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Morgen und der Lichtglanz der Sonne über dem Meer. Am vorigen Abend hatte Conquest Lhassa mitgeteilt, daß am Morgen das Land in Sicht käme; deshalb war sie frühzeitig auf Deck, in der Erwartung, die Umrisse der Küste zu sehen, aber immer noch verschmolz die blaugoldene See mit dem fleckenlosen, brennenden Himmel.
Den ganzen Vormittag saß sie unter dem Sonnenzelt. Conquest und sie waren sich seit jener Nacht, wo er ihr von Indras Gefährtin erzählt hatte, ausgewichen. Eine gespannte Zurückhaltung herrschte zwischen ihnen ... Gerade um die Mittagszeit erschien ein Saum am Horizont, den Lhassa zitternd vor Aufregung allmählich zu einer grünen Rinde sich ausbreiten sah. Beim Lunch teilte ihr Conquest mit, daß die Yacht gegen drei Uhr auf zwei Meilen an Land heran sei und dann an der Küste entlang nach Sadok fahre. Nach der Mahlzeit ging sie wieder auf ihren Platz.
Als die Schiffsglocke fünf Uhr schlug, suchte Conquest sie auf, aber nur für einen Augenblick.
»Borneo«, sagte er mit einer weitausholenden Geste. »Land aller Knabenträume, der Dschungels und Sumpfpfade, der Orang-Utangs und Kopfjäger!«
Er hatte ihr ein Marineglas gegeben, und wie ein märchenhaftes Festland, das aus dem Nebel hervortrat, bekam sie Borneo in das Gesichtsfeld.
Weißer Strand und schäumende Brandung; grüne Dschungels und blaue Rinnen im Buschwerk, wo Pfade landeinwärts führten.
Im Hintergrund stiegen blaugraue Türme auf. – Berge, deren dunstige Ketten sich in den blendend prächtigen Farben des Himmels verloren; ihre Basis schien losgelöst, ihre Spitzen freischwebend wie Luftreiche. Eine Küstenbrise brachte einen Duft wie Balsam, einen weichen und sinnlichen Gruß.
Lhassa empfand eine Art fröhlicher Entdeckerlust. Und doch, sonderbarerweise, erschien ihr die Landschaft vertraut; gerade nur ein Aufflackern – eine Hand, die den Staub von Jahrhunderten von einem Spiegel wischte, und schon war er wieder verhüllt. –
Lhassa schaute durch das Fernglas, bis ihr die Augen flimmerten; sie legte sich in den Stuhl zurück und träumte von Reichen, die hinter den Bergen begraben liegen, von Rassen, deren Geschichte mit ihnen gestorben war, und die der Welt nur ein Vermächtnis voller Geheimnisse hinterlassen hatten.
Am späten Nachmittag, kurz vor Sonnenuntergang, fuhr das Schiff am Kap herum und lief in einen kleinen Hafen ein. Bäume standen schwarz und düster gegen einen blutroten Horizont. Auf der einen Seite der zierlichen Bucht zogen sich Klippen am Strande hinauf, deren Kämme üppig mit Palmen bewachsen waren. Mit dem Marineglas entdeckte Lhassa, daß ein Fluß in den Hafen münde; auf der linken Seite der Mündung standen Reihen von Hütten auf Pfählen und hinter ihnen weißgetünchte Häuser. Am anderen Ufer bei einer niederen Landungsbrücke sah man, wie es schien, eine Reihe von Warenschuppen. Sie erkannte mehrere Leute am Dock sowie halbnackte Zwerge.
Eine Gestalt stand abseits, ein Mann in weißem Gewände.
Conquests Erscheinen unterbrach die weitere Beobachtung.
»Ich komme, um Ihnen vorzuschlagen, alles, was Sie gleich brauchen, in eine Handtasche zu packen; das größere Gepäck wird am Morgen gebracht. Ich werde sofort an Land gehen. Der Kapitän wird Sie begleiten, sobald Sie bereit sind, und ich werde Sie erwarten. Dort droben,« er deutete auf das Kap – »in dem Palmenhain, ist der Palast, wo ich den ›Rajah von Kawaras‹ spiele. Ich nenne ihn ›Malayenhaus‹«.
Sie wiederholte den Namen. Er hatte gesagt, Sadok sei der Hafen von Kawaras, ein Handelsplatz, also mußten zweifellos noch andere Leute in der Nachbarschaft wohnen. Und sein Haushalt – gehörte Garon dazu? Sie zitterte vor Spannung. Malayenhaus, Geheimnis schon im Wort. Was, wen würde sie dort finden? Die Bande des »Schwarzen Papageis«? Ein dumpfer Kanonenschuß rollte über das Wasser.
»Ein Salutschuß für Tuan Rajah«, erklärte er lächelnd.
Gleich darauf ging der Anker nieder. Lhassa blieb an Deck, während Conquest sich ans Land rudern ließ. Die Gestalten bei den Warenlagern waren schattenhaft geworden bis auf eine, den Weißgekleideten. Er schien in der Dunkelheit zu schweben, wie ein von der Erde unabhängiges Wesen. Voller Neugierde beobachtete sie ihn, als er auf Conquest zuging. Garon? ...
Sie fühlte Angst, als man ihr die Schiffsleiter hinab in ein Boot half. Die Nacht war drückend schwül, wie ein Gefängnis.
Conquest wartete auf sie am Dock, wie eine freundliche Erscheinung in einer feindseligen Welt, und sie vergaß die Spannung, die zwischen ihnen war. In seiner Begleitung befand sich ein Mann, den sie zuerst für den Weißgekleideten hielt, der sich aber als ein beturbanter Ostindier erwies, offenbar ein Diener, denn er nahm ihr die Handtasche ab. Als sie weitergingen, Conquest voran als Führer mit einer Laterne, hatte sie den Eindruck, als ob der Ostindier ihr mit Absicht zulächelte. Warum? Sie fühlte sich etwas unbehaglich und starrte verdutzt auf seinen Turban.
Der unangenehme Geruch in der Luft, erklärte Conquest, rühre von dem Sago in den Lagern her. »Die Plantage liegt flußaufwärts, nahe beim Dorf des Sultans«, fügte er hinzu.
Er sprach nicht mehr, bis sie eine Buschwand erreichten und vor ihnen eine zerrissene Linie von Dächern über dem tieferen Dunkel von Bäumen sich abzeichnete.
»Malayenhaus«, erklärte er, »oder die Astana, wie die Eingeborenen es nennen und was Palast bedeutet.«
Das Haus war hoch und weiß, eine Allee führte im Bogen darum zu einer gedeckten Säulenhalle. Mehrere Malayen standen beim Eingang. »Tuan rajah baik?« fragten sie gleichzeitig, worauf Conquest ernst nickte. Im Inneren war Lhassas erster rascher Eindruck der von Geräumigkeit und weißen Wänden. Der Ostindier war verschwunden, ein malayischer »Boy« hatte ihre Handtasche.
»Wir speisen um acht Uhr«, sagte Conquest. »Wenn Sie lieber –«
»Wir?« unterbrach sie.
»Ja, mein Oberaufseher und ich.«
»Ein Weißer?«
»Natürlich.«
»Sonst niemand?«
Er schüttelte den Kopf. Sie entschloß sich rasch.
»Ich werde um acht Uhr bereit sein.«
»Dies hier sind Ihre persönlichen Boys.«
»Wächter«, dachte sie, als sie eine Stiege hinauf und über einen dunklen Korridor gingen. Der eine Malaye öffnete eine Tür und machte Licht; der andere brachte die Handtasche herein. Der Raum war groß und weiß, die Möbel grün gebeizt; eine Fenstertür ging auf eine Veranda hinaus.
Als die Boys fort waren, blieb sie mitten im Zimmer stehen und dachte nach. Gefangen; abgeschnitten von der Welt; Glück ihr einziger Bundesgenosse. Es machte ihr angst, aber bestärkte auch ihre Entschlossenheit, jede Gelegenheit auszunützen. Unter anderem wollte sie herauskriegen, warum der Ostindier gelächelt hatte. In dem Oberaufseher, der wohl der weißgekleidete Mann am Dock war, ahnte sie einen Verbündeten. Plötzlich, ohne Ursache, dachte sie an Garon. Was war mit ihm? War er in Sadok oder in Saigon?
Kurz vor acht Uhr begab sich Lhassa in die große Halle hinab. Ihre Fingerspitzen waren kalt und eine leise Anwandlung von Schwindel, die Folge unterdrückter Erregung, ließ ihre Augen flimmern. Conquest und mit ihm ein Mann in weißem seidenen Anzug warteten. Sie konnte beide Männer zuerst nur undeutlich sehen.
»Miß Camber,« begann Conquest, »dies ist mein Oberaufseher – Tuan Muda nennen ihn die Malayen. Tuan Muda bedeutet ›Junger Lord‹.« Das Schwindelgefühl war weg und Lhassa sah ein glattrasiertes, dunkelbronzenes Gesicht. Der Mund war nervös, fast hart, die Augen ruhig und sicher; grüne Augen, die ihren Blick ziemlich arrogant erwiderten. Dieser Ausdruck hatte, wie sie schnell bemerkte, seine Ursache in einer Narbe an seiner Schläfe, die wie ein weißer Halbmond seine linke Augenbraue schräg hinaufzog. Sie wurde sich sofort seines bewundernden Blickes bewußt. Er verbeugte sich leicht bei der Vorstellung, sagte aber nichts. Es war eine verlegene Situation und Conquest behob sie rasch mit der Ankündigung, das Dinner sei bereit.
Während des ganzen Essens war Lhassas Augenmerk auf Tuan Muda gerichtet. Er hatte etwas unbestimmbar Bekanntes an sich, einen Zug, der mehr in seinem Wesen als in seinem körperlichen Aussehen lag. Seine langen geschmeidigen Hände riefen ihr ins Gedächtnis, wie Barthélemy Garon geschildert hatte. Aber Tuan Muda konnte nicht Garon sein. Garon hatte ja einen buckligen Rücken. Tuan Muda – Junger Lord. Wer war er? Hatte sie ihn früher irgendwo gesehen oder bildete sie sich nur ein, daß er ihr bekannt vorkomme? Sie dachte daran, daß sie, bevor sie ihn kennenlernte, in ihm die Möglichkeit eines Hilfsmittels erblickt hatte. Sein Gesicht stellte einen Typ dar, der nicht leicht, weder durch Schmeichelei noch durch Zwang zu beeinflussen ist.
Er sprach nur, wenn Conquest ihn anredete; in seiner Aussprache war kein Akzent, aber eine Deutlichkeit, die verriet, daß er kein Angelsachse war. Er nahm anscheinend wenig Notiz von ihr. O ja, sie kannte den Typ. Oberaufseher, eine Stellung, für die er gut paßte. Ein Menschentreiber, streng, hart in seinem Urteil gegen alle, sogar gegen sich selbst. Welche Geheimnisse, fragte sie sich, waren hinter seinem bewegungslosen Gesicht verborgen? Welche Rolle spielte er in Conquests Plänen? Er war sicherlich ein Genosse, denn seine Persönlichkeit hatte nichts von einem Untergebenen. Als sie ihn betrachtete, wurde sie plötzlich von dem Wunsch ergriffen, ihn ihrem Willen zu unterwerfen, ihm seine Geheimnisse abzutrotzen und ihn anzutreiben, wie sie glaubte, daß er andere treibe.
Nach dem Essen zog man sich in ein Lesezimmer zurück, wo die Herren Rotwein tranken und Zigarren rauchten; Lhassa wollte zuerst gleich auf ihr Zimmer gehen, aber Neugierde bestimmte sie, zu verweilen; sie tat so, als ob mehrere, in schweres Leder gebundene Bände sie interessierten. Jedoch die Unterhaltung der Beiden ergab für sie nichts von Bedeutung. Conquest fragte nur nach geschäftlichen Dingen und Tuan Muda beantwortete jede Frage kurz und bündig.
Sie wollte eben weggehen, als Conquest sich an sie wandte.
»Miß Camber, ich möchte Ihnen gern etwas von meinen Sammlungen zeigen; ich habe recht interessante Kostbarkeiten, wissen Sie.«
Er nahm vom Tisch einen Kupferleuchter und Lhassa schloß sich ihm an. Er schlug die Draperien eines Eingangs zur Seite, ebenso die eines zweiten Gemaches, das er Damaskuszimmer nannte.
»Das ist der chinesische Raum.« Er war voll von auserlesenen Möbeln, Kunstwerken und kunstgewerblichen Erzeugnissen und Waffen. Er erklärte ihr alles. Unter den vielen Kostbarkeiten fiel Lhassa ein Wandteppich in Rosa, Blau und Grün durch seine kühnen Farben ins Auge; sie musterte sein ausgesucht feines Gewebe.
»Ein Ispahan aus dem sechzehnten Jahrhundert«, belehrte sie Conquest; »eine Hinterlassenschaft der Sufidynastie. Ich habe ihn aus einer Moschee in Täbris. Ein richtiges Abenteuer ist damit verbunden.«
Sie hob eine Teppichecke auf, um mit der Hand über das alte Gewebe zu fahren; zu ihrer Überraschung sah sie, daß der Teppich da hing, um eine Tür zu verbergen.
