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Erstes Kapitel
Der schwarze Papagei

Er war von jener Inselkette gekommen, die ihre Smaragde über den Großen Ozean breitet, das heißt er kam eigentlich von Nirgendwo gewandert.

Vielleicht war er ein Plantagenbesitzer oder ein Kaufmann, vielleicht ein Perlfischer oder ein Agent aus einem jener bronzenen Seehäfen, wo der Weiße braungedörrt wird wie Ziegelsteine im Darrofen. Sicher war er kein Tourist.

Dies sagte sich der Besitzer des Hotels Oost-Indie, ein Portugiese von Malacca, namens da Vargas, als er von seinem Motorboot aus, das längsschiffs des eben angelangten Postdampfers lag, den Mann an der Reling musterte. Er stand nahe am Kopfende der Schiffsleiter, eine schwarze Handtasche in einer Hand, in der anderen einen Vogelkäfig. Seinen weißseidenen Anzug übergoß der goldene Schein der Sonne; seine Hüften umschlang nachlässig ein blauer Slendong, wie ihn die javanischen Frauen tragen, dessen Fransenenden im Winde wehten.

Ein klägliches Pfeifen, das zu Herrn da Vargas herunterklang, lenkte seinen Blick auf den Insassen des Vogelkäfigs, einen großen, weißen Kakadu. Ein Mann, der einen Slendong trug und einen Vogelkäfig mit sich führte! Er machte auf Herrn da Vargas einen abenteuerlichen Eindruck. Ein Naturforscher? Viele solcher Käuze wanderten auf dem Archipel zwischen Singapore und dem Korallenmeer umher. Wenigstens, dachte der Portugiese zu ihrer Rechtfertigung, ließen sie nie unbezahlte Rechnungen zurück.

»Oost-Indie?« fragte der Fremde nachlässig und schickte sich an, herunterzusteigen.

»Ja, Mynheer,« antwortete da Vargas, die in den holländischen Kolonien übliche Anrede gebrauchend; wenn man ein Hotel in einem javanischen Hafenplatze führt, muß man doch dem Milieu Rechnung tragen, nicht wahr?

»Ausgezeichnete Küche«, fügte er hinzu, »und mäßige Preise!«

Der Mann mit dem Slendong übergab seine Handtasche dem Portugiesen und stieg, den Käfig in der Hand, in das Boot herab. Der Kakadu, erschreckt durch das plötzliche heftige Knattern der Maschine, sträubte sein Gefieder und schrie. Ein prächtiges Tier, die Farbe der Federn ging an den Flügeln und am Schwanz in Korallenrot über, der Schopf endete in einer goldenen Spitze.

»Ein schöner Vogel, Mynheer«, bemerkte Herr da Vargas, um die Unterhaltung zu eröffnen.

Der andere nickte gleichgültig und nahm seinen Tropenhelm ab, wodurch er dem Hotelier, der sich selbst für einen scharfsinnigen Kenner von Physiognomien hielt, eine bessere Gelegenheit bot, seine Züge zu mustern.

Er war ein Mann unbestimmbaren Alters, mit einer Haut, braun wie Sandelholz und voller Fältchen in den Augenwinkeln. Seine Hände, geschmeidige, schlanke Hände, waren unaufhörlich in Bewegung, fingerten am Rockaufschlag herum, um im nächsten Moment am Dollbord des Bootes zu trommeln oder an seinem kurzen, wohlgepflegten Bärtchen zu ziehen, einem Bärtchen, das kaum sichtbar, je nach der Beleuchtung, rötlich oder dunkelgolden wirkte.

»Haben Sie zur Zeit viele Gäste?« fragte er plötzlich auf englisch mit einer so vortrefflichen Aussprache, daß sie den Eindruck erweckte, Englisch sei nicht seine Muttersprache.

Seine Augen, grün wie Meeresuntiefen, hatten einen anmaßenden Ausdruck; das war, wie Herr da Vargas feststellte, seiner rechten Augenbraue zuzuschreiben, die sich schräg zu einer halbmondförmigen bleichen Narbe an seiner Schläfe hinzog.

