Alexander Herzen
Wer ist schuld?
Alexander Herzen

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Siebentes Kapitel.

Asais hat in einem sehr langweiligen Aufsatze nachgewiesen, daß Alles in der Welt ersetzt werde.

Selbstverständlich darf man, um daran zu glauben, nicht allzustreng sein und sich nicht an Kleinigkeiten halten. Auf diese Prämisse gestützt, bitten wir den Leser um Erlaubnis, ihm gleichsam als Ersatz für den Verlust des Monsieur Joseph Ossip Jewsejitsch vorzustellen. Ossip Jewsejitsch war ein hageres, graues, altes Männchen von sechzig Jahren in abgetragenem Interimsrock. Er hatte stets ein zufriedenes Gesicht und rothe Wangen. Seit dreißig Jahren inspicirte er das vierte Bureau in der Kanzlei, in welche Beltoff eingetreten war. Fünfzehn Jahre vor dieser Zeit hatte er im Kanzleihof in dem ehrenhaften Berufe des Portiersohnes zugebracht, welcher ihm ein aristokratisches Uebergewicht über die Kinder der übrigen Diener verlieh.

Dieser Mann hätte als der beste Beweis dienen können, daß nicht weite Reisen, nicht die Vorlesungen auf der Universität, nicht ein weiter Wirkungskreis den Menschen bilden: er war in allen geschäftlichen Dingen außerordentlich erfahren, besaß große Menschenkenntnis, und war dabei ein solcher Diplomat, daß er sicherlich weder Ostermann noch Talleyrand nachgestanden hätte. Von Natur schlau und geschickt, fehlte es ihm durchaus nicht an Mitteln, seinen praktischen Verstand zu entwickeln und auszubilden, da er seit seinem fünfzehnten Jahre in der Kanzlei saß. Es genirten ihn weder die Wissenschaften noch Bücher, weder Phrasen noch die unausführbaren Theorien, welche unsere Phantasie aus den Büchern entwickelt, weder der Glanz des gesellschaftlichen Lebens noch poetische Träumereien. Indem er die Akten ins Reine schrieb, und gleichzeitig die Menschen im Unreinen beobachtete, erwarb er sich täglich mehr und mehr eine tiefe Kenntnis der Wirklichkeit, ein echtes Verständnis seiner Umgebung und wahres Taktgefühl, das ihn ruhig zwischen den unsichtbaren aber schlammigen und außerordentlich gefährlichen Untiefen des Kanzleilebens hindurchleitete.

Es wechselten die Chefs; es wechselten die Directoren; es wechselten die Abtheilungsvorsteher; aber der Secretär des vierten Bureaus blieb; und alle liebten ihn, weil er unentbehrlich war und dies sorgfältig verheimlichte. Alle zeichneten ihn aus und ließen ihm Gerechtigkeit widerfahren, weil er sich bemühte, ganz im Hintergrunde zu bleiben. Er wußte alles, er erinnerte sich an alles, was in der Kanzlei verhandelt worden; man wandte sich mit Fragen an ihn, wie an ein Archiv, und doch drängte er sich nicht vor. Der Director bot ihm die Stelle eines Abtheilungsvorstehers an – er blieb dem vierten Bureau treu; man wollte ihn zu einem Ordenskreuz vorschlagen – zwei Jahre lang wußte er sich das Kreuz fern zu halten, indem er bat, man möchte dasselbe in eine Jahresgratification verwandeln, einzig darum damit der Secretär des dritten Bureaus ihn nicht beneiden möchte.

So war er in Allem: Niemals beklagte sich ein Privatmann über seine Habsucht; niemals hatte ein Amtsbruder ihn im Verdacht der Eigennützigkeit. Ihr könnt euch denken, wie mancherlei Angelegenheiten im Laufe von fünfundvierzig Jahren durch seine Hände gingen, und niemals brachte irgend eine Angelegenheit Ossip Jewsejitsch außer sich, niemals erregte sie seinen Unwillen, niemals raubte sie ihm seine heitere Stimmung.

Niemals in seinem ganzen Leben hatte er sich im Geiste von der Rechtspflege auf dem Papier in die Wirklichkeit der Verhältnisse und der Personen versetzt; er betrachtete die amtlichen Angelegenheiten gleichsam abstract, als eine große Reihe von Berichten, Mittheilungen, Rapporten und Anfragen, welche in bekannter Ordnung geordnet wurden, und nach bekannten Regeln sich mehrten. Indem er die Angelegenheiten in seinem Büreau förderte oder wie die poetisch angelegten Secretäre sich ausdrückten, in Fluß brachte, hatte er selbstverständlich nur den Zweck im Auge, in seinem Büreau aufzuräumen, und damit hielt er es so, wie es ihm am passendsten dünkte: er schickte die Angelegenheit entweder nach Krasnojarsk, von wo sie vor zwei Jahren nicht zurückkehren konnte, oder er erledigte sie durch Abfassung eines Bescheides, oder – und diesen Weg schlug er am liebsten ein – er überließ die Sache einer andern Kanzlei, wo der betreffende Secretär dieses Geduldspiel nach denselben Regeln wiederholte.

Er war so unparteiisch, daß er gar nicht daran dachte, daß es zum Beispiel Menschen geben könnte, welche vielleicht an den Bettelstab geriethen, bevor der Bescheid aus Krasnojarsk zurückkam – aber Themis muß ja blind sein . . .

