Alexander Herzen
Wer ist schuld?
Alexander Herzen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel.

Zu derselben Zeit, als die ehrenwerthe Witwe Anna Jakimowna bei der nicht weniger ehrenwerthen Maria Stepanowna Thee trank und sie beide mit derselben zärtlichen Aufmerksamkeit, die nur dem weiblichen Herzen eigen ist, sich mit Beltoff beschäftigten, saß dieser in größter Traurigkeit zu Hause auf seinem Zimmer und dachte voll Gram an etwas sehr Trauriges und Bedrückendes. Wäre er mit der Gabe des Hellsehens ausgestattet gewesen, so würde es ihm leicht geworden sein, sich zu trösten, er hätte deutlich gehört, wie nicht weit von ihm, hinter einer großen unsaubern Straße und einem unsaubern kleinen Quergäßchen zwei Frauen eine verwandtschaftliche Theilnahme für sein Geschick bewiesen, und wie die eine von ihnen – natürlich ohne verletzende Gleichgültigkeit – der andern zuhörte.

Aber Beltoff war nicht mit der Gabe des Hellsehens behaftet; jedenfalls würde er, wäre er ein echter Russe und nicht durch westeuropäische Neuerungen verdorben gewesen, zu schlucken angefangen haben und das Schlucken hätte ihn davon überzeugt, daß dort – dort, irgendwo in der Ferne, ganz im Geheimen seiner gedacht werde. Aber in unserem negirenden Zeitalter hat das Schlucken seine mystische Kraft verloren und ist jetzt weiter nichts als eine häßliche, gastrische Erscheinung.

Beltoffs Trübsinn stand übrigens in gar keinem Zusammenhang mit der bekannten Unterhaltung bei der sechsten Tasse Thee. Er war an diesem Tage spät und mit schwerem Kopf aufgestanden. Er hatte am vorhergehenden Abend lange gelesen, aber unaufmerksam und in halbem Schlummer – die letzten Tage hatten in ihm mehr und mehr ein gewisses krankhaftes Etwas entwickelt, worüber er sich noch nicht recht klar geworden, das aber zu trübem Denken stimmte. Fortwährend fehlte ihm etwas, zu nichts konnte er sich entschließen. Seit einer Stunde hatte er seine Cigarre aufgeraucht, den Kaffee ausgetrunken und überlegte schon lange, womit er den Tag beginnen sollte, mit Lectüre oder einem Spaziergang. Er entschloß sich zu dem letzteren und warf die Pantoffeln von den Füßen; aber da erinnerte er sich, daß er sich das Wort gegeben, des Morgens die neuesten Werke über Nationalökonomie zu lesen; und so zog er sich die Pantoffeln wieder an, nahm sich eine neue Cigarre und wollte sich mit Nationalökonomie beschäftigen. Aber unglücklicherweise lag Byron neben der Cigarrenkiste. Er legte sich wieder auf das Sopha und las bis fünf Uhr im Don Juan. Als er auf die Uhr blickte, hatte er seine Lectüre beendet und er wunderte sich sehr, daß es schon so spät war, rief seinen Kammerdiener und befahl demselben, ihm so schnell wie möglich die Kleider zu bringen, damit er Toilette machen könne. Uebrigens war sowohl das Erstaunen wie der Befehl mehr etwas Instinktives, weil er nirgend hin wollte und es ihm vollkommen gleichgültig war, ob es sechs Uhr morgens oder zwölf Uhr nachts sei.

Nachdem er sich mit jener Sorgfalt und Sauberkeit angekleidet, welche wir uns bei längerem Aufenthalte im Auslande angewöhnen und die wir uns in der Provinz so schnell wieder abgewöhnen, legte er sich wieder mit dem festen Entschluß, nunmehr Nationalökonomie zu studiren, auf dieselbe Stelle und schlug eine englische Broschüre über Adam Smith auf. Der Kammerdiener schlug inzwischen einen kleinen Tisch auf und begann denselben zu decken. Das Schicksal war dem Kammerdiener günstiger als seinem Herrn. Gregor deckte den Tisch mit der größten Ruhe, stellte die Wasserflasche und die Flasche Lafitte hin, stellte auf einen andern Tisch ein Fläschchen Absynth sowie Käse, betrachtete dann gelassen sein Werk, und als er sah, daß sich alles am rechten Ort befand, ging er um die Suppe zu holen. Einen Augenblick später kam er zurück, aber nicht mit der Suppe sondern mit einem Briefe.

»Von wem?« fragte Beltoff, ohne den Blick von der Broschüre über Adam Smith abzuwenden.

»Er muß aus dem Auslande kommen, es ist ein fremder Stempel darauf; zudem ist er recommandirt.«

»Gieb her,« – und Beltoff warf die Broschüre fort. »Von wem mag er denn sein?« dachte er . . . »Aus Genf . . . Das begreife ich nicht . . . Sollte . . . Nein – und doch . . . Nein –«

Natürlich wäre es viel einfacher gewesen, den Brief zu öffnen und die Unterschrift auf der letzten Seite anzusehen, als zu rathen. Ohne Zweifel. Warum rathen denn aber alle so gern beim Empfang eines Briefes? Das ist ein Geheimnis des Menschenherzens, das übrigens seinen Grund darin hat, daß es dem Menschen schmeichelt, sich als scharfsinnig anzuerkennen.

Endlich nahm Beltoff den Brief und begann ihn zu lesen. Mit jeder Zeile ward sein Gesicht bleicher, und die Thränen traten ihm in die Augen. Der Brief war von einem Neffen seines Erziehers. Dieser theilte Beltoff mit, daß der Greis gestorben sei. Das Leben dieses einfachen, edlen Mannes war erloschen wie es dahin geflossen, still und klar. Er war vier Jahre hindurch Oberlehrer an einer Dorfschule nicht weit von Genf gewesen. Zwei Tage war er unwohl gewesen, am dritten hatte sich eine Besserung eingestellt; kaum hatte er sich wieder auf den Beinen halten können, da war er wieder in die Schule gegangen, und dort ohnmächtig umgesunken. Man hatte ihn nach Hause gebracht, ihm zur Ader gelassen; er war wieder zu sich gekommen und hatte bei vollem Bewußtsein von den Kindern, die schweigend, erschreckt und bestürzt um sein Lager herumstanden, Abschied genommen und sie aufgefordert, nach seinem Grabe zu spazieren und auf demselben herumzuspringen. Dann hatte er nach Woldemars Porträt verlangt, es lange und liebevoll betrachtet und zu seinem Neffen gesagt: Welch ein Mann hätte aus ihm werden können . . . aber offenbar kannte ihn sein alter Oheim besser . . . Schicke dieses Porträt Woldemar zurück, sobald ich . . . Seine Adresse ist da in der Mappe enthalten, auf welcher sich Washingtons Porträt befindet . . . Es ist schade um Woldemar, sehr schade . . . Dann, schrieb der Neffe, begann der Kranke zu phantasiren; sein Antlitz nahm den erhabenen Ausdruck an, wie er den Menschen in den letzten Momenten ihres Lebens eigen; er bat, ihn aufzurichten, und seine hellen Augen öffnend, wollte er den Kindern etwas sagen, allein die Zunge ließ ihn im Stich. Er lächelte ihnen zu und sein graues Haupt sank auf die Brust. Wir haben ihn auf unserem Dorffriedhof zwischen dem Organisten und dem Küster beerdigt.

