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Riga 1784.Vgl. »Von und an Herder«, II. 96. Diese Uebersetzung erschien in zwei Theilen in den Jahren 1784 und 1885. – D.
Da ich die Uebersetzung dieser Schrift veranlaßt habe, so dünkt es mich auch Pflicht, die Ursachen der Veranlassung und den Zweck anzuzeigen, den ich damit zu erreichen hoffte.
Der Verfasser des BuchsJames Burnet of Monboddo, one of the lords of the Court of Session in Scotland. – H. hat sich den Journalisten seiner Nation und leider sowol den Metaphysikern als Physikern und Schönschreibern übel empfohlen. Den ersten, weil er auf die Philosophie des Locke, den zweiten, weil er auf das Ansehn Newton's kühne Angriffe gethan; die modischen Schriftsteller endlich (genus irritabiie vatumHor. Epist., II. 2. 102. – D.) hat er am Meisten beleidigt, da er sich, eingenommen von der Regelmäßigkeit, Klarheit und Ründe der griechischen Schreibart, so entscheidend gegen den neuern Flitterputz erklärt hat und wenigen Autoren das classische Ansehen zugestehen will, in dessen Besitz sie sich durch die Stimme der Recensenten sicher glauben. Sie haben ihn also reichlich entgelten lassen, was er an ihnen verübte, und auch unter uns ist der Name Monboddo mehr oder minder durch einen Nachhall solcher Urtheile bekannt worden.
Indessen ist die deutsche Nation viel zu gleichgültig oder zu edel, als daß sie durch eine literarische Cabale jenseit des Meers sich in ihrem Urtheil von einem Buch bestimmen ließe, das als Fremdling in ihre Sprache übertritt und das Recht der Hospitalität begehrt. Locke geht uns nicht weiter an, als sofern er der Wahrheit diente, und wir sind lange schon durch Leibniz gewöhnt, auch schwache Seiten seiner Philosophie zu finden. Newton hat mit diesem übersetzten Werk nichts zu schaffen; denn was Monboddo gegen ihn hat, hat er in seinen Ancient MetaphysicsAncient Metaphysics, or the science of Universals. Edinb. 1779. – H. ausgeschüttet, einem Buch, das ich noch nicht gelesen habe und also weder zu verdammen noch zu rechtfertigen wage. Was endlich seine Meinung über die Schreibart anlangt, die wir im Verfolg des Werks sehen werden, so glaube ich, daß sie mit dem Urtheil der besten Schriftsteller und Richter unsers Volks übereinstimmen, ja dieses sogar aus Gründen der alten und ächten Kritik neu unterstützen werde. Nichts ist ihm so verhaßt als die bunte Schreibart; nichts ehrt und liebt er mehr als griechische Einfalt und Klarheit. Ueber den Bau der Sprache und des Perioden hat er mit und nach dem Dionysius von Halikarnaß gründlich und bündig gedacht, so daß, was er Verderbniß des Geschmacks nennt, ein Alter schwerlich anders nennen würde.
Von solchen Vorurtheilen hat also unser Philosoph in Deutschland nichts zu befürchten; vielmehr glaube ich, daß sein Buch bei unsrer Nation, deren Vorzug vor andern eine zwar kältere, aber desto gerechtere Gleichmüthigkeit ist, gewinnen werde. Durch Uebersetzungen aus allen Sprachen sind wir auch an allerlei Vorstellungsarten gewöhnt, und in der Metaphysik haben wir, vielleicht auch unsrer kalten Besonnenheit wegen, wenigstens vor einiger Zeit so große Schritte gethan, daß, wie mich dünkt, eine Basis von festem Geschmack unter uns errichtet worden, für welche Monboddo eben ein Mann ist. Ich darf also meine Meinung über diese Schrift frei sagen und sowol ihr Vortreffliches als ihre Mängel, wie solche mir wenigstens vorkommen, nicht verhehlen.
Der vornehmste Werth des Buchs scheint mir das gefaßte bündige Urtheil zu sein, welches unsern Autor in einer ihm angemessenen männlichen Schreibart vor vielen Schriftstellern unsrer Zeit vortheilhaft auszeichnet. Man sieht und fühlt's, daß er, vom Mark der Alten genährt, sich von keinem süßen Naschwerk verführen lasse und dieses dreist verschmähe. Seine Philosophie ist zwar hie und da mit einiger Aristotelischen Skrupulosität verwebt, übrigens aber bestimmt, gründlich, vielumfassend und edel; denn er bleibt nicht beim Stagiriten, sondern hat auch Plato und die Reste der Pythagoreer genutzt, ja in einigen Stellen gut erläutert. Sein Freund Harris, den er an mehreren Orten als ein Orakel lobt, und der auch unter uns durch seine vortrefflichen GesprächeJacob Harris' »Abhandlungen über Kunst, Musik, Dichtkunst und Glückseligkeit«. Halle 1780. – H. theils schon bekannt ist, theils durch einen Auszug aus seinem HermesVollständig übersetzt von Chr. G. Ewerbeck, nebst Anmerkungen und Abhandlungen von Fr. Aug. Wolf und dem Uebersetzer. Erster Theil. Halle 1788. – D. und seinen kleinen philologischen Abhandlungen bekannt zu sein verdiente; wahrscheinlich hat dieser beinah zu eifrige Liebhaber der griechischen Philosophie ihn auch in diesen Geschmack gezogen, und es ist leicht zu erachten, daß, wer einmal in dieser Liebe ist, nicht von ihr los kann. Wer den Dianentempel zu Ephesus gesehen hat, der läßt die Tempelchen, die auf dem Markt verkauft werden, gern dem Liebhaber. Es kann also sein, daß Monboddo für den neuern Geschmack nicht vielseitig gnug denkt; gnug aber, er denkt scharf, bündig und meistentheils richtig.
In allen drei Büchern dieses ersten Theils äußert sich dieser ächte philosophische Geist, vorzüglich aber im zweiten und dritten; daher ich wünschte, daß Leser, denen die Capitel gegen Locke zu lang dünken, sie nebst einigen Anmerkungen überschlagen und sich an das halten möchten, was der Verfasser über die Bildung der Ideen, über die Natur des Menschen, über die Entstehung und Fortschritte der Gesellschaft und Sprache so angenehm als unterrichtend gesagt hat. Der Ursprung und Fortgang der Sprache, wie er ihn betrachtet, ist keine Speculation über Grammatik, sondern eine Philosophie über den Menschen und über die dunkeln Gründe, wie er das, was er jetzt ist, worden. Ich leugne daher nicht, daß ich nach der Geschichte des Menschen, auf die Monboddo irgendwo in diesem Buch Hoffnung giebt, sehr verlange und überzeugt bin, daß sie vor dem in einzelnen Theilen vortrefflichen, im Ganzen aber sehr mittelmäßigen Werk seines Landsmannes Home viel Vorzüge haben müßte. Der Letzte ist reich an Thatsachen und den mancherlei Farben der Menschheit; seine Grundsätze sind aber schwach, und das, woran er Alles hängt, ist gerade das Brechlichste im Buche. Monboddo ist mit sich selbst eins und hat seine Philosophie aus Zeiten, in denen man den Menschen noch reiner und entkleideter sah, als wir ihn jetzt sehen können und sehen mögen.
Vorzüglich, dünkt mich, ist unserm Verfasser der Hauptzweck seines Werks, die Untersuchung vom Ursprung und den Fortschritten der Sprache, gelungen, so daß ich ihm hierin, da ich ziemlich Alles gelesen, was über diesen Gegenstand geschrieben ist, und selbst darüber geschrieben habe,Vgl. Herder's Preisschrift »Ueber den Ursprung der Sprache« (Berlin 1772). – D. willig die Palme reiche. Da er sich insonderheit an die unbestimmten Worte Natur, Kraft, Fähigkeit gehalten und sie scharf bestimmt hat, so ist diese Materie von ihm beinahe erschöpft, und ich glaube, man habe auch bei andern Dingen nur auf diesem Wege fortzugehen, um die Natur des Menschen in seinen verschiedenen Zuständen sehr genau zu treffen und zu entwickeln. Ein Gleiches ist's mit der Vergleichung mehrerer Sprachen. Es könnte noch eine Reihe andrer wilder und halb wilder dazugethan werden (und wahrscheinlich wird dieses geschehen, wenn das Studium der Menschengeschichte mehr emporkommt);Insonderheit wünschte ich, daß ein Philosoph in Monboddo's Denkart die Nachrichten von wilden Sprachen in des Abts Gili Storia Americana benutzte und sodann zu den gebildetern Sprachen Asiens schritte, von denen in den neuern Jahren gleichfalls nähere Nachrichten bekannt worden sind. – H. gnug aber, der Pfad ist gebahnt; die Grundsätze unsers Autors und seines Freundes Harris dünken mir nicht nur die einzig wahren und festen, sondern auch seine ersten Versuche, mehrere Sprachen verschiedner Völker auf verschiednen Stufen der Cultur mit einander zu vergleichen, werden immer Vorarbeiten eines Meisters bleiben. Und so wäre einmal (gewiß noch nicht so bald!) eine Philosophie des menschlichen Verstandes aus seinem eigenthümlichen Werk, den verschiednen Sprachen der Erde, möglich.