»Das ist der Eingang zu ›Djinnees Höhle‹«, beantwortete er ihren fragenden Blick. »Sie ist tabu – auch für meine Dienerschaft. Darinnen bewahre ich meine kostbarsten Schätze – und meine Vergangenheit. Oh, sie ist gut verschlossen und der Schlüssel wohl verwahrt!«
Er lächelte schrullenhaft, aber das Kerzenlicht, das über sein weißes Gesicht flackerte, verriet eine unterdrückte Bitterkeit.
Er drehte sich rasch um und nahm einen kleinen Dolch aus einem Schrank.
»Diesen ›Tröster‹ habe ich in Smyrna aufgestöbert«, sagte er ablenkend. »Sehen Sie die Schneide; sie hat innen eine Rinne und ist mit kleinen Löchern versehen für das Gift. Solche Dolche benutzte man zur Zeit der Kreuzzüge, um einem gefallenen Ritter den Todesstoß zu geben.« Er balancierte die Waffe auf seiner Handfläche. »Wenn ich landeinwärts reise, trage ich ihn bei mir für den Fall, daß einer der Dyakstämme sich plötzlich entschlösse, mehr Köpfe in seinem Gemeindehaus aufzuhängen. Selbstverständlich nehme ich auch die Pistole mit, aber nicht für mich selbst. Nein, durch die Spitze eines ›Trösters‹ zu sterben, ist romantischer als erschossen oder geköpft zu werden. Übrigens erwarte ich nicht den Dolch gebrauchen zu müssen, da die Dyaks jetzt ein friedliches Völkchen sind – besonders die von Kawaras und Sarawak. Die Malayen geben mir mehr Anlaß zu Sorge und Ärger als die Dyaks. Sehen Sie, als ich Kawaras in Besitz nahm, mußte sich der Sultan zu gewissen Bedingungen bequemen, die ihm nicht gefielen. Darum verlegte er auch seinen Hof von Sadok weg nach einem Ort flußaufwärts, in der Nähe des Forts; das Fort liegt auf der Plantage, wissen Sie. Sein Palast, wo er den Sultan spielt, ist nach malayischer Art mit Palisaden umsäumt; über seinem Dorf sind eine Anzahl von Gemeindehäusern der Seedyaks gebaut. Es ist der übliche Hof des fernen Ostens, wie in der komischen Oper: Intrigen, Eifersuchtsgeschichten, Verschwörungen und Gegenverschwörungen. Der Vetter des Sultans, Nakoda Mubin, der Befehlshaber der Armee, trachtet nach dem Thron. Er ist ein anständiger Bursche, gern bereit, sich der britischen Oberherrschaft zu unterwerfen. Aber der Sultan hegt unversöhnlichen Groll. Jedoch er wagt nicht, mehr zu tun als in Wut zu schäumen, weil er weiß, daß Nakoda Mubin über die Streitmacht verfügt, und weil er fürchtet, ein Zerwürfnis mit dem Rajah könnte ihn seinen Thron kosten.«
Lhassa hörte zu, aber die ganze Zeit über dachte sie an die verhüllte Tür. Die »Djinneeshöhle« hatte er sie genannt. »Darin bewahre ich meine Vergangenheit.« Seine Vergangenheit! Sie faßte sofort den Entschluß, den tabu-Raum zu ergründen; sie würde einen Weg schon finden; eine Eingebung sagte ihr, daß hinter dieser Tür das Geheimnis seiner narbigen Handgelenke – und seines vernarbten Herzens liege.
Conquest lenkte seine Schritte wieder der Bibliothek zu, er machte aber halt und wandte sich ihr zu.
»Wir können auch jetzt eine Abmachung treffen«, erklärte er. »Die Grenzlinien Ihres Gebietes sind die Klippen im Osten und Süden und die Warenschuppen im Norden; es ist unnötig, Ihnen das Betreten des Dschungels zu verbieten. Ich halte es nicht für klug, Sie über den Fluß hinüber zu lassen; wenn Sie jedoch Interesse für das Malayendorf und den chinesischen Basar haben, will ich Ihnen eines Tages einen Besuch ermöglichen. Sehen Sie, Tuan Muda und ich sind die einzigen Weißen in Sadok; meine Angestellten sind Chinesen und Klings. Ein Wort über die Diener: ich habe ihnen erklärt, Sie seien eine Ranee von jenseits des Wassers, sehr mächtig in Ihrem Lande, aber« – lächelte er – »nicht so mächtig wie ich. Das ist natürlich Diplomatie. Nun geben Sie mir Ihr Wort, daß Sie innerhalb der Grenzen bleiben werden?«
Sie gab es bereitwillig, denn sie war der Meinung, sie habe vorläufig genug des Interessanten im Malayenhaus und seiner Umgebung.
In der Bücherei saß noch Muda, rauchte und legte Patience; er stand bei ihrem Eintritt auf, aber sie begab sich ohne weiteres hinauf in ihr Zimmer.
Dort sank sie in einen großen Korbsessel und dachte nach, über Conquest, den verbotenen Raum und Tuan Muda; hauptsächlich über Tuan Muda. Es war etwas herausfordernd Mysteriöses an ihm. Seine Gleichgültigkeit empörte sie, aber, sonderbar, ihr feindseliges Gefühl hatte einen Beigeschmack von Bewunderung.
Sie war sich klar, daß er nicht leicht durch weibliche Reize zu besiegen sei. Sie ärgerte sich darüber und beschloß ganz kaltblütig, ihn in einen Zustand der Knechtschaft zu versetzen.
Lhassa war sich ihrer Schönheit bewußt; aber sie war nicht übermäßig eitel. Sie betrachtete körperliche Vollkommenheit als ein Hilfsmittel, das man nicht vernachlässigen, aber auch nicht mißbrauchen dürfe. Zu ihrem Glück besaß sie einen Sinn für das richtige Verhältnis aller Dinge, so daß sie nie einen Verstoß beging in der Unterscheidung zwischen dem, was unverantwortlich, und dem, was im Grunde anständig, wenn auch ungewöhnlich war.
Conquests Sammlungen gaben ihrem Argwohn neuen Stoff. In Bangkok hatte sie gehört, der »Schwarze Papagei« sei berüchtigt als Dieb von Kunstschätzen und Antiquitäten und verkaufe sie an Sammler. War es da nicht glaubhaft, daß entweder Garon oder Tuan Muda der »Schwarze Papagei« sei – der für Conquest arbeite. Die aus Cayenne entkommenen Sträflinge paßten in diese Verdachtskette; sie waren Mitglieder seiner Bande. Es war möglich, erwog sie, daß der »Schwarze Papagei« eine Organisation und nicht eine Einzelperson sei, aber das schien ihr keine überzeugende Mutmaßung. Von den beiden, Garon oder Tuan Muda, hielt sie den ersteren für den Verdächtigeren. Sie glaubte, daß er den Smaragd-Buddha für Conquest gestohlen und Dr. Garth getötet habe beim Versuch, auch ihn zu berauben. Garon, versicherte sie sich selbst, war zweifellos Letourneau, der Straßenräuber, der von Cayenne entsprungen und anderen dazu verholfen hatte. Aber Tuan Muda? Ein Geheimnis, ein recht aufreizendes Geheimnis.
Während des Auskleidens dachte sie immer noch an Tuan Muda, und ein Lächeln, als ob sie etwas voraussehe, umspielte ihre Lippen.
Sie konnte lange keinen Schlaf finden; all die Erlebnisse der letzten sechs Wochen, die Geschichte des »Schwarzen Papageis«, der Bajadere von Angkor und viele Gesichter und Szenen gingen ihr im Kopf herum.
Als sie endlich einzuschlummern begann, fuhr sie plötzlich erschrocken auf. Die Ursache war ein Geräusch, ein Klopfen, Tappen oder etwas Ähnliches. Aber, als sie lauschte, hörte sie nur ihr eigenes verstärktes Herzklopfen. Nach einigen Augenblicken entschied sie dahin, aber ohne recht überzeugt zu sein, daß sie geträumt haben müsse, und ließ sich auf das Kissen zurückfallen.
Crr-rr-atsch! klang es plötzlich wieder, ganz deutlich; es kam von der Veranda.
Sie lag regungslos, scharf horchend. Wieder: Crr-rr-atsch!
Kein Irrtum, von der Veranda. Einen Moment war sie unschlüssig, dann schwang sie sich ruhig aus dem Bett; an der Glastür hielt sie und schaute hinaus. Graue Finsternis, Sterne und Schatten von Bäumen; kein Geräusch außer dem Rascheln von Blättern.
Sie machte einen Schritt und hielt ein. Das Ende einer Stange war draußen am Gitter der Veranda erschienen und kratzte daran. Als es hinab verschwand, ging sie furchtlos vorwärts. Durch das Gitter hinabblickend, konnte sie eine dunkle Gestalt erkennen. Es war ein Mann, der senkrecht eine mindestens vier Meter lange Stange hielt.
Ihr Auge unterschied ferner das Oval eines Gesichts und einen weißen Turban. Der Ostindier!
Als sie ihn beobachtete, hob er die Stange, wie um ein Zeichen zu geben, in die Höhe, dann ließ er sie plötzlich fallen, rannte davon und verschwand hinter dem Haus. Fast im gleichen Augenblick wurde eine andere Gestalt, ganz in Weiß gekleidet, sichtbar, die von der entgegengesetzten Richtung her auf den Fleck zueilte, wo die Stange lag. An der Größe und den breiten Schultern erkannte sie Tuan Muda; er blickte zu ihr hinauf, und sie trat zurück. Ihr Herz klopfte laut. Kaum eine Sekunde stand er da, aufwärtsblickend, dann verschwand er im Dunkel wie die erste Gestalt.
Lhassa wartete mehrere Minuten; als sich nichts mehr ereignete, schlich sie in ihr Zimmer zurück. Am Rand ihres Bettes sitzend, hielt sie sich das, was sie gesehen, nochmals vor Augen. Warum hatte der Ostindier am Gitter gekratzt. Offenbar um ihr etwas zu sagen, und offenbar hatte Tuan Mudas Erscheinen ihn weggeschreckt. Und was hatte der Ostindier zu dieser Stunde noch herumzustreifen; sie zündete ein Streichholz an, es war zehn Minuten vor elf Uhr.
Wieder legte sie sich nieder; sie war nicht ängstlich, nur verwirrt, und wacher als zuvor. Am Morgen wollte sie den Ostindier befragen und auch Tuan Muda, beschloß sie. Bis dahin brauchte sie Schlaf; aber auch dann, als er sich endlich einstellte, wurde ihre Ruhe durch seltsame Träume und halbbewußte Halluzinationen gestört.
*
Beim Frühstück auf der kühlen Terrasse durchdachte sie wieder den Vorfall der Nacht; als Beweisstück lag die Stange drunten im Gras.
Danach ging sie durch das Haus, das ihr bei Tag noch viel geräumiger vorkam, hinab in die Säulenhalle; durch die Bäume hindurch sah sie einen blauen Wasserschimmer; in dieser Richtung schätzte sie, mußten die Klippen liegen.
Während sie in der Säulenhalle stand und die Gegend betrachtete, kamen zwei Malayen, jeder mit Jacke, Sarong und Kopftuch angetan, hinter dem Hause hervor; sie erkannte die Boys, die ihr zugeteilt waren.
Wo Mister Conquest sei, fragte sie.
Der Tuan Rajah sei bei den Depots, erwiderte der eine.
Und Tuan Muda auch?
Ja.
Sie fragte dann, wo sie den Ostindier finden könne, der vorigen Abend ihre Handtasche hergebracht hätte.
Der Sprecher antwortete, er habe Abdulla Khan seit dem frühen Morgen nicht gesehen. Jedoch Tuan Muda würde es wissen; Abdulla sei der Diener des »Jungen Lords«.
»Warum nennt ihr ihn Tuan Muda?« forschte sie. »Wie heißt er eigentlich?«
»Wir nennen ihn Tuan Muda,« sagte der Malaye mit Würde, »weil er Tuan Muda ist, der Junge Lord und Berater des Tuan Rajah. Er hat keinen anderen Namen.«
Sie machte keinen weiteren Versuch, aus den Malayen etwas herauszubekommen, sondern machte sich auf den Weg zu den Depots.
In einiger Entfernung vom Hause warf sie einen Blick nach rückwärts und sah die Boys ihr folgen. Verärgert wartete sie, bis sie ihr nachgekommen waren.
»Geht zurück,« befahl sie, »ich wünsche allein zu gehen.«
»Es ist Befehl des Tuan Rajahs, daß wir Ihnen folgen«, wurde sie gelassen belehrt. »Ahmad und Pangku sind gehorsam, Rajah Ranee.«
Erbitterung stieg heiß in ihr auf; aber sie wäre noch entrüsteter gewesen, hätte sie die Bedeutung des Titels »Rajah Ranee« verstanden.
»Er hat mir gesagt, ihr seid meine Diener«, erklärte sie gebieterisch. »Wem habt ihr in diesem Falle zu gehorchen, ihm oder mir?«
»Der Tuan Rajah ist Herr von Kawaras«, war die Erwiderung des Malayen.
Ärgerlich verzichtete sie auf weitere Auseinandersetzungen und setzte ihren Spaziergang fort.
Der Geruch des Sago drang zu ihr, als sie sich den Gebäuden mit Zinkdächern näherte. Braune nackte Männer, nur mit Sarongs um die Hüften, waren an der Arbeit am Dock und drüben, über dem Fluß, in dem blendenden Sonnenlicht nur dunstig sichtbar, waren andere Gestalten. Mehrere Kanus glitten, gekräuselte Furchen hinter sich lassend, in der Mitte des Flusses. Ein großer Mann, braun wie sein Korkhelm, stand im Eingang des letzten Depots. Sie erkannte ihn.