Als Beltoff den Brief gelesen, legte er ihn auf den Tisch, trocknete sich die Thränen, ging im Zimmer auf und nieder, blieb am Fenster stehen, nahm von neuem den Brief und las ihn noch einmal vom ersten bis zum letzten Wort.

»Wunderbarer Mann! Wunderbarer Mann!« murmelte er vor sich hin. »Der Glückliche, er verstand zufrieden zu sein, er verstand zu arbeiten und sich an jedem Platze, wohin das Schicksal ihn auch warf, nützlich zu machen . . . Jetzt habe ich auf dem weiten Erdenrund niemand mehr als meine Mutter . . . Niemand . . . Und wenn ich auch nur von Zeit zu Zeit Nachricht von dem Greise erhielt, es that mir schon wohl, zu wissen, daß er existirte. Und nun ist er nicht mehr! O wie schwer ist dies Leben zu ertragen. Wahrlich, würden uns vorher die Bedingungen genannt, es fänden sich nur wenige Narren, die sich zum Leben entschließen würden.«

»Die Suppe wird kalt, Wladimir Petrowitsch,« bemerkte der Diener teilnahmsvoll, da er sah, daß der Inhalt des Briefes kein angenehmer sei.

»Gregor,« fragte Beltoff, »erinnerst du dich des Lehrers, der bei uns war?«

»Wie sollte ich mich des Genfers nicht erinnern.«

»Er ist gestorben,« fuhr Beltoff fort und wandte sich ab, um seine Erregtheit zu verbergen.

»Gott hab ihn selig! Er war ein guter Mensch und so freundlich gegen unsereins: noch jüngst sprach ich mit Maxim Fedoroff, dem Büffetdiener Ihrer gnädigen Mutter; das heißt wir sprachen von Ihnen. Ich muß sagen, Maxim Fedoroff kann sich nicht genug über Sie wundern; ich habe durch Ihre Gnade verschiedene Nationen und ihr Wesen und ihre Gebräuche gesehen; na, er aber hat Zeit seines Lebens hier im Gubernium gelebt; da wundert er sich über alles. Natürlich, sagte er, der Herr hat ein gutes Herz, ebenso wie seine gnädige Mutter. Nun, auch von dem Lehrer konnte man gewissermaßen etwas lernen; ich erinnere mich, daß er einmal dem Wladimir Petrowitsch befahl, vor einem Bauernjungen, der ihn grüßte, die Mütze abzunehmen; denn auch ein solcher sei nach Gottes Ebenbild geschaffen.«

Beltoff schwieg und begann traurig seine Suppe zu essen.

Die Nachricht von Josephs Tode rief Beltoff seine ganze Jugend und dann sein ganzes Leben wieder in die Erinnerung. Er gedachte der Lehren Josephs, wie begierig er dieselben in sich aufgenommen, wie er an alles geglaubt, und wie es sich im Leben so ganz anders erwiesen als es Joseph geschildert, und – seltsam, alles was er gesagt, war so schön, so wahr, nach jeder Richtung hin so wahr, und doch so durchaus falsch für Beltoff. Er verglich das, was er damals gewesen, mit dem, was er jetzt war; sie hatten nichts mit einander gemein als das Band der Erinnerung, als diese beiden verschiedenen Wesen vereinte. Jener war voller Hoffnungen, mit dem Glauben an Aufopferungsfähigkeit, bereit zu schwierigen Thaten, zu uneigennützigen Arbeiten, und dieser – er war vor äußeren Hindernissen zurückgewichen, aller Hoffnungen bar, ein Mann, der nur noch Zerstreuung suchte.

Als Gregor das Porträt von der Post brachte, riß Beltoff hastig den Umschlag ab und zog es mit großer Ungeduld hervor . . . Er wechselte die Farbe, als er einen Blick auf die Züge warf, wie sie einst gewesen, er konnte sich nicht von ihnen abwenden. Da drückte sich alles in seinem Antlitze aus, was in seinem Kopfe gährte. Wie frisch, wie hell war dieses Knabengesicht, dieser entblößte Nacken! Der Hemdenkragen lag auf die Schulter zurückgeschlagen, und welcher nicht zu bezeichnende Zug von Nachdenken spielte um den Mund, in dem Blicke, – dies unbestimmte Sinnen, das einem mächtigen zukünftigen Gedanken vorausgeht; was wird aus diesem Jüngling werden, hätte jeder Theoretiker gesagt, wie es Monsieur Joseph sagte; aber es war ein müßiger Tourist aus ihm geworden, der wie zu seinem letzten Anker nach einer Anstellung bei den Adelswahlen zu N. griff.

Damals, dachte Beltoff, vorwurfsvoll noch immer das Porträt betrachtend, damals zählte ich vierzehn Jahre, jetzt dreißig – und was liegt noch vor mir? Nur grauer Nebel, nichts als das langweilige, einförmige ›Fortsetzung folgt‹, ein neues Leben beginnen ist zu spät, das alte fortsetzen, unmöglich. Wie viele Anfänge, wie viele Knüpfungen . . . und alles endete mit Müßiggang und Vereinsamung . . . Das Band der bitteren Gedanken wurde von Doctor Krupoff zerrissen; aber diese spannen sich in Form eines Gespräches weiter aus.

»Wie steht's mit Ihrer Gesundheit, Wladimir Petrowitsch?«

»Ah! Guten Tag, Semen Iwanowitsch; freut mich sehr, Sie zu sehen; eine solche Schwermuth, eine solche Last bedrückt mich, daß ich gar keinen Ausweg weiß. In der That, ich bin krank, ich habe eine Art Fieber, zwar ist es nicht gefährlich, aber es erhält mich fortwährend in einer gewissen Aufregung.«

»Sie führen ein zu unregelmäßiges Leben,« versetzte Krupoff, die langen Aermel seines Rockes zurückschlagend, um Beltoff gründlich den Puls zu fühlen. »Der Puls ist normal; Sie leben doppelt so schnell als man darf; Sie schonen weder Räder noch Theer; lange kann das so nicht weiter gehen.«

»Ich fühle eben, daß ich moralisch und physisch zu Grunde gehe.«

»Das ist noch zu früh; die heutige Generation lebt zu rasch; Sie sollten sich übrigens ernstlich mit Ihrer Gesundheit beschäftigen, Ihre Maßregeln treffen.«

»Welche Maßregeln?«

»Gar manche. Legen Sie sich zeitig schlafen, stehen Sie früh auf, und lesen Sie etwas weniger. Dann denken Sie nicht zu viel, gehen Sie mehr spazieren, verscheuchen Sie die trüben Gedanken, trinken Sie nicht viel Wein, und gar keinen starken Kaffee.«

»Das scheint Ihnen alles sehr leicht, namentlich das Verscheuchen der Gedanken . . . Und wollen Sie mich lange zu einer solchen Diät verdammen?«

»Ihr ganzes Leben lang.«

»Danke ergebenst; das ist langweilig und widerwärtig und es lohnt auch nicht der Mühe.«

»Wieso nicht? Ich sollte doch meinen, es lohnt sehr wohl der Mühe, ein Opfer zu bringen, um länger zu leben.«

»Nun, wozu sollte ich lange leben?«

»Seltsame Frage! Nun, wozu – ich weiß es selbst nicht; es ist doch immerhin besser zu leben als zu sterben; jedes Thier hat Liebe zum Leben.«