Ich würde dem Leser selbst vorgreifen, wenn ich ihm die einzelnen trefflichen Gedanken, Urtheile und Winke, die durchs Buch zerstreut sind, vorzählen wollte; der beste Reiz des Lesens ist, wenn man wie auf einem einsamen Spaziergange hier eine Blume, dort eine Frucht, hier eine angenehme Quelle antrifft und am Ende auch selbst etwas auszujäten und zu bessern findet. Nöthiger scheint es mir, auf einige Eigenheiten des Buchs vorzubereiten, auf die ein Tadelsüchtiger um so eher fallen könnte, weil sie dem Auge nur gar zu bloß liegen.
Zuerst hat der VerfasserCap. 3. B. 2. – H. aus Liebe fürs Alterthum auf einige Erzählungen des Dionysius von den Unfühlbaren und andern Völkern zu sehr gebaut, ob sein System gleich dieser Induction nicht nöthig gehabt hätte. Daß es wilde Völker in Afrika gebe, ist bekannt, und daß es vor ein paar tausend Jahren noch rohere gegeben habe, ist wahrscheinlich; daß aber diese Rohheit je so weit gegangen, daß eine wirkliche Menschennation völlig ohne Sprache gewesen sei, kann ich nicht glauben. Von den Fischessern sagt es Dionysius nicht; vielmehr was er von ihnen anführt, hat man bei mehrern Völkern der Erde gefunden, die, als man sie näher kennen lernte, völlige Menschen auch im Vermögen der Rede, Sinnen und Trieben waren. Seine Hylophagen sind entweder von der nämlichen Art oder gar ein Volk Affen gewesen, die man, wie es mehrmals geschehen ist, für wilde Menschen ansah; denn was der Grieche von ihnen anführt, ist der Lebensweise der Affen ziemlich ähnlich. Diodor's UnempfindlicheVgl. Herder's Werke, X. S. 142 – D. endlich halte ich für eine der Geschichten, deren Grundzüge wahr, aber übertrieben sind, wie wir in den alten, mittlern, ja selbst neuen SchriftstellernMan denke an die weiblichen Schürzen der Hottentotten, an die stummen Völker mit blutender Lippe, ja noch neuerlich an Commerson's Zwerge auf Madagascar; der Akephalen und so mancher andrer Ungeheuer des Plinius nicht zu gedenken. – H. davon eine Menge finden. Afrika ist immer reich an Ungeheuern gewesen, aus keiner andern Ursache, als weil es am Unbekanntesten war.
Ein Gleiches ist's mit den langgeschwänzten MenschenCap. 3. B. 3. – H. auf den Nicobar-Inseln, bei denen der Verfasser dem Ansehen Linneus' zu sehr folgt. Es ist bekannt, daß dieser große Mann die Eigenheit hatte, einen Nacht- und Tagmenschen in sein System der Natur aufzunehmen, und daß er jenem zu gut drei völlig verschiedne Wesen, den wilden Buschmann, den menschenähnlichsten Affen und die Albinos, einen Auswurf kranker Indianer, unter einen Namen brachte. Die unbestimmten Sagen und mancherlei Fabeln der Reisenden hatten ihn dazu verleitet; je bestimmter aber die Nachrichten worden sind, desto genauer sind diese drei Geschöpfe geschieden.Tyson's Philological essay concerning the pygmies, the cynocephali, the satyrs and sphynges of the ancients, wherein it will appear, that they were all either apes or monkeys and not men, as formerly pretended, war eine der ersten fleißigen Abhandlungen zu Bestimmung dieses Unterschiedes, auf welche, insonderheit die Albinos betreffend, mehrere gefolgt sind, die hier anzuführen zu weitläuftig wäre. – H. Der wilde Mensch ist ein Mensch, der Affe ein Affe, der Albinos ein ausgearteter Indier geblieben; und die geschwänzten Menschen auf Borneo, den Nicobar-Inseln u. s. w. haben sich verloren. Man kann hiernach also den Auszug aus Linneus' Briefe, den der Verfasser (Cap. 3. B. 2) mittheilt, ziemlich berichtigen. Nr. 5 ist ein Albinos oder Kakerlak; Nr. 2, 3 sind Affen, Nr. 4 ist unbestimmt, und Nr. 1, 6 sind Berichte der Reisenden, die noch Erläuterung oder Bestätigung bedürfen.
Diesem Irrthum lag ein andrer nahe, nämlich daß Affe und Mensch ein Geschlecht sei, daß der Orang-Utang mit seinem Stecken in der Hand eine dem Menschen ähnliche Vernunft beweise, und es ihm nur an einer weitern Ausbildung auch zur Rede fehle. Ich will mich hierüber nicht weitläuftig einlassen, da ich die Materie in einer andern SchriftIdeen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 1784 [Buch III. Cap. 6]. – H. auseinandergesetzt habe, sondern nur anführen, daß selbst die Anatomie dieser Meinung entgegen sei und nach Camper's EntdeckungPhilosophical Transactions, P. I. 1779. – H. der Affe auch dem Organ nach nicht zur Sprache geschickt sei. So trefflich unser Verfasser es ins Licht gesetzt hat, daß bei dem Menschen seine edelsten Vermögen erworbne Fertigkeiten sind, so ist's ein Mangel seines Buchs, daß er nicht zugleich bemerkte, wie einzig der Mensch die nächste Fähigkeit dazu theils in seiner Organisation, theils in seiner Lebensweise von der Geburt an besitze, und daß also weder der Affe noch irgend ein Thier der Erde in seiner Gestalt und Lebensart wahre menschliche Vernunft und Sprache je erhalten werde; vielleicht nicht aus wesentlicher Unvermögenheit ihrer Seele, sondern weil ihre gegenwärtige Organisation sie von uns scheidet. Auch den Biber rückt Monboddo, Buffon zufolge, viel zu weit hinauf, da er offenbar nur instinctmäßig baut und in Gesellschaft lebt. Daß er zu bauen unterläßt, wenn er nicht zahlreich gnug ist, hat er mit mehrern Thieren gemein, die zu ihrem Werk eine Anzahl von Mitgesellen bedürfen; denn auch wenige einzelne Bienen würden nicht bauen, zumal wenn ihnen die Königin fehlte. Daß der Biber seine Wohnung im Kleinen verändert, hat er ebenfalls mit mehrern Thieren gemein; und selbst von den Bienen hat schon Swammerdam bemerkt, daß ihnen nicht allemal die Zellen gleich gut gerathen. Diese Unterschiede sind aber nur kleine Local- und Zeitveränderungen, die von einer freiwilligen überdachten Veränderung, ihren Bau jetzt als einen Bau der Vernunft anzulegen, weit abstehn. Ein Gleiches ist's mit dem Thier am Dnjester, das Polignac Baubacis nennt, und dessen Künste der Verfasser (Cap. 9. B. 2) anführt. Wahrscheinlich ist's mus citellus Linn. und hat seine Künste mit mehrern Thieren dieser Gattung gemein, wie in vielen Beispielen gezeigt werden könnte.
Dies Alles sind Kleinigkeiten, die das Innere des Werks nicht treffen; was ich jetzt anführe, hat auf das System des Verfassers mehr Einfluß. Um nämlich die Erwerbung der menschlichen Fertigkeiten ganz darzustellen und von unten herauf zu verfolgen, nimmt er ganz rohe thierähnliche Menschen an, die lange zuerst ohne Sprache waren; wo und wann aber hat es solche gegeben? Die Geschichte kennt keine Nationen von Thiermenschen; denn auch die rohesten Menschenfresser haben Sprache. Sie lernen sie gerade wie wir durch Tradition und Erziehung, der Pescheräh wie der Engländer, der klatschende Hottentott wie der sanft redende Grieche. Der Autor hat es auch selbst gefühlt, wie schwer es sei, jedem wilden Volk die Erfindung seiner Sprache zu überlassen, und meint daher, daß einige gebildete Völker sie erfunden haben. Aber welche? und wie theilten diese nun den ungebildeten, die Jahrtausende lang sprachlos gelebt hatten, die Sprache mit? und zwar also mit, daß diese dennoch ihr eignes unvollkommenes Idiom voll Ausrufungen und langer Wörter bekamen, als ob sie sich dasselbe von Grund aus selbst gebildet hätten? Hier hat das System unsers Verfassers eine Lücke, auf die ich nur zeige, ohne sie ausfüllen zu wollen; es wird dazu anderswo der Ort sein.