»Warten Sie«, rief sie; denn sie sah, wie er sich umdrehte und hineingehen wollte. »Ich möchte mit Ihnen sprechen.«
Tuan Muda blieb stirnrunzelnd stehen. Er trug braune Drillichbreeches und Gamaschen, sein Seidenhemd war durchgeschwitzt. Die Tatsache, daß er seinen Helm nicht abnahm, wirkte wie Öl aufs Feuer ihrer Stimmung. Sie wußte wohl, daß die Männer in der tropischen Sonnenhitze den Kopf nicht entblößen, aber sie wollte keine Rechtfertigung dafür haben, was sie nun einmal für Mangel an Ritterlichkeit halten wollte.
»Wo ist Mister Conquest?« fragte sie.
»Drüben, über dem Fluß«, erwiderte er nachlässig. Seine Daumen hatte er unter den Gürtel geschoben; die Finger klopften auf die Hüften; sie bemerkte seine Nervosität und schrieb sie seiner Ungeduld zu.
Über die Schulter zurückblickend, sah sie Ahmad und Pangku nur einige Meter entfernt.
»Wollen Sie die beiden wegschicken? Ich bring' es nicht fertig – und ich möchte mit Ihnen allein sprechen.«
Er lüftete seinen Helm und fuhr mit den Fingern durch lockiges, rötliches Haar, das dort, wo die Sonne darauffiel, golden glänzte.
»Was könnten Sie zu sagen haben« – er setzte die Kopfbedeckung wieder auf – »was sie nicht hören dürften?«
Jäher Zorn trieb ihr das Blut in die Wangen.
»Sprechen Sie über Ihre Angelegenheiten in Gegenwart von Dienern?«
Er zuckte die Achseln. »Es ist oft sicherer als mit Freunden«, betonte er anzüglich. Dennoch rief er den Eingeborenen in ihrer Sprache einige Worte zu, worauf sie sich sofort davon machten. Ihr rascher Gehorsam auf seinen Befehl wirkte demütigend auf sie.
»Nun?«
Sie wartete absichtlich einen Augenblick, um ihre Wut zu dämpfen, dann fing sie an:
»Ich sah, was gestern abend unter meiner Veranda vor sich ging. Vielleicht können Sie es mir erklären?«
»Erklären?« Er zog seine Augenbrauen in die Höhe. »Was ist da zu erklären?«
»Warum Sie dort waren und was Sie machten?« fuhr sie ihn an.
»Sind Sie sicher,« entgegnete er, »daß Sie ein Recht auf Erklärung haben? Wie wollen Sie es wissen, ob dieser kleine nächtliche Zwischenfall Sie etwas angeht?«
»Ich wurde durch jemand geweckt, der am Gitter der Veranda kratzte und ich sah den Ostindier unten. Er kam offenbar mit der Absicht, mir etwas zu sagen, aber Sie verhinderten es. Wenn Sie es mir nicht erklären, werde ich ihn fragen und –«
»Er ist mein Diener!« warf Tuan Muda scharf ein.
»Das schließt nicht absolut aus, daß er etwas sagt, wenn man ihn richtig zu nehmen weiß.«
Er lächelte leicht mit einem Ausdruck, der momentan seine strengen Züge milderte.
»Nein,« stimmte er zu, »aber Abdulla hat Kawaras heute morgen verlassen.«
»Sie haben ihn absichtlich fortgeschickt?« fuhr sie auf.
»Ja, ich tat es, weil ich es für klüger hielt.«
Um einen Wutausbruch zu unterdrücken, zwang sie sich zum Schweigen. Sie schaute ihn einen Moment mit flammenden Augen an und eilte weg. Aber, als sie sich bewußt wurde, daß er das letzte Wort gesprochen hatte, machte sie kehrt.
»Sie hatten Angst,« warf sie ihm vor, »daß ich erfahren würde, warum er kam. Deshalb haben Sie ihn fortgeschickt – deshalb wollen Sie jetzt nichts erklären.«
»Nein«, erwiderte er ruhig. »Nein, das ist nicht der Grund. Es hat gar keinen Sinn, es erklären zu wollen. Wenn ich so unvorsichtig wäre, Ihnen die Wahrheit zu sagen, würden Sie mir nicht glauben, und wenn ich lügen würde ... Aber weshalb sollte ich lügen? Darum ist es unter diesen Umständen besser, Schweigen zu bewahren.« Damit ging er in das Warenlager hinein. Am liebsten wäre sie ihm gefolgt, hätte ihn bei den Schultern gepackt und geschüttelt – oder geschlagen. Sie haßte Tuan Muda. Aber selbst in ihrem Zorn war sie sich bewußt, daß ihr Groll nicht einer Antipathie, sondern der natürlichen Erbitterung gegen sein Verhalten entsprang.
Sie ging zur Landungsbrücke und betrachtete das Leben auf dem Flusse; es reizte sie, in einem Kanu den Fluß aufwärts zu rudern, um ihre schlechte Laune zu vertreiben.
Eine lange Proa, wie die Malayenfahrzeuge heißen, glitt vom jenseitigen Ufer ab; sie war mit vielen Ruderern bemannt. Am Heck saß unter einem gelben Sonnenschirm eine Gestalt in Weiß, in der sie Conquest erkannte. Sie überlegte, ob sie bleiben oder heimkehren sollte. Die Neugierde siegte.
Beim Anlegen der Proa grüßte Conquest, dem man ehrerbietig heraushalf, wobei ein großer, schwerfälliger Mensch mit goldbetreßter Jacke und seidenem Sarong den Sonnenschirm über ihn hielt.
»Sie sehen mich zum erstenmal in Staatsgeschäften«, sprach er sie an. »Ich habe eben meine amtliche Rundfahrt gemacht. Ein höllischer Sport an einem so heißen Tage.«
Sie überlegte, ob sie von dem Vorfall unter ihrer Veranda und ihrer Unterredung mit Tuan Muda etwas sagen solle; entschied sich aber dagegen.
»Es ist sehr eindrucksvoll«, bemerkte sie kühl mit einem Blick auf sein Gefolge. »Machen Sie die Rundfahrt jedesmal in dieser Art?«
»Ja,« lächelte er, »es ist ein Opfer, das man für die Souveränität bringen muß. Doch, dieses bißchen Prunk ist noch gar nichts; morgen werden Sie Augenzeugin eines wirklich theatralischen Aufzuges sein. Ich habe soeben von Salazar, meinem Verwalter auf dem Fort, die Zusicherung erhalten, daß er und Abu Hassan, der Sultan, morgen vormittag ankommen, um mir einen offiziellen Besuch abzustatten. Der alte Gauner wird mit zehn oder mehr Kanus und einer, weiß Gott, wie zahlreichern Eskorte von Malayen und Dyaks erscheinen. Die Gelegenheit verlangt ein Fest; ich habe deshalb für morgen abend eine große Vorstellung angeordnet. Sie werden sehen, es wird sehr interessant werden. Ich sehe« – sein Blick spähte hinter sie – »daß Sie richtig bedient werden.« Sie wußte, ohne sich umzusehen, daß Ahmad und Pangku hinter ihr waren.
»Es sind musterhafte Diener«, sagte sie mit eisigem Hohn. »Aber ich empfinde sie als überflüssig. Ich habe Ihnen mein Wort gegeben, daß –«
»Sie verstehen es falsch, es sind Wächter; Sie vergessen wohl, daß Sie nicht in einem zivilisierten Lande sind. In diesem Falle muß Ihnen mein Urteil mehr gelten als das Ihre. Überdies erwarten diese primitiven Völker einen gewissen Aufwand an Zeremoniell von denen, die den Anspruch machen, etwas Höheres zu sein. Jede Dame von Rang muß Begleiter haben.«
Sie war nahe daran, scharf zu entgegnen, lächelte aber statt dessen nur auf eine Weise, die alles bedeuten konnte, und entfernte sich in der Richtung auf das Malayenhaus.
*
Als Lhassa kurz vor acht Uhr in die Bibliothek hinabging, fand sie dort Tuan Muda lesend bei einer Lampe sitzen, sie kehrte um und ging ungeachtet der Moskitos auf die Veranda, bis es zum Dinner läutete. Sie wäre lieber in der vertrauten Umgebung ihres Zimmers geblieben, aber sie wußte, daß sie nur im Verkehr mit ihren »Eroberern« (ein eigenartiger Ausdruck, dachte sie) deren Geheimnisse in Erfahrung bringen konnte.
Zu ihrer ärgerlichen Überraschung war Conquest nicht im Speisezimmer. Tuan Muda gab ihr eine dürftige Erklärung darüber, als sie ihn fragte. Der Rajah – es war eine leichte Betonung in seiner Stimme, als er den Titel aussprach – sei auf das andere Flußufer hinübergerufen worden.
Es war eine scheuverlegene, schweigsame Mahlzeit. Er schien ihre Anwesenheit zu dulden und sie tat so, als ob sie ihn ignoriere. Lhassa atmete erleichtert auf, als das Essen beendet war. Tuan Muda schlenderte hinaus und sie zog sich in die Bibliothek zurück, von wo sie ihm nachsah, wie er in der Dunkelheit zwischen Bäumen verschwand.
Sie war mehr betrübt als zornig, und zum erstenmal in ihrem Leben faßte sie unbewußt den Entschluß, einen Mann zu erobern, um ihre Eitelkeit zu befriedigen. Es war ein kalter, berechnender Wunsch, der durch seine kränkende Gleichgültigkeit, wie sie es bezeichnete, erweckt wurde. Sie nahm sich vor, Tuan Muda zu unterwerfen, selbst auf die Gefahr hin, ihn zu beleidigen. In den einleitenden Gefechten (der Feldzug hatte, wie sie sich versicherte, eben erst begonnen) hatte sie Mißerfolg gehabt; aber diese Niederlage feuerte ihre Energie erst recht an. Sie entschloß sich, ihre Offensive ohne Verzug zu beginnen.
Sie eilte aus dem Hause, den Pfad entlang, den er gegangen. Er führte gegen den Kamm des Vorgebirges und sie konnte das melancholische Klagelied der See hören. Tuan Muda merkte ihr Kommen erst, als sie unmittelbar hinter ihm war; offensichtlich bestürzt, drehte er sich rasch herum. Er sagte nichts, hörte nur auf zu rauchen und blickte sie forschend an.
»Sie sind sich doch,« begann sie kühl, »nicht im Zweifel, daß ich Ihnen nicht zufällig gefolgt bin.« Sie machte eine Pause, dann platzte sie heraus: »Ich bin gekommen, um meine Neugierde zu befriedigen; mit anderen Worten, um herauszubekommen, warum Sie tun, als ob ich ein Möbelstück wäre, ein unangenehmes noch dazu. Es muß einen bestimmten Grund haben. Haben Sie Angst vor Frauen? Oder sind Sie einfach grob?«
Er warf seine Zigarette weg, bevor er antwortete:
»Angst? Nein, ich habe keine Angst vor Frauen. Was die Grobheit anlangt, nun, vielleicht haben Sie recht. Aber in diesem Falle rührt sie von Ungeduld her. Zum Donnerwetter; Sie sind im Wege!«
»Bin ich für meine Anwesenheit in Sadok verantwortlich?« fragte sie und fand sich in die Defensive geworfen.
»Indirekt schon. Als Sie den Entschluß faßten, sich einzumischen, mußten Sie darauf gefaßt sein, daß Sie sich unangenehmen Konsequenzen aussetzten.«
»Ja, ich habe mich eingemischt – nachdem ein Mensch ermordet, ein blinder Mann grausam erdrosselt worden war. Ich fordere gerechte Sühne und ich bin entschlossen, sie zu erlangen.«
Sie fühlte, daß sie schwächlich und banal gesprochen hatte.
»Gerechtigkeit, Sühne!« erwiderte er. »Ich muß lachen! Sind Sie sicher, daß Ihre Fährte nicht falsch ist? Nein, und trotzdem gehen Sie darauf aus, unglückliche Menschen nach Cayenne zurückzuschicken. O Gott! Die Inkonsequenz der Frau!«
»Cayenne?« Das Blut schoß ihr ins Gesicht, als sie den Namen aussprach. »Was wissen Sie von Cayenne?«
Er lachte; es klang häßlich.
»Ich weiß,« erklärte er, »daß man es die ›Trockene Guillotine‹ nennt, auch ... nun ja. Was wissen Sie davon? ... In fünf, Monaten kann man viel lernen; fünf Monate in Cayenne. Können Sie sich einen Begriff machen, was das bedeutet? ... Folterqualen! Ich glaubte zu wissen, was Mitleid sei, bevor ich in die Geheimnisse von Guyana eingeweiht wurde, aber nach ein paar Wochen unter jenen Unglückseligen erkannte ich, daß mein Mitleidsgefühl nie altruistische Sympathie gewesen war! Sie fragen, was ich weiß? Gut! Hören Sie aufmerksam zu!«
Er zündete eine Zigarette an; in dem ambragelben Schein war sein Gesicht hart wie Bronze. Etwas von seiner Bitterkeit gegen Unterdrückung ging auf sie über. Sie fühlte, daß er eine Bresche im Walle öffnete.