Da zog dieser ehrenwerthe Amtsbruder Wladimirs drei Monate nach dessen Anstellung, nachdem er die abgeschriebenen Aktenstücke durchgesehen, und den Federn der vier Schreiber neue Nahrung gegeben, seine emailsilberne Tabaksdose hervor und reichte sie seinem Gehilfen mit den Worten:

»Probiren Sie mal, Wassili Wassiljewitsch; den hat mir ein Freund aus Wladimir mitgebracht.«

»Ausgezeichneter Tabak,« versetzte der Gehilfe nach einem Augenblick, während dessen er zwischen Leben und Tod geschwebt, da er eine sehr große Prise des trockenen, hellgrünen Staubes geschnupft.

»Was? Der packt, he?« sagte der Secretär, sehr erfreut, daß er die Nase seines Gehilfen so in Aufregung versetzt hatte.

»Ja, ja, Ossip Jewsejitsch,« sagte der Gehilfe, nachdem er sich von dem Anfall des Tabaks nach und nach wieder erholte, und mit einem blauen Tuche sich Augen, Nase, Stirn und sogar das Kinn abgewischt hatte, »ich habe Sie noch nicht gefragt, wie Ihnen der junge Mann gefällt, der da aus Moskau zu uns hierhergekommen ist? Scheint ein sehr geschickter Bursche zu sein; der Minister soll ihn selbst angestellt haben.«

»Jawohl, ein gescheidter Junge, das läßt sich nicht läugnen. Ich hörte gestern, wie er sich mit Paul Pawlitsch stritt. Der, wie Sie wissen, mag Widerspruch nicht; aber dieser Beltoff war um Antworten nicht verlegen. Paul Pawlitsch wurde böse: ich, sagte er, sage Ihnen, es ist so und so, – Beltoff aber versetzte: Bitte sehr, es ist so und so. Ich hatte meine Freude daran und sah ihnen heimlich zu. Später, als Beltoff fortgegangen war, da sagte Paul Pawlitsch zu seinem Freunde: da halte einer die Kanzlei in Ordnung, wenn einem solche Leute hereingeschneit kommen. Ich bin mir selbst Universität, ich werde ihn lehren, nach seinem eigenen Kopf zu handeln; es ist mir gleichgiltig, wer ihn hier angestellt hat.«

»Das sind ja schöne Dinge,« sagte der Secretär, auf welchen diese Erzählung ebenfalls einen freudigen Eindruck machte, »also es ist uns ganz gleichgiltig, wer ihn angestellt hat? Ei, ei, Pawlitschl . . . Na, und sagte er ihm das gerade ins Gesicht?«

»Nein; und nachher fügte er noch etwas hinzu, aber nur auf Französisch. Ich muß gestehen, als ich mir diesen Auftritt ansah, da ging mir der Gedanke durch den Kopf: Wir beiden, Ossip Jewsejitsch und ich, werden noch immer hier im vierten Büreau sitzen, wenn er schon dorthin übergesiedelt ist,« und er zeigte nach dem Zimmer des Directors.

»Ach, ach, Wassili Wassiljewitsch,« versetzte der Secretär, »welch ein kluger Kopf du bist! Man sollte meinen, du seiest gescheidter als alle in den drei Büreaus, und doch redest du nur so in den Tag hinein. Ich, Freundchen, habe mein Lebtag genug Material gesehen, aus dem echte Geschäftsleute, die wirklichen Kanzleichefs, hervorgehen; dieser aber ist nicht aus dem Holze, das wir hier brauchen. Ob er gescheidt, ob er eifrig ist – wie lange werden denn Gescheidtheit und Eifer bei ihm vorhalten? Nimmst du eine Wette auf eine Flasche Rothwein an, daß er's nicht bis zum Secretär bringt?«

»Auf die Wette mag ich nicht eingehen, aber noch gestern habe ich Akten gelesen, die er geschrieben hatte, wahrhaftig ein prachtvoller Stil, nur im »Sohn des Vaterlandes« habe ich einen solchen Stil gelesen.«

»Ich habe auch so etwas gesehen; zwar sind meine Augen alt, na, aber so ganz blind bin ich doch nicht. Er hat die Formen nicht los; und wäre er in Bezug auf die Formen nur aus Dummheit oder Unerfahrenheit unwissend, – das wäre kein großes Unglück, dann könnte er noch etwas lernen; aber er weiß es nicht, weil er zu bescheiden ist; er macht aus einer Rechtssache einen Roman, und die Hauptsache schlüpft ihm dann unter den Fingern weg; von wem die Sache eingereicht ist und ob in ordnungsmäßiger Weise, an wen sie geschickt wird, – das ist ihm alles gleich; das nennt man auf Russisch mit dem Dache anfangen; und da sage ihm einer so etwas, – er ist, straf' mich Gott, im Stande, uns Alte belehren zu wollen. Nein, Freundchen, einen wirklich brauchbaren Burschen erkennt man sofort; ich selbst dachte anfangs: scheint gar nicht dumm zu sein, vielleicht bahnt er sich seinen Weg; na, ist an den Dienst noch nicht gewöhnt, wird aber vorwärts kommen und sich gewöhnen; aber da ist er jetzt schon drei Monate hier und schlägt sich noch immer mit jedem Quark herum, wird hitzig als ginge es, Gott verzeihe mir, seinem leiblichen Vater ans Leben und als müsse er ihn retten – na, wo soll's da mit ihm hinaus? Wir haben schon viele solcher Jünglinge hier gesehen, er ist nicht der erste und wird auch nicht der letzte sein; die alle kommen uns da mit großen Worten: ich werde die Mißbräuche ausrotten, – und sie wissen nicht einmal, was es für Mißbräuche hier giebt und worin sie bestehen . . . Die machen alle viel Geschrei und bleiben doch Zeit ihres Lebens untergeordnete Beamte, und aus Aerger spotten sie dann über uns: das sind die Handlanger in den Kanzleien; aber die Handlanger machen alles; hat so einer auch nur ein Bittgesuch in eigener Sache an das Civilgericht zu senden – er versteht's nicht, das muß ihm ein Handlanger machen . . . Diese faulen Schlingel!« schloß beredtsam der Secretär.

