchten Duft aus; mir ward so leicht . . .
Zum ersten Male erinnerte ich mich jenes Tages in anderer Weise; vieles war doch so schön . . . kann denn etwas Verbrecherisches voll Reiz, voll Süßigkeit, voll Seligkeit sein? . . .
Wir wandelten in jener Allee. Es saß jemand auf der Bank; wir gingen hin; er war es. Fast hätte ich vor Freude aufgeschrieen.
Er war sehr traurig; und all seine Worte waren so schwermüthig, so voll Gram und Ironie . . . er hat Recht, – die Leute selbst erfinden sich allerlei Qualen. Nun, wenn er mein Bruder wäre, könnte ich ihn dann nicht offen lieben, und davon mit Dmitri, mit allen Menschen sprechen? . . . Und niemand würde das seltsam vorkommen . . . Aber er ist ja mein Bruder, das fühle ich . . . Wie schön könnten wir unser Leben, unsern kleinen aus vier Personen bestehenden Kreis einrichten! Ich denke, es existirt doch gegenseitiges Vertrauen zwischen uns, und Liebe und Freundschaft, und wir machen keine zu großen Ansprüche, bringen Opfer, sprechen uns gegenseitig aus.
Als wir nach Hause gingen, war es schon spät. Der Mond stieg herauf. Beltoff ging neben mir. Welch merkwürdige, magnetische Gewalt hat doch der Blick dieses Mannes! Dmitri's Blick ist sanft und ruhig, wie der blaue Himmel, – aber er regt auf, beunruhigt – und doch auch wieder nicht.
Wir sprachen wenig . . . Aber beim Abschied sagte er zu mir: »Ich habe während dieser ganzen Zeit viel an Sie gedacht und – ich möchte gern mit Ihnen reden, ich habe so viel auf dem Herzen.«
»Auch ich habe an Sie gedacht . . . Gute Nacht, Woldemar . . .« Ich weiß es selbst nicht, wie mir diese Worte über die Lippen kamen; noch nie hatte ich ihn so genannt; aber es war mir, als könnte ich ihn gar nicht anders nennen.
Er erbebte, als er sich so nennen hörte: nun verbeugte er sich gegen mich und sagte mit der Zärtlichkeit, die ihm zuweilen auf Augenblicke eigen ist: »Sie sind die Dritte, die mich so nennt, ich freue mich darüber wie ein Kind, das wird mich für zwei Tage glücklich machen.«
»Gute Nacht, Woldemar, gute Nacht.« Er wollte mir noch etwas sagen, dachte nach, schaute mir in die Augen und ging.
20. Juni.
Ich habe mich sehr verändert. Ich habe an Kraft gewonnen, seit ich Waldemar begegnet bin. Er ist eine feurige, arbeitende, unablässig beschäftigte Natur; er berührt alle innern Saiten, er setzt alle Fibern des Menschen in Bewegung. Wie viele neue Fragen sind in meiner Seele aufgetaucht! Wie viele einfache, alltägliche Dinge, die ich früher überhaupt gar nicht beachtete, regen mich jetzt zum Denken an. Vieles, das ich kaum zu vermuthen wagte, ist mir jetzt klar. Natürlich muß ich dabei oft Gedanken opfern, an die ich mich gewöhnt hatte, die ich hegte und pflegte. Der Augenblick, da ich von ihnen scheide, ist bitter, aber dann wird mir leichter, freier.
Es würde mich sehr betrüben, wenn er abreiste. Ich habe ihn nicht gesucht, aber es hat sich so gefügt; unsere Lebenswege begegneten sich – ganz auseinandergehen können sie nicht mehr. Er hat meinem innern Auge eine neue Welt erschlossen. Und ist es nicht wunderlich, daß dieser Mann, der nirgend Arbeit, nirgend Ruhe fand, der einsam die ganze Welt durchwanderte, plötzlich hier in dem kleinen Landstädtchen Theilnahme fand bei einer wenig gebildeten, armen, seinen Kreisen fernstehenden Frau! Er mag mich zu sehr lieben – aber hängt das von seinem Willen ab? Zudem hat er soviel Kälte und Theilnahmlosigkeit ertragen müssen, daß er gern jedes warme Gefühl hundertfach vergelten möchte.