»Cayenne«, wiederholte er und spie das Wort wie einen Fluch aus. »Für die größere Hälfte der Welt bedeutet es nichts; für einige Millionen bedeutet es Paprika – grimmige Komik, was? – Und für eine kleine Gruppe von Unglückseligen bedeutet es, wie Lamartine sagte, die ›Trockene Guillotine‹! ... Cayenne, o Gott! Pest und Sterben! Quelle von hundert namenlosen Seuchen. Und das Fieber! Sumpffieber! Die gelben Flüsse, die langsam auf der Erde kriechen und sogar die Luft faulig machen! Auch der Gouverneur, die Aufseher und die Militärabteilung sind so apathisch, daß es ihnen nichts ausmacht, wenn die Sträflinge infolge ihrer Unfähigkeit und mangels sanitärer Einrichtungen elend zugrunde gehen. Sträflinge sind ja Canaillen.«
Die Brandung schien seinen leidenschaftlichen Eifer anzupeitschen.
Er fuhr fort: »Was kümmert es den Herrn Gouverneur, wenn das Essen des Sträflings Nummer 61 234 von einem Aufseher weggenommen wird? Der Herr Gouverneur ist ja gut genährt. Es ist gegen die Vorschrift, Neuankömmlinge vor zehn Monaten zur Waldarbeit zu schicken; die Sonne ist für den, der nicht akklimatisiert ist, verhängnisvoll. Aber was kümmert es den Herrn Gouverneur, wenn die Vorschrift umgangen wird? In seiner Wohnung ist es ja kühl. Um Gottes willen! In einem solchen Klima darf man sich doch nicht aufregen. Und schließlich, was zählt ein Deportierter oder so ein Hund von Verbannter in der großen Rechenmaschine des Lebens? Ein Einzelteil, der leicht ersetzt werden kann! Laßt ihn im Gefängnis der Nacht ersticken. Ist er widerspenstig, dann gibt es Peitsche und Kerker. Hoch lebe Guyana!«
Er schloß mit häßlichem Lachen. Wie er so auf der Klippe stand, erschien er ihr als ein Wesen von unwahrscheinlicher Körpergröße; seine Schultern schienen einen großen Teil des Meeres zu verdecken. Er beherrschte sie als Idee, nicht als Mann. Sie brauchte einige Zeit, um mit gekünstelter Gleichgültigkeit zu bemerken:
»Sie sind starker Gefühle fähig? Nicht wahr?«
In dem bläulichen Halblicht wurden seine Züge hart und scharf.
»Gefühle!« gab er zurück. »Was wissen Sie von Gefühl? Von Mitleid? Von Haß? Bah! Ich kam dorthin mit einem Haßgefühl gegen die Unglückseligen – Bestien nannte ich sie – deren Gefangenschaft ich teilte; aber bald entdeckte ich, daß mein Haß die falsche Richtung hatte, daß jene die Bestien waren, die in Amt und Würden saßen, und nichts tun, um die Zustände in der Kolonie zu verbessern, sondern sie verstopfen, wie Abfall die Kanalröhren verstopft. Empörung, Mitleid, Haß, Leiden, das kann man in Guyana lernen. Dank meines früheren Ranges war ich ein ›Libéré‹, ein Gefangener auf Ehrenwort, und konnte die Teufelsinsel und die Insel St. Joseph besuchen; ich sah, wie man Männer unmittelbar nach ihrem Tod den Haifischen vorwarf – nicht einmal anständig begraben hat man sie! Bluthunde hetzten sie den Entlaufenen nach, ich war Zeuge des Schauspiels, daß weiße Männer von Buschnegern und karibischen Indianern gepeitscht wurden. Ja, ich habe gelitten – im Geist, so sehr, daß ich jetzt, da Sie von Gerechtigkeit und Sühne sprechen und die bedauernswerten armen Teufel in diesen Tod bei Lebzeiten zurückschicken wollen, in Zorn gerate über Ihre Unwissenheit! Deswegen bin ich grob und ungeduldig. Sind Sie zufrieden mit der Erklärung?«
Sie war es nicht; sie war durch eine Barrikade durchgedrungen, aber nur, um sich dahinter einer neuen gegenüber zu sehen, die noch schwerer zu überwinden war als die erste. Ein Satz kam ihr in den Sinn: »Dank meines früheren Ranges ...« Was war sein Rang vor seiner Verschickung in die Strafkolonie? Und warum wurde er verbannt? Sie war sich bewußt, daß nicht sie ihn zum Sprechen veranlaßt hatte, sondern daß er aus sich heraus die Tatsache enthüllt hatte, er sei einmal in Cayenne als Gefangener gewesen. – Warum?
»Sie verfechten Ihre Sache gut«, sagte sie, entschlossen, ungerührt zu erscheinen. »Aber was würde aus der Zivilisation werden, wenn Ihre humanen Grundsätze angenommen würden?«
Er machte eine ungeduldige Handbewegung. »Heißen Sie es nur ›human‹, wenn man ein scheußliches System aus der Welt schaffen will? Sträflinge haben die gleichen Gefühle wie andere Menschen. Zwangsarbeit als Strafmittel ist an sich nicht ungerecht, aber wenn sich Unfähigkeit und Grausamkeit dazugesellt, wird sie etwas ungeheuerlich Böses. Ach Gott, wenn Sie doch – aber nein, Sie können nicht; Sie haben so wenig Schmerz erfahren. Sie sagen sich, ›Verbrecher ist Verbrecher, laß ihn leiden‹. Sie bedenken nicht, daß es mildernde Umstände geben kann, daß –«
»Warten Sie«, unterbrach sie. »Verfechten Sie im allgemeinen eine Sache oder Ihren persönlichen Fall?«
Er gab ihren festen Blick ebenso zurück und zuckte mit der Achsel.
»Wer weiß?«
»Wenn es persönlich zu verstehen ist,« fuhr sie fort, »warum erläutern Sie dann nicht die mildernden Umstände? Was haben Sie getan? Gemordet? Gestohlen? Was? Vielleicht« – mit Ironie – »bin ich zu rasch in meinem Urteil gewesen. Wenn ich wüßte« – sie hielt bedeutungsvoll inne, aber er nahm das Stichwort nicht auf. – »Steht Ihre Verteidigung auf so schwachen Füßen, daß Sie nicht damit herausrücken wollen?« Wieder Schweigen. Sie gab nicht nach. »Wenn ich mir alles zurechtlege, meinen Sie nicht, daß ich berechtigt bin, Sie zu verdammen? Schweigen bedeutet in der Regel Schuld, nicht Tapferkeit. Zwei Männer wurden ermordet, beide ›Freunde von mir‹. Weil ich gewisse Tatsachen entdeckt hatte, Spuren, die für die Schuldigen gefährlich sind, wurde ich entführt und von einem Manne hierhergebracht, der entweder der ›Schwarze Papagei‹ selbst oder einer seiner Genossen ist, und ich finde Sie, der zugestandenermaßen ein entlaufener Sträfling ist, in seinem Dienst. Genügt das nicht zu einem verdammenden Urteil? Was wissen Sie von dem Tode Dr. Garths und Barthélemy? Von dem Smaragd-Buddha und anderen Kunstschätzen, die der ›Schwarze Papagei‹ gestohlen haben soll? Was wissen Sie von allen diesen Dingen? Sicherlich ein bißchen – möglicherweise ein gut Teil. Sie können sogar selbst der ›Schwarze Papagei‹ sein! Wie kann ich es wissen?«
Sie machte eine Pause und holte Atem. »Aber ich will es wissen. Verstehen Sie? Ich werde die Wahrheit erfahren und wenn ich nach Lage der Dinge es für richtig halte, werde ich dafür sorgen, daß Sie nach Guyana zurückgebracht werden.«
Damit wandte sie sich um und eilte davon, ohne ihm noch eine Gelegenheit zum Sprechen zu geben.
Erst auf ihrem Zimmer sammelte sie sich so weit, daß sie ihre neuen Kenntnisse verarbeiten und in Ruhe die Situation betrachten konnte.
Bisher hatte sie sich unter Guyana nur etwas Ähnliches vorgestellt wie die Strafanstalten ihres eigenen Landes, aber nun war das Wort – Guyana – auf einmal voll grausamer scheußlicher Bedeutung. Und er, Tuan Muda, war dort gewesen. Sie schauderte und fühlte unwillkürlich Mitleid mit ihm. Als sie sich ihn wieder vorstellte, wie er auf der Klippe stand, nahm er eine malerische Gestalt für sie an. Tuan Muda – der ›Schwarze Papagei‹, dieses schattenhafte, fast mystische Wesen, das Gefangene aus Cayenne befreite ... der eine Art Abkommen mit Conquest, dem Romantiker, abgeschlossen und die Männer nach Kawaras gebracht hatte – zur Arbeit auf der Sagoplantage. Eine edle Absicht lag darin. Es war wohl Menschenliebe, aber mißleitete.
Jedenfalls hatte ein neuer Ausblick sich ihr aufgetan, der Tuan Muda – und auch Conquest – in ein anderes Licht rückte. Aber immer noch waren dunkle Flecken im Spiegel. Dr. Garth, Barthélemy und der grüne Gott. Sollte sie sich täuschen? War es möglich, daß sie sich in einem gewaltigen Irrtum befand? Nein; lächerlich, es nur in Erwägung zu ziehen. Daß sie in Sadok war, war Beweis genug für die Richtigkeit ihrer Verdachtsgründe. Diese Männer, Tuan Muda, Conquest, Garon und ihre Genossen waren eine Gefahr für die Gesellschaft. Sie mußten vernichtet werden.
Ihre Drohung gegen Tuan Muda, sie werde die Wahrheit herausbekommen und ihn nach Cayenne zurückbringen lassen, fiel ihr wieder ein. Wenn menschenmöglich, würde sie es durchsetzen. Aber ein Unterton von Bedauern begleitete den Entschluß. Es war Mitleid, redete sie sich ein, nur Mitleid für einen Unglücklichen. Was sonst?
*
Bei Tagesanbruch durchdachte sie wiederum alle Ereignisse und Gespräche der letzten Tage; sie machte sich klar, daß sie vorläufig nichts unternehmen konnte, sondern abwarten mußte.
Doch, etwas gab es zu tun; das Geheimnis des verbotenen Raumes, der ›Djinnees Höhle‹, zu ergründen, wo Conquests Vergangenheit verwahrt war, wie er gesagt hatte.
Vielleicht gab es noch einen anderen, geheimen Zugang zu dem Zimmer.
Sie ging in das Erdgeschoß hinunter, in das Damaskuszimmer. Sie hatte ein unheimliches Gefühl, beobachtet zu werden, als sie den Ispahanteppich über der verbotenen Tür aufhob. Aber sie ließ sich nicht beirren, sondern prüfte das Schloß, probierte den Knopf und starrte kampfeifrig auf die unbewegliche Türfüllung. Der Umstand, daß der Raum unzugänglich schien, bestärkte sie nur in ihrem Entschlusse, einzudringen.
Sie ging aus dem Damaskusraum ins Freie und wandelte wie zufällig um das Haus herum. Das Damaskuszimmer, stellte sie fest, war an der Nordwestecke; an seine Rückseite schloß sich ein anderer Raum – offenbar die sogenannte ›Djinnees Höhle‹; zu ihrem Erstaunen waren keine Fenster daran; wie erhielt es Luft? Unwillkürlich schaute sie in die Höhe auf ein schräges Dach mit grünen Schindeln und entdeckte darauf ein Oberlicht, ein Rechteck aus Glas.
Sie betrachtete es eine Zeitlang, dann ging sie nochmals um das Haus herum, um dessen Bauweise im einzelnen zu studieren. Ihr Zimmer lag auf der Südwestecke; von der Veranda aus konnte man von da zur Nordseite auf das leicht geneigt abfallende Dach kommen und von da zur Nordwestecke auf eine andere Veranda kriechen; dann ließ man sich von der Dachrinne zu dem niedriger gelegenen Dach, dem des verbotenen Raumes, herab.
Sie war so in ihre Beobachtungen vertieft, daß sie erst spät Ahmads und Pangkus ansichtig wurde. Sie tat, als bemerkte sie die beiden nicht und trat ins Haus, sie folgten ihr nicht. Noch einmal ging sie in das Damaskuszimmer; diesmal blieb sie einen Moment grade unter dem Türbogen stehen, schaute durch den Spalt zwischen den Vorhängen, trat dann, sich sicher fühlend, an einen Glasschrank und nahm einen Türkensäbel heraus. Rasch eilte sie auf ihr Zimmer und verschloß, mit einem Seufzer der Erleichterung, den Säbel in ihrem Koffer. Danach suchte sie mit einem Buch in der Hand den Platz wieder auf, wo sie am Abend zuvor die Unterredung mit Tuan Muda gehabt hatte. Es fiel ihr ein, daß Conquest gesagt hatte, der Verwalter des Forts und der Sultan mit seinem Gefolge würden im Laufe des Vormittags eintreffen, und sie erinnerte sich auch, daß man von dem Vorgebirge aus eine gute Aussicht auf den Hafen, die Flußmündung, die Warendepots und das Dorf habe.
Sie konnte Kanus auf dem Flusse und kleine Gestalten an den Schuppen sehen, ihre zwei Malayen hatten sich in respektvoller Entfernung niedergelassen.
Verschiedene Male versuchte sie zu lesen, ließ es aber schließlich sein und gab sich lieber der Lockung der glänzend blauen See mit ihren Träumen und Phantasien hin.