Und in der That war das Urtheil des Secretärs begründet, und es war, als ob die Ereignisse ihm absichtlich in kurzem Recht geben wollten. Beltoff erkaltete bald gegen die Kanzleigeschäfte und wurde reizbar, nachlässig. Der Kanzleichef rief ihn zu sich und redete mit ihm wie eine zärtliche Mutter – es half nichts. Der Director rief ihn zu sich und redete mit ihm wie ein zärtlicher Vater, so rührend, so schön, daß der anwesende Executor Thränen vergoß, obgleich er nicht leicht zu rühren war, was alle unter ihm dienenden Beamten wußten, – auch das half nichts. Beltoff vergaß sich so weit, daß er sich sogar durch diese verwandtschaftliche Theilnahme fremder Personen, gerade durch dieses väterliche Bestreben, ihn zu bessern, beleidigt fühlte.

Kurz, drei Monate nach der beredtsamen Unterhaltung zwischen dem Secretär und seinem Gehilfen wurde Ossip Jewsejitsch zornig auf einen seiner Schreiber, der etwas nicht recht gemacht hatte, und zu dem er sagte:

»Aber wann wirst du endlich lernen, wie's gemacht werden muß? Wie oft mußte ich dir's vorschreiben, aber immer umsonst; das kommt daher, weil du nicht den Dienst im Kopfe hast, sondern in feinen Röcken auf der Admiralitätsstraße hinter den Mädels herumscharwenzelst – ich habe dich mehr als einmal gesehen . . . Na, nun schreib: Und zum ferneren freien Aufenthalte im russischen Reich ist ihm, dem entlassenen Gouvernementssecretär Beltoff, dieser Paß ausgestellt worden, mit zugehöriger Unterschrift und unter Beidrückung des Kaiserlichen Insiegels . . . Fertig? Gieb mal her!«

Und murmelnd überflog Ossip Jewsejitsch das Aktenstück und sagte dann: »Geh', trag's sofort weg, und wenn es unterschrieben ist, dann damit in die Registratur; das Insiegel kommt hier an diese Stelle, siehst du, hierhin, wo geschrieben steht: Zu diesem Paß. Morgen wird er ihn sich holen.«

»Na, Wassili Wassiljewitsch, auf die Wette wollten sie sich nicht einlassen; aber jetzt saßen Sie auch fest. Das muß ich sagen, er hat sich beeilt!«

»Er brauchte gerade noch vierzehn Jahre und sechs Monate zu dienen, um das Dienstzeichen zu erhalten,« bemerkte sehr witzig der Gehilfe.

Der Secretär brach in lautes Lachen aus, was ihm dann das ganze Büreau nachmachte.

Mit diesem olympischen Gelächter endete die Dienstlaufbahn unseres guten Freundes Wladimir Petrowitsch Beltoff. Es war dies gerade zehn Jahre vor jenem denkwürdigen Tage, als just in demselben Augenblick, da bei Wera Wassiljewna der Pudding herumgereicht wurde, draußen das Postglöckchen ertönte und Maxim Iwanowitsch es sich nicht versagen konnte, ans Fenster zu eilen.

Womit hatte Beltoff sich in diesen zehn Jahren befaßt?

Mit allem oder fast mit allem.

Was hatte er vollbracht?

Nichts oder fast nichts.

Wer kennt nicht die alte Bemerkung, daß Kinder, welche zu viel versprochen, selten viel halten. Woher kommt das? Entwickeln sich denn die Kräfte des Menschen in so bestimmter Weise, daß, wenn dieselben in der Jugend stark in Anspruch genommen werden, im reifen Alter nichts mehr übrig bleibt?

Eine sehr schwierige Frage. Ich kann und mag sie nicht lösen; aber ich glaube, diese Lösung muß viel mehr in der Atmosphäre, in der Umgebung, in Einflüssen und Berührungen gesucht werden, als in irgend einer einfältigen psychologischen Beschaffenheit des Menschen.

Wie sich das auch verhält, aber an Beltoff bewährte sich diese Bemerkung. Voll jugendlicher Hitze und mit der Hartnäckigkeit eines Schwärmers grollte er den Umständen, und mit innerem Schrecken gelangte er in allem fast zu denselben Resultaten, auf welche Ossip Jewsejitsch so beredt hingedeutet hatte: nur die Handlanger machen es, – ja und sie machen es deshalb, weil die Idealisten nichts zu machen verstehen und der Menschheit nur Wünsche, nur Bestrebungen zum Opfer bringen können, die oft edel, aber fast immer unfruchtbar sind . . .