Ferner, wenn Monboddo den Aegyptern das große Lob der Spracherfindung giebt, so steht ihm, wie mich dünkt, nicht nur die Geschichte, sondern selbst der Bau der Erde entgegen, nach welchem die Aegypter wenigstens in diesem Lande nicht anders als ein spätes Volk sind. Und doch fand ihre Cultur gerade in diesem Lande die veranlassenden Ursachen; in einem andern wären die grob gebauten Aegypter nie das geworden, was sie geworden sind. Die Reiche des höhern Asiens waren wahrscheinlich viel früher gebildet, wie theils ihre alten Sprachen zeigen, theils die Origines aller abstammenden Völker es beweisen. Monboddo selbst setzt das Vaterland der Menschen in jene höheren glücklichern Gegenden, und er getraut sich nur nicht, diese Höhen zu besteigen, weil er seinem Griechenlande gern nahe bleiben wollte.
Und so will ich mich auch auf einige seiner Hypothesen von Abstammung verschiedner alten Sprachen nicht einlassen; es sind Winke und Rufe zu weiterer Nachspähung in einem großen dunkeln Walde.
Gnug. Wenn die Philosophie des Autors und noch mehr seine Art zu philosophiren Platz gewinnt; wenn das Studium der Menschengeschichte, die griechische Philosophie und Sprache den Jünglingen lieb wird und man zu diesen lebendigen Quellen der Jugend des menschlichen Geistes wiederkehrt; wenn endlich auch die Mängel dieses Buchs durch weitere Untersuchungen in unserm sprachgelehrten, philosophischen Vaterlande ersetzt und verbessert werden: so wäre der Zweck dieser Uebersetzung sattsam erreicht.
Weimar, den 29. März 1784.
Leipzig 1786.Die Vorrede führt die Ueberschrift: »Ein Brief an den Uebersetzer«. Der Uebersetzer war Pastor Karl Georg Sonntag in Riga. – D.
Sorgen Sie nicht, mein Herr, daß Ihre Uebersetzung der Apologen des verdienstvollen Johann Valentin Andreä dem kleinen Denkmal in den Weg trete, das ich ihm aus seinen Schriften zugesagt habe. In keiner andern Absicht geschähe es, daß ich sein Andenken aufzufrischen suchte und daher Gedichte, Fabeln, Gespräche von ihm hie und da ausstreute, als daß die Aufmerksamkeit guter Menschen auf ihn gerichtet werden und auch unsre Zeit den Mann kennen möchte, der in seinem Jahrhundert wie eine Rose unter Dornen blühte. Es kann mir also nicht anders als herzlich lieb sein, wenn ein Andrer thut, was ich noch nicht thun konnte; denn die Zeit zu dem Denkmal, wie ich's im Sinne hatte, ist noch nicht da, und jede Bekanntmachung mit dem Geist des liebenswürdigen Mannes arbeitet dieser wünschenswerten Zeit vor.Vgl. Herder's Werke, XV. S. 217 f. 319 ff. – D.
Noch mehr freute es mich aber, da ich aus den ersten sechs gedruckten Bogen Ihrer Uebersetzung sah, daß Sie den kühnen, menschenfreundlichen Gedanken gefaßt hatten, Ihren Autor nicht nur unsrer Zeit, sondern auch für unsre Zeit zu geben, ihn derselben durch Auswahl und Umkleidung seiner schönsten Stücke gleichsam zuzueignen, wie sie ihn sehen könnte und brauchen sollte.
Valentin Andreä zu übersetzen, ist wahrlich keine Kleinigkeit, und ich wüßte beinah keinen alten Schriftsteller, der dem Uebersetzenden hie und da schwerere Arbeit machte. Seine Schreibart ist ein feines Gewebe von Anspielungen, theils auf Bücher, die er las, theils auf Geschäfte, die er sah und trieb, theils auf Charaktere und den geheimen Geist seiner Zeit, den er durchschauend kannte. Wie es nun viel leichter ist, allgemeine Wahrheiten und Speculationen, die vielleicht eben deswegen für alle Zeiten zu sein scheinen, weil sie für keine recht sind, als jene feinen, individuellen Beobachtungen ans Licht zu stellen, die aus dem innersten Gefühl, aus anschauender Betrachtung des Geistes der Dinge um uns her entspringen, so wird diese Arbeit noch schwerer in der Manier, die Andreä wählte. Alles wird bei ihm Einkleidung und Dichtung; sein Witz trifft fein, aber auch flüchtig, wie der Sonnenstrahl; das leichteste Gewand ist seinen ätherischen Gestalten immer das liebste. So wenig also das Erklären und Paraphrasiren seine Sache ist, so wenig erlaubt er's seinem Uebersetzer. Dieser muß seiner Kunst nachbuhlen, eine sinnreiche kleine Dichtung, die im schärfsten Umrisse gedacht ist, seiner Zeit so anschaulich zu machen, wie sie auch selbst in den Zeiten Andreä's es vielleicht nur für Wenige war und sein sollte.
Ueberdem lebte Andreä in Zeiten, die vom gothischen Geschmack nicht frei waren, ja, in denen sich dieser Geschmack eben auf die verführendste Art zeigte. Die neueren Sprachen, deren Lectüre er vorzüglich liebte, waren die italienische und spanische; gerade aber die berühmtesten Schriftsteller dieser Sprachen flossen damals von dem süßen Schaum über, der der Geschmack des siebzehnten Jahrhunderts heißen könnte und ihm allein eigen bleiben möge, von dem also auch unser Andreä nicht ganz frei war. Sie müssen es beim Uebersetzen oft gefühlt haben, wie manche Feinheiten seines Stils kleine Subtilitäten, überladende Putzwerke werden. Seine Manier ist sinnreich; er sagt mit Wenigem viel, er will aber in dem Umriß einer engen Einkleidung mit zu Wenigem zu viel sagen, und da die einkleidenden Schriftchen dieser Art in seine jüngern Jahre fallen und sein geschäftiger Geist nie die Muße gewann, sie nach Regeln der alten griechischen oder römischen Simplicität auszufeilen, freilich so stehen seine Gespräche in Absicht der Reinigkeit des Stils hinter Erasmus' Gesprächen, seine Apologen hinter Ochin's Apologen, so hoch er sich übrigens in scharfsinnigem, feinem Witz, insonderheit über den Letzten emporschwingt. Ein Uebersetzer für unsere Zeit sieht sich also in einer Verlegenheit, deren Mühe die wenigsten Leser erkennen oder ihm verdanken. Er will das schöne Blumen- und Rankenwerk nicht verschneiden und muß es doch, wenn Andreä für uns lesbar werden soll; und doch muß er es immer nur sofern, daß das schöne lebendige Gewächs nicht nur nichts von seinem ganzen Wuchs verliere, sondern auch unsern Augen da stehe, als ob es vor ihnen entsprossen wäre. Wenn hiezu nicht ein treffendes Auge und eine leichte, glückliche Hand gehören, so wüßte ich nicht, wozu sie gehören sollten; denn den Andreä, wie er ist, mit jedem kleinsten seiner veralteten Zeitumstände, mit jedem Sprößling seines Witzes und Stils in unsre Sprache zu bringen, hieße ebenso viel, als seine Begrabene WahrheitS. 5 dieser Uebersetzung. – H. [Vgl. Herder's Werke, XV. S. 242 f. – D.] mit alle dem Moder ans Licht zu führen, womit ihre Zeit die Unverwesliche bedeckte.
Um so mehr also, mein Herr, wird Ihnen jeder Verständige danken, daß Sie ein Gärtchen voll schöner, aber hie und da zu üppiger Pflanzen eines vorigen Jahrhunderts in das unsrige mit vorsichtiger Gärtnerhand zu verpflanzen suchten, ja, den schönsten Lohn hierüber wird Ihnen die überwundene Mühe und der erquickende Wohlgeruch der Blumen selbst gewährt haben. Wahrlich, Andreä ist ein seltner und lieber Geist, sowol am Verstande als am Herzen. Seine Organisation muß so fein gewesen sein, wie sein moralischer Sinn es ist; denn sein Witz, seine Bemerkungen, die ganze Richtung seiner Empfindungen im Leide und in der Freude, selbst seine schärfsten Urtheile, seine bitterste Satire sind allemal aufs Feinste moralisch. Der unermeßliche Vorrath von dem, was er wußte, die sonderbare Biegsamkeit seines Geistes für alle Kunst, für alles Wissenswürdige und Schöne, noch mehr aber die zerstreuende Geschäftigkeit, in der er lebte, sein früher Zusammenhang und Umgang mit so mancherlei Menschen, die die Gährung des vorigen Jahrhunderts hervorbrachte, nichts von Allediesem konnte ihn von jenem einen Wahren entfernen, das allenthalben der Geist seiner Schriften ist und aus jeder Einkleidung wie eine Blüthe emporsteigt. Der Leser, der Andreä nicht kennt, wird ihn aus Ihrer historischen Einleitung über sein Leben kennen lernen, und wenn er ein Mehreres begehrt, darf er nur zu dem Denkmal gehen, das ihm von der biedern Hand eines seiner patriotischen Landsleute im Württembergischen RepertoriumS. 274 ff. – H. ist gesetzt worden. Einen Mann wie ihn muß man zuerst in seinem Leben kennen, ehe man ihn in Schriften kennen lernt; denn überhaupt Schriften, solch ein verräterischer Spiegel sie für Manchen sind, zeigen doch immer nur die Oberfläche unsers Herzens und Geistes.