Der Portugiese antwortete mit bekümmerter Miene: »Es ist jetzt keine Saison.«

Der Fremde wandte sich um und blickte eine Zeitlang nach dem Horizont, fuhr aber gleich fort:

»Sind irgendwelche Ihrer kürzlich angekommenen Gäste aus Macassar?«

»Macassar?« wiederholte der Portugiese und holte aus seiner Tasche einige jener schwarzen Zigarren in Manilaform, die anscheinend ausschließlich für Männer der Tropen gerollt werden. »Macassar, nein – nein, ich glaube nicht. Erwarten Sie irgend jemand, einen Freund?« und bot ihm zu rauchen an.

Der Gast nickte nur dankend und steckte die Zigarre in die Rocktasche.

Seine Gleichgültigkeit reizte den Portugiesen noch mehr, den dunklen Schleier, der ihn von Anfang an umhüllt hatte, zu durchforschen.

»Sie leben in Macassar?« fuhr er nach einigen Sekunden hartnäckig fort.

Der Mann mit dem Slendong lächelte, mit einem ausweichenden, ziemlich unverschämten Ausdruck, und schüttelte den Kopf.

»Ein schmutziger Ort, keine anständigen Hotels, keine – – –«, da Vargas gab es plötzlich auf, den Satz zu vollenden.

Kurz vor der Ankunft am Quai schüttelte der Mann vom Postdampfer seine Zerstreutheit ab und fragte:

»Ist eine Nachricht für mich in Ihrem Hotel hinterlassen worden? Mein Name ist Garon.«

Herr da Vargas kniff ein Auge zu, eine Gewohnheit, die er für sehr wirksam hielt, während sein Hirn den Namen wiederholte. Garon. Franzose. Ein Offizier auf dem Wege von Saigon her oder von Hué oder Hai Fong. Er war so in Gedanken versunken, daß er für einen Augenblick die Frage des anderen vergaß.

»N–nein,« erwiderte er langsam, »nein, Monsieur« – auf den »Monsieur« tat er sich etwas zugut –, »es ist keine Nachricht da.«

Nun legte das Boot am Quai an. Der Fremde ging auf einen Kossong, das landesübliche Fahrzeug, zu, machte aber wieder halt und wandte sich zu Herrn da Vargas zurück, der noch im Boot war.

»Wann geht ein Schiff nach Singapore?«

»Singapore?« lautete mit zugekniffenem Auge die Gegenfrage:

»Übermorgen. Aber wenn Sie länger zu bleiben wünschen ...«

»Ich danke Ihnen.« Und der Mann stieg in den Wagen, den Portugiesen mit seiner Handtasche zurücklassend.

Als dieser in einem anderen, eben anlegenden Boot einen Eurasier erblickte, den er schon von der Reling des Postdampfers aus bemerkt hatte, rief er ihn an:

»Sahen Sie den Herrn, den ich an Land brachte, der den blauen Slendong trug? Wissen Sie, ob er in Macassar an Bord kam?«

»Ja«, erwiderte der Eurasier; er selbst habe den Herrn vom Landungsplatz herkommen sehen; und er sei ganz betrunken gewesen.

Auf diese Information hin kniff Herr da Vargas natürlich wieder das Auge zu. Betrunken? Zweifellos, beschloß er nun, der Mann mit dem blauen Slendong war ein Offizier aus Französisch-Indo-China. Aber was hatte er in Surabaya zu tun? Und mit diesem Vogel?

Herr da Vargas wußte es nicht, sollte es nie erfahren, aber hätte er es gewußt, so wäre sein Interesse für den Mann mit der Narbe noch größer gewesen.

*

Zur gleichen Zeit stellte der Herr, der sich Garon nannte, ebenfalls Betrachtungen an, aber über eine ganz andere Sache. Schon viele Tage, ja viele Wochen war er damit beschäftigt. Und jetzt, als er zum Hotel fuhr, schien sein Gehirn dahinzuschwinden, hing ihm ausgedörrt im Schädel.