An einem zwar nicht schönen, aber durchaus Petersburger Morgen, an einem Morgen, da die Unannehmlichkeiten aller vier Jahreszeiten sich vereint hatten, da der nasse Schnee an die Fenster klatschte, da es um elf Uhr morgens noch nicht hell geworden aber bereits wieder dunkel zu werden schien, – an einem solchen Morgen saß Frau Beltoff an demselben Kamin, an welchem das letzte Gespräch mit dem Genfer stattgefunden hatte. Wladimir lag auf einer Louchette, mit einem Buche in der Hand, in welchem er bald las, bald wieder nicht las, und das er dann endlich bei Seite legte. Nachdem er lange in träger Nachdenklichkeit dagesessen, sagte er:

»Liebe Mutter, weißt du, was mir da durch den Kopf ging: Der Onkel hatte doch Recht, als er mir rieth, Medicin zu studiren. Was meinst du, wenn ich mich noch mit Medicin beschäftigte?«

»Wie du willst, liebes Kind,« antwortete Frau Beltoff mit gewohnter Sanftmuth, »nur eines ist mir schrecklich, Wolodja: du mußt dann Kranke besuchen, aber es giebt auch ansteckende Krankheiten.«

»Liebe Mutter,« sagte Wladimir mit zärtlichem Lächeln ihre Hand ergreifend; »welche liebevolle Egoistin du bist! Mit den Händen im Schooße dahinzuleben ist natürlich ungefährlich; aber ich meine, zum Müßiggang muß man ebenso Beruf haben, wie zu irgend einer Thätigkeit. Nicht jeder, der Lust dazu hat, kann sich dem Nichtsthun widmen.«

»So versuche es mit der Medicin,« antwortete die Mutter.

Am andern Morgen erschien Wladimir im Saal des anatomischen Theaters, und mit demselben Eifer, mit welchem er sich den Kanzleigeschäften gewidmet, begann er seine anatomischen Studien. Allein er brachte in das Auditorium nicht dieselbe reine Liebe zur Wissenschaft mit, welche ihn auf der Moskauer Universität begleitet hatte; wie sehr er sich auch zu täuschen suchte, die Medicin war doch nur eine Art Zuflucht für ihn: er widmete sich ihr, weil er anderweitig keinen Erfolg gehabt, er widmete sich ihr aus Langerweile, weil er nichts zu thun fand; es war ein weiter Abstand zwischen dem fröhlichen Studenten und dem entlassenen Beamten, dem Dilettanten der Medicin. Mit schnell auffassendem Verstande ausgerüstet, stieß er bei seinen neuen Studien gar bald auf diejenigen Fragen, über welche die Medicin ein gelehrtes Schweigen beobachtet und von deren Lösungen alles übrige abhängt. Er machte vor ihnen Halt und wollte sie im Sturm mit dem verzweifelten Muth der Idee nehmen; er achtete nicht darauf, daß diese Lösungen nur die Frucht langer, hartnäckiger, unermüdlicher Arbeiten zu sein pflegen, – und zu solchen Arbeiten war er nicht befähigt, und sichtlich erkaltete er gegen die Medicin, namentlich aber gegen die Jünger derselben. Er fand in ihnen seine Amtsbrüder aus der Kanzlei wieder. Er verlangte von ihnen, daß sie ihr ganzes Leben der Lösung der Fragen widmeten, die ihn beschäftigten; er verlangte, daß sie an das Krankenlager hintreten sollten, wie um ihre heilige Pflicht zu erfüllen – sie aber wollten des Abends Karten spielen, sie wollten eine Praxis haben, sie hatten keine Zeit dazu, Fragen zu lösen.

Nein, dachte Wladimir, nein, Arzt will ich nicht werden. Welch gewissenloser Mensch wäre ich, wenn ich es wagte, bei dem heutigen Streit über alle physiologischen Fragen einen Kranken zu behandeln. Fort mit allem Praktischen! Ich tauge nicht zum Beamten, tauge nicht zum Gelehrten! Ich . . . ich . . . ich wage es mir nicht zu gestehen, ich bin Künstler!

Der Anblick eines abgebildeten Schädels hatte Beltoff auf den Gedanken gebracht, daß er Maler sei, daß er Maler werden müsse. Gedacht, gethan. Die untern Fensterscheiben in seinem Zimmer wurden mit einem dichten Gewebe verhangen. Zwischen zwei Schädeln erschien eine kleine Venus; überall zeigten sich, wie aus der Erde gewachsen, Gipsköpfe mit dem Ausdruck des Schreckens, der Scham, der Eifersucht und des Muthes, so wie die gelehrte Bildhauerkunst sich diese Leidenschaften vorstellt, d. h. so wie sie in der Natur nicht zur Erscheinung kommen.

Wladimir ließ sich daß Haar wachsen und ging den ganzen Morgen in der Malerblouse umher. Dieses Proletariercostüm hatte ihm ein aristokratischer Schneider auf dem Newskyprospect geschickt angefertigt. Jede Woche besuchte Wladimir die Eremitage und saß eifrig an seiner Staffelei . . .

Die Mutter ging bisweilen auf den Zehen umher, da sie den zukünftigen Tizian in seiner Beschäftigung zu stören fürchtete. Er begann von Italien und einem historischen Gemälde in dem zeitgemäßen, kräftigen Geschmack zu reden: – er dachte sich eine Begegnung des aus Sibirien zurückkehrenden Biron mit dem nach Sibiren fahrenden Münnich; ringsum eine Winterlandschaft, Schnee, Kibitken und die Wolga . . .