»Wenn sich aber nun eins fände, das keine solche Liebe hätte?« bemerkte Beltoff mit bitterem Lächeln. »Byron sagt sehr wahr, daß ein ordentlicher Mensch nicht länger als fünfunddreißig Jahre leben dürfte. Und wozu ein langes Leben? Das muß sehr langweilig sein.«

»Alle diese Sophismen haben Sie aus den verfluchten deutschen Philosophen herausgelesen.«

»In diesem Falle muß ich die Deutschen in Schutz nehmen; ich bin ein Russe und habe aus dem Leben denken gelernt und nicht in Gedanken gelebt. Es ist gut, daß wir auf diese Frage gekommen sind. Denken Sie nach und dann sagen Sie mir aufrichtig, welchen Nutzen es gewährt, wenn ich nicht zehn sondern fünfzehn Jahre lebe; wer bedarf meines Lebens, als meine Mutter, und auch diese hat ein langes Leben nicht mehr zu hoffen. Ob es Schwäche ist, oder Mangel an Charakter, jedenfalls bin ich ein unnützer Mensch, und da ich hiervon überzeugt bin, so denke ich, ich allein bin Herr meines Lebens. Noch ist es mir nicht so zuwider, um mich zu erschießen, aber ich liebe es auch nicht mehr genug, um nach der Diät zu leben, um mich am Gängelbande führen zu lassen, um heftige Empfindungen und schmackhafte Speisen zu vermeiden, – einzig und allein, um dies kranke Leben weiter fortzuführen.«

»Sie ziehen also den chronischen Selbstmord vor,« entgegnete Krupoff, der bereits böse zu werden anfing. »Ich verstehe, aus Müßiggang sind Sie des Lebens überdrüssig, – das Müßiggehen muß doch sehr langweilig sein; Sie wie alle reichen Menschen sind nicht an Arbeit gewöhnt. Sollte Ihnen das Schicksal eine bestimmte Beschäftigung geben oder Ihnen Ihr Bjeloje-Pole nehmen, Sie würden zu arbeiten beginnen, nehmen wir an, Ihrer selbst wegen, ums Brot, aber es würde doch Anderen Nutzen bringen; so geschieht alles auf der Welt.«

»Ich bitte Sie, Semen Iwanowitsch! Glauben Sie denn, außer dem Hunger gäbe es keinen hinreichend kräftigen Antrieb zur Arbeit? Schon der Wunsch, sich mitzutheilen, sich auszusprechen, nöthigt einen ja zur Arbeit. Ich dagegen würde ums Brot allein nicht arbeiten können. Ein ganzes Leben lang arbeiten, um nicht Hungers zu sterben, und nicht Hungers sterben, um zu arbeiten – wirklich eine vernünftige und nützliche Art, seine Zeit hinzubringen!«

»Nun, Sie brauchen ja nicht ums Brot zu arbeiten und haben ja auch den Wunsch, sich auszusprechen, – aber was haben Sie vollbracht?« fragte der Greis jetzt ganz ärgerlich.

»Das ist es ja eben. Aus besonderer Vorliebe habe ich mir natürlich kein müßiges, lästiges Leben gewählt. Zum Gelehrten tauge ich nicht, ebenso wenig wie zum Musiker; und wie es scheint, sind mir auch alle übrigen Wege versperrt . . .«

»Damit trösten Sie sich; die Erde ist Ihnen zu eng, Sie finden keinen Platz auf ihr, es fehlt Ihnen an festem Willen, an Beharrlichkeit.«

»Gutta cavat lapidem« beendete Beltoff. »Sie sind ein Mann von Fach, Sie haben also gut reden.«

»Und Sie machen schöne Worte,« bemerkte Krupoff, »allein mir scheint, der gute Arbeiter findet stets Arbeit.«

»Sie meinen also, diese Lyoner Arbeiter, welche Hungers sterben, obgleich sie arbeiten möchten, aber keine Arbeit finden, verständen nichts oder machten sich nur einen schlechten Scherz? Ach, Semen Iwanowitsch, Sie urtheilen zu schnell, Sie verordnen viel zu schnell geistige Ruhe und Kräuter: das erste ist unmöglich und das zweite vermag nicht zu helfen. Wenige Krankheiten sind so schlimm, wie das Bewußtsein, unnütze Kräfte zu haben. Was soll da Diät? Erinnern Sie sich der Antwort, die Napoleon dem Doctor Anton Marchi gab: das ist nicht ein zurückgetretener Krebs, sondern ein zurückgetretenes Waterloo. Ein jeder hat sein Waterloo rentré! Gehen wir zu Kruziferski, Semen Iwanowitsch, zu den Kruziferskis, bei ihnen bin ich schon mehrmals meinen trüben Sinn los geworden; solche Mittel wirken besser als alle Decocte.«

»Da erwarte einer von Ihnen Dank und Anerkennung! Wer hat Ihnen denn diese Familie verordnet?«

»Verzeihen Sie, verzeihen Sie, – das hatte ich ganz vergessen! O, Sie sind ja der größte aller Söhne des Hippokrates, Semen Iwanowitsch,« antwortete Beltoff, indem er seine Cigarre ansteckte und dem Doctor gutmüthig zulächelte.

Was aber war es denn, fragen wir mit Maria Stepanowna, das Beltoff in das bescheidene Haus des Lehrers zog? Fand er in ihm einen Freund, einen ihm sympathischen Menschen, oder war er wirklich in seine Frau verliebt? Er selbst hätte auf diese Fragen trotz aller Aufrichtigkeit schwer eine Antwort gefunden. Gar manches brachte ihm dieses Haus nahe. Die Wahlen mit ihren Diners und Bällen waren zu Ende. Selbstverständlich war Beltoff für kein Amt gewählt worden und er blieb nur in N., um beim Civiltribunal einen Prozeß zu beenden. Ihr könnt euch daher leicht vorstellen, wie sehr sich dieser Mann in N. gelangweilt hätte, wäre er nicht mit den Kruziferskis bekannt geworden. Das stille, ungetrübte Leben dieses Ehepärchens bot Beltoff etwas Neues, Anziehendes.

Er hatte sein ganzes Leben mit allgemeinen Fragen, mit wissenschaftlichen Beschäftigungen in fremden Städten zugebracht, wo es so schwer ist, sich dem häuslichen Leben zu nähern, oder in Petersburg, wo es so wenig Familienleben giebt. Er meinte, häusliche Zufriedenheit sei entweder nur Erfindung oder sie komme nur bei unbedeutenden, kleinen Leuten vor. Bei den Kruziferskis war es anders. Der Charakter Kruziferskis ist nicht leicht zu schildern: eine zarte, im höchsten Grade liebevolle Natur, ein hingebendes Weib, fast weibliches Gemüth, war ihm eine solche Offenherzigkeit, eine solche Lauterkeit eigen, daß es unmöglich war, ihn nicht lieb zu haben, wenngleich seine Lauterkeit nahe an Unerfahrenheit, an kindliche Unkenntnis grenzte; es war schwer, einen Menschen zu finden, der weniger das praktische Leben kannte; alles, was er wußte, hatte er aus Büchern und darum war sein Wissen unzuverlässig, romantischer, abstracter, theoretischer Art. Er glaubte heilig an die Wirklichkeit der Welt, wie Schukowski sie besungen, – an Ideale, die allem Irdischen entrückt sind. Aus der Vereinsamung des Studentenlebens, in welcher er die Welt der Leidenschaften und der Kämpfe nur von der Galerie des Moskauer Theaters kennen gelernt, trat er an einem trüben Herbsttage still hinaus. Ueberall begegnete ihm das Leben als drückende Noth, alles erschien ihm feindselig, fremd, und der junge Candidat lernte mehr und mehr seinen Trost, seine ganze Ruhe in der Welt der Träume finden, in welche er sich von den Menschen und von den Verhältnissen flüchtete.