Er war in Macassar gestrauchelt. Vielleicht war es die Stadt, die rauschende Brandung, die weißen Straßen, die sich im Dunkel verloren, wie Pfade des Abenteuers; etwas Lässiges, Lockeres und Liebesdurstiges lag darüber. – – –

»Verfluchter Name,« murmelte er halblaut, »Städte und Frauen sind sich gleich: Engel oder Teufel, kein Zwischending. Und Hafenplätze sind schlecht.«

Das ist eine allgemeine, ganz gute Regel, versicherte er sich selbst. Ah, wenn er nur ganz sicher sein könnte, daß er dort nur mit sich selbst geredet hätte. Verflucht, diese Entgleisung in Macassar.

Danach widmete er seine Aufmerksamkeit dem Bild, das Farben und Töne um sein Gefährt woben. Schwitzende Weiße in Leinen, behelmte Soldaten, Kulis mit gebogenen Deichseln und bronzefarbene Chinesen, Araber und Javaner.

Es war nicht, sagte er zu sich, das malerische Durcheinander der Straits-Inseln oder der Städte an der chinesischen Küste, Städte, deren Namen die Träume der Jugend entflammen. Hier war ein Gefühl für Ordnung, Reinlichkeit und Tätigkeit, das nicht ostasiatisch war.

»Tropisches Holland,« brummte er ironisch vor sich hin, »wohlgeordnet und organisiert, sogar in seinem Laster.« An den Häusern waren große, vergoldete Nummern.

Nummern! Es schien ihm, als ob sie herausträten und ihn quälen wollten. Zum Teufel mit ihnen! Aber sie wollten nicht zum Teufel gehen, sondern blieben hartnäckig da und riefen eine Reihe von Bildern hervor, die sich filmartig abrollten. Cayenne, verloren in Wäldern des Schweigens – Cayenne mit seinen karibischen Indianern und den tropenmüden »Surveillants«, – weißbehelmten Aufsehern, den ›Libérés‹ und ›Déportés‹ in hellgrauen Anzügen aus grobem Leinen. – –

Männer, die nur noch Nummern waren.

Fünf Monate solchen Lebens! Fünf Monate in dieser bleiernen, dieser schrecklichen Stille. Überheiße Tage und Nächte, die wie schwarze Wolle herabsanken. Und nicht einer wußte von ihm; keine Seele. Allein hatte er gearbeitet, allein gewartet, allein diese Mühsal ausgehalten. Allein bis zu seiner Befreiung von der Teufelsinsel, bis zu der Nacht am Hause Finots, des »Libéré«, des Freigelassenen. Eine verhüllte Laterne, Geflüster, ein Kreis dunkler Gesichter, dann eine Reihe von Silhouetten, die sich in die Stadt zurückstahlen. Andere solcher Nächte am Hause Finots, des Freigelassenen, folgten, und dann eine letzte Nacht, wo sich die Silhouetten nicht mehr in die Nacht zurückstahlen. Schwarze Wälder, Höllenqual von Hitze und Hunger. Wie sie litten, diese Männer mit Nummern; endlich ein Fluß – ein Floß! Dann kam eine Kette atemloser, bitterer Tage, Gestank von Sumpf und faulendem Dschungel, Gerüche, die vergifteten. Sie stritten mit sich selbst, diese Männer mit den Nummern. Endlich glitt das Floß aus dem Dunkel des Flusses in den hellen Glanz des Meeres, glitt an die Seite des wartenden Schiffs ...

Er wurde in Thursday-Island an Land gesetzt, einem jener von der Sonne versengten Außenposten, wo die Männer, die an ein Schicksal glauben, an der Küste sitzen, um darauf zu warten. Ohne Bedauern beobachtete er, wie das Schiff mit dem Horizont verschmolz. Er war allein – doch fühlte er sich von einem Schatten verfolgt, der ihn beunruhigte. Und es waren noch drei Tage, bevor das nächste Schiff ging.

In diesen drei Tagen trank er gerade so viel, um seine Gedanken in einen goldenen Dunst zu hüllen und seine Zunge still zu halten. Dann verließ er erleichtert diesen Hafen der Verlassenen.