Es versteht sich von selbst, daß auch die Malerei Beltoff nicht vollständig befriedigte; auch diese Beschäftigung gewährte ihm keinen vollen Genuß: innerlich fehlte ihm die Freude an seiner Arbeit, äußerlich jener Künstlerkreis, jener lebhafte, gegenseitige Verkehr, der den Künstler aufrecht erhält. Nichts forderte seine Thätigkeit heraus; dieselbe war vollständig nutzlos und nur durch persönliche Wünsche bedingt; mehr als alles aber behinderten ihn seine früheren Träumereien vom Wirken im Staat, im Civildienst. Nichts ist so verlockend für eine feurige Natur, als die Theilnahme an der zeitgenössischen Geschichte. Wer sich einmal dem Gedanken an eine solche Thätigkeit hingegeben, der ist für jeden andern Wirkungskreis verdorben. Womit er sich auch befaßt, überall wird er sich wie ein Gast vorkommen: es ist nicht sein eigenes Gebiet, – er trägt den politischen Zank hinüber in die Kunst; wird er Maler, so bringt er im Bilde seine politischen Anschauungen zum Ausdruck; wird er Musiker, so sucht er ihn in Tönen zu verkörpern. Geht er in eine andere Sphäre über, so wird er sich täuschen wie derjenige, welcher sein Vaterland verlassen und sich einzureden sucht, es komme nicht darauf an, wo er sich befinde, sein Vaterland sei überall, wo er nützlich wirken könne . . . aber eine Stimme in seinem Innern, die nimmer schweigt, ruft ihn an einen andern Ort, mahnt ihn an andere Lieder, an eine andere Natur.

Dunkel und doch wieder klar gingen Beltoff diese Gedanken im Kopf herum, und mit Neid betrachtete er manchen Deutschen, der in seinem Klavier lebte, den sein Beethoven glücklich machte, der die Zeitgeschichte ex fontibus, d. h. aus den alten Schriftstellern studierte.

Dazu kamen die langen Petersburger Abende, an denen man nicht zeichnen kann . . . Diese Abende verbrachte Wladimir gar oft bei einer Witwe, die eine leidenschaftliche Freundin der Malerei war. Die Witwe war jung, schön, und mit allem Reiz des Luxus und feiner Bildung ausgestattet. In ihrem Hause sprach Wladimir schüchtern das erste Wort der Liebe aus und unterschrieb kühn den Wechsel auf eine große Summe, die er an jenem glücklichen Abend verloren, da er zerstreut und trunken spielte, ohne auf das Spiel zu achten. Aber wie konnte er überhaupt spielen? Ihm gegenüber saß sie und so deutlich las er in ihren Augen Liebe und Theilnahme . . .

Ich will euch jetzt nicht die ganze Geschichte meines Helden erzählen; seine Erlebnisse sind die gewöhnlichen; aber sie spiegelten sich nicht in vollkommen gewöhnlicher Weise in seiner Seele wieder. Ich will nur noch in Kürze melden, daß er durch seine Liebeserfahrung, bei welcher er viel Lebenskraft verlor, und nach mehreren Wechseln, mittels deren er ziemlich viel Vermögen verlor, ins Ausland reiste, Zerstreuungen, Eindrücke, Beschäftigung u. s. w. suchte, während seine Mutter, die schwach und vor den Jahren gealtert war, nach Bjeloje-Pole reiste, um die Breschen wieder auszufüllen, welche die Wechsel angerichtet, um mit ihren jahrelangen Sorgen den augenblicklichen Leichtsinn ihres Sohnes wieder gut zu machen und neue Geldsummen zusammenzubringen, damit ihr Wolodja im fremden Lande an nichts Noth leide. Das ward Frau Beltoff durchaus nicht leicht. Wie sehr sie ihren Sohn auch liebte, so besaß sie doch nicht die Fähigkeit jener Besitzerin von Sassjekino, sie war stets zur Nachsicht bereit, sie ließ sich in einemfort täuschen: nicht aus Nachlässigkeit, nicht weil sie's nicht gemerkt hätte, sondern in Folge eines gewissen Zartgefühls, das sie verhinderte, offen zu zeigen, daß sie alles gesehen, alles wisse. Die Bauern von Bjeloje-Pole beteten zu Gott für ihre Herrin und zahlten pünktlich ihren Obrok.

Beltoff schrieb häufig seiner Mutter, und da konnte man sehen, daß es noch eine andere Liebe giebt, die nicht so stolz, nicht so anspruchsvoll ist, um diesen Namen ausschließlich für sich in Anspruch zu nehmen, – eine Liebe, welche weder mit den Jahren, noch in Folge von Krankheiten erkaltet, welche auch noch in alten Tagen mit zitternden Händen den Brief öffnet und mit alten Augen bittere Thränen über den theuren Zeilen vergießt.