Dieselbe äußere Noth trieb ihn in Negroffs Haus. Dieser Zusammenstoß mit der Wirklichkeit veranlaßte ihn, sich noch mehr in sich selbst zu concentriren. Von sanfter Gemüthsart, dachte er gar nicht daran, sich auf einen Kampf mit der Wirklichkeit einzulassen, er wich ihrem Angriff aus, er verlangte nur in Ruhe zu leben. Aber die Liebe zeigte sich bei ihm so, wie sie sich in solchen Organismen stets zeigt, nicht rasend und wild, sondern für alle Ewigkeit, aber mit solcher Selbstaufopferung, daß er sofort sein Leben hingab.

Eine nervöse Reizbarkeit erhielt ihn beständig in einer gewissen begeistert melancholischen Stimmung. Er war stets zum Weinen, stets zur Traurigkeit geneigt, – er liebte es, an milden Abenden lange, lange zum Himmel empor zu schauen, und wer weiß, was für Gesichte ihm in solcher Stille erschienen. Oft drückte er seiner Frau die Hand und schaute ihr mit unaussprechlichem Entzücken in die Augen; aber in dieses Entzücken mischte sich eine eigenthümliche, tiefe Schwermuth, so daß selbst Lubonka sich der Thränen nicht erwehren konnte. In all seinen Handlungen offenbarte sich dieselbe Milde, dieselbe Ruhe, dieselbe Aufrichtigkeit, dasselbe ängstliche Sinnen, die sich auf seinem Antlitz spiegelten. Braucht man erst zu sagen, wie ein solcher Mann seine Frau lieben mußte? Seine Liebe wuchs unablässig, um so mehr, da nichts ihn abzog. Er konnte keine zwei Stunden leben, ohne seiner Frau in die dunkelblauen Augen zu sehen; er zitterte, wenn sie ausging und nicht zur bestimmten Stunde zurückkehrte; kurz, man sah deutlich, daß alle seine Lebenswurzeln in ihr ruhten. Vieles dazu trug die Gesellschaft bei, in welche er gerathen war.

Die Lehrer an dem Gymnasium zu N. waren wie überall an unsern Schulen größtentheils Menschen, die in dem Provinzialleben träge und roh geworden, die sich groben materiellen Gewohnheiten hingegeben, die jedes Verlangen, etwas zu lernen, in sich erstickt hatten. Ich glaube nicht, daß Kruziferski den Beruf hatte, die Wissenschaft zu fördern, sich ganz und voll ihren Fragen zu widmen und sie zu eigenen Lebensfragen zu machen, aber er nahm Antheil an ihnen, und vieles war ihm zugänglich – außer den Mitteln.

Sich selbst Bücher zu kaufen, daran war nicht zu denken; das Gymnasium schaffte einige an, aber nicht solche, welche das Interesse eines jungen Lehrers wach erhalten konnten. Das Provinzialleben ist überhaupt für diejenigen verderblich, welche sich nicht blos ihr unbewegliches Vermögen bewahren, die auch Geist und Körper die Beweglichkeit erhalten wollen. Wer verfiel nicht bei dem vollständigen Mangel an geistigen Interessen an dieser Stätte moralischer Schlafsucht in einen langen, wenn auch nicht süßen Schlummer? . . .

Dem Menschen sind äußere Anreize unentbehrlich. Er muß Zeitungen haben, die ihn täglich mit der ganzen Welt in Berührung bringen, er braucht Schriften, die ihm jede Bewegung des zeitgenössischen Gedankens mittheilen, er braucht Unterhaltung, ein Theater, – freilich kann man sich all diese Dinge abgewöhnen, und man kann sich einbilden, dies alles sei überflüssig und dann wird es einem in der That überflüssig, d. h. in dem Augenblicke, da man selbst ein vollständig überflüssiger Mensch wird.

Kruziferski gehörte durchaus nicht zu jenen kraftvollen, beharrlichen Menschen, die sich das zu verschaffen wissen, was nicht vorhanden ist. Die Abwesenheit jedes wahrhaft menschlichen Interesses um ihn her übte auf ihn einen mehr negativen als positiven Einfluß – unter anderem darum, weil er sich in der schönsten Epoche seines Lebens befand, das heißt kurz nach seiner Verheirathung. Später aber gewöhnte er sich daran und blieb bei seinen Träumen stehen, bei einigen höheren Ideen, die bereits einige Jahre alt waren, bei seiner allgemeinen Liebe zur Wissenschaft, bei Fragen, die längst gelöst waren. Die Befriedigung der wichtigeren geistigen Bedürfnisse suchte er in der Liebe und er fand alles in der kräftigen Natur seiner Gattin.

Die Dispute mit Krupoff, welche schon vier Jahre währten, hatten denselben provinziell stabilen Charakter angenommen: in diesen Jahren hatten sie täglich einen und denselben Gegenstand behandelt. Kruziferski trat als Vertheidiger des Spiritualismus auf, gegen welchen der alte Krupoff rauh und unwirsch mit seinem medizinischen Materialismus zu Felde zog.

In diesem stillen Laufe floß das Leben unseres Freundes dahin, als plötzlich eine Persönlichkeit von ganz anderem Gepräge, ein Mann mit innerem Thatendrang, der allen Fragen der Zeit zugänglich war, ein Encyklopädist, ein kühner, scharfdenkender Geist in dasselbe hineingerieth. Unwillkürlich unterwarf sich Kruziferski der energischen Natur seines neuen Freundes und Beltoff seinerseits blieb durchaus nicht unberührt von dem Einfluß Lubonka's. Einer kräftigen Natur, die sich mit nichts Besonderem beschäftigte, ist es fast unmöglich, sich des Einflusses einer kraftvollen Frauennatur zu erwehren. Man muß entweder sehr beschränkt oder sehr stumpf oder völlig charakterlos sein, um gefühllos seine Unabhängigkeit gegenüber der sittlichen Macht zu bewahren, welche uns in einer schönen, jugendlichen Frauengestalt entgegentritt.

Freilich ließ sich Beltoff, der von Natur feurig war, leicht hinreißen; jede Kokette, jedes hübsche Gesicht hatte bei ihm leichtes Spiel. Schon oft hatte er sich bis zur Tollheit in irgend eine Primadonna verliebt – oder auch in eine Tänzerin, oder zweideutige Schönheit, die in den Bädern ein vereinsamtes Dasein führte, oder in irgend eine rothwangige deutsche Blondine, die Anwandlungen von Schwärmerei hatte und stets bereit war, sich nach Schillerschen Mustern zu verlieben und beim Gesang der Nachtigall für das Leben hienieden und dort oben ewige Liebe und Treue zu schwören; auch eine Französin hatte es ihm einmal angethan, die sich ohne jede Heuchelei der Freude und dem Genuß hingegeben . . . Aber einen solchen Einfluß hatte Beltoff noch nicht erfahren.