Gegen Mittag hatte die schwache Brise aufgehört; eine blutorangene Sonne glühte vom Himmel herab. Lhassa war eben im Begriff, sich nach Hause zu begeben, als sie am jenseitigen Flußufer einen Menschenauflauf bemerkte. Die Ursache des Auflaufs war, wie sie sich dachte, die Ankunft des Sultans und seiner Eskorte.
Gleich darauf tauchten auch die Buge langer Boote auf; sie waren länger, als sie je welche gesehen, und hatten eine zahlreiche Bemannung; in der Mitte war ein Abteil mit Dach. Aus einem der Boote stieg eine Gestalt in Khaki und Tropenhelm, anscheinend der Verwalter vom Fort; sie sah zu ihrer Verwunderung weder Conquest, noch Tuan Muda. Da das geschäftige Getriebe am Fluß sie nicht weiter interessierte, ging sie ins Haus zurück und fand dort Conquest in der Säulenhalle sitzend, umgeben von einer Schar von Malayen.
Er erhob sich und sagte:
»Salazar und der Sultan sind eben angekommen; ich erwarte sie jede Minute.«
Sie nickte in ihrer hochmütigen Art. »Ich sah sie. Gehört es in Kawaras nicht zum guten Ton, Gäste bei der Landung zu begrüßen?«
»Nicht, wenn der Gast ein malayischer Sultan ist«, erwiderte er lächelnd »und der Gastgeber Tuan Rajah. Ich habe Tuan Muda als meinen Gesandten entgegengeschickt, um Abu Hassan zu begrüßen und ihm mitzuteilen, daß ich ihn in der ›Astana‹ erwarte. Wollen Sie nicht hierbleiben und den Aufzug anschauen?«
»Nein«, lehnte sie ab, dann von einem plötzlichen Gedanken erfaßt, fragte sie: »Dieser Verwalter – wird er hier im Hause wohnen, solange er in Sadok ist? Wenn ja, möchte ich lieber meine Mahlzeiten allein einnehmen.«
»Ja, er wird hier wohnen, aber ich versichere Sie, er ist ganz harmlos.«
Sie lachte, es klang nicht ganz echt. »O ich habe keine Angst vor ihm; ich habe nur einfach keine Lust, noch jemanden von Ihrer – ich weiß nicht wie ich sagen soll – kennenzulernen.«
Er überhörte die Spitze und fragte. »Aber sicherlich werden Sie zu dem Fest heute abend kommen, ja? Sie sollten es wirklich nicht versäumen!«
Zögernd erwiderte sie nur: »Vielleicht.«
»Ich werde einen unauffälligen Platz für Sie bestimmen. Wir werden um halb neun aus dem Hause gehen – Tuan Muda und Salazar werde ich vorausschicken. Das Fest findet im Dorfe statt, wissen Sie.«
Sie gab keine bestimmte Zusage, sondern lächelte nur kühl, als sie in ihr Zimmer ging. Sie hatte nicht die leiseste Absicht, dem Feste fernzubleiben.
Als sie sich abends ankleidete, hörte sie unten im Erdgeschoß ein Grammophon spielen. Die Melodie war ihr bekannt. Es war eine, die ihr Großvater oft in dem großen düsteren Haus in Washington spielen ließ. »Deep River« ... eine traurige, klagende Weise, die ihr das Bild des zusammengeschrumpften alten Mannes heraufbeschwor, der mit seinen Geheimnissen gestorben war. Immer wenn sie an ihn dachte, fühlte sie sich betrogen, als ob ein unbarmherziges Schicksal ihr vorenthalten hätte, zu erfahren, was sie rechtmäßigerweise hätte wissen müssen.
Conquest wartete in der Halle allein auf sie. Ein plötzliches, fast wildes Verlangen zeigte sich auf seinem Gesicht, als sie zu ihm trat; sie trug ein veilchenfarbenes Kleid, das ihre olivenfarbene Blässe hervorhob. Draußen wartete eine Malayen-Eskorte. Erst bei den Warenlagern fing er zu sprechen an.
»Ich habe es so eingerichtet, daß Sie mit einigen der Häuptlingsfrauen zusammensitzen. Eine oder zwei von ihnen sprechen englisch; sie werden Ihnen das Schauspiel erklären. Die Malayen geben viel auf Handbegrüßungen; Sie müssen also diese Zeremonie über sich ergehen lassen. Wenn sie Ihnen ihre Handflächen mit gekrümmten Fingern entgegenhalten, dann haken Sie sich mit Ihren Fingerspitzen unter den ihrigen ein.«
In einer langen Proa wurden sie hinübergerudert. Ein warmer Wind wehte von den Mangrove-Sümpfen her, mit einem halb wohlriechenden, halb ungesunden Duft. Für sie war es der Atem des wilden, wollüstigen Dschungels; er reizte sie, den Fluß hinauf durch die Wälder zu fahren bis zu seiner verborgenen Quelle.
Das Kanu glitt zu einer Reihe von Pfahlbauhütten und legte an. Lhassa sah sich inmitten einer Gruppe von Eingeborenen. Conquest nahm ihren Arm und führte sie zu einem großen Gebäude aus Flechtwerk mit Strohdach.
Auf einer Strickleiter mußte sie hinaufklettern. In einer großen, mit Palmwedeln, gelben und karmoisinroten Tüchern ausgeschmückten Halle saßen um die Wände herum, auf Matten kauernd, eine Menge Farbiger; braunäugige Malayen, die Männer mit Turbanen auf dem Haupt, die Frauen in Seidenkleidern mit Brokat und Stickereien, einige Araber in malerischen wallenden Gewändern; dunkel gekleidete Chinesen, Dyaks, die nackt bis auf die Lendentücher und mit Federn des Nashornvogels geschmückt waren.
Von vielen Augen angestarrt, folgte Lhassa Conquest zu dem anderen Ende des Saales, wo in einer Ecke gelbhäutige Malayenfrauen auf einem improvisierten Diwan kauerten. Als sie sich auf die seidenen Kissen niederließ, rückten, auf einige Worte Conquests hin, mehrere der Frauen an sie heran. Die Handbegrüßungszeremonie dauerte einige Minuten. Lhassa bemerkte, daß Conquest auf einem Podium in der gegenüberliegenden Ecke Platz genommen hatte. Ihm zur Seite saß Tuan Muda und auf seiner andern Seite, im Schatten, ein anderer Mann, vermutlich der Plantagenverwalter; er war durch Conquest verdeckt, so daß sie nur die groben Knöchel seiner Hände sehen konnte.
Lange Zeit herrschte Schweigen; die drei weißen Männer saßen unbeweglich, während die Eingeborenen sich unruhig hin und her bewegten. Plötzlich sprang ein Malaye in prunkvoller Rüstung von einem Mattenlager auf und schritt stolz, ja anmaßend auf Conquest zu; vor ihm hielt er und streckte ihm seine Hände entgegen. Eine der Frauen flüsterte Lhassa zu, das sei der Sultan. Nachdem er die Handzeremonie mit Conquest erledigt hatte, folgten seine Häuptlinge und Krieger seinem Beispiel. Diese Landessitten waren zwar eindrucksvoll, aber auf die Dauer ziemlich langweilig. Danach trat wieder Stille ein.
Jetzt erhob Conquest seine Hand: das war das Zeichen zum Beginn der Festlichkeit.
Malayen in langen Gewändern brachten Messingbecher und Bambusplatten herbei.
Lhassa aß, wie die andern, von den Früchten und trank die Kokosnußmilch.
Mehrere Male konnte sie den Mann an Conquests rechter Seite flüchtig sehen und hatte den undeutlichen Eindruck einer nußbraunen Hautfarbe und dunkler Augen, die sie öfters auf sich gerichtet fühlte. Tuan Muda sah sie nicht ein einziges Mal an, während Conquests hungriger Blick sie oft suchte.
Nach beendigtem Festessen wurde die Mitte des Saales frei gemacht. Ein Malaye, der zu Conquests Füßen kauerte, ging eilig hinaus und holte eine Anzahl junger Männer mit Musikinstrumenten – Bambusguitarren, Gongs und Trommeln – herein. Die Musikanten setzten sich und begannen zu spielen. Es war ein Gesang vom Dschungel voll versonnener Schwermut. Von den Gongs kamen Töne wie rauschendes Wasser, von den Guitarren leise klagende Laute wie Wind, während die Trommeln der Melodie einen gewissen Rhythmus verliehen.
Nun wurde ihre Aufmerksamkeit auf eine Reihe junger Mädchen gelenkt, die langsam mit abgemessenen Schritten und halb gesenkten Augenlidern hereinkamen; sie trugen perlenbesetzte kurze Röcke und mit Muscheln behängte Jacken.
Das Tempo der Musik wechselte, und die Mädchen in der Mitte des Saales wanden ihre Handgelenke und Arme in anmutigen Bewegungen im Takte der Musik, nach einigen Minuten begannen sie, nach rechts und links sich biegend, langsam, wellenartig sich zu drehen in einem Tanz, der in seiner hoheitsvollen sinnlichen Würde Lhassa an einen Tempeltanz in Siam erinnerte.
Plötzlich brach die Musik ab. Die Mädchen verharrten noch einen Augenblick in ihrer graziösen Haltung, dann glitten sie hinaus.
Gleich nach ihrem Abgang erhob sich der malayische Zeremonienmeister und ließ einen Schwall von Worten vernehmen, die für Lhassa unverständlich waren. Sie sah eine der Frauen neben ihr fragend an, diese neigte sich zu ihr und erklärte:
»Er verkündet, daß nun die Krieger tanzen werden, Rajah Ranee, den Kriegstanz der Dyaks. Die See-Dyaks führen Krieg mit einem Kayanstamm; die Köpfe werden abgeschnitten und heimgebracht, um die Gemeindehäuser zu schmücken.«
Zwölf Dyaks mit glänzenden Fransen, Perlen, silbernen und elfenbeinernen Armbändern und Federn auf dem Kopf kamen hereinstolziert, ein Teil mit Speeren, die andern mit krummen Säbeln – Parangs – bewaffnet; alle trugen bemalte Schilde. Sie teilten sich in zwei Gruppen. Einer der Musikanten begann auf einem kürbisartigen Instrument zu spielen, das unheimlich klagende Töne von sich gab. Trommeln erdröhnten, und der Tanz begann.
Der erste Teil, bei dem sie nur gestikulierend und Grimassen schneidend herumhüpften, war für Lhassa ziemlich langweilig; aber dann beschleunigten sich plötzlich die Bewegungen; die feindlichen Stämme kamen ins Handgemenge. Die Säbel blitzten auf, schaurige Kriegsschreie in Falsett ertönten. Die Erregung schien auf die Zuschauer überzugehen; ihre wilden Zurufe vermehrten den Lärm der herumwirbelnden Krieger. Die Trommeln schlugen lauter, und durch ihr Dröhnen hindurch zogen sich nadelscharfe, unheimliche Klagetöne.
Auch Lhassa war gefesselt. Als sie auf die schweißglänzenden Gestalten starrte, fühlte sie leise Furcht. Sie wußte, daß die wilde Erregung Zündstoff für den Ausbruch von Fanatismus sein konnte; schon sah sie ein Glühen in manchen Augen, besonders in denen eines tätowierten Kriegers, der ihr gegenüber saß, dessen Körper sich spannte und dessen Hände krampfhaft den Griff seines Parangs umspannten. Eine plötzliche Angst packte sie. Wenn das so weiter ging, mußte es ein schlimmes Ende nehmen. Sie suchte Conquests Blick, um ihm ein Zeichen zu geben, den Tanz abzustoppen. Aber er schaute in die Höhe.
Immer noch die Trommeln; sie schlugen ihr ins Herz. Sie hätte schreien mögen, nicht wegen der Trommeln, sondern wegen des tätowierten Kriegers gegenüber. Sie sah den Feuerfunken in seinen Augen, und schon erfolgte die Explosion.
Der Krieger schoß in die Höhe wie aus einer Wurfmaschine. Wie eine Flamme funkelte sein Parang vor ihm. Im gleichen Augenblick hörte man das Knacken eines Pistolenverschlusses. Lhassa sah, daß Conquest aufgestanden war, neben ihm Tuan Muda; die Hand des Franzosen hielt einen glitzernden Zylinder. Alles ging so schnell vor sich wie eine Blitzlichtaufnahme. Inmitten der Verwirrung tauchte plötzlich eine Gestalt in Weiß auf; der Mann machte eine rasche Bewegung, wobei Lhassa einen Moment etwas Gelbes in seinen Händen sah. Im nächsten Moment sah sie, wie der wahnsinnige Krieger rücklings umstürzte und dem Weißen zu Füßen fiel. Auf die allgemeine Aufregung folgte eine Stille, die nur durch die scharfe Stimme des Sultans unterbrochen wurde, worauf die Tänzer unter dem Publikum verschwanden.
Der Mann mit der braunen Haut und den dunklen Augen stand mächtig da über dem Körper des Kriegers, der infolge des Tanzes wahnsinnig geworden und seine wilde Wut im Niedermetzeln hatte austoben wollen. Um den Hals des Eingeborenen war ein gelbes Tuch geschlungen, dessen Enden noch in den Fäusten des weißen Mannes waren. Dieser, dunkelfarbig wie ein Bastard, mit erstaunlich breiten Schultern, schaute eine Sekunde noch gelassen auf die Leiche, dann löste er das improvisierte Erdrosselungswerkzeug und schritt zu seinem Platz zurück; sogleich kamen zwei Malayen gerannt, hoben den Toten auf und trugen ihn aus dem Saal.