Ihn so einsam zu lassen wie er war, ihm fremd zu werden vermöchte ich nicht. Das wäre geradezu Sünde . . . Ja, er hat Recht – auch seine Liebe hat ihre Rechte!
Seit einiger Zeit ist Dmitri gar nicht bei Laune: er ist fortwährend nachdenklich und weit öfter als sonst zerstreut. Das liegt bei ihm im Charakter, aber es ist schrecklich, daß dies immermehr zunimmt; diese Traurigkeit beunruhigt mich und zuweilen erkläre ich sie mir falsch . . .
22. Juni.
Ich glaube, ich habe mich nicht geirrt. Gestern war Dmitri so finster, daß ich es nicht mehr ertragen konnte und ihn fragte, was ihm fehle.
Ich habe Kopfweh, antwortete er, ich muß spazieren gehen. Und damit griff er nach seinem Hut.
Wir wollen zusammen gehen.
Nein, liebes Kind, jetzt nicht; ich gehe sehr schnell, du würdest bald müde werden; und mit Thränen in den Augen ging er fort.
Das vermochte ich nicht zu ertragen und während der ganzen Zeit mußte ich bitter weinen. Als er zurückkam, fand er mich auf demselben Platze am Fenster; er sah, daß ich geweint hatte, drückte mir traurig die Hand und setzte sich.
Wir schwiegen, dann nach einigen Augenblicken sagte er zu mir:
Lubonka, weißt du, an was ich denke? Wie schön wäre es, wenn ich in einer lauen Sommernacht irgendwo in einem Walde mein Haupt in deinen Schoos legen und auf demselben einschlummern könnte!
Ich bitte dich, Dmitri, rief ich aus, was sind das für finstere Gedanken? Thut es dir nicht leid, daß du jemanden hier zurücklassen würdest?
Leid? Es thut mir sehr leid um dich und Jascha; aber ich glaube auch, daß du ihn besser zu erziehen verstehst als ich. Zudem, Geliebte, kann ich dort so gut wie hier stets für euch beten; ein Gebet voll Glauben und Zuversicht findet stets Erhörung . . . Du wirst um mich trauern, das weiß ich, Geliebte, denn du bist so gut; aber du wirst die Kraft finden, diesen Schlag zu ertragen.
Es schmerzte mich unaussprechlich, ihn so reden zu hören. Aus diesen Worten hörte ich ein böses Gefühl heraus, und die Thränen strömten mir über die Wangen. Was ist das? Ich fange an zu fürchten, daß ich Jammer und Elend in unser Leben heraufbeschworen habe. Und doch ist mein Gewissen rein . . . Sollte ich ihn wirklich in einen solchen Zustand gebracht haben aus Mangel an Liebe, oder . . . Er glaubt nicht mehr wie früher an mich, das sehe ich! Wie, in seiner edlen Seele sollte Raum sein für ein Gefühl, das ich nicht nennen mag? Sollte er den Verdacht hegen, daß ich ihn nicht mehr liebe, daß ich einen andern liebe? O Gott, wie soll ich ihm das erklären? Aber ich liebe ja keinen andern, ich liebe ihn und liebe auch Woldemar; aber meine Sympathie für Woldemar ist eine ganz andere . . . Seltsam, ich glaubte, unser Leben sei nun ruhig geworden, es würde so weit, so weit, so voll werden.– und da plötzlich thut sich ein Abgrund zu unsern Füßen auf . . . wenn wir uns nur noch am Rande des Abgrundes halten können . . . Mir ist so schwer . . .