In der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft dachte Beltoff mit Frau Kruziferski ein wenig zu kokettiren. In dieser Beziehung verfügte er über reiche Mittel. Durch aristokratischen Schimmer oder affectirte Würde war er nicht leicht einzuschüchtern; voll Selbstvertrauen, da er es mit ungemein leicht zugänglichen Schönheiten zu thun gehabt, gewandt und von gefährlicher Keckheit in seinen Reden, besaß er alles, um das Gewissen einer Provinzialin zu betäuben. Aber der kluge Beltoff ließ das alberne Kokettiren bald fallen; er begriff, daß für ein solches Wild seine Netze zu schwach waren. Das Weib, dem er in dieser Wüste begegnete, war so einfach, so naiv natürlich und dabei mit solcher Kraft und solchem Verstande ausgerüstet, daß Beltoff bald die Lust verging, mit ihr eine Intrigue einzufädeln. Es war schwer, auf sie einen Angriff zu machen, da sie sich nicht wehrte, sich nicht en garde stellte. Aber ein anderes, mehr menschliches Verhältnis brachte Beltoff und Lubonka schnell einander näher. Sie begriff seine Trauer, sie begriff jene scharfe Säure, welche in ihm gährte und ihn bedrückte, sie begriff das tausendmal klarer und besser als zum Beispiel Krupoff. Und nach dem sie begriffen, konnte sie ihn nicht mehr ohne Theilnahme, ohne Sympathie ansehen, und wenn sie ihn so anblickte, lernte sie ihn mehr und mehr kennen, entdeckte sie täglich neue, immer neue Seiten in diesem Manne, der dazu verdammt war, einen großen Reichthum von Kraft, eine unendliche Fülle von Gedanken in sich zu ersticken. Beltoff wußte sofort den Unterschied zwischen der gewissenhaft ermahnenden Theilnahme Krupoffs, der romantischen Sympathie Kruziferskis, die stets bereit war, sich in Thränen zu äußern, und dem sichern Takt zu ermessen, den er an Lubonka gewahrte. Manchmal, wenn sie alle vier zusammen im Zimmer saßen, brachte Beltoff unwillkürlich die Rede auf seine innersten Ueberzeugungen; theils aus Gewohnheit, sie zu verschweigen, theils aus Neigung versetzte er dieselben fast immer mit Ironie, oder warf sie nur so beiläufig, so flüchtig hin; bei seinen Zuhörern fanden sie in der Regel keinen Wiederhall, aber wenn er seinen traurigen Blick auf Lubonka warf, dann glitt ein leichtes Lächeln über sein Antlitz, – er sah, daß er verstanden wurde. Unmerklich entstand zwischen ihnen – ich erinnere nur ungern daran, aber was soll ich machen – dieselbe Situation, in welcher sich einst Lubonka und Dmitri in Negroffs Familie befunden hatten, wo sie, noch bevor sie mit einander zwei Worte gewechselt, begriffen, daß sie einander verstanden.

Sympathien dieser Art lassen sich durch nichts hervorrufen, durch nichts ersticken; sie geben einfach der Thatsache verwandter Entwickelung in zwei Menschen Ausdruck, wie und wo sich dieselben auch begegnen. Haben sie sich einander erkannt, sind sie sich ihrer Verwandtschaft bewußt geworden, so opfert jeder, wenn die Umstände es erheischen, die niedere Verwandtschaft mit all ihren Abstufungen der höheren.

»Rathen Sie einmal, wer das ist,« sagte Beltoff, Lubonka sein Porträt gebend.

»Aber das sind Sie ja!« schrie Lubonka fast auf, und erröthete über das ganze Gesicht. »Das sind Ihre Augen, das ist Ihre Stirn . . . wie schön Sie als Jüngling waren! Welch sorgloses, keckes Antlitz! . . .«

»Es gehört viel Muth dazu, einer Frau zum Vergleiche ein Porträt von sich zu übergeben, das vor mehr als fünfzehn Jahren angefertigt wurde; aber es verlangte mich so sehr danach, Ihnen zu zeigen, Sie möchten selbst sehen,

welch' Bursch ich war in meiner Blüte Jahre.

Aber ich muß mich wirklich wundern, daß Sie mich erkannt haben: nicht ein einziger Zug ist mir ja geblieben.«

»Ja, man erkennt Sie wieder,« antwortete Lubonka, unverwandt das Porträt betrachtend. »Warum haben Sie es mir nicht schon früher gebracht?«

»Ich habe es erst heut erhalten; mein guter Joseph ist vor vier Wochen gestorben, und sein Neffe sandte mir dieses Porträt nebst einem Briefe.«

»Ach, der arme Joseph! . . . Ich zähle ihn zu meinen intimen Bekanntschaften nach allem, was Sie mir von ihm erzählt.«

»Der Greis starb mitten in seinen stillen Beschäftigungen; und Sie, die Sie ihn nicht persönlich gekannt, und eine Menge Kinder, die er unterrichtete, ich und meine Mutter, wir denken seiner mit Liebe und Trauer. Sein Tod ist für viele ein schwerer Schlag. In dieser Beziehung bin ich glücklicher als er: sterbe ich nach meiner Mutter, so bin ich überzeugt, daß ich niemandem einen bitteren Augenblick bereite, weil niemand Antheil an mir nimmt.«

Beltoff sagte das mit voller Aufrichtigkeit und doch mit einer gewissen Koketterie: er wollte Lubonka gern zu einer warmen Antwort herausfordern.

»Das glauben Sie ja selbst nicht,« antwortete sie, Beltoff fest anblickend.

Er senkte die Augen.

»Nun, mir ist's nach meinem Tode vollkommen gleichgiltig, wer über mich weint oder nicht,« bemerkte Krupoff.

»In der Beziehung bin ich mit Ihnen nicht einverstanden,« entgegnete Kruziferski. »Ich kann mir sehr wohl die ganzen Schrecken des Todes vorstellen, wenn man nicht blos an seinem Sterbelager, sondern auch in der weiten Welt keine liebende Seele hat, wenn eine fremde, kalte Hand ein Häufchen Erde auf unser Grab wirft und dann ruhig die Schaufel bei Seite legt, um nach dem Hut zu greifen und nach Haus zu gehen. Lubonka, wenn ich sterbe, so komme recht häufig an mein Grab, mir wird dann leichter sein . . . Ja, mir wird dann leichter sein . . .«

»Außerordentlich leicht, das ist wahr,« versetzte ärgerlich Doctor Krupoff, »so leicht, daß man es nicht einmal mit einer chemischen Wage abwägen kann . . .«

»Und sollten Sie denn außer Joseph keine anderen Freunde haben?« fragte Lubonka; »wie wäre das möglich?«

»Ich hatte viele, sogar sehr glühende, sehr hingebende, – o, ich hatte noch manches andere! Einst hatte ich solch ein Gesicht, jetzt ein ganz anderes. Uebrigens, wozu braucht man Freunde? Die Freundschaft ist eine liebe Jugendkrankheit; wehe dem, der es nicht versteht, sich selbst zu genügen!«

»Aber so viel ich weiß, ist Ihnen doch Joseph bis an sein Lebensende nahe gestanden?«