Für Lhassa war die Feier zu Ende. Sie nahm kaum noch Notiz von einer Schar scheuer Mädchen, die eine Pantomime aufführten. Danach war, zu ihrer Erlösung, Schluß. Die ermüdende Handgrußzeremonie wiederholte sich, dann brachte Conquest sie ins Freie, in die Kühle der Dunkelheit. Sie hörte ihn kaum, als er sagte, wie leid ihm der Zwischenfall täte, und kaum hörte sie den Takt der Ruder.
In ihrem Zimmer angelangt, lehnte sie sich, noch heiß vor Aufregung, gegen die Türfüllung. Schwarze Augen schienen ebenso erbarmungslos in die ihren zu blicken, wie sie auf die Leiche des Dyaks geblickt hatten. Sie schauderte, als sie an die ungeschlachten Hände dachte, die den Krieger erdrosselt hatten ... Es war nicht glaubhaft, sagte sie sich, und doch ... er konnte in Bangkok gewesen sein ... konnte ... Wie hatte Conquest ihn genannt? – Salazar? Welche Blitzschnelle, welche brutale Kraft! Er war kein Neuling im Erwürgen.
Sie ging nicht gleich zu Bett – ihr Argwohn machte sie zu fiebrig –, sondern setzte sich in Gedanken versunken auf ihre Veranda. Das schräge Dach ließ sie an den Türkensäbel und seinen Zweck denken. Morgen in der Nacht wollte sie von ihm Gebrauch machen; heute war sie zu müde.
Als sie ins Bett kroch, klang das Jammern einer Eule durch die Stille. Es erinnerte sie an das Kriegsgeschrei der Dyaks; dann glaubte sie noch Trommeln zu hören – endlich schlief sie ein.
Lhassa hielt es für klug, den nächsten Tag über auf ihrem Zimmer zu bleiben. Erst in der kühleren Abendzeit wagte sie sich fort und ging, von Ahmad und Pangku gefolgt, zum Vorgebirge, um den Sonnenuntergang zu beobachten.
Der Anblick des »Narzissus« im Hafen erregte in ihr das Verlangen, fort, irgendwohin zu segeln; nicht daß sie Sadok ganz verlassen wollte, nein gerade jetzt nicht, da die Türen zu den Geheimnissen sich zu öffnen begannen, aber sie fühlte, eine kurze Reise auf See würde ihre Geister neu beleben. Aus irgendeinem Grunde, den sie nicht begriff, fühlte sie sich niedergeschlagen und bestürzt; vielleicht war es nur der Vorfall am vorigen Abend; aber das schien ihr als Erklärung nicht zu genügen.
Bei Einbruch der Dunkelheit kehrte sie auf ihr Zimmer zurück. Als sie Licht machte, blinkte etwas vom Tisch her; sie griff danach; im ersten Moment hielt sie es für ihren Selbstlader und dachte, Conquest habe ihn aus irgendeinem unerklärlichen Grunde zurückgebracht; aber gleich merkte sie, daß es nicht ihre, sondern eine Manneswaffe, eine großkalibrige Pistole war. Sie öffnete den Verschluß; sie war geladen, Patronen auch in der Kammer. Wer hatte sie hergelegt? fragte sie sich verwundert, und warum?
Sonderbar, der Fund gab ihr ein unwillkommenes Empfinden von Unsicherheit, er schien zu bedeuten, daß sie in Gefahr sei und daß jemand sie warnen und rüsten wolle. Wer? Conquest? Tuan Muda? Sicher der letztere. Aber warum? Eine Ahnung sagte ihr, daß Salazar der Grund sei ... Sie beschloß mit Tuan Muda zu sprechen.
Als sie der Ankündigung des Gongs zum Dinner folgend, unten nur Tuan Muda und Conquest vorfand, verhehlte sie sich nicht, daß sie sich erleichtert fühlte, und sie verlieh dieser Empfindung Ausdruck, indem es ihren Lippen entfuhr:
»Wo ist Ihr hübscher Gorilla von der Plantage?«
Im nächsten Augenblick erschien eine Gestalt im Leinenanzug auf der Schwelle des Bibliothekzimmers. Zum erstenmal sah sie ihn ganz in der Nähe; er hatte dicke schwere Lippen und einen starken Hals, der unter dem Kinn Wülste hatte; Haar und Schnurrbart waren blauschwarz. Seine offenkundige körperliche Stärke wirkte fast unzüchtig. Furchtlos erwiderte sie seinen Blick, obwohl sie annehmen konnte, daß er ihre Worte vernommen hatte. Trotz der verlegenen Spannung verlor sie ihre Ruhe nicht.
Sie wählte das beste Mittel, wie sie meinte, um der schwierigen Situation zu entkommen, und ging in hochmütigem Schweigen auf die Veranda hinaus; von da eilte sie zu dem Vorgebirge.
Ihre Wangen waren noch heiß, als sie die Klippe erreichte. Sie war ärgerlich und etwas beunruhigt, daß Salazar gehört hatte, wie sie ihn einen Gorilla nannte. Sie hielt ihn für rachsüchtig und ohne jeden Sinn für Humor. Es war ein Typ, den sie nicht fürchtete, dem sie aber mißtraute. Sie blickte auf das Meer; in der mondlosen Nacht hatte es nichts Verlockendes für sie, sondern schien sie nur in seiner unermeßlichen Weite von aller Zivilisation und Hilfe abzuschließen. Wenn sie in Gefahr geriete, was würde sie tun? An wen sich um Hilfe wenden? Im Zusammenhang mit diesem Gedanken sah sie im Geiste die unbeweglichen Gesichtszüge Tuan Mudas mit der Narbe an der Schläfe. Warum traute sie ihm mehr als Conquest? Sie konnte sich die Frage nicht beantworten.
Sie hörte Schritte, und kalter Schreck überlief sie. Der Mann war erst erkennbar, als er auf wenige Meter heran war, dann lachte sie unwillkürlich.
»Wie wußten Sie, wo ich sei?«
Tuan Muda erwiderte nur mit einer seiner ausdrucksvollen Gesten.
»Ist es klug von Ihnen, hierher zu kommen? Wird man nicht –«
»Sie sind zum Fluß hinunter,« warf er ein, »ich soll ihnen nachfolgen.« Eine Pause. »Vielleicht bin ich ein Narr, aber – zum Teufel mit den Erklärungen. Wenn ich es Ihnen ermögliche, Sadok heute nacht zu verlassen, werden Sie gehen?«
Die unvermittelte Plötzlichkeit seines Anerbietens versetzte sie in Bestürzung. Sie starrte ihn forschend an.
»Werden Sie?« drang er auf sie ein.
Um ihre Verwirrung zu verbergen, tat sie zynisch.
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte sie. »Zuerst ignorieren Sie mich; dann aus heiterem Himmel machen Sie mir ein unverständliches Angebot. Selbstverständlich waren Sie es, der die Pistole heute nachmittag in mein Zimmer gelegt hat. Warum?«
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
»Und Sie die meine nicht.«
Er machte wieder eine Geste. »Zum Donnerwetter, was liegt daran, warum ich ihn hineingelegt habe. Genug, daß ich es getan!«
Aber er fügte hinzu: »Ich fahre morgen mit einem wichtigen Auftrag flußaufwärts.«
Ein leiser Schreck befiel sie.
»Auf wie lange?«
Er zuckte mit den Achseln.
Nach kurzem Zögern fragte sie: »Wer ist dieser Salazar?«
Wieder Achselzucken.
»Was ist er?« drängte sie.
»Halb Franzose, halb Spanier, vielleicht mit einer Beimischung von Niggerblut.«
»Sie kennen ihn von Cayenne her?«
»Fragen, nichts als Fragen!«
Sie ließ ihren Blick über die See schweifen und dachte über das, was er gesagt hatte, nach. Er würde morgen wegfahren. Weshalb? Und sie würde mit Conquest und Salazar allein bleiben. Aber er hatte noch etwas anderes gesagt.
»Was haben Sie damit gemeint,« fragte sie plötzlich, »als Sie davon sprachen, Sie würden es mir ermöglichen, heute nacht fortzufahren. Wie wäre das möglich?«
Er deutete auf die See hinaus. »Sarawak liegt dort oben an der Küste, es steht unter einem englischen Rajah. Ich könnte einige malayische Schiffer bekommen, die Sie hinbringen oder –«
»Ich hätte Angst vor ihnen«, warf sie ein.
»Nicht, wenn Sie wirklich den Wunsch hätten fortzugehen.«
Sie lächelte. »Sie haben Recht.«
Ein langes Schweigen folgte, sie sprach zuerst wieder.
»Es wäre ein Desertieren, von einem Ziel weg, das ich mir gesteckt habe.«
Ungeduldig rief er aus: »Es wäre nur ein Aus-dem-Wege-gehen!«
Sie quälte ihn absichtlich: »Aus dem Wege gehen – wovor? Was wird geschehen? Sie werden immer geheimnisvoller. Wenn ich Ihr Anerbieten annehme, würde es bedeuten, daß ... Sie wissen, was? Da muß etwas dahinterstecken. Die Menschen opfern sich nicht ohne einen persönlichen Grund. Was ist bei Ihnen die Ursache? Ich gestehe, ich bin nicht imstande, es zu erfassen.«
Er preßte die Lippen zusammen, ein Glitzern war in seinen Augen.
»Also Sie lehnen ab?«
»Selbstverständlich.«
»Ich werde das Anerbieten nicht ein zweites Mal machen.«
»Ich bin mir dessen bewußt.«
Bevor sie mehr sagen konnte, war er weg. Das kam ihr unerwartet und ihr nächster Impuls war, ihn zurückzurufen und ihm zu sagen, daß sie nicht undankbar erscheinen wolle, daß nur falscher Stolz sie gehemmt habe. Ihre Eingebung sagte ihr, daß sein Wunsch, sie möchte Sadok verlassen, einem ehrlichen Beweggrund entsprungen sei. Nun würde er seine Reise antreten und glauben, sie habe seine edle Absicht nicht gewürdigt. Sie hatte nur versucht, ihn außer Fassung zu bringen, in der Hoffnung, er würde im Zorn den Grund für sein Anerbieten verraten. Zu spät erkannte sie, daß seine Gleichgültigkeit nicht echt, sondern nur ein Mantel für ein Interesse gewesen war, das er nicht offen zu zeigen wagte oder nicht zeigen wollte. Mitleid mit ihm erfüllte ihre Brust. Cayenne hatte tiefe Leidensspuren an ihm hinterlassen und es hatte ihm neben anderem die schmerzliche Gabe verliehen, häßliche Ungerechtigkeiten zu erkennen, und er hatte in seiner Art versucht, das Unrecht wieder gutzumachen. Ohne Zweifel war Tuan Muda der »Schwarze Papagei«, das geheimnisvolle Wesen, das Sträflinge befreite. Alles war ihr nun ganz klar; aus seiner Verbitterung war der Wunsch erwachsen, seinen Leidensgenossen zu helfen. Was auch immer seine Sünden gegen die Gesellschaft gewesen sein mochten, er hatte Mitgefühl, und Mitgefühl in einer Welt des Hasses war eine Gottesgabe.
Mitten in ihrem Nachsinnen fiel ihr plötzlich ein, daß Tuan Muda gesagt hatte, Conquest und Salazar seien zum Fluß hinunter. Darauf gründete sie einen Plan und kehrte nach Hause zurück. Nachdem sie in die Bücherei, das chinesische und das Damaskuszimmer geschaut hatte, ging sie hinauf in ihr Zimmer.
Im Dunkeln holte sie den Türkensäbel aus ihrem Koffer. Unternehmungsgeist verscheuchte ihre Niedergeschlagenheit, als sie auf die Veranda hinausging; mit der scharfen Schneide des Türkensäbels gelang es ihr, in das Gitter eine Öffnung zu machen, durch die sie hindurchschlüpfen konnte, von da auf das schiefe Dach und über die Schindeln zur Nordwestecke. Hier war die andere Veranda; unter ihr das Dach des verbotenen Raumes, es lag nicht sehr tief, so daß sie sich geräuschlos hinunterlassen konnte.
Das Oberlicht war offen; als sie hinablugte, sah sie in undurchdringliches Dunkel; wenn sie sich in diesen Brunnen der Nacht hinabließ – das wäre sich selbst in eine Falle begeben. Es gab eine klügere, wenn auch vielleicht nicht so interessante Möglichkeit. Sie würde Streichhölzer aus ihrem Zimmer holen; mit ihrer Hilfe konnte sie wenigstens einen Blick in »Djinnees Höhle« werfen. Als sie mit den Streichhölzern zurückkam, hielt sie bestürzt an.
Ein länglicher gelber Streifen drang aus dem Oberlichtfenster.
Conquest! Wer sonst könnte in diesem Raume sein? Ihren Atem anhaltend, kroch sie zur Fensteröffnung. Durch das feine Gitterwerk der rechteckigen Fensterklappe sah sie in einen Raum, dessen Boden mit reichen Teppichen belegt war; die Ecken konnte sie nicht sehen, sie stellte sich darin Bronzen, Vasen und schwere Brokate vor. In der Mitte des Raumes, beinahe unter dem Oberlicht, stand auf einer Staffelei ein Gemälde, daneben ein Tisch, bedeckt mit Tuben, Schalen und mehreren farbbeklecksten Paletten. Vor der Leinwand stand Conquest. Sie strengte ihre Augen aufs äußerste an, um den Gegenstand des Gemäldes herauszubekommen, aber es stand so, daß das Licht blendete. Der Mann stand regungslos, auf das Gemälde starrend, wie verzückt. Was stellte das Bild dar, das ihn so berückte? Im gleichen Moment als sie sich das fragte, entschloß sie sich, es zu erfahren. Es würde ein gewagtes Unternehmen werden, aber sie fühlte sich ihm gewachsen.