Wenn ich gut, sehr gut Klavier spielen könnte, so würde ich die Töne aus meiner Seele herauslocken, welche ich nicht auszusprechen vermag; Dmitri würde mich begreifen; er würde begreifen, daß in mir alles rein ist. Armer Dmitri! Du leidest für deine unendliche Liebe! Ja, ich liebe dich, mein Dmitri! Wäre ich gleich anfangs offen gegen ihn gewesen, so würde dies nie so gekommen sein.
Welche böse Macht hat mich nur daran verhindert?
Sobald er sich wieder beruhigt hat, spreche ich mit ihm und dann sage ich ihm alles, alles . . .
23. Juni.
Auch Semen Iwanowitsch, scheint mir, hat sich gegen mich verändert. Aber was habe ich denn gethan? . . . Ich begreife nichts, weder was ich gethan, noch was geschehen ist. Dmitri ist heute ruhiger; ich habe viel mit ihm gesprochen, aber ich habe nicht alles gesagt; manchmal schien es mir, als begriffe er mich; aber einen Augenblick später sah ich wieder deutlich, daß wir das Leben mit ganz verschiedenen Blicken ansehen. Ich fange an zu glauben, daß Dmitri auch früher mich nicht ganz verstanden, nicht ganz mit mir sympathisirt hat, – das ist ein furchtbarer Gedanke.
24. Juni, Abends spät.
Leben, Leben! Mitten im Nebel und in der Trauer, mitten in krankhaften Ahnungen und gegenwärtigem Leid erglänzt plötzlich die Sonne und es wird so hell, so schön . . . Soeben ging Woldemar. Wir haben lange mit einander gesprochen . . . Auch er ist traurig und leidet sehr, und wie verständlich ist mir jedes seiner Worte! Warum mögen nur die Menschen in die Umstände unserer Sympathie einen anderen Charakter legen und sie verdrehen? Warum thun sie das alles?
25. Juni.
Gestern war Johannistag. Dmitri war bei einem Collegen, um dessen Namenstag mitzufeiern. Er kehrte spät und nicht ganz nüchtern zurück. Noch niemals hatte ich ihn so gesehen. Bleich, mit zerzaustem Haar und unsichern Schritten ging er im Schlafzimmer auf und ab.
Ist dir nicht wohl, Lieber? sagte ich, soll ich dir nicht ein Glas Wasser geben?
Ja, sprach er mit vor Aufregung stockender Stimme und mit einem Ausdruck, der mir an ihm ganz fremd war, wenn du mir nur soviel Wasser brächtest, daß ich darin ertrinken könnte, ich würde es dir Dank wissen.
Ich sah ihn fest an; er wurde verwirrt.
Höre nicht darauf, um Gottes willen, höre nicht auf das, was ich phantasire, fuhr er fort, wahrscheinlich durch meinen Blick erschreckt. Ich weiß selbst nicht, wie ich dazu gekommen, ein Glas zu viel zu trinken – daher die Hitze, das Fieber . . . Gute Nacht, Geliebte, ich will mich hier ein wenig ausruhen.
Und er warf sich ganz angekleidet auf das Sopha und war bald in tiefen Schlaf gesunken. Ich konnte die ganze Nacht kein Auge zuthun; tiefer Schmerz war auf seinem schlummernden Gesicht zu lesen; manchmal lächelte er, aber es war nicht sein früheres Lächeln . . . Nein, Dmitri, mich täuschest du nicht! Du hast nicht zufällig ein Glas zu viel getrunken! Nicht im Fieber hast du das gesagt; der Wein verlieh dir eine Härte, die gar nicht in deiner Natur liegt. Was zieht sich denn über unserm Haupte zusammen, barmherziger Gott! Das geht ja über alle menschlichen Kräfte! Dir ist schwer ums Herz, armer Dmitri, aber daß ich diesen Schmerz ansehen und mir sagen muß, daß ich dies alles verschuldet habe! . . .
Drei Stunden später.