»Weil wir fern von einander lebten. Wir blieben einander Freunde, weil wir uns seit fünfzehn Jahren nur einmal wiedersahen. Bei diesem flüchtigen Wiedersehen verdeckte ich mit Erinnerungen den Unterschied, den ich zwischen uns bemerkte.«

»Sie haben ihn also seit der Zeit, da er nach Schweden reiste, wiedergesehen?«

»Einmal.«

»Wo?«

»An dem Orte, wo er sein Leben beschlossen.«

»Vor langer Zeit?«

»Vor einem Jahre.«

»Ach, statt uns alle Ihre finstern Gedanken mitzutheilen, erzählen Sie uns lieber Ihr Zusammentreffen mit dem Greise.«

»Mit dem größten Vergnügen. Es verlangt mich, mit ihm mich zu beschäftigen, es macht mir Freude, von ihm zu sprechen. Das kam so. Zu Beginn des vorigen Jahres reiste ich aus dem südlichen Frankreich nach Genf. Warum? Ich weiß es selbst kaum. Ich wollte nicht nach Paris gehen, weil ich dort nichts anzufangen wußte und weil ich dort beständig an Neid litt: alles um mich herum war beschäftigt, alle mühten sich ab, entweder mit etwas Vernünftigem oder mit etwas Unvernünftigem. Und ich las nur in den Kaffeehäusern die Zeitungen, und ging als theilnehmender aber immerhin fremder Zuschauer umher. In Genf war ich noch nicht gewesen. Es ist eine stille, abgelegene Stadt. Darum hatte ich sie zu meinem Winteraufenthalt gewählt. Ich wollte mich mit Nationalökonomie beschäftigen, und in Muße überlegen, was ich den nächsten Sommer treiben und wohin ich mich wenden sollte.

»Es versteht sich von selbst, daß ich mich am zweiten oder dritten Tage bereits bei den Lohndienern, Banquiers, kurz überall erkundigte, ob niemand den Herrn Joseph kenne oder von ihm gehört habe. Kein Mensch wußte etwas von ihm. Nur ein alter Uhrmacher erzählte mir, er habe Joseph allerdings gekannt, er sei mit ihm in die Schule gegangen, später sei dieser nach Petersburg gereist, in der Folge habe er ihn nicht wiedergesehen.

»Aergerlich gab ich meine Nachforschungen auf. Meine nationalökonomischen Studien wollten nicht in Fluß kommen. Es war zu Beginn des Frühlings und helles, kühles Wetter. Das Wanderleben hatte in mir geradezu eine Leidenschaft für das Herumstreifen ausgebildet; und so wollte ich einige kleine Fußwanderungen in der Umgegend von Genf machen. Die Landstraße übt auf mich einen ungemein starken Einfluß: auf der Landstraße lebe ich auf, namentlich wenn ich zu Fuß gehe oder reite. Der Wagen rüttelt einen, lenkt einen ab, die Anwesenheit eines Kutschers stört die Einsamkeit, aber allein, zu Pferde oder mit einem Wanderstabe in der Hand geht sich's so herrlich; wie ein Band windet sich die Straße dahin, so fern das Auge reicht, um sich irgendwo zu verlieren. Niemand ringsum als die Bäume, die Bächlein, die Vögel, welche da und dort erschreckt aufflattern – es ist wunderbar schön!

»Als ich einmal in dieser Weise einige Meilen von Genf umherwanderte, schritt ich lange allein fürbaß . . . Da plötzlich kamen von einem Seitenwege etwa zwanzig Bauern auf die Landstraße. Sie führten ein ungemein hitziges, von kräftiger Mimik unterstütztes Gespräch; so gingen sie nahe an mir vorüber und schenkten mir, dem Fremden, so wenig Beachtung, daß ich ihre Worte sehr deutlich hören konnte: es handelte sich um gewisse Cantonalwahlen. Die Bauern hatten sich in zwei Parteien geschieden und morgen sollten die entscheidenden Stimmen abgegeben werden. Es war deutlich zu sehen, daß die Frage, die sie beschäftigte, ihr ganzes Interesse vollständig in Anspruch nahm: sie gesticulirten mit den Händen, warfen die Mützen in die Höhe u. s. w. Ich setzte mich unter einen Baum, die Wählerschaar zog vorüber und noch lange tönten Bruchstücke demagogischer Reden und conservativer Erwiderungen an mein Ohr. Fortwährend quält mich Neid, wenn ich Menschen sehe, die mit irgend etwas beschäftigt sind, die eine Arbeit haben, welche sie vollständig in Anspruch nimmt . . . Und somit war ich schon vollständig verstimmt, als ich auf der Landstraße einen neuen Gefährten erblickte, einen schlanken Jüngling, in dicker Blouse, mit grauem, breitkrämpigem Hut, einem Felleisen auf den Schultern und einer Pfeife zwischen den Zähnen. Er setzte sich in den Schatten meines Baumes. Indem er Platz nahm, berührte er den Rand seines Hutes. Als ich ihn grüßte, nahm er seinen Hut ganz ab und begann sich den Schweiß vom Gesicht und seinem schönen kastanienbraunen Haar zu wischen. Ich lächelte, da ich die Vorsicht meines Nachbars wohl verstand. Er hatte vorhin seinen Hut nicht abgenommen, damit ich nicht dächte, es geschähe meinetwegen. Als der junge Mann sich gesetzt, wandte er sich nach mir um und fragte:

»Wohin geht Ihr Weg?«

»Das kann ich Ihnen nicht so leicht sagen, als Sie vielleicht denken; ich wandere auf Gerathewohl umher.«

»Sie sind wohl ein Fremder?«

»Ich bin Russe.«

»Ah! Das ist fern . . . Ja, da bei Ihnen zu Hause herrscht wohl jetzt noch eine strenge Kälte?« . . .

Bekanntlich kann ein Ausländer nie von Rußland reden, ohne an unsere Kälte oder unsere schnellfahrende Post zu erinnern, obgleich man sich doch überzeugt haben sollte, daß es bei uns weder furchtbar strenge Kälte noch fabelhaft schnellfahrende Wagen giebt.

»Ja, jetzt ist es in Petersburg noch Winter.«

»Na, und wie gefällt Ihnen denn unser Klima?« fragte der Schweizer mit Stolz.

»Ganz gut,« antwortete ich. »Sie sind wohl hier aus der Nähe?«

»Ja, ich bin nicht weit von hier zu Hause, und jetzt komme ich nach Genf, um in meiner Heimat an den Wahlen theilzunehmen; ich habe noch nicht das Recht, meine Stimme bei den Wahlen abzugeben, aber dagegen habe ich eine andere Stimme, die zwar noch nicht zählt, die aber doch vielleicht Zuhörer findet. Und wenn es Ihnen gleichgiltig ist, wohin Sie gehen, so kommen Sie mit mir; das Haus meiner Mutter steht Ihnen zur Verfügung, und Käse und Wein giebt's bei uns auch; und dann sehen Sie morgen mal, wie unsere Partei über die Alten den Sieg davonträgt.«

»Aha, das ist ein Radicaler!« dachte ich, meinen Nachbar wieder mit den Augen messend.