Aber auch als Schriftsteller unsers Vaterlandes verdient Andreä das Andenken und die Liebe seiner Nation vor so Vielen, die mit ihm lebten. Thomasius, jener helle Kopf, dem unser Jahrhundert mehr schuldig ist, als Manche es glauben, theilt den Inhalt einiger seiner Schriften ziemlich ausführlich und mit der teilnehmenden Wärme mit, die völlig zeigt, daß er ihren Werth fühlte;Summarische Nachrichten von erlesenen Büchern der Thomasischen Bibliothek. Halle 1715. 1716. – H. aber es war doch nur ein Auszug. Arnold pries ihn nach seiner Weise an und nutzte im Artikel von den Rosenkreuzern die Nachrichten, die ihm Thomasius mittheilte;Thomasii Cautelen für einen Studiosum juris. S. 324 ff. – H. dadurch aber wurde Andreä noch mehr verdächtig. Fischlin hatte ihn unter einen Haufen andrer, zum Theil ihm sehr unähnlicher Theologen zum zweiten Mal begraben.Memorabiblia Theologorum Würtembergensium, P. II. p. 129. – H. Weismann gab Auszüge aus seinem Leben und beklagt's, daß die Ausgabe seiner Schriften, an welcher der Abt Zeller mit vieler Sorgfalt gearbeitet hatte, nicht zu Stande gekommen sei.Historia Ecclesiastica, T. II. p. 932 sq. – H. In der Streitsache über die Rosenkreuzer geschah seiner hie und da, rechts und links Erwähnung, und ich weiß, daß eben auch daher in den neueren Zeiten mancher Verständige neugierig geworden ist, den merkwürdigen Mann aus seinen Schriften selbst kennen zu lernen. Außer dem aber, und was etwa ich hie und da ausgestreut habe, ist er unsrer neueren lesenden Nation, die sich um lateinische Schriften schwerlich bekümmert, so gut als unbekannt geblieben; denn es scheint einmal der Deutschen Natur zu sein, daß sie ihre eignen Schätze nicht achten.
Doch warum, mein Herr, sollten wir dies glauben und nicht vielmehr der bescheidnen Vergeßlichkeit unsrer Landesleute entgegenarbeiten, wo sie ihnen selbst schaden könnte? Valentin Andreä gehört so eigentlich für unsre Zeit, daß ich in Vielem, Vielem ihr jetzt einen Andreä wünschte. Unleugbar haben sich zwar seit einem Jahrhunderte die Strahlen der Aufklärung sehr vermehrt; einzelne Menschen in allen Ständen denken gut und fein und vernünftig: das alte Gerüst aber von Vorurtheilen, von Mißbräuchen und Verderbnissen in allen Geschäften und Ständen steht in vielen Ländern und Provinzen Deutschlands noch so da, wie es zu des guten Andrea Zeiten da stand! Die öffentlichen Einrichtungen sowol in der Kirche als im Staat, die Verwaltung oder Veruntreuung der Wissenschaften und Geschäfte ist in hundert Sachen noch eben jene, die ihm von Jugend auf leid that und zuletzt das Herz fraß. Ja endlich die Gährung selbst, in der sein Zeitalter war, hat sie nicht mit der unsern eine auffallende Aehnlichkeit und Gleichheit? Nicht nur, daß hundert Secten, insonderheit die Rosenkreuzer, damals ihr Gewerbe trieben (mit welchen Letztern er wenigstens in dem Verhältnisse stand, daß beinah keine seiner Schriften mir vorgekommen ist, in der er ihrer nicht hoffend, spottend oder warnend gedächte), nicht nur diese gährenden Secten selbst, sondern auch die unsichtbare Hand, die sie damals führte, sind seiner und unsrer Zeit gemein: so daß sein Thurm zu Babel, seine Warnung vor der Neugierde, seine magische Unterweisung für Neugierige, sein Turbo und so manche andre seiner Einkleidungen wahre Arznei für die geheimen Wunden unsrer Zeit wären, wenn eine geschickte Hand sie mit Andreä's Geist, Witz und Zeitenkunde für uns zuzubereiten wüßte. Ich will nicht leugnen, daß ich, so wenig ich mir diese Gaben zutraue, mit meinem versprochenen Denkmal auch dahin ausging; aber die Gährung ist, wie mich dünkt, noch nicht reif, und wer hat mich endlich zu einem Geschäft berufen, zu dem ich viel rüstigere Werkzeuge vor mir sehe?
Indessen kann ich meinen Brief nicht schließen, ohne auf die Stelle Rücksicht zu nehmen, da Sie der Unschuld Ihres Autors an der Rosenkreuzerei erwähnen. Meine Meinung, die ich darüber im Teutschen Merkur (März 1782), nur sofern es die Veranlassung forderte, beiläufig äußerte,Vgl. oben S. 339 ff. – D. hat im Württembergischen Repertorium einen doppelten Widerspruch gefunden, der sich selbst so aufzuheben scheint, daß meine Meinung in der Mitte stehen bleibt. Der ruhmwürdige Verfasser der Lebensbeschreibung unsers Andreä glaubt, daß ich ihm nicht gnug Antheil an dieser Verbindung einräume; der Verfasser einer neuen Erläuterung der Geschichte der RosenkreuzerWürttembergisches Repertorium, S. 512 ff. – H. behauptet gegentheils, daß ich und Andre ihm viel zu viel eingeräumt haben, da er auch nicht einmal der Urheber der berüchtigten Fama fraternitatis sei, die damals so vielen Lärm erregte. Daß er der Verfasser dieser Fama sei, glaube ich noch jetzt und hoffe es einmal aus seinen eignen Aeußerungen so wahrscheinlich zu machen, als irgend etwas der Art gemacht werden kann. Daß die ihr beigefügte Reformation der Welt aus Boccalini sei, wußte ich schon damals, so wie ich auch alle die Schriften der Rosenkreuzer kannte, die der ungenannte Verfasser der Erläuterung anführt.Auch die meisten der andern literarischen Muthmaßungen sind mir aus Fischlin u. A. wohl bekannt gewesen. – H. Aber was hindert uns Boccalini? Kein damals lebender Autor hat so viel Einfluß auf die Manier unsers Andreä gehabt als eben er; und die ganze Mythologia christiana, aus der Sie, mein Herr, Ihre Apologen übersetzten, hat nicht, wie Sie meinen, mit Zwinger's Theatro humanae vitae, aber wohl mit des Boccalini Ragguagli di ParnasoDer erste Theil der Ragguagli ist 1612 dem Cardinal Borghese, der zweite Theil 1613 dem Cardinal Cajetano zugeeignet. – H. die unverkennbarste Aehnlichkeit, so unverkennbar, daß ich dem Andreä oft, sehr oft ein reineres Vorbild gegönnt habe. Vergleichen Sie die Manier beider Schriften, und es wird Ihnen kein Zweifel bleiben. Gerade also, daß jener Anhang der Fama ein übersetztes Stück aus Boccalini ist, könnte uns auf Andreä bringen, wenn uns auch keine andern Gründe darauf brächten; denn eben die Stelle, aus welcher der Verfasser der neuen Erläuterung seine Entdeckung, »daß die Reformation der Welt aus Boccalini übersetzt sei«,Württembergisches Repertorium a. a. O. – H. her hat, von wem ist sie? Von Andreä's größtem literarischen Freunde Christoph Besold. Der ist der Herausgeber von Campanella's spanischer Monarchie (Tübingen 1624); der mußte es also wol wissen, woher jenes Stück sei, und was es bedeute. Und er spricht darüber gerade wie Andreä, gleichsam aus seinem Munde. »Als solches Phantasma (die Brüderschaft der Rosenkreuzer) kaum ausgeschlossen war, ohngeachtet auch deren Fama und Confessio in vielen unterschiedlichen Orten klärlich bezeugt, daß dieses Alles ein lusus ingenii nimium lascivientis gewesen« u. s. w. Dies ingenium lasciviens kannte Besold wohl; denn es lebte nahe bei ihm.