Einen Moment zögerte sie noch, dann klopfte sie auf das Glas des Oberlichtfensters. Bei dem scharfen Ton fuhr Conquest aus seiner Versunkenheit auf und schaute verdutzt in die Höhe. Sie wußte, daß ihr Gesicht so weit sichtbar war, daß Conquest sie erkennen konnte. Ohne ihm Zeit zu lassen, etwas zu sagen, kroch sie rasch zum Hauptdach zurück und wartete einige Sekunden lauschend; als sie vom unteren Räume den gedämpften Klang von Schritten und das Öffnen der Tür hörte, ließ sie sich hinter dem Oberlicht an der Dachrinne herab; als sie auf dem Boden anlangte, brannten ihre Glieder vor Schmerzen.
Ohne darauf zu achten, eilte sie zur Hausfront. Von der Säulenhalle aus sah sie, daß der Speisesaal leer war; beinahe außer Atem und mit einem heftigen Schmerz im Fußknöchel kam sie in das Damaskuszimmer, aber die erregten Gedanken, daß ihre List geglückt sei, ließen den Schmerz vergessen. Im Dunkeln fand sie den Ispahanteppich, schob ihn zur Seite und griff nach dem Türknopf. Aber die Tür ging nicht auf. Kalte Enttäuschung überlief sie, um aber sofort zu verschwinden, als ihre Hand einen Schlüssel im Loch spürte. Ein metallisches Schnappen – und sie stand in »Djinnees Höhle«.
Das Licht war matt, dunkle Tapeten und Wandteppiche, kostbare Seidenstoffe, dicke Teppiche und meisterhafte Gemälde. Als sie auf die Staffelei mit der Leinwand, über die ein Tuch gehängt war, zuging, lenkte ein grüner Schimmer ihr Auge in eine Ecke und sie blieb zitternd vor Aufregung stehen.
Grünes Feuer. Die kleine Figur wirkte wie ein Magnet auf das Licht. Sofort war sie in seinem Banne, wie an jenem Tag in Bangkok. Das Bildnis war Asiens Symbol, Quelle des Lichts und der Klarheit, der Finsternis und des Chaos. Sie wurde aus ihren Phantasien mit einem Male durch eine scharfe Stimme gerissen. Conquest war eingetreten.
Er stand lächelnd mit dem Rücken gegen die Wand. Es war nicht das gewohnte, ironische, melancholische Lächeln, sondern ein Lächeln aus Zorn und etwas anderem, das sie nicht bestimmen konnte.
»Das war geschickt gemacht«, erklärte er. »Aber Sie erinnern sich, was Pandora geschah, Sie kennen die Geschichte natürlich; sie befreite kleine Teufel, Hunderte von kleinen, bösen Geistern.«
Das Blut pochte ihr in der Kehle. Aber sie hatte keine Angst, vor Conquest nicht. Sie brachte eine kalte Erwiderung zustande.
»Aber am Ende wurden sie wieder in die Büchse gesteckt.«
»Ja, nachdem sie ihr eine Lehre beigebracht hatten.«
Seine Augen glänzten wie im Fieber. Rote Flecken lagen auf beiden Wangen. Sie entsann sich eines ähnlichen Lächelns in Saigon: eine seidene Hülle für Gemütserregungen, die zu heftig waren, um durch einen so dünnen Stoff zurückgehalten werden zu können. Ihre Ruhe wurde von einem plötzlichen Schreck gestört.
Er sprach wieder.
»Ich habe Ihnen gesagt, dieser Raum sei jedermann verboten, nicht wahr; aber Sie haben sich eingeschlichen, um Dinge zu erschauen, die Sie nichts angehen. Sehr wohl! Nun werde ich Ihnen etwas zeigen, das Sie niemals, hören Sie? – nie imstande sein werden, zu vergessen!«
Er schritt zu einem verdeckten Bild an der Wand und riß die Hülle herunter. In dem Rahmen auf dunklem Hintergrund war eine Frau mit Fesseln an den Hand- und Fußgelenken gemalt. Ihr weißer Leib hob sich aus dem Schatten heraus, schien beinahe herauszuspringen. Das Gesicht war unbewegt, stolz in seiner anscheinenden Gleichgültigkeit gegen Schmerz. Aber gerade seine Unempfindlichkeit sprach beredt von Todesqual.
»Das,« erklärte er leidenschaftlich, »ist meine Vergangenheit. Aus ihr bin ich hervorgegangen, gezeichnet von Urbeginn an.« Er schlug seine Ärmel zurück und entblößte die Narben. »Gezeichnet«, wiederholte er. »Ich habe ihr Gesicht nach einer Photographie gemacht, und die Qualen, die Demütigungen, die sie erduldet haben mußte, hineingelegt. Welche Tapferkeit! Schauen Sie! Ich habe nichts davon geerbt, nur die Bitterkeit, nur –«
Er brach schaudernd ab; damit schien sich seine Leidenschaftlichkeit erschöpft zu haben. Als er wieder sprach, war er ruhig.
»Sie, mit Ihrem Hochmut, Ihrem Erbe adligen Bluts, können niemals verstehen, was es heißt, im Schatten geboren zu sein, einen Vater und eine Mutter gehabt zu haben, die zum Frondienst im Gefängnis verurteilt waren.« Wieder schauderte es ihn. »Eine solche namenlose Grausamkeit und Ungerechtigkeit! ... Für die Dauer seines leiblichen Lebens! Mein Vater vernahm diesen Spruch, den ein Bezirksgericht gegen ihn verkündete, und meine Mutter hörte ihn auch. Er war ein Buschklepper, ein König der Buschklepper, einfach ausgedrückt, ein Pferde- und Viehdieb ... Meine Mutter begleitete ihn gewöhnlich auf seinen Ritten. Sie war bei ihm, als er einen Mann niederschoß ... Er wurde zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt und sie mit ihm. Er wurde nach Port Arthur verschickt und sie ins Frauengefängnis nach Inverness. Und man hat ihr sogar das angetan – er wies mit einem Arm auf das Gemälde hin – das! Ich weiß nicht warum; aber sie taten es. Und als ich geboren wurde, waren diese – diese Gefängnisringe an meinen Handgelenken.«
Er hielt ein, mit ausgestreckten Händen. Die bleichen Male taten ihr weh, noch mehr als seine Blässe. Sie wollte diesen Ausbruch der Verbitterung hemmen, aber sie war hilflos gegenüber der Macht seines grausamen Berichts.
»Die Schwester meiner Mutter nahm mich zu sich, als ich noch ein kleines Kind war. Es war Geld da, ein hübscher Haufen; Buschklepper sind oft reich. Ich besuchte in Sydney die Schule, bis meine Tante starb. Dann nahm ich das Geld und ging los, die Welt zu erobern. Ich war fünfzehn Jahre alt – allein – mit mehreren tausend Pfund, mit diesen Zeichen an den Handgelenken und Bitterkeit im Herzen. Ich gewann, das heißt, ich vermehrte, verdoppelte und verdreifachte die Pfunde. Ich befriedigte die Neigung zu Luxus, die ich von meiner Mutter geerbt und den Hang zu Abenteuern, die meines Vaters Leben ausgefüllt hatten. Geld! Berühmte Kunstschätze! Macht! Aber da war etwas anderes« – seine Stimme nahm einen erregten Ton an –, »das ich nicht finden konnte. Ich bin soweit gekommen – hiervon –«, er deutete auf das Bild, »bin ich ausgegangen, aber ich konnte den Gipfel, dieses hier, nicht erreichen!«
Er zog die Decke von der Leinwand herab. Auch das Bild einer Frau! Ein Lichtkegel, in einem dunstiggoldenen Ton ausgeführt, glitt über ein bronzefarbenes Mädchen, das nur mit einem feingearbeiteten Gürtel und einem exotischen Kopfputz bekleidet war, viele Ringe umspannten die Arme und mehrere Ketten schmückten den Hals. Es war keine Lockung des Geschlechts an dem glatten braunen Leib; seine vollendete Formschönheit erhob ihn über die bloße Begierde. Und das Gesicht –
»Pi-noi, die Bajadere«, hörte sie ihn sagen. »Die Frau aus Stein, das Ideal, herrlich, unerreichbar! Sehen Sie nicht irgend etwas Sonderbares, etwas Auffallendes im Gesicht? Es sieht aus, als ob sie zum Leben erwacht wäre, hier, in diesem Raume.«
Als Lhassa auf das Gesicht starrte, glaubte sie in einen Spiegel zu schauen: diese tadellos reinen Züge, die stolzen Lippen und der feine Schwung der Augenbrauen waren ihre eigenen. Sie hatte die wilde Illusion, das auf der Leinwand sei sie und der Körper, der einen Meter davon entfernt stand, sei nur eine Kopie, eine unvollkommene Nachbildung.
»Hier in diesem Raume«, wiederholte Conquest. »Das Ideal, nicht länger aus Stein, nicht mehr unerreichbar. Begreifen Sie? Ja?«
Sie verstand nicht, noch begriff sie, warum er sie plötzlich in seine Arme riß, warum er seinen Mund auf den ihren preßte, auch nicht, warum er sie ebenso unversehens wie er sie gepackt hatte, wieder losließ. Sie wußte nur, daß die Berührung seiner Lippen sie in Stein zu verwandeln schien. Sie war nicht zornig, ihr Empfindungsvermögen war eingefroren.
Ohne ein Wort kehrte sie sich um und verließ den Raum und ließ ihn zwischen der Frau in Fesseln und dem Geschöpf im Lichtkegel zurück.
*
Sie stand in der Mitte ihres Zimmers, regungslos wie Pi-noi, die Bajadere, auf dem Bilde. Sie dachte an ihre wunderbar reinen, bronzenen Züge, ihre stolzen Lippen und den feinen Bogen der Augenbrauen.
Es war unglaublich, was sie im Geiste erwog; trotzdem konnte sie die Überzeugung nicht los werden, daß etwas daran sein müsse. Nach jahrelangem Herumtasten in einem Labyrinth hatte sie bloß in dem Lächeln einer Frau auf einer Leinwand eine Tür gefunden, eine Tür, die zu verwirrenden Möglichkeiten führte.
Pi-noi, die heilige Kurtisane, unter deren Steinbild Frauen knieten und beteten. Bittgebete für die Ungeborenen. Einer Frau war ihre Bitte erfüllt worden: ihr Kind, das Kind eines weißen Vaters, eines Abenteurers – hatte die Züge von Indras Gefährtin.
Conquests Geschichte kam ihr in den Sinn. Und darin waren die Fäden einer andern Geschichte verwoben, die Dr. Garth nicht beendet hatte, die Geschichte ihres Großvaters. Er, ein Abenteurer, war in Ober-Siam umhergereist, aber er hatte ihr nie davon erzählt ... hatte versucht, sie von Asien fernzuhalten. – Warum? Wovor hatte er Angst ... Weil sie Pi-noi, der Bajadere, glich ... War das sein Geheimnis? ...
Sie holte tief Atem und schaute auf ihre Hände; war königliches Blut der Khmers in ihnen? Das Blut der Eroberer. Sie war im Zweifel, ob Conquest mehr wußte als er erzählt hatte, zum Beispiel den Namen des Mannes, dessen Kind Pi-nois Gesichtszüge trug?
Aber heute nacht konnte sie nicht mehr zu ihm gehen, ihn zu fragen. Aber am Morgen, wenn die Sonne scheinen würde und die Erde wirklich wäre und nicht Nebel, aus dem Träume erdichtet werden.
*
Es war spät am Morgen, als Lhassa erwachte; die Bäume zitterten schon in der weißen Glut. Wie Erinnerung aus einem Delirium kamen ihr die Ereignisse in dem verbotenen Raum ins Gedächtnis zurück; es war ihr, als ob sie starken Wein getrunken hätte; der Geschmack davon, der auf der Zunge zurückblieb, war der einzige Beweis, daß es wirklich war.
Sie ging hinab; im Speisesaal fand sie einen Hausboy, der auf ihre Frage antwortete, der Tuan Rajah sei schon frühzeitig fortgegangen. Ob sie hier frühstücken wolle? Sie tat es und ging dann gleich zu den Warenschuppen hinab; dort oder im Dorf würde er sicher sein. Unterwegs traf sie Ahmad und Pangku, die ihr mitteilten, daß weder der Tuan Rajah noch Tuan Muda noch der Tuan von der Plantage bei den Warenhäusern seien.
Ob sie wüßten, wo der Tuan Rajah sei?
Ja, früh, vor Dämmerung sei der Sultan aufgebrochen und Tuan Rajah habe ihn begleitet.
Diese Nachricht beunruhigte sie. Er war fort? Wie lange würde er wegbleiben?
Vielleicht einen Tag, vielleicht auch eine Woche, vielleicht sogar einen Monat. Aber vor seiner Abreise habe er sie angewiesen, über Rajah Ranee zu wachen.
Lhassa fragte sie noch, ob Tuan Muda und der Tuan von der Plantage mit ihm fortgegangen seien.