Noch vermag ich dies alles nicht zu fassen. Ein so unendlicher Gram drückt mich . . . Das Blut klopft mir an die Schläfe und das Herz pocht so gewaltig, daß ich mir an die Brust fassen muß. Dmitri, ist es nicht sündhaft, daß du mich so falsch verstehen kannst? Und wie er dafür leidet, der Arme! . . . Linderung, o wie schaffe ich ihm Linderung? . . . Ach, mir schwindelt, der Kopf brennt mir! Werde ich wieder krank? Ich sprach mit Dmitri, ich verlangte eine Erklärung von ihm, ich wollte wissen, warum er so unendlich traurig sei, warum er so zu mir gesprochen . . . Ja, er hat den Glauben an mich verloren, er wird niemals begreifen, was in mir vorgeht. Das ist entsetzlich, da ich nichts zu ändern vermag . . . Alles ist in Nebel gehüllt, und die Brust zittert mir vor Schmerz; warum bin ich Woldemar begegnet?
26. Juni.
Wie seltsam und verwirrt sind doch die Menschen! Wenn man das oft bedenkt, so weiß man nicht, soll man zürnen oder lachen. Heut ging mir der Gedanke im Kopf herum, daß die aufopferndste Liebe der höchste Egoismus, daß die tiefste Demuth der schrecklichste Stolz, eine geheime Grausamkeit sei; dieser Gedanke ist mir ebenso schrecklich, wie damals, da ich mich als Mädchen für ein Ungeheuer, für eine Verbrecherin hielt, weil ich Glafira Lwowna und Alexis Abramowitsch nicht lieben konnte. Was soll ich beginnen? Wie mich vor meinen eigenen Gedanken schützen? Und warum? Ich bin doch kein Kind mehr. Dmitri klagt mich nicht an, macht mir keine Vorwürfe, fordert nichts von mir; er ist noch zärtlicher geworden, noch zärtlicher! Dieses »noch« ist der klarste Beweis, daß dies alles etwas Unnatürliches ist; darin liegt so viel Stolz und eine solche Demüthigung für mich, ein solcher Mangel an Verständnis! Er leidet sehr, aber was soll man zu dem Weibe sagen, das Liebe mit Gift vergilt? Aber mein Gott, was habe ich denn gewollt? Ich sprach aufrichtiger mit ihm, als das jede andere Frau gethan hätte; er gab sichtlich nach, aber zugleich drängte sich in seine Seele etwas anderes, und dieses andere vermochte er nicht zu besiegen.
27. Juni.
Sein Gram hat sich in fortwährende Verzweiflung verwandelt. In früheren Tagen kamen nach traurigen Gesprächen doch wieder frohe Augenblicke. Jetzt nicht mehr. Ich weiß nicht, was ich beginnen soll. Meine Kräfte sind erschöpft. Wie viel gehörte dazu, diesen sanften Menschen zur Verzweiflung zu bringen, und ich habe ihn dazu gebracht, ich verstand es nicht, mir diese Liebe zu erhalten. Er glaubt nicht mehr an meine Liebesworte, er wird zu Grunde gehen. Jetzt möchte ich sterben . . . Sofort, sofort sterben!
Ich fange an mich zu verachten. Und was das Schlimmste, was das Unbegreiflichste ist, mein Gewissen ist ruhig; ich habe einem Manne, der mir sein ganzes Leben geweiht und den ich liebe, einen furchtbaren Schlag gegeben, – und ich fühle mich nur unglücklich; mir ist, als wäre mir wohler, wenn ich mich als Verbrecherin fühlte, – o da würde ich ihm zu Füßen fallen, mit meinen Armen seine Kniee umklammern, und mit meiner Reue alles sühnen: Reue löscht ja alle Herzensflecken aus. Er ist so zärtlich, er könnte nicht widerstehen, er würde mir verzeihen und wir würden, nachdem wir beide so gelitten, noch glücklicher werden. Was ist das für ein verwünschter Stolz, der in meiner Seele keine Reue aufkommen läßt! Jetzt möchte ich allein sein, irgendwo in der Ferne, nur Jascha möchte ich mit mir nehmen; ich würde irgendwo unter fremden Menschen umherirren und mich dann aufraffen . . . Du wirst keinen Seelenfrieden finden, Dmitri. Ach, Geliebter, meinen letzten Blutstropfen möchte ich hingeben, könntest, wolltest du mich verstehen! Wie wohl würde dir dann sein! Du wirst das Opfer deiner maßlosen Verkennung, und ich folge dir in diesen Abgrund, ich folge dir, weil ich dich liebe, weil die überirdischen Mächte mich zu deinem Verderben erkoren haben.