Uebrigens hat Niemand in der Welt gezweifelt, daß auch schon vor Andreä das Kreuz und die Rose beliebte Symbole gewesen;Ich habe dieses in gedachten Briefen im Teutschen Merkur deutlich gesagt. – H. [Vgl. oben S. 341 f. – D.] Niemand hat gezweifelt, daß lange vor ihm es ein Gewirr von Secten gegeben, mit welchem sich ja ein großer Theil der Literargeschichte des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts beschäftigt; die Frage aber ist, woher machte eben um diese Zeit dies Phantasma, dieser Name auf einmal so viel Bewegung? Wer war's, der den unschuldigen Jugendroman V. Andreä's, Christian Rosenkreuz, sein unschuldiges Familien-Petschaft und die Fama zum Aushängeschild eines solchen Lärms und so manches betrügenden Wahnes machte? Hätten wir aus Andreä's Papieren das geheime, treue Journal seiner Reisen (wenn er ein solches geführt), und dieses zwar von 1607 an, da er in Lauingen, unfern Dillingen war, bis 1612, da er in Italien auf einmal das feierliche Gelübde that, nach Hause zu eilen und sich seiner Kirche in den Arm zu werfen: freilich so wüßten wir von seinen geheimen Verbindungen und Nichtverbindungen mehr, als wir jetzt wissen, und es würde sich Manches aufklären, was jetzt nur im Nebel durchscheint. Das Phänomenon der Rosenkreuzerei aber im großen Ganzen dieses Zeitraums klärte sich damit noch nicht auf; denn offenbar war dabei eine viel größere Triebfeder rege: jene Triebfeder nämlich, die seit der Reformation, insonderheit aber zu Anfange des vorigen Jahrhunderts so außerordentlich wirksam war, daß sowol im Staat als in der Kirche, an Höfen und in den Wissenschaften sie auch dem stumpfsten Auge des Geschichtforschers dieser Zeit unverkennbar bleibt; jene unsichtbare Hand, die so gern im symbolischen Nebel wirkt, die die verschiedensten Menschen mit ihrem eignen Wahn betäubt und zu dieser Absicht das Verschiedenste zu gebrauchen wußte, sie wußte auch die Fama fraternitatis und den unschuldigen Christian Rosenkreuz zu ihrem Zweck zu gebrauchen, und dem guten Andreä blieb nichts übrig, als in hundert und abermals hundert Einkleidungen der Welt zu sagen, daß sie betrogen werde. Merkwürdig, äußerst merkwürdig ist in dieser Rücksicht das Titelkupfer seiner Apologen, für Den nämlich, der diese Symbole versteht und sie in andern Verbindungen kennt. Sapienti sat.
Ich wünsche, mein Herr, daß Ihnen zu den übrigen Schriften des redlichen, mürbe gemachten Andreä bald ein Uebersetzer folge, der daraus gebe, was für unsre Zeit dient; noch mehr aber wünschte ich mir den Vorrath aller, insonderheit jugendlichen Papiere und Briefschaften unsers Autors, die aber längst verloren oder vertilgt sein mögen.
Winterthur 1791.
Briefe an J. G. Müller.
Weimar, im Mai 1790.
1.
Sie wünschen, mein Lieber, daß ich Ihre Uebersetzung von Petrarca's GeständnissenDie den ersten Band von Müller's »Bekenntnissen« bildeten. – D. mit einer Vorrede begleite. Von meinem guten Willen hiebei sind Sie wol überzeugt, da jede Stunde, die mich Ihnen im Geist nähert und mir in Gedanken unsre ehemaligen Spaziergänge und Gespräche erneuert, mir nicht anders als lieb sein kann; eben deswegen aber verzeihen Sie auch, daß ich das feierliche Amt eines Vorredners diesmal und bei dieser Schrift nicht übernehme. Was ich dabei zu sagen habe, läßt sich weit besser im vertraulichen Ton eines Briefes, eines Gespräches sagen.
Sie wissen, was in unsrer Zeit Rousseau's Confessionen für eine Sensation erregt haben. Begierig erwartete man sie; und wie ungleiche, wie äußerst verschiedene Urtheile sind darüber selbst von Rousseau's wärmsten Freunden und Verehrern gefällt worden! Wem, wenn er diesen Disputen sowol über einzelne Stellen und Situationen als über den Geist, der im Ganzen herrscht, oft beigewohnt oder an ihnen Antheil genommen hat, müssen nicht allgemeine Ideen über dergleichen Confessionen aufgegangen und die Frage beigefallen sein: Wiefern kann und darf und soll ein Mensch Geständnisse von sich dem Publicum machen? und welche Hauptidee, welch ein Compaß muß ihn bei dieser gefährlichen Schifffahrt leiten? Da nun Ihr Petrarca einer der Vorgänger Rousseau's in dieser Art Confessionen gewesen, sehen Sie, so ist der Inhalt unsers Vorgespräches darüber uns durch die Sache selbst gegeben.
Der erste Meister solcher Confessionen ist Augustin; er war Petrarca's Vorbild, und es ist gewiß, daß ohne ihn, vielleicht auch ohne den Augustiner Denis von Robertis, der, in einem freien Verstande des Worts, Petrarca's Gewissenrath war, Petrarca vielleicht so eigentlich diesen Weg nicht würde genommen haben. Ziemlich frühe schrieb er schon an den Bischof von Lombes, der in einem scherzhaften Briefe seine Laura für ein Hirngespinnst und seine Liebe für den Augustinus für eine Komödie erklärt hatte, außerordentlich ernsthaft: »Wenn ich die Poeten und die Philosophen liebe, so folge ich darin dem Beispiel des heiligen Augustinus. Nie würde er sein Buch von der Stadt Gottes gemacht haben, wenn er nicht voll von ihren Ideen gewesen wäre. Vielleicht hätte er aufgehört, sie zu studiren, wenn er, wie der heilige Hieronymus, einen Traum gehabt hätte, worin ihm wäre vorgeworfen worden, daß er den Cicero zu sehr liebte. Sie wissen, wie er selbst gesteht, er habe in den Büchern der Platoniker viele Lehren unserer Religion gefunden. Er fügt hinzu, da er den Hortensius des Cicero gelesen, habe er sich von allen Secten losgemacht, um allein der Wahrheit anzuhangen. Ich nehme diesen Vater wegen der Wahrheit dessen, was ich sage, und wegen der Aufrichtigkeit meiner Liebe zu ihm zum Zeugen. Er ist an einem Ort, wo er weder betrügen noch betrogen werden kann. Ich hoffe, daß er mit meinen Irrthümern Mitleiden haben wird, vornehmlich, wenn er sich an seine eignen erinnert.« So fährt er fort und beschließt endlich den Brief im ironischen Ton des Bischofs: er hoffe, »daß dieser Augustinus, gegen den er so viel Liebe vorgebe, ihn mit Waffen gegen eine Laura versehen werde, die gar nicht existire«. In eben diesem Jahr hatte er mit seinem Bruder eine Reise auf den Berg Ventoux gethan, die er dem vorgedachten Pater Denis beschreibt. Ich wünschte, daß Sie den schönen Brief als eine Einleitung zu seinen Confessionen übersetzten;J. G. Müller gab diesen Brief in den »Zusätzen« zum 1. Bde. der »Bekenntnisse«, S. 265. – D. denn wahrscheinlich war diese Höhe der Empfängnißort der ersten Idee dieser Confessionen. Indem er seine Augen an dem großen Schauspiel der Aussicht über Länder, Berge und Meere, die seinen Geist erhob und ihn zu frommen Betrachtungen weckte, gesättigt hatte, nahm er die Bekenntnisse des heiligen Augustinus, die er immer bei sich trug (ein Geschenk des Pater Denis), in die Hand; er traf auf eine Stelle, die ihm so wunderbar passend für seinen Zustand vorkam als jene, die der heilige Augustinus und Antonius aufschlugen, und von denen sie die bekannte große Wirkung verspürten; kurz, er glaubte, »daß er nichts Besseres thun könne, als diesem Heiligen nachzuahmen«.