»Gut, ich begleite Sie,« sagte ich und reichte ihm die Hand; »mir ist's gleich, wohin ich gehe.«

»Es wird Sie interessiren, unsere Wahlen sich anzusehen; bei Ihnen zu Hause haben Sie ja wohl so etwas nicht?«

»Wer hat Ihnen das gesagt?« antwortete ich. »Sie müssen wirklich in der Geographie einen schlechten Lehrer gehabt haben. Im Gegentheil, wir haben sehr viele Wahlen: die Adelswahlen, die Kaufmannswahlen, die Bürgerwahlen und die Dorfwahlen; ja auf den großen Gütern heißt sogar der Dorfälteste der Erwählte.«

Der junge Mann erröthete.

»Es ist schon lange her, da ich Geographie lernte, auch war's nicht viel. Unser Lehrer, mit Verlaub sei's gesagt, war ein ausgezeichneter Mensch. Er war selbst in Rußland gewesen, und wenn Sie wollen, mache ich Sie mit ihm bekannt. Er war ein solcher Philosoph; weiß Gott, was er nicht alles hätte werden können, und doch wollte er nur unser Lehrer werden.«

»Das war sehr edel,« antwortete ich; ich hatte nicht das geringste Verlangen, so einen philosophischen Dorfschulmeister kennen zu lernen.

»Aber er war wirklich in Ihrem Lande!«

»Wo denn?«

»In Petersburg und in Moskau.«

»Und wie heißt er?«

»Wir nennen ihn Père Joseph.«

»Père Joseph?« wiederholte ich meinen Ohren nicht trauend.

»Na, was ist denn da Wunderbares?« entgegnete mein Gefährte.

Kurz nach zwei, drei Fragen war ich vollständig überzeugt, daß dieser Père Joseph niemand anderes als mein Joseph war. Wir verdoppelten unsere Schritte. Der junge Mann freute sich sehr, daß er mir ein so unerwartetes Vergnügen bereitet und noch mehr, daß er auch Joseph, den er über alle Maßen liebte und hochschätzte, eine Freude bereiten würde. Ich befragte ihn über die Lebensweise des Greises, und aus all den Einzelheiten, die er mir mittheilte, ersah ich, daß er derselbe edle, jugendlich begeisterte Mann geblieben; die Erzählung meines Gefährten überzeugte mich bald, daß ich Joseph an Jahren überholt habe, daß ich älter sei, als er. Erst vor fünf Jahren hatte er das Amt eines Oberlehrers und Schulinspectors übernommen. Er arbeitete doppelt soviel, als seine Pflicht verlangte, er hatte eine kleine Bibliothek, welche dem ganzen Dorfe zur Verfügung stand, und besaß einen Garten, in welchem er in den Freistunden mit den Kindern arbeitete. Als wir vor dem sauberen Häuschen des Schullehrers Halt machten, das von den Strahlen der untergehenden Sonne und dem Wiederschein eines hohen Berges, an den das Häuschen sich lehnte, hell beleuchtet wurde, da schickte ich meinen Gefährten voraus, damit die Ueberraschung den Greis nicht zu sehr aufrege, und ließ ihm sagen, ein Russe wünsche ihn zu sprechen.

Père Joseph befand sich im Garten; er ruhte gerade, auf einen Spaten gelehnt, von der Arbeit aus. Bei dem Worte Russe fuhr er zusammen und kam mir mit schnellen Schritten entgegen. Ich warf mich ihm in die Arme. Das erste, was mir auffiel, war die kränkelnde Gewalt der Zerstörung, welche die Zeit geübt. Keine zehn Jahre waren seit der Zeit verflossen, da ich ihn zuletzt gesehen – aber welche Veränderung! Er hatte fast sein ganzes Haar verloren, sein Antlitz war eingefallen, sein Gang schwer geworden, sein Nacken hatte sich gekrümmt; nur die Augen blickten ebenso jugendlich wie in früheren Tagen. Ich kann Ihnen nicht die Freude schildern, mit der er mich empfing: der Greis weinte, lachte und überschüttete mich mit Fragen, ja er erkundigte sich sogar, ob mein Neufundländer noch lebte; er erinnerte sich all meiner Streiche; und fortwährend plaudernd führte er mich in seine Laube, wo er mich ausruhen hieß und Charles, das heißt meinen Begleiter, aus dem Keller eine Flasche seines besten Weins holen ließ. Ich muß gestehen, daß ich kaum den ausgezeichnetsten Cliquot mit solchem Entzücken getrunken, wie ich hier Glas auf Glas von Josephs saurem Wein leerte. Ich war neu belebt, verjüngt, glücklich; allein der Greis machte meiner ausgezeichneten Stimmung bald ein Ende mit der Frage: »Was hast du nun während dieser ganzen Zeit gemacht, Woldemar?«

Ich erzählte ihm die ganze Geschichte meiner Mißerfolge und schloß damit, daß allerdings mein Leben sich hätte besser gestalten können, daß ich aber doch nichts bereue; wenn ich auch meinen jugendlichen Glauben eingebüßt, so hätte ich mir dagegen eine nüchterne Anschauung erworben, die vielleicht trostlos, traurig, dafür aber wahr sei.

»Woldemar,« entgegnete der Greis, »hüte dich vor einer allzu nüchternen Anschauung – dein Herz könnte dabei erkalten, deine Liebe erlöschen! Vieles in deinem Leben habe ich nicht vorausgesehen; du hast es schwer gehabt, aber man muß doch nicht gleich die Waffen strecken; im Kampf besteht die Würde des menschlichen Lebens . . . Den Lohn gewinnt man nur durch heißes Ringen.«

Ich betrachtete alle Dinge schon damals mit einfacherem Blick; allein die Worte des Greises übten eine mächtige Wirkung auf mich.

»Erzählen Sie mir lieber, Père Joseph, wie Sie diese Jahre verlebt haben. Mein Leben ist verfehlt, also fort damit. Ich gleiche dem Helden in unsern Volksmärchen, die ich Ihnen zu übersetzen pflegte; ich bin auf alle Kreuzwege hinausgegangen und habe gerufen: ›Ist da ein lebender Mensch auf dem Felde?‹ Aber kein lebender Mensch gab mir Antwort . . . Das war mein Unglück! . . . Aber allein auf dem Felde ist man kein Kämpfer . . . Und so verließ ich das Feld und kam als Gast zu Ihnen.«

»Zu früh, viel zu früh hast du dich ergeben,« bemerkte der Greis kopfschüttelnd. »Was soll ich dir erzählen? Mein Leben fließt still dahin. Als ich euer Haus verließ, hielt ich mich eine Zeitlang in Schweden auf, – dann reiste ich mit einem Engländer nach London, wo ich zwei Jahre lang seine Kinder unterrichtete; aber meine Denkweise harmonirte nicht mit der Anschauung des ehrenwerthen Lords und so verließ ich ihn. Es verlangte mich nach Hause, und so reiste ich direct hierher nach Genf.

In Genf fand ich niemanden als einen Knaben, den Sohn meiner Schwester. Ich sann und sann, was ich an meinem Lebensabend beginnen sollte – da ward an der hiesigen Schule die Stelle eines Lehrers frei, ich nahm dieselbe an, und bin mit meiner Beschäftigung außerordentlich zufrieden. Es ist unmöglich und auch durchaus nicht nothwendig, daß alle sich in die erste Reihe stellen; thue jeder seine Pflicht in den ihm angewiesenen Kreise – zu thun giebt es überall, und nach gethaner Arbeit lege er sich ruhig schlafen, wenn sein letztes Stündlein geschlagen hat. Unser heißes Verlangen, in der bürgerlichen Gesellschaft einen hervorragenden und überall sichtbaren Platz einzunehmen, beweist eine große Unreife, welche zum Theil einem Mangel an Selbstachtung entspringt. Solches Streben aber macht den Menschen von äußeren Umständen abhängig. Glaube mir, Woldemar, jeder ist es.«

In diesem Tone sprachen wir über eine Stunde miteinander.