Manchmal scheint es mir, als könnten ein paar Worte Woldemars mich erleichtern, aber ich scheue mich, eine Gelegenheit zu suchen, um ihn zu sehen. Das haben die Klatschereien zu Wege gebracht! Es ist ihnen geglückt, mich scheu zu machen; es ist ihnen geglückt, ein lauteres, übles Gefühl zu vergiften. Möge Gott ihnen verzeihen!
Semen Iwanowitsch hat mir andeutungsweise die Moral gelesen . . . O guter Semen Iwanowitsch! Es thut mir sehr leid um ihn, er begreift nichts, er spricht von den heiligen Mutterpflichten . . . Ist ihm denn niemals der Gedanke in den Sinn gekommen, daß auch ich zuweilen darüber nachgedacht! Die Theilnahme der Menschen ist manchmal verletzender als ihre Kälte . . . Die Freundschaft hält es für ihr erstes Recht, den Andern an den Schandpfahl zu binden . . . und dann die Erfüllung ihrer Rathschläge zu fordern . . . mögen sie demjenigen, dem sie ertheilt werden, noch so sehr widerstreben; ach, wie kleinlich ist dies alles! O, mir ist so schwül, als befände ich mich in einem kleinen Stübchen, dessen sämmtliche Fenster lange verschlossen gewesen, und in dem noch die Fliegen herumsummen! . . .
* * *
Wäre Beltoff nicht nach N. gekommen, so würde die Familie Kruziferski noch viele ruhige, glückliche Jahre verlebt haben, – gewiß. Aber das ist nicht sehr trostreich. Wenn ich an einem abgebrannten Hause vorübergehe, – an einem Hause, das der Rauch geschwärzt, aus dem die Fensterrahmen verschwunden, dessen Schornsteine gespenstig in die Luft ragen, dann ist mir auch mehr als einmal der Gedanke durch den Kopf gegangen: wenn der Funke nicht hineingefallen, wenn die Flamme nicht angefacht worden wäre, so würde dieses Haus noch viele Jahre stehen, man würde darin noch lange poculiren und sich des Lebens freuen; jetzt aber ist es nur ein Steinhaufen.
Eigentlich ist unsere Erzählung zu Ende; wir könnten hier inne halten und es dem Leser überlassen, zu unterscheiden, wer schuld ist; aber da sind noch einige Einzelheiten, welche uns ziemlich bemerkenswerth erscheinen; wenn ihr gestattet, theile ich sie euch mit.
Wenden wir uns vor allem dem armen Kruziferski zu.
Bald nach der Krankheit seiner Frau hatte er bemerkt, daß ein gewisser Gedanke sie lebhaft beschäftigte. Sie war oft unruhig, saß lange in Sinnen verloren . . . auf ihrem Antlitz lag ein Etwas, das mehr Stolz und Kraft verrieth, als ihr sonst eigen war.
Kruziferski gingen verschiedene Erklärungen dieser auffallenden Erscheinung durch den Sinn, alle seltsamer, unwahrscheinlicher Art. Endlich lachte er darüber, aber sie kehrten immer wieder.
Als er einst mit Jascha in seinem Zimmer saß, klopfte plötzlich im Vorzimmer jemand an die Thür. »Zu Hause?« Das ist Beltoff, sagte Kruziferski aufblickend und seine Augen bemerkten eine leichte Röthe auf Lubonka's Wangen, und ihr Antlitz hatte sich belebt, und zwar, schien es, nicht seinetwegen.