Sie wußten es nicht; keiner der weißen Lords sei bei den Depots.
Sie war überrascht und enttäuscht. Es schien ihr nicht den Verhältnissen entsprechend, daß Conquest lange Zeit wegbliebe. Sie erinnerte sich, daß er ihr gesagt hatte, die Reise nach der Plantage daure fünf Tage; sie erinnerte sich auch, daß Tuan Muda mit einem Auftrag flußaufwärts abgefahren sei. Waren sie beieinander? Eine Angst ergriff sie. Angenommen, Salazar hätte den Sultan nicht begleitet. – Sie wünschte plötzlich, sie hätte Tuan Mudas Anerbieten angenommen.
Die Begegnung in der »Djinnees Höhle«, die Entdeckung des Smaragd Buddha und Conquests Enthüllungen – hatten in ihr eine Empfindung von Gemeinheit hinterlassen. Es bewies, daß sie sich in ihrem Verdacht nicht geirrt hatte. Conquest hatte wohl den Buddha nicht selbst geraubt, sondern jemand in seinem Dienst, vermutlich Garon hatte ihn entfernt. Vielleicht war, nach allem zu schließen, doch Conquest der »Schwarze Papagei«, der den Sträflingen von Cayenne zur Flucht verhalf zu dem naheliegenden Zweck, sie zu gebrauchen, um solche Schätze sich zu verschaffen, wie sie sein Haus füllten. Sie fühlte, daß sie der Wahrheit täglich näher rückte. Und dies machte ihr Angst. Sie wurde sich jetzt bewußt, daß sie Tuan Muda Vertrauen geschenkt hatte und fürchtete, die Wahrheit könnte ihn mit einer Schuld belasten.
Aber der Drehpunkt ihrer Gedanken war Conquest. Sie konnte seine plötzliche Abreise nicht verstehen. Wie konnte er sicher sein, daß sie in seiner Abwesenheit nicht davonginge. Allerdings, eine Flucht war, genau betrachtet, praktisch unmöglich. Selbst wenn es ihr gelänge, Ahmad und Pangku zu entkommen, was konnte sie tun? In den Dschungel gehen oder sich in einem Kanu aufs Meer begeben. Beides wäre Verrücktheit. Sie wünschte nur, sie wäre seiner so sicher, wie er ihrer! Er bewahrte ein Geheimnis, glaubte sie – ein Geheimnis, das vom Schicksal bestimmt schien, bewahrt zu bleiben – sie wurde ungeduldig, ihn zu sehen und auszufragen. Da sie die Spannung der Ungewißheit nicht aushalten konnte, faßte sie einen Entschluß. Am Hause angelangt, wies sie Ahmad und Pangku an:
»Ihr müßt in Erfahrung bringen, ob Monsieur Salazar heute früh mit dem Sultan fortgegangen ist. Wenn nicht, sagt ihm, ich wünsche ihn zu sehen; ich werde im Bibliothekzimmer sein.«
Sie hätte gerne geglaubt, daß Salazar fort sei; aber es war nicht wahrscheinlich. Der Gedanke, daß er der einzige Weiße außer ihr in Sadok sei, war kein angenehmer. Aber, wenn es so war, wollte sie es wissen.
Zigaretten rauchend wartete sie in der Bibliothek. Sie hörte jemand durch die Säulenhalle gehen; ihr Herz verdoppelte den Schlag; sie preßte die Zigarette in die Schale. Es konnte ja auch einer von den Boys sein.
Eine Gestalt im Leinenanzug erschien in der Tür.
»Ich traf Ihre Boys auf dem Weg hierher«, teilte er ihr mit. »Sie sagten, Sie wünschten mich zu sehen. Ja?«
In seiner Stimme klang ein rauher Ton.
»Ja«, bestätigte sie ziemlich scharf, denn es war ihr unangenehm, daß er sie in einer Rauchwolke gefunden hatte; es schien ihr Prestige zu vermindern.
Er blieb unter der Tür stehen, ohne seinen Hut abzunehmen, und seine schwarzen Augen blickten unter dem Rand spähend auf sie. Sie fragte sich unwillkürlich, ob er in diesem Augenblick daran denke, daß sie ihn einen Gorilla genannt hatte ...
»Ja,« wiederholte sie, »wissen Sie, wohin Mister Conquest gegangen ist?«
Er gab einen saugenden Ton von sich, wie wenn er seine Zähne reinige, es war ziemlich unanständig.
»Zur Plantage«, erwiderte er kurz.
Sie war bestrebt, unberührt von dieser Eröffnung zu erscheinen.
»Wie lange wird er fortbleiben?«
Er zuckte die Achseln und trat aus der Tür näher, die Hände auf den Hüften; es lag über dem muskeltrockenen Mann eine so eindringliche Roheit, daß sie sich ekelte.
»Warum«, sagte er in foppendem Ton, »wünschen Sie ihn zu sehen?«
»Ja« – antwortete sie zögernd. Sie ärgerte sich über eine gewisse, unbestimmte Drohung in seinem Auftreten. »Ich fragte, wie lange er fortbleiben würde.«
»Oh, einen Monat vielleicht, es können auch zwei werden.« Er runzelte die Stirn. »Zum Teufel, wie soll ich das sagen können.« Dann nach einer kleinen Pause fuhr er fort: »Ist es wichtig für Sie, ihn zu sehen?«
Sein Benehmen stand im Einklang zu seinem dicken Schlagflußhals und seiner Dickhäuterhaut. Ihre Abneigung wurde immer stärker. Tuan Mudas Anspielung auf schwarzes Blut fiel ihr ein, beim Gedanken an den Franzosen fragte sie:
»Wie lange wird Tuan Muda fort sein?«
»Tuan Muda? Ich kann es nicht sagen, wie lange, weiß es nicht. Aber Sie wollen Monsieur le Rajah sehen – und es ist wichtig, he?« Er schien in Betrachtung eines Zukunftsbildes verloren, das ihm recht gut gefiel. Wieder sog er durch die Zähne. Dann fuhr er fort: »Nein, ich kann Ihnen nicht sagen, wie lange er fortbleiben wird. Ist das alles, was Sie zu wissen wünschen?«
»Was soll mit mir werden?« fragte sie.
Er antwortete nicht gleich; er schien überhaupt jede Frage von ihr zuerst einem Prozeß des Nachdenkens zu unterziehen, bevor er sich zu einer Entgegnung entschloß; entweder war er sehr schwerfällig im Denken oder ein ausgezeichneter Schauspieler.
»Ich habe Anweisungen erhalten.« Der Ton, mit dem er dies sagte, gefiel ihr nicht.
»Nun?« fiel sie sofort ein.
»Nach zwei Wochen, wenn Sie Ihr Wort geben, alles, was Sie wissen zu vergessen – Sie verstehen, was ich meine –, soll ich Sie an Bord der Yacht bringen und Sie fahren lassen, wohin Sie wollen. Wenn nicht, dann« – ein Achselzucken – »dann bleiben Sie auf unbestimmte Zeit hier.«
»Sie meinen, bis er zurückkehrt«, verbesserte sie, mehr mit sich selbst sprechend als zu ihm. »Also in einem Monat oder später.« Sie atmete tief. »Und Sie haben keine Ahnung, wann Tuan Muda zurück sein wird?«
»Nein, ich habe es Ihnen ja schon gesagt. Jedenfalls kann ich Sie versichern, wird es nicht bald sein. Ist das alles?«
Sie gab keine Antwort, sondern ging zum Fenster und schaute voller Gedanken hinaus. Sie hörte Salazar weggehen. »Ich kann Sie versichern, es wird nicht bald sein.« Diese Worte setzten sich in ihrem Geist fest. Er, Tuan Muda, war den Fluß hinaufgereist und wußte, daß sie mit Salazar allein sei. Aber sie sagte sich, daß sie ungereimt denke; er selbst hatte ihr angeboten, sie nach Sarawak zu schaffen. Und sie hatte töricht abgelehnt. – Fröstelnd ging sie hinauf.
*
Sie hatte eigentlich die Absicht, auf ihrem Zimmer zu bleiben, aber als die Essenszeit herannahte, unterzog sie diese Taktik einer Prüfung. Salazar könnte ihre Abwesenheit als Furcht auslegen, und er brauchte die Wahrheit nicht zu wissen ... Sie gestand sich, daß sie in seiner Gegenwart heftige Unruhe fühlte. Er war kein Typ, mit dem eine Frau geistig sich messen konnte, seine einzigen Waffen, Muskeln und Sehnen, waren zu gewaltig für ein feines Fechten.
Bald nach sieben Uhr ging sie mit erzwungener Gelassenheit in die Halle hinab; sie sah in der Säulenhalle einen weißen Anzug. Ein Zittern überlief sie, aber es hielt nicht an; sie wollte beweisen, daß sie keine Furcht habe. Wie zufällig schlenderte sie hinaus, wo er gegen einen Pfosten gelehnt stand. Sie tat, als ob sie ihn nicht erblicke und schaute nach dem Himmel. Er rührte sich.
»Ich habe darüber nachgedacht«, ließ er unvermittelt verlauten.
Sie sprach nicht, sondern schaute unverwandt nach dem Himmel.
»Ich habe über das nachgedacht, was Sie gesagt haben. Wieso ist es wichtig, daß Sie Monsieur le Rajah sehen?«
Sie überlegte, was für ein Motiv hinter seinen Worten stecken könne; aber sie sah ihn nicht an.
»Was meinen Sie damit?«
»Oh, nichts, nur daß ich es ermöglichen könnte, wenn es so sehr wichtig ist.«
Plötzlich begriff sie und senkte ihren Blick.
»Sie meinen, Sie wollen mich nachschicken?«
Das übliche kurze Schweigen ging seiner Antwort voraus. »Ich werde – ich werde Sie ihm nachbringen.«
Sie lächelte für sich, aber ohne Humor; plump wie ein Vieh war er, schon bei den Vorbereitungen.
»Wir könnten heute abend aufbrechen«, fuhr er fort. »Wir holen ihn vielleicht ein, wenn nicht – so können wir dort sein ... hmm ... vielleicht am Samstag. Er wird nicht erfreut sein, aber« – achselzuckend – »Sie sagten, es sei wichtig.«
Nach einer Pause fügte er hinzu: »Wenn Sie aber Angst vor der Fahrt haben ...«
»Ich versichere Sie, ich habe keine Angst«, erwiderte sie rasch.
»Sie brauchen keine Angst zu haben. Sie werden unter gutem Schutz stehen. Die Dyaks sind nicht mehr wild; Raubtiere gibt es nicht, nur einige Riesenschlangen und Krokodile. Auf dem Kanu ist ein gedecktes Abteil und bei Nacht werden Sie am Ufer unter einem Zelt sein, so daß die Unbequemlichkeiten nicht groß sind. Selbstverständlich, wenn Sie nicht – –«
Sie unterbrach: »Sie vergessen Ahmad und Pangku?«
»Ahmad? Pangku?«
»Ja, meine Boys, die mich auf Conquests Anordnung bewachen.«
Er schnippte mit den Fingern. »Malayenviecher. Ich weiß mit ihnen umzugehen. Wenn sie bloß im Wege sind – Er beendete den Satz mit einem Lachen. »Von der Rückseite des Hauses führt ein Pfad zu einer Landungsstelle unterhalb der Warenlager; ich würde dort mit einer Proa und den Ruderern auf Sie warten, und Sie könnten unbeobachtet von Ahmad und Pangku entschlüpfen. Es ist ganz einfach – wenn Sie es tun wollen.«
Lhassa glaubte in dem Schweigen, das folgte, ihren unregelmäßigen Herzschlag zu vernehmen. Fünf Tage im Dschungel mit ... Nein. Und doch, war es ein größeres Wagnis als einen Monat oder länger mit ihm in Sadok zu verbleiben? Aber natürlich, Tuan Muda würde zurückkehren!
Der Dinnergong ertönte von innen; er hatte einen Klang von Sicherheit in sich, der ihren Entschluß bestimmte.
»Nein,« äußerte sie sich, »ich habe keine Lust zu fahren.«
Sie ging hinein, Salazar folgte ihr. Während der Mahlzeit glühte sie vor Aufregung und Spannung, sie wußte nicht, warum. In ihrem Geist formten sich Bilder von Sümpfen, dunklen Flüssen und schwülem Dschungel, und immer war Salazar mit dabei. Dieser aß schweigend und ging ohne ein Wort vom Tisch. Einige Minuten noch drang Tabaksgeruch zu ihr.
Sie saß regungslos und sah, wie ein Insekt den Leuchter hinauf zur Flamme kroch; sie dachte daran, daß sie einen Monat lang jeden Abend diese Einsamkeit mit ihm zusammen ertragen müßte.
Das Insekt näherte sich dem oberen Ende der Kerze und hielt dicht unter der Flamme.
Würde sie seine rohe Art oder, was schlimmer war als das, die Ungewißheit, die gespannt in der Luft lag, aushalten?
Tausend Dinge könnten in dreißig Tagen geschehen, aber in fünf ... Sie schloß die Augen.
Als sie wieder aufsah, befand sich das Insekt zitternd am Rande der Kerze; sie sah es jetzt erst mit Bewußtsein und erwartete, daß es sich verbrennen würde. Aber plötzlich machte es kehrt und krabbelte unversengt die Kerze hinunter.
Sie schaute fest in das Licht der Kerze und lächelte furchtlos. Dann stand sie auf und ging dem Tabaksgeruch nach.