Macassar. Zu seiner Überraschung nahm der Schatten des Verfolgers keine Gestalt an. Aber er begriff: die Stunde war noch nicht gekommen. Vielleicht machte ihn diese Erkenntnis sorglos. So folgte jener unbestimmte, nebelhafte Zeitabschnitt: gelbe Gesichter und der Geruch von Schlagwasser. Zu vollem Bewußtsein kam er erst wieder auf dem Schiff.

Und jetzt Surabaya. So weit hatte er es geschafft – allein. Immer wieder war er grausam gewesen, hatte Männer vernichtet, als ob es nichts sei. Jedoch niemals zwecklos, immer mit einem Ziel vor Augen. Ein kalter Mann, der nur eine Leidenschaft kannte: Vollendung! Ein Abenteurer, der allein sternenwärts fuhr. Ja, so stand es mit ihm; eines Tages würde er sich aus dem Leben, weit darüber hinausheben, immer seinem Stern entgegen. Und dann – – –

»Himmeldonnerwetter!« fluchte er, seine eigenen Gedanken unterbrechend. »Gefühlsduselei, das macht das Klima! Nur Kaffee kann's vertreiben.«

Er lächelte spöttisch, eigentlich mehr bitter und strich sich mit der Hand über die Stirn. Einen Augenblick lang sah er sehr jung und sehr müde aus, wie ein Knabe, der aus einem Traum erwacht.

Ein sanfter Ton, vom Kakadu kommend, mischte sich in seine Selbstbetrachtung. Seine Augen schweiften zum Käfig hinunter; nach einigen Sekunden kicherte er, aber ohne Humor. Selbst diese Kreatur paßte in sein System, sein gefühlloses Hinopfern des Menschen für einen Zweck. Tatsächlich hatte er den Vogel für einen bestimmten Zweck erworben, und, wenn dieser erfüllt war, würde er dahingehen müssen, dieser gefiederte Genosse seiner Einsamkeit, wie es mit jeder seiner Freundschaften gegangen war.

In solche Gedanken versunken, langte er endlich am Hotel an. Beim Durchschreiten der Veranda bemerkte er mehrere in weißes Leinen gekleidete Gestalten an einem Tisch; das plötzliche Aufflammen eines Streichholzes, als einer der Männer eine Zigarre anzündete, enthüllte aus dem Dunkel ein Paar schmaler Handgelenke, Gelenke, die Narben wie Ringe trugen.

Die plötzliche schwarze Nacht der Tropen war herabgebrochen; eine Brise blies vom Meer her, schwach und salzig, bis in die Gärten des Oost-Indie-Hotels, wo Bäume und Menschen schauerten, als ob es von Fieber und Schlimmerem wispere.

Nach Schluß des Diners fanden sich die üblichen Gruppen auf der Veranda zusammen.

Der Mann mit dem blauen Slendong schaute rechts und links nach den glimmenden Zigarren und verglich sie mit den Kegeln entfernter Vulkane. Dann schlenderte er zu einem Tisch am Ende der Veranda hin und war sich dabei ganz bewußt, daß ihm ein Mann aus dem Billardzimmer gefolgt war. Er setzte sich nieder, ohne auch nur einen Blick auf die weiße Gestalt zu werfen, die an ihm vorbeiging. Diese machte nach einigen Schritten halt und kehrte um.

»Darf ich an Ihrem Tisch Platz nehmen?« Eine lebendige britische Stimme.

Der Mann, der sich Garon nannte, nickte und machte eine Handbewegung. Der andere setzte sich und tippte auf die Klingel nach dem Boy.

Ein Boy kam geräuschlos und nahm ihre Bestellung entgegen.

»Sie sind fremd in Surabaya, nicht wahr?« kam es aus dem Munde des Mannes, dessen Gesicht ein bleiches Oval über dem toten Weiß seines Leinenanzugs bildete. Garon murmelte bejahend, zog Zigaretten heraus und bot sie, nicht ohne Absicht, an. Der Mann nahm eine und zündete sie an. Ein aufflackerndes Glühen über langen, schmalen Gesichtszügen, ein kurzer Blick auf Narben an den Handgelenken.