Er zuckte zusammen, bewahrte jedoch Schweigen. Er wußte sehr wohl, daß seine Frau mit Beltoff innig befreundet war, und darüber wunderte er sich durchaus nicht; aber dieser Blick, diese Nöthe, die über ihr Antlitz zuckte! . . . Wäre es möglich? dachte er, und abermals beobachtete er was vorging.
Beltoff liebkoste Jascha. Aber welch einen Blick voll Zärtlichkeit und Leidenschaft warf er auf die Mutter! In diesem Blick hätte nur ein Blinder keine Liebe, keine heiße Liebe – ja noch mehr als Liebe: glückliche Liebe gelesen.
Sie stand da mit gesenktem Blick, ihre Hände bebten ein wenig, und sie schien sich so glücklich zu fühlen. Kruziferski sprach ein paar Worte und ging dann in das anstoßende Zimmer. Ist es wirklich wahr? fragte er sich entsetzt. Es war ihm so wirr, so wüst im Kopf, so betäubend sauste es ihm in den Ohren, daß er sich schnell auf das Bett setzen mußte. Lange saß er da; es war ihm unmöglich zu denken, er empfand nur etwas widerlich Bedrückendes. – Dann ging er wieder zu ihnen in das Zimmer . . . Sie sprachen so freundschaftlich, so theilnehmend mit einander, es schien ihm, als sei er vollständig überflüssig. Er begann im Zimmer auf und ab zu gehen, und da kamen ihm verschiedene Kleinigkeiten in die Erinnerung, auf die er seinerzeit gar nicht geachtet, die ihm aber jetzt als erhärtende Beweise erschienen.
Als Beltoff ging, begleitete sie ihn; sie lächelte ihm zu, – und wie lächelte sie!
Ja, sie liebte ihn. Kaum hatte er sich das gestanden, so begann er diesen Gedanken voll Entsetzen von sich zu bannen; aber es war ein hartnäckiger Gedanke, er kehrte immer wieder. Eine finstere, wahnsinnige Verzweiflung bemächtigte sich seiner. Ich hab's geahnt! . . . Was soll ich beginnen? . . . Auch du, auch du liebst mich also nicht? Und er raufte sich das Haar und biß sich in die Lippen, und in seiner milden, weichen Seele entwickelte sich eine furchtbare Wuth, Haß, Neid, Rachedurst, und um diese Empfindungen zu befriedigen, fand er die Kraft, alles in sich zu verbergen.
Es ward Nacht. Er empfand einen heftigen Drang zu weinen, aber er fand keine Thränen. Auf kurze Augenblicke schloß der Schlaf ihm die Augen, aber er wachte sofort wieder auf, ganz in kalten Schweiß gebadet. Er träumte von Beltoff. Dieser führte Lubonka an der Hand, sie mit seinem Liebesblick anschauend; und sie geht, und er begreift, daß sie auf immer geht . . . Wiederum erschien ihm Beltoff . . . und sie lächelte ihm zu – o das ist entsetzlich . . . Er stand auf.
Draußen begann der Tag zu grauen. Sie schlief. Ihr Antlitz war so ruhig. Das Gesicht eines Schlafenden hat zuweilen einen eigentümlich rührenden Reiz – einen solchen Ausdruck hatte in diesem Augenblick Lubonka's Antlitz. Da plötzlich spielte ein Lächeln um ihre Lippen. Sie träumt von ihm, dachte Kruziferski, und er sah sie mit solchem Haß, mit solcher Wildheit an, daß, wären ihm nicht die friedliebenden Gewohnheiten unseres Jahrhunderts eigen gewesen, er sie just so erdrosselt hätte, wie der Mohr von Venedig Desdemona erdrosselte. Aber bei uns schließen die Tragödien nicht so jäh ab. Womit hat sie diese unendliche Liebe gelohnt? O, mein Gott, mein Gott! Eine solche Liebe! wiederholte er, und als wollte er sich selbst und der furchtbaren Versuchung entfliehen, trat er an das Bettchen seines Kindes.