Die Briefe des Sohnes waren für Frau Beltoff eine Lebensquelle; sie waren ihr Stärkung und Trost, und hundertmal überlas sie denselben Brief. Sie waren recht traurig, wenn auch voller Liebe; und doch verschwieg Wladimir noch so vieles dem schwachen Mutterherzen. Es war leicht herauszulesen, daß die Langeweile den jungen Mann verzehrte, daß er der Rolle des Zuschauers, welche der Reisende sich vorspielt, überdrüssig zu werden anfing. Er hatte ganz Europa gesehen, – es blieb ihm nichts mehr zu thun übrig; alle um ihn herum waren mit etwas beschäftigt; er mußte sich als Gast betrachten, den man zur Tafel geladen, den man höflich behandelt aber nicht in die Familiengeheimnisse einweiht, und dem schließlich nichts übrig bleibt, als wieder nach Hause zu gehen.

Aber schon bei der bloßen Erinnerung an seine Petersburger Erlebnisse fühlte sich Beltoff von Mißmuth erfaßt, und ohne selbst zu wissen, warum, reiste er von Paris nach London. Einige Monate zuvor hatte er seiner Mutter aus Montpensier einen Brief geschickt und ihr mitgetheilt, daß er nach der Schweiz reise, daß er sich in den Pyrenäen eine leichte Erkältung zugezogen, und daß er darum noch fünf Tage in Montpensier bleibe; wenn er abreise, versprach er wieder zu schreiben. Von seiner Rückkehr nach Rußland kein Wort.

»Eine leichte Erkältung« – und die Mutter begann schon zu beben und sah mit Sehnsucht dem folgenden Briefe entgegen. Aber vierzehn Tage vergingen, – kein Brief: es vergingen vier Wochen, – kein Brief. Das arme Weib war sogar des letzten Trostes beraubt, – der Möglichkeit, dem Sohne in der Ferne zu schreiben mit der Ueberzeugung, daß der Brief ihn erreichen würde, und um sich das Herz zu erleichtern, schickte sie auf's Gerathewohl zwei Briefe nach Paris, – confiées aux soins de l'ambassade Russe. Wenn sie sich Abends schlafen legte, so befahl sie Dunja jedes Mal, früh am andern Morgen den Kutscher nach der Kreisstadt reiten zu lassen, damit er dort anfrage, ob kein Brief für sie vorhanden, obgleich sie sehr wohl wußte, daß nur einmal wöchentlich die Post ankam. Der Postmeister in der Kreisstadt war ein gutmüthiger, alter Mann, und Frau Beltoff von Herzen zugethan. Er ließ ihr jedes Mal melden, ein Brief sei noch nicht da, aber sobald einer komme, werde er ihn selbst bringen oder mit einer Staffette schicken – und mit einem gewissen dumpfen Gram vernahm die Mutter diese Antwort, nachdem sie mehrere Stunden in bebender Erwartung zugebracht!

Da begann sie dem Gedanken nachzuhängen, selbst ins Ausland zu reisen. Sie wollte schon nach einem Nachbar, einem ehemaligen Artilleriehauptmann schicken, an den sie sich in allen wichtigen juristischen Fragen wandte, wie z. B. bei der Abfassung einer höflichen Erklärung, warum es keine Vorratskammern gäbe. Jetzt wollte sie ihn fragen, wo man einen Paß ins Ausland bekomme, ob bei der Finanzkammer oder beim Kreisgericht . . .

Und so langweilig schwanden die Tage der Erwartung dahin, als es bereits Herbst war und die Linden längst gelb geworden und das trockene Laub unter den Füßen raschelte – als es Tage lang unaufhörlich regnete. Eines Abends kam das Kammermädchen zu Frau Beltoff und fragte sie, ob sie zur Vesper gehen dürfe.

»Geh' nur, aber was ist denn morgen?«

»Haben Sie denn vergessen, daß morgen der 17. September, Ihr Namenstag ist?«

»Gut. Geh nur, Dunja, und bete auch für Wolodja!« und ihre Augen füllten sich mit Thränen.

Der Mensch kann hundert Jahre alt werden, er bleibt ein Kind, und könnte er fünfhundert Jahre alt werden, er würde nach einer gewissen Seite doch ein Kind bleiben. Und es wäre zu bedauern, wenn er diese Seite einbüßte – sie ist so voller Poesie. Was ist ein solcher Namenstag? Warum empfindet man an diesem Tage lebhafter Freud und Leid als gestern, als morgen? Ich weiß den Grund nicht, aber es ist so. Und nicht blos der Namenstag, ja, jeder Jahrestag erschüttert die Seele. Ich glaube, heut ist der dritte März, sagt jemand, der befürchtet, er könnte einen Auctionstermin versäumen. – Der dritte März. Jawohl, der dritte März, antwortet ein anderer, und seine Gedanken führen ihn acht Jahre zurück. Er erinnert sich des ersten Wiedersehens nach einer Trennung, er erinnert sich all der Einzelheiten, und mit einem gewissen feierlichen Gefühl setzt er hinzu: Gerade acht Jahre sind es heut! Und er fürchtet sich, diesen Tag zu verderben; er fühlt, daß heut ein Feiertag sei, und es kommt ihm nicht in den Sinn, daß es am dreizehnten März gerade acht Jahre und zehn Tage sein werden, und daß jeder Tag in seiner Art ein Jahrestag ist. So war es auch mit Frau Beltoff.