»Ich habe Sie bemerkt, als Sie ankamen«, fuhr die Stimme aus dem bleichen Oval fort. »Kann Ihr Kakadu etwas vortragen?«

»Ich dressiere nicht Vögel«, antwortete Garon. »Ich sammle sie; diesen kaufte ich auf Thursday-Island.«

»Sammeln? Um sie auszustopfen und im Museum auszustellen?« Der Franzose lächelte still in sich hinein: »Ich kaufe und verkaufe sie.«

»Ich verstehe, ein Vogelhändler; neues Geschäft.« Garon lachte, aber ohne Humor. »Es ist kein Geschäft, sondern eine Vorsichtsmaßregel. Wohin immer ich gehe, führe ich irgendeinen Vogel mit; dann, wenn ich in eine Notlage gerate, verkauf ich ihn.«

»Aber gewinnen Sie die Tiere nicht lieb?«

Garon lachte wieder und sagte:

»Gefühl hat mit Geschäft nichts zu tun.«

»Vögel? Hm?« sann halblaut der andere und kicherte. »Thursday-Island, hm, ein schauderhafter Platz. Sind Sie nicht dort unten durch irgendeinen Zufall dem ›Schwarzen Papagei‹ über den Weg gelaufen? Nein?«

Garon lächelte unbemerkt in der Dunkelheit und fingerte unruhig am Rockaufschlag herum.

»Ein schwarzer Papagei?« Er täuschte Nachdenklichkeit vor. »Gibt es einen solchen Vogel? Ich kenne den großen schwarzen Kakadu, den die Naturforscher –«

»Sicherlich,« unterbrach der andere, »sicherlich haben Sie von dem ›Schwarzen Papagei‹ gehört!«

»Ich muß meine Unwissenheit gestehen. Sehen Sie,« log er, »ich bin eben von New Cumberland heraufgekommen. Ich bin begraben gewesen für – – – für fünf Monate.«

Nach einer kurzen Weile fing der Mann mit den narbigen Gelenken wieder an:

»›Le Perroquet Noir‹, so heißt er in Cayenne. ›Der schwarze Papagei‹, klingt romantisch, nicht wahr?«

»Aber wer ist er?« drängte Garon. »Warum heißt er so?«

Ein Kichern. »Sie können ebensogut fragen, wer der Teufel ist.« Und nach einer Pause: »Vielleicht ist er wirklich der Teufel, der zur Abwechslung seinen Aufenthalt bei den Sterblichen nahm. Zur Rekrutierung. Wenn ja, so begann er nahe zu Hause. Guyana liegt direkt über dem Hades, wissen Sie.«

»Aber Teufel oder nicht, er organisierte eine besondere Art von Hölle in der Strafkolonie. Die Beamten glauben, er sei ein entsprungener Sträfling von der Teufelsinsel, ein Kerl namens Letourneau, ein Straßenräuber. Sie meinen, er hilft anderen – – –. Aber Sie fragen, warum er der ›Schwarze Papagei‹ heißt, nicht wahr? Also, ich hab' eine Version gehört. Ein französischer Offizier von St. Laurent erzählte mir die Geschichte, er gehörte zu dem Militärischen Bewachungskorps. Da war ein Mörder, ein schwärzliches Scheusal, Sohn eines anamitischen Weibes und eines Kaufmannes von Hai-Fong, der nach Guyana verbracht wurde. Die Gefangenen tauften ihn den ›Schwarzen Papagei‹. Weiß nicht, warum, vielleicht sah er einem solchen ähnlich. Bald nach seinem Eintreffen in der Kolonie ermordete er einen ›Spitzel‹ mit dem Messer. Scheußliche Geschichte.

Das Marine-Kriegsgericht brauchte nicht lange, um zu dem Beschluß zu kommen, ihn der Madame Guillotine vorzustellen.

Malen Sie sich die Szene aus. Farblose Morgendämmerung – –. Warum finden Hinrichtungen gewöhnlich bei Tagesanbruch statt, können Sie mir das sagen? – – –

Der Papagei vernimmt in seiner Zelle die schreckliche Gerichtsvorladung: ›Heute ist es‹ denkt er, und wird eingeweiht in die schrecklichen Vorbereitungen zum Tod, die man ›la toilette de la mort‹ nennt. Dann wird er in den Hof der Verurteilten geführt.