Von diesem Wiedersehen ergriffen, gerührt, war ich außerordentlich empfänglich, außerordentlich gut gestimmt. Alle jugendlichen, längst vergessenen Träumereien umschwebten mich wieder. Ich betrachtete Josephs Gesicht, das so ruhig, so ungetrübt dreinschaute, und mir ward so schwer ums Herz, meine Ueberreife drückte mich so schmerzlich, und er war so gut, so edel! Das Alter hat eine eigenthümliche Schönheit; es entzündet keine Leidenschaft, verlockt nicht zu stürmischen Ausbrüchen, aber es versöhnt, beruhigt. Die Reste seiner grauen Haare wiegten sich im Abendwinde, milde glühten seine in Folge unseres Wiedersehens so beseelten Augen; ich fühlte mich so jung, so glücklich, wenn ich ihn ansah; er erinnerte mich an die katholischen Mönche des Mittelalters, wie sie uns die italienischen Meister dargestellt haben. Auch sie waren jung, dachte ich, und auch er ist jung in seinem grauen Haar, aber ich bin alt, warum habe ich so viel erfahren, was jene nicht wußten?

Joseph stand auf, um in sein Zimmer zu gehen, ergriff meine Hand und wiederholte mit inniger Liebe: »Es ist Zeit ins Haus zu gehen, Woldemar.«

Ich blieb über Nacht bei ihm; und während der ganzen Nacht quälten mich tausend Pläne und Entwürfe. Josephs Beispiel wirkte zu mächtig auf mich; er, der völlig mittellose Mann, der Greis, hatte sich eine Thätigkeit geschaffen, er fand darin seine Ruhe, und ich hatte aus Aerger mein Vaterland verlassen, und wanderte als unnützer Mensch, der nichts mit sich und seiner Zeit anzufangen wußte, in fremden Landen umher.

Am andern Morgen erklärte ich dem Greise, daß ich mich direct nach N. begeben wolle, um mich bei den Wahlen um eine Stellung zu bewerben. Der Greis brach in Thränen aus, legte mir die Hand aufs Haupt und sprach: »Geh, mein Sohn, geh. Du siehst, der Mensch, der geraden, ehrlichen Sinnes sich einen Wirkungskreis sucht, vermag viel Gutes zu stiften, und,« fügte er mit bebender Stimme hinzu, »möge Ruhe in deine Seele einkehren.«

Wir schieden; ich ging nach N., und er in jene Welt. Das ist alles. Das war meine letzte jugendliche Aufwallung. Seitdem ist meine Erziehung beendet.«

Lubonka betrachtete ihn mit tiefer Theilnahme. Seine Augen, sein Antlitz drückten eine so wahre, bedrückende Trauer aus; seine Schwermuth überraschte umsomehr, da sie nicht in seinem Charakter lag, wie zum Beispiel bei Kruziferski. Wer ihn aufmerksam beobachtete, begriff, daß äußere Umstände diese frohe Natur lange bedrückt, daß finstere, fremdartige Elemente sich gewaltsam in sie hineingedrängt hatten und sie verzehrten.

»Warum sind Sie hierhergekommen?« fragte Lubonka mit leiser Stimme.

»Ich danke Ihnen von Herzen für diese Frage.«

»In der That, das ist recht merkwürdig,« bemerkte Krupoff, »es ist unbegreiflich, warum in den Menschen solche Kräfte und Strebungen hineingelegt werden, die sie nicht benutzen können. Jedes Thier ist von der Natur zu einer bestimmten Lebensform passend ausgerüstet. Aber der Mensch . . . Sollte da nach irgend einer Seite ein Irrthum vorliegen? In der That, Geist und Herz mögen die Möglichkeit nicht einräumen, daß schöne Kräfte und Bestrebungen den Menschen nur darum verliehen seien, damit sie ihre eigene Brust verzehren. Wozu denn das?«

»Sie haben vollkommen Recht,« entgegnete Beltoff mit Wärme, »und von diesem Gesichtspunkt kommen Sie aus der Frage nicht heraus. Es handelt sich darum, daß die Kräfte sich beständig ohne jede Rücksicht entwickeln und ausbilden, während die Geschichte den Bedarf derselben bestimmt. Sie wissen jedenfalls, daß in Moskau an jedem Morgen sich eine Menge Arbeiter, Tagelöhner u. s. w. an einen freien Platz begeben, die einen von ihnen werden genommen und diese begeben sich an die Arbeit; die andern schlendern, nachdem sie lange gewartet, mit gesenkten Köpfen nach Hause, gewöhnlich auch in eine Schenke; so verhält es sich mit allen andern menschlichen Dingen. Candidaten giebt es für alles Mögliche genug – braucht sie die Geschichte, so nimmt sie sie, wenn nicht – so ist es ihre Sache, wie sie ihr Leben verbrauchen. Daher dieses komische Apropos bei allen, die wirken und arbeiten. Frankreich brauchte Feldherrn, und da kam Dumouriez, Hoche, Moreau, Napoleon mit seinen Marschällen, und unzählige andere; dann traten wieder friedliche Zeiten ein und von kriegerischen Talenten hörte und sah man nichts mehr.«

»Aber was wird aus den anderen?« fragte Lubonka traurig.

»Wie es gerade kommt. Ein Theil von ihnen geht zu Grunde und verliert sich in der Menge; ein anderer Theil versorgt ferne Länder, die Galeeren, und verschafft den Nachrichtern Praxis. Natürlich kommt das nicht auf einmal – zunächst werden sie Wirthshaushelden und Spieler, dann je nach ihrem Beruf Touristen auf der Landstraße oder in kleinen Quergassen. Auch geschieht es wohl, daß plötzlich auf der Straße ein schriller Ruf ertönt – dann werden die Decorationen vertauscht: der Räuber Jermak verwandelt sich in den Eroberer Sibiriens. Am seltensten jedoch werden friedliche, gute Menschen aus ihnen; am häuslichen Herde fühlen sie sich von aufregenden Gedanken beunruhigt. Und in der That, seltsame Dinge gehen dem Menschen durch den Kopf, wenn er keinen Ausweg mehr weiß, wenn der Drang nach Thätigkeit sein Gehirn mit krankhaftem Stoff erfüllt, das Gehirn, das Herz, in krankhafte Gährungen versetzt, wenn man die Hände müßig in den Schoos legen muß . . . und doch sind die Muskeln so gesund, und durch die Adern rollt eine solche Fülle von Blut . . . nur eines vermag dann den Menschen zu retten und ihn ganz zu erfüllen . . . das ist die Begegnung . . . die Begegnung eines –«

Er sprach es nicht aus.

Lubonka erbebte.

»Ist das ein Wirrkopf!« bemerkte Krupoff, »was er da nicht alles zusammengeredet hat. Ein Chaos, ein wahres Chaos! Na, das muß ich sagen, ein prächtiger Candidat für einen Assessor- oder Kreisrichterposten!«

Alle lachten.


 << zurück weiter >>