Der Gedanke an die Trennung, der Gedanke, daß sie keine Briefe erhalte, ward ihr bitterer, schmerzlicher bei dem Gedanken, daß ihr Wolodja nicht komme, um ihr Glück zu wünschen, daß er vielleicht auch in der Fremde vergesse, ihr Glück zu wünschen . . . Sie versank in trübes Nachdenken. Bald sah sie ihn in der Phantasie, wie sie vor fünfzehn Jahren am Vorabend das ganze Theezimmer mit Blumen geschmückt gefunden, wie Wolodja sie nicht hineinlassen wollte und sie zu täuschen suchte; wie sie alles errathen habe, aber das Wolodja nicht habe merken lassen; wie der Hauslehrer Wolodja eifrig beim Kränzewinden geholfen, – dann wieder sah sie ihren Sohn in Montpensier, krank, in der Gewalt eines habgierigen Wirthes, und dann fürchtete sie sich, ihrer Einbildungskraft noch weiter freien Lauf zu lassen, und suchte sich schnell mit dem Gedanken zu trösten, daß vielleicht der Erzieher ihm dort begegnet sei und bei ihm weile. Er hing mit solcher Zärtlichkeit an ihm, er war so gut, liebte Wolodja so sehr, daß er ihn pflegen wird; er wird strenge alle Vorschriften des Arztes erfüllen, er wird für ihn sorgen, er wird bei ihm wachen, wenn er schläft. Aber wie kommt der Erzieher nach Montpensier? Warum denn nicht? Wolodja konnte ihm ja als seinem Freunde geschrieben haben . . . aber . . . und wiederum ward ihr so unerträglich schwer ums Herz und eine Reihe finsterer Bilder, abwechselnd, mit freudvollen Erinnerungen zog die ganze Nacht durch ihre Seele.

Am andern Morgen beschäftigten Frau Beltoff mancherlei Sorgen und lenkten sie so weit es möglich war auch einigermaßen ab. Vom frühen Morgen an war das Vorzimmer mit der Aristokratie von Bjeloje-Pole angefüllt. Der Starost stand im blauen Kaftan an der Spitze und hielt auf einer ungeheuren Schüssel eine Bretzel von schrecklicher Größe, welche er den Dorfwächter aus der Kreisstadt hatte holen lassen. Diese Bretzel verbreitete einen solchen Oelgeruch, daß sie vollkommen davor gesichert war, jemand könnte den Versuch machen, von ihr zu kosten. Rings um dieselbe am Rande der Schüssel lagen Apfelsinen und Hühnereier.

Unter den schönen und majestätischen Köpfen unserer bärtigen Bauern zeichnete sich blos der Gerichtshalter durch sein Costüm und seine Miene aus: er hatte sich nicht blos rasirt, sondern an einigen Stellen auch geschnitten; weil seine Hand (ich weiß nicht, ob vom vielen Schreiben oder daher, weil er niemals einen schönen ländlichen Morgen begrüßen konnte, ohne auf Gemeindeunkosten in der Schenke einige Gläschen zu trinken) die sehr eigentümliche Gewohnheit hatte zu zittern, was ihm beim Schnupfen und Rasiren außerordentlich hinderlich war. Er trug einen langen blauen Ueberrock, Plüschhosen und hohe Stiefel, d. h. er erinnerte an ein bekanntes australisches Thier, den Ornithorhinchus, in welchem in widerwärtiger Weise Vierfüßler, Vogel und Amphibie vereint sind. Draußen auf dem Hof blökte von Zeit zu Zeit in kläglicher Weise ein junges Kalb, das sechs Wochen lang mit Milch genährt worden: das war die Hekatombe, welche die Bauern ebenfalls ihrer Herrin zu ihrem Namenstage darbrachten.

Frau Beltoff vermochte bei der Gratulation nicht ganz mit der ihr sonst eigenen Würde aufzutreten: sie wußte das aber und hielt sich daher bei dieser Gelegenheit etwas zurück.

Nach der Gratulation fand ein Gottesdienst statt. Just als dieselbe beendet war, kam auch der Artilleriehauptmann, und dies Mal erschien er nicht als Jurisconsultus, sondern in seiner kriegerischen Gestalt. Als Frau Beltoff aus der Kirche wieder im Hause angekommen war, wurde sie durch ein gewisses Krachen erschreckt. Ihr Nachbar hatte nämlich in seinem Wagen einen kleinen Böller und befohlen, denselben zum Zeichen der Freude abzufeuern. Der Hühnerhund der Frau Beltoff, der gerade dabei zugegen war, konnte als dummes Thier gar nicht begreifen, wie man auch ohne ein bestimmtes Ziel zu schießen vermöchte, lief in einem fort hin und her und suchte nach einem Hasen oder Birkhuhn. Alles kehrte ins Haus zurück. Frau Beltoff bewirthete ihre Gäste gerade mit einem Imbiß, als plötzlich ein Postglöckchen ertönte und ein ausgezeichnetes Dreigespann von Postpferden über die Brücke flog, hinter dem Berge verschwand und nach einigen Minuten in der Nähe wieder zum Vorschein kam. Der Postillon fuhr gerade auf das Herrenhaus zu, und so schnell er auch fuhr, er wußte die Pferde meisterhaft an der Treppe anzuhalten.