Ich wiederhole, stellen Sie sich die Szene vor: ein dichter Haufe von Sträflingen, zwangsweise dabei; die Aufseher und das große dunkle Scheusal auf dem Schafott; ein Bastard, wie Sie hörten, mit gefesselten Armen und abgeschnittenem Halskragen; vielleicht ein Priester neben ihm; Monsieur von der Teufelsinsel, der Scharfrichter, auf ihn wartend. Keine Möglichkeit, zu entrinnen. Wie, vermuten Sie, fühlte er sich, dieser grausame Kerl, ein zweifacher Mörder? Glauben Sie, er hatte Angst? Sebillot, der mir die Geschichte erzählte und die Hinrichtung mit ansah, sagte, er habe gelächelt, als ob er etwas grimmig Lustiges wüßte, gelächelt zu Madame Guillotine hin. Sie sehen, er war ein – hartgesottener Sünder. Unmittelbar bevor man ihn unter das Fallbeil band, durfte er noch sprechen, das ist so Sitte, wissen Sie. ›Ihr könnt mir meinen Kopf abschneiden,‹ sprach er, ›aber ich werde wiederkommen und es euch heimzahlen.‹ Eine verrückte leere Drohung – – –. So köpfte man ihn denn, diesen schrecklichen Kerl. Sebillot – er stand dicht daneben – schwört, daß der Kopf des ›Schwarzen Papagei‹ lächelte, als er in den Korb fiel. – – –

Eine Woche oder zwei später entsprang Letourneau, der Straßenräuber, eine Anzahl anderer Fluchten folgten. Dann ertrank eines Tages der Mann, der den ›Schwarzen Papagei‹ enthauptet hatte. Niemand sah oder wußte, wie es zugegangen war. Ein Unglücksfall, verkündete der Gouverneur der Kolonie. Die Sträflinge aber sagten: es sei die Rache des ›Schwarzen Papagei‹.

Die Flucht von Sträflingen dauerte an. Und nach jedem Verschwinden erhielt der Chef der Aufseher eine Karte, auf ganz geheimnisvolle Weise natürlich, ungefähr des Inhalts: Le Perroquet Noir – viens me chercher! (Der Schwarze Papagei – komm, hol' mich!) Die Gefängnisbeamten fühlten sich ganz geheimnisvoll irregeführt. Wohin, denken Sie, gehen diese Sträflinge nach ihrer Flucht? Ich habe gehört, in Paramaribu gebe es eine Gesellschaft zur Unterstützung entsprungener Deportierter. Hab' auch noch andere Dinge gehört.«

Er machte eine Pause, schlürfte seinen Likör, dann fuhr er fort:

»Einige Matrosen waren versammelt in einer Hafenbar. Die Unterhaltung kam auf den ›Schwarzen Papagei‹. Einer der Burschen wußte von einem erstaunlichen Schurken zu erzählen, wie man sie in Romanen findet; er habe Leute angeworben, um unverkäufliche Kunstschätze, historische Schmuckstücke und Juwelen zu stehlen, er wiederum verkaufe sie an Sammler und reiche Narren für fabelhafte Summen. Er sei eine Art von Gentleman-Freibeuter, der ein romanhaftes Leben führe. Und, fuhr der Bursche fort, vielleicht sei der ›Schwarze Papagei‹ dieser selbe Schurke und wäre auf die Idee gekommen, sich eine Bande zu organisieren, die er aus den Sträflingen von Cayenne rekrutiere. Eine ausgezeichnete Art, sich eine treuergebene Gefolgschaft zu schaffen.« Der Mann mit den Narben am Gelenk lachte, ein sanftes, fröhliches Lachen. Garon lächelte bloß und fuhr fort, an seinen Manschetten zu zupfen.