Sie kennen den Heiligen, den Mann von seltnen Gaben und einer so feinen, vielgewandten Denkart, wie Augustinus war. Die Schicksale und Fehler seiner Jugend, die mancherlei Wendungen seiner warmen und reichen Phantasie, die hitzige Thätigkeit seines Lebens, die Krümmen und Rückwege, denen sein geschäftiger, beredter Disputirgeist ausgesetzt war, und dabei die innere Redlichkeit, die sanfte Empfindlichkeit seines Herzens, Alles dies gab ihm nicht nur den Stoff zu seinen Confessionen, sondern machte ihm auf der Stelle, wo er stand, dieselben sowie auch seine Retractationen gewissermaßen moralisch nothwendig. Ein Geist wie dieser mußte oft und viel fehlen, aber auch seiner Fehler spät oder früher inne werden; und da war es freilich eine Art süßer Buße, das Gewirre seines Herzens der obersten Weisheit vorzulegen, und was er an sich nicht ändern konnte, ihr liebevoll zu beichten. In den Confessionen Augustin's herrscht eine so weiche Zärtlichkeit, ja, ich möchte sagen, eine so verführerische Buhlerei mit Gott und seinem eignen Herzen, daß sie zu allen Zeiten und beinah vor allen Schriften dieses Kirchenvaters Liebhaber und Verehrer gefunden haben, auch unter Denen, die nicht eben seines Ordens waren. Ebenso war Petrarca eine der zarten, empfindungsreichen Seelen, die bestimmt scheinen, lange Jahre oder vielleicht lebenslang mit sich im Kampf zu leben. Wer seine Rime und Canzoni gelesen hat, kennt das Bedürfniß seines Herzens, beinahe ganz in der Phantasie zu leben; und da er wirklich von sehr moralischer Natur war, wie seine Briefe und Aufsätze, seine Verbindungen und Freundschaften, ja fast alle Tritte und Schritte seines Lebens zeigen: so war es wohl natürlich, daß sein immer begehrendes, nie gesättigtes Herz oft in Umständen sein mußte, da ihm Geständnisse dieser Art allein Luft machen konnten. Wenn Augustin also in diesen Selbstgesprächen sich unmittelbar an Gott wandte, so wandte Petrarch in ihnen sich an Augustin, seinen Lehrer, der ihm dies Mittel zur Erforschung und Erleichterung seines Herzens gezeigt hatte, ja, den er als einen Mittler und Heiligen bei Gott glaubte. Dies war sehr natürlich für Den, der auch an Cicero, Varro und Livius Briefe schrieb, als ob Diese noch lebten; der mit Abwesenden wie mit Gegenwärtigen umging, ja, der überhaupt mehr in der Entfernung als in der Gegenwart, mehr in der Einbildung als im Genuß des Daseins lebte. Seltene Wesen dieser Art sind gleichsam geflügelte Geschöpfe, Schmetterlinge, die von allen Blüthen nur das Feinste kosten wollen und in dunkeln Stunden, wenn sie gewahr werden, daß noch das Gespinnst der Raupe an ihnen hängt, aus sich selbst hinauszufliegen streben und also tapfer mit sich kämpfen. Es kann nicht fehlen, daß, wenn ihre sonderbaren Selbstgespräche, ihre inneren moralischen Kämpfe Andern vor Augen kommen, die nicht von einer so feinen Natur sind, um sich gleichsam selbst zertheilen und also mit sich streiten zu können, sondern immerdar höchst zufrieden mit sich leben, sie diesen ein Aberwitz, eine Schwärmerei, eine hochmüthige und am Ende doch unnütze Thorheit scheinen. Gleichergestalt ist's auch nicht zu leugnen, daß, wenn sie schwachen Nachahmern in die Hände gerathen, sie ihnen zu mancher unnützen Anstrebung und Beeiferung, zu einer thörichten Verwirrung ihrer Gedanken, zu einer lächerlichen oder traurigen Aufblähung ihres Charakters, kurz, zu einem moralischen oder frommen Wahnsinn Anlaß geben können, in welchem sie durchaus eine fremde und mit nichten ihre eigene Person spielen. Welches Ding auf Erden ist aber völlig von Mißbrauch frei? und sind nicht die feinsten, wirksamsten Elemente gerade diejenigen, die am Meisten gemißbraucht werden? Freilich geht, was unmittelbar, gleichsam durch Sympathie wirkt, durch diese zustimmende Sympathie wie durch eine unmittelbare innige Berührung im Guten und Bösen mächtig über.
»Warum also«, wird man Ihnen sagen, »müssen solche Dinge geschrieben, abgeschrieben, übersetzt, gedruckt werden? Wer Gott oder dem heiligen Augustin beichten will, beichte ihnen in der Stille; was soll eine Erleichterung des Herzens vor aller Welt? wozu soll es, daß man ein ganzes Publicum, ja selbst die Nachwelt zu Vertrauten seines Innersten, seiner geheimsten Schwachheiten und Busenfehler macht? Wenn da nicht ein geheimer Stolz, eine Eitelkeit und Eigenliebe dahinter steckte –« Ich bin weit entfernt, die Confessionisten dieser Art von diesen Thorheiten ganz freizusprechen, daß ich vielmehr glaube, bei vielen oder den meisten derselben sei dieser Fehler wirklich, und zwar ziemlich offenbar im Spiele. Wer nicht einmal insgeheim beichten kann, ohne daß nicht zugleich sein Ohr begierig lausche, ob nicht ein Andrer ihn höre und seine Beichte aufschreibe; wer selbst den geheimen Unrath seines Herzens für solch ein Heiligthum hält, daß er ihn nicht ablegen mag, ohne ihn zugleich einer Heerde gläubiger und frommer Schafe als Arznei zu verkaufen: allerdings spottet der Gottes und der Menschen, und so lehrreich seine Gaukelei sein mag, ist und bleibt er dennoch ein Gaukler, ein selbstsüchtiger Heuchler. Er legt die Krambude seines Herzens Andern zur Schau aus, damit man sich nur mit ihm beschäftige, und hält sich für ein so merkwürdiges Wesen, daß es ihm leid thut, nicht Alles, was er thut, zur Erbauung des Volkes auf dem öffentlichen Markte thun zu können. Auch Menschen, die in der Jugend sehr bescheiden waren, können im feinen Netz der Selbstliebe so weit geführt werden, daß man in wenigen Jahren über ihre vermessene Demuth erstaunt; und durch nichts wurden sie so weit geführt, als daß Andre ein vermessenes Zutrauen auf sie setzten und sie durch dies Zutrauen zuletzt selbst unverschämt machten. Wie Liebe sich mittheilt, theilen sich alle Affecten, insonderheit der fromme Wahnsinn und die gläubige Phantasterei, mit; man glaubt endlich zu sein, was der Andre lange geglaubt und uns überredet hat, daß wir wol sein könnten; und so wird man mit bestochenem eigenem Gewissen vor Gott und Menschen ein eitler scheinheiliger Popanz.
Daß Augustin und Petrarca von aller Eitelkeit frei gewesen, wage ich nicht zu behaupten; sie leugnen es Beide nicht, und eine feine Ader davon läuft durch ihr ganzes Leben. Schwerlich würden sie auch in Allem die Männer geworden sein, die sie waren, wenn nicht dieses Ferment von Unruhe in ihnen gewirkt und gegährt hätte. Ferne aber sei's, daß insonderheit Petrarca, den ich besser als den heiligen Augustin kenne, von so grober Eitelkeit gewesen wäre, daß er seine Confessionen nur für die Welt oder wenigstens für diese und für sich zur Hälfte geschrieben hätte! Er hat sich in ihnen sowol als in andern Schriften und Briefen so wenig selbst geschont und überhaupt den Grund seines Herzens auch in Schwachheiten und Fehlern so klar gezeigt, daß, wenn er diese Eitelkeit bei sich wahrgenommen hätte, er sie vor allen Eitelkeiten seinem heiligen Augustinus zuerst offenbart haben würde. Ein Gleiches ist's wol mit dem heiligen Augustinus. Beide hatten im Guten und Bösen die Welt so lange und viel von sich reden gemacht, daß es ihnen selbst fast zur moralischen Nothwendigkeit wurde, sich selbst und Andre über den wahren Zustand ihrer Gesinnungen, ihres Herzens, ihres Charakters zu belehren; sie traten also nicht als eitle Gecken hervor, um der Welt das zu sagen, was Niemand wissen wollte, vielmehr als bescheidne Büßende traten sie vor den Altar, um ihr reuiges Bekenntniß öffentlich abzulegen. Seelen von solcher Aufrichtigkeit, wie z. B. Petrarca war, giebt es selten; und da sich mit ihr auch eine gewisse Redseligkeit, eine bezaubernd schöne Gesprächigkeit in Mittheilung aller seiner Gedanken und Empfindungen verband, die sich in seinen Briefen durchhin offenbart, so konnte er an diesen Gesprächen dem heiligen Augustin so wenig Hehl haben als an so manchen Sonetten und Gesängen, die auch sein Innerstes schildern. Er hatte ein Gemüth, das nicht verschlossen sein durfte und sich also auch nicht verschloß; daher wir ihn in allen Situationen seines Herzens und Lebens weit genauer kennen als irgend einen seiner Mitgenossen in diesen sonst dunkeln Zeiten. Lesen Sie, mein Freund, die Nachrichten von seinem Leben,Mémoires pour la vie de François Petrarque, 1764. Amstel. 3 Vol. 4. Die deutsche Uebersetzung unter dem Titel: »Nachrichten zum Leben des Franz Petrarca«, 1775 u. 1778, hat in Ansehung der aus dem Italienischen übersetzten Stellen vor dem Original viel Vorzüge. – H. die ein Verwandter seiner Laura aus Liebe gegen Petrarca und gegen seine Familie zusammengestellt hat. Sie werden freilich lachen, wenn er ihm auf jedem Wink seiner Gedichte Tritt für Tritt in seiner Liebe folgt und ihm durchaus jede Wendung seiner Sonette, Reime und Canzonen für eine historische Wahrheit anrechnet; von Allediesem werden Sie ihm wenig oder nichts glauben. Aber aus der Zusammenstellung der eignen Briefe Petrarch's werden Sie Petrarca kennen und liebgewinnen lernen, wie Sie vielleicht wenige Dichter, Schriftsteller und Philosophen lieben. Ich wünschte, daß uns Jemand auch mit dem heiligen Augustinus aus seinen Schriften, insonderheit aus seinen Briefen, menschlich bekannt machte; als Theologen kennen wir ihn gnug und haben vielleicht für das System zu viel von ihm gelernt. Er ist uns dafür gleichsam einen Ersatz aus seiner Denkart, aus seinem Herzen schuldig; nur eine bloße Uebersetzung seiner ohnedem etwas langweiligen Confessionen würde zu diesem Ersatz nicht gnug sein. Es erforderte ein ganzes Gemälde aus seinen Briefen, Handlungen, Confessionen und andern Schriften. Gnug für heute. Leben Sie wohl!