Selbst der alte Postmeister (denn er war es,) konnte sich nicht enthalten, als er aus der Kibitke stieg, zu dem Postillon zu sagen: »Ei, ei, Bogdaschka, bist ein Teufelskerl, ein wahrer Teufelskerl, das muß ich zu deiner Ehre sagen.«

Bogdaschka war selbstverständlich über das Compliment des Postmeisters erfreut, blinzelte mit dem rechten Auge, rückte sich seine Mütze zurecht und sprach:

»Na, wenn ich mir um Ew. Hochwohlgeboren keine Mühe machte, dann wäre ich ja ein schlechter Kerl.«

Mit feierlich geheimnisvoller Miene, mit einer in allen Zügen sich verrathenden Befriedigung trat der Postmeister ins Gastzimmer, näherte sich der Frau vom Hause und küßte ihr die Hand.

»Ich habe die Ehre, Mütterchen Sofie Alexejewna, Ihnen zu dem hochfeierlichen Tage Ihres Engels zu gratuliren und wünsche Ihnen eine gute Gesundheit! . . . Guten Tag, Spiridon Wassiljewitsch!« (Dies letztere galt dem Hauptmann).

»Ihr Diener, Wassili Loginowitsch,« antwortete der Artilleriehauptmann.

Wassili Loginowitsch fuhr fort:

»Ich bin so frei, Ihnen zu Ihrem Namenstage ein kleines Geschenk zu bringen. Es ist nicht kostbar aber ich gebe es gern; viel gekostet hat er mich nicht, im ganzen nur einen Rubel zehn Kopeken Porto. Da Mütterchen, haben Sie zwei Briefe von Wladimir Petrowitsch: der eine wie es scheint aus Montpellier, der andere, nach dem Stempel zu urtheilen, aus Genf. Verzeihen Sie, Mütterchen, ich bin ein wahrer Sünder; das erste Briefchen habe ich zwei Wochen und das andere fünf Tage bis zum heutigen Tage zurückgehalten, wahrhaftig, ich dachte mir: du mußt Sofie Alexajewna zu ihrem Namenstage eine große Freude bereiten.«

Frau Beltoff hörte die ganze Rede des Postmeisters nicht mehr an, sobald sie die Briefe erhalten; mit bebender Hand griff sie darnach und wollte sie gleich vor ihren Gästen lesen, stand jedoch auf und ging hinaus.

Der Postmeister war sehr mit sich zufrieden, daß er Frau Beltoff anfangs durch Kummer und dann durch Freude fast getödtet hatte; er rieb sich so gutmüthig die Hände, freute sich so sehr über den Erfolg seiner Ueberraschung, daß niemand grausam genug war, ihn wegen dieses Streiches zu tadeln und ihn nicht zum Imbiß einzuladen. Das letztere that dies Mal der Nachbar.

»Ja, Wassili Loginowitsch,« sagte er, »das muß gesagt werden, Sie sind mit Ihrem Brief gerade im rechten Augenblick gekommen. Indeß, wissen Sie, so lange sich Sofie Alexajewna mit ihren Briefen unterhält, hindert uns gar nichts daran, etwas zu uns zu nehmen; ich bin sehr früh aufgestanden.«

Und sie nahmen etwas zu sich.

Der eine der beiden Briefe war von der Reise, der andere aus Genf. Er schloß mit den folgenden Worten:

»Diese Begegnung, liebe Mutter, dieses Gespräch hat mich erschüttert, und wie schon Eingangs erwähnt, bin ich entschlossen, zurückzukehren und mich bei den Wahlen um ein Amt zu bewerben. Morgen reise ich von hier ab, werde mich einen Monat an den Ufern des Rheins aufhalten, und von dort geraden Wegs, ohne mich unterwegs irgendwo aufzuhalten, nach Tauroggen fahren . . . Ich bin Deutschland von Grund der Seele überdrüssig geworden. In Petersburg, in Moskau werde ich nur einige Bekannte begrüßen, und dann sofort zu dir, geliebte Mutter, nach Bjeloje-Pole eilen.«

»Dunja, Dunja, gieb mir 'mal den Kalender! Ach mein Gott, wo suchst du ihn denn? Wie dumm du bist! Da liegt er ja!«

* * *

Und Frau Beltoff stürzte selbst nach dem Kalender, und begann zu rechnen und zu rechnen, nachzuzählen und vom neuen Stil in den alten und vom alten in den neuen zu übertragen, und dabei überlegte sie schon, wie sie sein Zimmer einrichten sollte . . . Nichts vergaß sie, als ihre Gäste. Zum Glück vergaßen diese sich selbst nicht und nahmen zum zweiten Mal etwas zu sich.

»Seltsam, sehr seltsam,« fuhr der Präsident fort. »Man sollte doch meinen, das Leben in der Residenz biete einem jungen Manne, namentlich wenn er nicht arm ist, so viel Zerstreuung, so viel Vergnügen, daß es ein Kunststück für ihn sein müßte sich zu langweilen.«

»Was soll man machen?« sagte Beltoff und stand auf, um sich zu empfehlen.

»Nun, übrigens kann man auch bei uns leben. Giebt es hier auch nicht so viel Glanz und Bildung wie in der Residenz, so werden Sie bei uns doch gute einfache Menschen finden, die Sie gastfreundschaftlich im Schooße ihrer friedlichen Familien aufnehmen.«

»Ganz unzweifelhaft,« fügte ungezwungen der Rath mit dem Annenorden im Knopfloch hinzu. »Bietet unser Städtchen auch in anderer Beziehung nichts Besonderes, im Punkte der Gastfreundschaft kann es sich kühn mit Moskau messen!«

»Davon bin ich vollkommen überzeugt,« versetzte Beltoff und verbeugte sich.



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