»Aber Seeleute«, bemerkte der Fremde, »haben den Ruf, mehr interessant als wahrheitsliebend zu sein; dieser Luxusfreibeuter mag wohl eine Erfindung gewesen sein, aus einer Flasche Wein entsprungen; aber jedenfalls ist es eine gute Geschichte.«

Beim Wiederanzünden seiner Zigarre erhaschte Garon ein Lächeln auf dem langen, schmalen Gesicht, ein ziemlich spöttisches und ziemlich beunruhigendes Lächeln.

»Sie, als Vogelzwischenhändler,« gab der Mann mit den Narben am Gelenk launig zu verstehen, »Sie sollten sich für den Herrn Papagei interessieren. Wenn Sie ihn fangen, werden Sie einen hübschen Profit einheimsen. Etwas schwierige Arbeit, was? Die Frage ist: Wer ist er? Letourneau, der Straßenräuber, oder der wunderbare Gentleman-Schurke, oder der Geist des ›Perroquet Noir‹?«

Garon sah den anderen grimmig an und erhob sein Glas: »Ich fahre mit dem nächsten Dampfer nach Singapore« gab er wohlüberlegt kund. »Und daß ich dort« – ein Achselzucken – »den Papagei finden werde, ist nicht wahrscheinlich. Ich danke Ihnen für Ihre Gastfreundschaft.«

*

Später in der Nacht ging Garon noch in die Stadt. Herr da Vargas wunderte sich, wohin sein sonderbarer Gast zu dieser Stunde noch ginge. Da er kein Hellseher war, konnte er nicht wissen, daß der Franzose noch eine Verabredung in der Bierhalle von Oei Moo Lim hatte. Aber der Mann mit den Narben am Handgelenk wußte es. Er war darauf aus, es zu wissen.

*

Als Garon spät am Morgen aufstand und in das blendende, fegefeuerheiße Licht hineinschaute, war er in keiner guten Stimmung. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihm eine tiefe Blässe unter seiner braungegerbten Haut und dunkle Halbmonde unter seinen Augen. Seine schlechte Laune nahm zu, als er seine Geldtasche musterte.

»Ach Gott,« brummte er achselzuckend im Selbstgespräch, »es gibt einen Deckel für jedes Loch und eine Lösung für jedes Rätsel.«

Dann packte ihn plötzlicher Zweifel. Gesetzt den Fall, in Singapore würde das Erwartete, das im voraus Angenommene nicht eintreffen? Was dann? Fehlschlag? Unmöglich, er würde erfolgreich sein. Oder umgebracht werden. Mit dem, was er wußte, würde man ihn nicht am Leben lassen, falls er die Probe nicht bestünde. Und was für eine Probe, überlegte er. Im Zeitraum weniger Wochen hatte er seinen Stolz, seine Selbstachtung begraben, die letzte Tugend, die ein Mann zu verkaufen hat, und war ein – – – ja, ein Räuber geworden. Und all dies weil – – – weil er seine Träume mitsamt seiner Vergangenheit in ein Kerkerloch eingesperrt und sich einem Ziele geweiht hatte.

Beim Frühstück stellte er bei Herrn da Vargas gewisse Nachforschungen an, aber mit geringem Erfolg.

»Also so nennt er sich, hm?« sann er nach. »Aber Namen, pah, Schurken haben in jedem Hafen einen anderen.«

Wenige Minuten später ließ er sich mit dem unvermeidlichen Vogel zu einem Schiffsbüro fahren und sicherte sich einen Platz. Danach hatte er nur mehr wenige Kleingeldstücke, nicht einmal mehr das Geld für einen Wagen. Also ging er zu Fuß weiter.

Sein Weg führte ihn über zwei Brücken in eine lange Straße mit wechselnden Schatten und Farben, eine Lebensader, die unmittelbar vom Herzen Chinas selbst zu kommen schien. Gelbe Gesichter in den Toreingängen und Fenstern bunter Häuser. Kaufläden aller Art; Geschäfte mit Seide von Fu-chau und Chi-fu, Läden, die nach Räucherwerk und nach aromatischem Gummi von Afrika dufteten, Läden, wo Götter von Burma und Siam verächtlich auf die Götter europäischer Herkunft blickten, Läden, die prahlten mit Goldstaub von den Celebesinseln, Perlen von Ceylon und Edelsteinen von Cambay. Und ein Laden, wo lustig buntgefiederte Vögel in übelriechenden Käfigen ihre Flügel putzten.