2.
Die Art Confessionen, die wir neulich betrachteten, lieber Freund, können wir füglich die andächtigen oder religiösen Confessionen nennen; sie scheinen die nützlichsten und leichtesten zu sein, sie sind aber die gefährlichsten von allen, wenn man sie leichtsinnig in die Welt sendet. Was für einen Maßstab giebt's zwischen dem Menschen und Gott? zwischen einem vorübergehenden eiteln Nichts und dem Unendlichen, der Alles übertrifft, Alles überschwänglich erfüllt? Das Gefühl des Nichts, der äußersten Schwachheit und eines verschwindenden Traumes wird also meistens diese Bekenntnisse durchströmen und eine schwache Seele, die sich fremde dazu findet, eher niederschlagen als aufrichten. Kommt nun noch hinzu, daß solche Konfessionen, wie gewöhnlich, in Stunden der äußersten Ermattung, des Ekels an sich selbst und an allen Dingen um uns her geschrieben sind, so pflanzen sie diesen Ekel fort und, statt aufzurichten, schlagen sie die Seele muthlos nieder. Und doch sind sie, eben weil sie ein Unendliches zum Ziel und Maßstabe nehmen, von so ungeheurer Wirkung; sie bringen ein Erhabenes vor den Geist, das dieser nicht fassen kann, und nach welchem er doch unaufhörlich zu streben gereizt wird, bis er kraftlos unter sich sinkt. Erstaunen Sie also nicht, daß die Leben der Heiligen mit ihrer frommen Entwerdung, mit ihrem Durst nach dem Unendlichen, mit ihrem Anstreben nach ewiger Ruhe, zumal in zarten jugendlichen Gemüthern, so viele Wirkung gethan haben; denn eben diese Gemüther kannten die Schranken ihres Daseins noch nicht und lernten sie oft nur alsdann kennen, wenn ihnen die Lust zu leben und zu wirken verging und sie nach mancher vergeblichen Mühe auch in diesem geistlichen Dunst, mit welchem sich zu lange ihre Seele genährt hatte, Eitelkeit fanden. Um dieser zarten, so leicht verführbaren Gemüther willen wünschte ich also nicht, daß solche Schriften außerordentlicher oder kranker Menschen sich zu sehr vermehrten oder unbedachtsam gemein gemacht würden. Wer mich von Kindheit auf in meinen Pflichten stärkt und mir die Bahn meines Lebens rein und klar vorzeigt, der sei mein Lehrer, nicht Der, der mich über diese Bahn erheben will und mir dazu betrübliche Dädalsflügel bereitet. Wie sich das Innerste eines Menschen gegen Gott verhält, bleibe zwischen diesen Beiden ein heiliges und seliges Geheimniß, ohne daß es auf eine unselige Weise zum Zwangsmodel andrer Menschen werde, über welchem sie vielleicht ihre besten Jahre und ihre redlichste Form verlieren.
Noch weniger gefallen mir die geistlichen Stunden- und Tagebücher, in denen man sich so öfters zu dem, was man nicht sein kann und also auch nicht sein darf, auf eine ängstliche Weise zwingt. Entweder interessiren sie nicht, oder sie interessiren zu sehr und werden dadurch dem traurig sympathisirenden Leser schädlich. Wer wird doch jedes Protokoll seiner Krankheit nach Tagen und Stunden, wer wird jede Unterredung, die er mit dem Arzt über die kleinsten Zufälle seiner Ungemächlichkeit gehabt hat, für so wichtig halten, daß er sie aus Merkwürdigkeit seiner Person dem Publicum mittheile? Der Arzt mag es thun, wenn er's für seine Kunst nützlich findet; der Kranke selbst aber thut wohl, wenn er sich mit dem Bekenntniß seiner geheimsten Krankheitsgefühle nicht abgiebt und seine wiedererlangten Kräfte nützlicher anwendet. Auch die Freunde und Verehrer desselben thun besser, wenn sie nach geendigtem Lebenskampfe ihres Verehrten dergleichen Papiere mit ihm ruhen lassen und nicht jede trübe Stunde seines kranken Gehirns oder seines leidenden Unterleibes dem Publicum übergeben; denn dies hat daraus wenig und das Wenige oft auf eine traurige Weise zu lernen. Meistens kommen in schwachen Stunden die Irrthümer und Fehler, die bösen Eindrücke und Gewohnheiten unserer Jugend als Feinde über uns; sie bemächtigen sich unsers geschwächten Daseins, benebeln unsern Verstand, mißleiten unsern Willen und triumphiren. Wenn nun der Schwache selbst den Ursprung und die Genealogie dieser seiner Feinde nicht inne wird (und er wird es in der trüben Stunde selten werden), so kann er uns über sich selbst wenig lehren. Ja, da gewöhnlicherweise in diesen Tagebüchern ein Tag oder eine Stunde vom Ganzen abgerissen und dergestalt fürs ganze Leben genommen werden, als ob mit ihnen der Strom der Zeit stille stände und sich dieser Zustand, wie er unleugbar aus andern fließt, nicht auch in andre verlöre, so wird nothwendig die Seele des Lesers wie des Patienten auf eine widernatürliche Weise verengt und beängstigt. »Lebe weiter!« möchte man dem siechen Schriftsteller zurufen, wenn er noch lebte; »vergiß dieses: denn die Zeit hat es weggetilgt. Entwöhne Dich von jenem; denn es ist Dir nicht mehr nöthig; vergiß und strebe weiter! Wolle Dich nicht zu einem Andern machen, als Du bist! denn Du mußt mit Dir selbst leben und sterben. Wolle nicht aus Dir heraus-, nicht über Dich emporspringen; denn das Unternehmen ist eitel. Mache nicht das Heute zum Gestern, noch das Morgen zum Heute! die Zeit giebt neuen Trost, neue Umstände und Kräfte. Erwarte, genieße, gebrauche sie, lebe weiter!«
Ach, mein Freund, wie sehr ist der Mensch sich selbst ein Räthsel! Der Delphische Gott hatte Recht, die Selbsterkenntniß den Schülern der Weisheit vor allem Andern zu empfehlen; ich zweifle aber daran, daß er ihnen Confessionen von sich selbst vor aller Welt würde empfohlen haben. Den Grund unsers Herzens tragen wir stille mit uns, und wir wissen lange nicht, was darin liegt; wird er durch Umstände sanft oder heftiger aufgeregt, so ist er uns oft selbst ein Wunder. Das innerste Gewebe unsrer Gedanken und Empfindungen fand seine Grundzüge vielleicht schon in jenem Erbtheil, das von Eltern und Voreltern auf uns kam und mit dem Bau unsers Körpers verwebt ist. Frühe Jugendeindrücke, deren wir uns nicht allemal erinnern, schlugen ihre Fäden darein; die Bekanntschaft mit solchen und andern Menschen befestigte oder veränderte das eingetragene Muster; Gewohnheiten bestärkten es noch mehr, und die eigen erworbnen dunkeln Ideen gaben ihm schon den völligen Umriß, so daß die deutlich erkannte Lehre ihm meistens nur noch die Farbe verleihen konnte. Die völlige Ansicht dieses Gewirres mit seinen Ursachen und Folgen liegt selten uns ganz vor dem Auge, am Wenigsten in einer benebelten Stunde; wir erkennen uns meistens nur stückweise, mehr in Andern als abgetrennt in uns selbst. Nachdem Freunde oder Feinde, Lobredner oder Verächter uns begegnen, nachdem sie hart an uns stoßen oder uns liebkosen und schmeicheln, nachdem unsre Wünsche und Bestrebungen gedeihen oder mißrathen: nachdem werden solche oder andre Ideen von uns in uns selbst erweckt. Dieser schmeichelt sich, weil Andre ihm schmeicheln, Jener wird hart und unbiegsam, weil das Schicksal gewaltig auf ihn zustößt. Vielleicht hält er in einigen Stunden zu viel auf sich, weil Andre ihn zu sehr verachten; in andern Stunden kömmt er wieder zu sich und fühlt sich mißmüthig und elend. So sind wir oft ein Spiel von uns selbst, ein Spiel von Phantasien Andrer, ein Traum der Träume. Einige Menschen sind weit besser, andre viel schlechter, als sie sich selbst glauben: diese waren und sind es nicht mehr; jene träumen ganz etwas Anders von sich, als was in ihnen liegt, und was sie in Kurzem sein werden. Selten täuschen wir Andre mit uns so sehr, als wir uns selbst mit uns täuschen; denn Fremde haben eigene Augen, uns anzusehen und zu prüfen; wir aber, wenn wir gegen und in uns selbst den Blick kehren, sollen auf einmal der Sehende, das Auge und das Gesehene werden. Wie also vor Gericht das Zeugniß Dessen, der für oder gegen sich selbst zeugt, mancherlei Einschränkungen und eine genaue Behutsamkeit fordert, so verdienen gewiß auch dergleichen ans Licht gestellte Confessionen bald einen billigen Vertheidiger, der für sie, bald einen Advocatum Diaboli, der gegen sie auftrete und zeuge. So schlechthin gilt ihr Urtheil nicht. Erzählen kann man von sich, aber nicht über sich urtheilen, noch weniger entscheiden.