Da lag Jascha ausgestreckt. Festschlummernd hatte er das Händchen unter die Wange gestützt. Du wirst bald eine Waise sein, dachte Kruziferski, sein Kind betrachtend. Armer Jascha! Du wirst bald keinen Vater mehr haben; dies kann und will ich nicht ertragen . . . Armes Kind! Ich befehle dich dem Schutz dessen, der alle Waisen schirmt . . . Wie er ihr gleicht! . . . Und er begann zu weinen. Die Thränen, das Gebet und das ruhige Gesichtchen des schlummernden Jascha linderten ein wenig den Schmerz des Leidenden. Andere, viele andere Gedanken erfüllten sein weiches verstimmtes Herz. Thue ich recht daran, daß ich sie anklage? Wollte sie ihn denn lieben? Und zudem war er – ich hätte mich ja fast selbst in ihn verliebt . . .
Und unser überspannter Träumer, der soeben noch in rasender Eifersucht war, der strafende Ehemann faßte auf einmal den Entschluß, zu entsagen und zu schweigen. Mag sie glücklich sein, mag mein Opfer ihr sagen, wie ich sie liebe! Wenn ich sie nur sehen kann, wenn ich nur weiß, daß sie lebt; ich werde ihr Bruder und Freund sein!
Und es ward ihm leichter, als er sich zu dieser Riesenthat unendlicher Selbstaufopferung entschlossen hatte, und er tröstete sich mit dem Gedanken, daß sein Opfer sie rühren werde. Aber das waren Augenblicke geistiger Abspannung; in weniger als vierzehn Tagen hatten seine Kräfte sich erschöpft und er sank unter einer so furchtbaren Last zu Boden.
Wir wollen ihn nicht tadeln. Solche widernatürlichen Tugenden, solche Vorsätze der Selbstaufopferung sind der Menschennatur durchaus fremd, und existiren zum größten Theil nur in der Phantasie, aber nicht in der Wirklichkeit. Einige Tage hielt sein übermenschlicher Entschluß vor; aber dann schwächte seinen Heroismus ein ganz kalter, engherziger Gedanke: sie glaubt, ich sehe nichts, sie spielt die Schlaue, sie heuchelt.
Und von wem dachte er das? Von der Frau, die er so geliebt, so hochgeschätzt, die er durch und durch kennen sollte und doch nicht kannte. Dann begann sich der Schmerz, der ihn verzehrte, in Worten Luft zu machen, weil Worte lindernd wirken. Das führte zu Erklärungen, bei denen er nicht inne halten konnte und Lubonka nicht mochte. Nach diesen Gesprächen war ihm immer so bedrückend zu Muth; er wollte es vermeiden, mit ihr unter vier Augen allein zu sein, und doch waren sie bei der Abgeschlossenheit ihrer Lebensweise fast immer allein. Er versuchte sich eifriger zu beschäftigen, aber die Wissenschaft vermochte ihn nicht zu fesseln. Wenn seine Augen in einem Buche lasen, so pflegte seine Phantasie ihm glänzende Erinnerungen zurückzurufen, und oft flossen die Thränen auf die Blätter einer gelehrten Abhandlung. In seiner Seele entstand eine gewisse Leere, welche buchstäblich mit jeder Stunde zunahm, – es ward ihm unmöglich, mit dieser innern Leere zu leben. Er begann Zerstreuung zu suchen. Wir haben aus dem Tagebuch ersehen, wie er am Johannistage von der Abendgesellschaft seines gelehrten Freundes Medusin heimkehrte.
Apropos, – um uns von den pathetischen Stellen zu erholen, wollen wir die gelehrte Gesellschaft Medusins aufsuchen. Erfüllen wir erst die Vorbedingung, ohne welche wir uns nicht daran betheiligen können: machen wir zunächst die Bekanntschaft des ehrenwerthen Wirthes. Diese Bekanntschaft ist so angenehmer Art, daß wir damit ein neues Kapitel beginnen müssen.