In den letzteren begab sich Garon. Ein Chinese saß mit gekreuzten Beinen auf einem Kissen. Bei Garons Eintritt erhob er sich und kam ihm entgegen. Er schaute auf den Kakadu, nickte dem Besitzer zu und wartete.

Der Franzose, dessen Augen sich dem künstlichen Zwielicht anpaßten, sah in einer Ecke im Käfig ein Zobeltier. Kleine, gefiederte Geschöpfe blinzelten nach ihm, blaue, grüne, karmoisinrote und graue Papageien. Aber – dies dachte er spöttisch für sich – kein »schwarzer Papagei«.

»Ich nicht wollen kaufen,« ließ er sich in Pidgin, der Umgangssprache des Archipels vernehmen, »ich wollen verkaufen.«

Der Chinese blinzelte ihm wie einer seiner Vögel zu und sagte würdevoll: »Ich spreche Englisch.« Und er fügte hinzu: »Mein Name ist Soy Lim; haben Sie von mir gehört? Viele Jahre lang hatte ich einen Laden in der Rochore Straße in Singapore.«

Ein Schimmer von Humor belebte Garons Augen.

»Sehr wohl, Soy Lim, ich will diesen Vogel verkaufen,« auf den Kakadu deutend: »er gehört zu der Spezies, die als Cacatua leadbeteri bekannt ist, eine sehr seltene Art. Ich würde mich nicht von ihm trennen – – – wenn nicht – – – nun, ich brauche Geld. Außerdem interessiere ich mich zur Zeit für andere Vögel.«

Die Augen des Orientalen und die des Weißen trafen sich. Soy Lim blinzelte wieder, nahm den Käfig und lobte seinen Insassen. Der Kakadu pfiff klagend, für Garon dreifach kläglich. Er fühlte ein schmerzliches Bedauern, das er aber rasch überwand.

»Was wollen Sie mir für ihn geben?« fragte er.

Nach einer Überlegung nannte der Chinese einen Preis.

»Schlagen Sie zehn Gulden dazu, und Sie können ihn haben.«

»Ich würde den Vogel gar nicht kaufen, wenn in Goebeng nicht ein Doktor wäre, der einen solchen Kakadu wünscht; ich will deshalb zwei Gulden darauflegen.«

»Zehn«, der Franzose bestand darauf.

»Zwei.«

»Zehn.«

»Drei.«

»Ich sagte zehn.«

Der verschmitzte gelbe Mann schüttelte den Kopf. »Vier, nicht mehr.«

Garon ging auf die Türe zu.

»Fünf« rief ihm Soy Lim nach.

Er zögerte. »Also gut,« stimmte er zu, »fünf Gulden zu dem ursprünglichen Angebot.«

Der Chinese tauchte in einer dunklen Ecke unter und kam mit dem Geld zurück. Garon zählte es nach, steckte es in die Tasche und verabschiedete sich mit einem Nicken. Ein sanftes, klägliches Pfeifen folgte ihm auf die Straße hinaus: ein Vorwurf und ein Lebewohl.

Gleich nachdem er den Laden verlassen hatte, nahm Soy Lim seinen Platz wieder ein, den Vogelkäfig zur Seite. In seiner bedachtsamen Art zog er sich ein Paar weiter Handschuhe an, öffnete die Käfigtür und griff nach dem Kakadu. Ein Geschrei, das Flattern korallenfarbiger Flügelenden. Aber die behandschuhte Hand war unerbittlich. Soy Lim zog das erschrockene Tier heraus, drückte es an seine Brust und redete ihm sanft zu. Allmählich beruhigte sich der Vogel; nun zog der Chinese mit den Zähnen den einen Handschuh ab, griff unter die Federn, und wie ein Zauberer, der einen Gegenstand aus der Luft holt, brachte er eine dünne Papierrolle zum Vorschein.


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