Lassen Sie also, mein Freund, uns fleißig mit uns selbst zu Rathe gehen, fleißig mit uns selbst, mit unserm Schutzgeist oder unsrer Seele dialogiren, ohne bei diesen Dialogen an Welt oder Nachwelt zu denken. Ein Seitenblick auf dieselbe macht sie vielleicht schon falsch und dem Auge der höchsten und innigsten Wahrheit unerträglich. Je treuer wir dabei es mit uns selbst meinen, je mehr wir wirklich über uns aus Ursachen aufgeklärt werden wollen und zu tüchtigen Zwecken hinarbeiten, desto weniger werden wir uns in Reden ergießen, desto stiller werden wir allein für uns lernen.
Discite, o miseri, et causas cognoscite rerum;
Quid sumus? aut quidnam victuri gignimur? ordo
Quis datus? aut metae quam mollis flexus et unde?
Quis modus argento? quid fas optare? quid asper
Utile nummus habet? patriae carisque propinquis
Quantum elargiri deceat? quem te Deus esse
Jussit et humana qua parte locatus es in re?Von Herder mehrfach angeführte Verse des Persius (III. 66–72). Vgl. Herder's Uebersetzung in den Werken, VIII. S. 101. – D.
Ich nannte die Person, mit der wir uns hierüber unterreden müßten, uns selbst oder unsern Schutzgeist; denn was ist dieser Anders als die reine abgezogene Idee von unserm ganzen Selbst, die mit uns geht, und die uns gleichsam zu unserm Schutze begleitet. Um nicht schlechter zu werden, müssen wir immer besser zu werden streben; deswegen begleitet uns dieser glänzende Traum von uns selbst, das Aggregat unsrer geheimen Kräfte, Anstrebungen und Wünsche. Er erinnert uns an das, was wir vergaßen, an Gelübde, Hoffnungen, Ahnungen unsrer unerfahrnen Jugendseele und muntert uns dadurch auf und bringt uns weiter. Von ihm können wir erfahren, warum wir das noch nicht sind, was wir werden wollten; er wird uns auch weder Lehre noch Aufmunterung versagen, wie wir es etwa noch werden mögen. Unser Geburtstag, Tage des Glücks oder andere Erinnerungen sonderbarer Zufälle unsers vergangenen Lebens sind seine Feste; oft aber läßt sich seine Stimme auch unvermuthet und am Liebsten in der Pythagoreischen Stunde bei Nacht, in stiller Einsamkeit hören. Er dictirt zwar nicht zum Nachschreiben und sieht in seinen Antworten nicht darauf, wie sie sich gedruckt am Besten ausnehmen würden; sein Wort aber theilt Seele und Leib, Mark und Bein, ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.Hebr. 4, 12. – D. Ich wünsche Ihnen viele vergnügte Stunden mit diesem unsichtbaren Freunde, der Ihnen mehr als der heilige Augustinus sein wird; die Confessionen aber, die Sie Beide einander zu thun haben, mögen auch unter Ihnen bleiben; denn Worte dieses Freundes sind nicht für die Menge, sie sind heilig. Leben Sie wohl!
3.
Wenn wir von den andächtigen zu den, wie soll ich sie nennen? menschlichen philosophischen Confessionen herabsteigen, so fallen Ihnen, mein Freund, wol zuerst die Confessionen Rousseau's ein, die zu unsrer Zeit so viel Redens gemacht haben. Groß und feierlich kündigte er sie nach seiner Art an: »Ich unternehme«, sprach er, »ein Werk, das seinesgleichen nicht gehabt hat, noch haben wird. Menschen will ich einen Menschen ganz in seiner wahren Natur zeigen, und dieser Mensch bin ich, ich allein. Ich kenne mein Herz und kenne die Menschen. Ich bin nicht gemacht wie irgend Einer von denen, die ich gesehen habe; ich darf glauben, daß ich nicht wie irgend Einer bin, die existiren. Bin ich an Werth nicht besser wie sie, so bin ich ein Andrer. Ob die Natur wohl oder übel gethan habe, daß sie die Form zerbrach, in der sie mich bildete, darüber kann man nur urtheilen. wenn man mein Werk gelesen. Die Posaune des letzten Weltgerichts erschalle, wann sie will; mit diesem Buch in der Hand will ich mich vor den Weltrichter stellen und laut sagen: »Dies ist, was ich gethan, was ich gedacht habe, was ich war. Das Gute und das Böse von mir entdeckte ich gleich freimüthig, verschwieg nichts Böses, log nichts Gutes hinzu; und ist mir's begegnet, daß ich etwa einen gleichgiltigen Zierrath hinzuthat, so geschahe es nur, weil ein Fehler meines Gedächtnisses eine Lücke in meiner Erzählung verursachte. Ich zeigte mich, wie ich war, verachtenswürdig und niedrig, aber auch gut, edelmüthig, erhaben, wenn ich es war; mein Inneres entschleierte ich, wie Du es selbst kanntest. Ewiges Wesen, versammle um mich die unzählbare Menge Derer, die meines Geschlechts sind, und laß sie meine Bekenntnisse hören! Sie mögen über das Unwürdige in mir seufzen, über das Niedrige in mir erröthen, aber Jeder von ihnen enthülle vor Deinem Thron mit gleicher Aufrichtigkeit sein Herz, und dann sage ein Einziger von ihnen Allen, wenn er es sagen darf: Ich war besser als Dieser!« Ohne Zweifel, mein Freund, steigen Ihnen mancherlei Gedanken bei dieser Ausforderung auf, und es ist schwer, sich darüber zu erklären. Rousseau's Confessionen bedürfen aber auch dieser vorlaufenden Erklärung nicht; Blatt zu Blatt sieht man in ihnen den sonderbaren, in seiner Art einzigen Mann, der bei dieser seltnen Ankündigung weder großsprechen noch eine Lüge sagen wollte.
Rousseau hatte Feinde, und gewiß mehr, als er deren zu haben verdiente; sie gingen zum Theil mit ihm auf eine niedrige, schändliche, häßliche Art um und verbitterten sein Leben; das ist wahr. Und ebenso wahr ist's, daß seine kranke Phantasie sich viel mehr Feinde einbildete, als er hatte, und daß er diese sich viel schwärzer machte, als sie gegen ihn sein wollten. Bei der stärksten Mannesberedsamkeit war und blieb er ein Kind in Ansicht und Behandlung der Menschen; sein Geist war stolz, seine Grundsätze waren edel, und doch kann man es sich nicht verbergen, daß seine Neigungen und sein Betragen oft etwas Niedriges an sich hatten, das er sich, wenigstens in seinen Confessionen, in denen er doch der Richter sein selbst werden mußte, nicht so gar leicht hätte verzeihen sollen. Ein Gleiches ist's mit der großen Schwachheit seines Herzens für Wollust und Liebe. Die Anlage dazu sowie zu manchem andern Fehler lag gewiß mit in seinem kränklichen Körper; und da er bei seiner erhöhten Einbildungskraft nach dem ganzen Gange seines Lebens diese Leidenschaft gleichsam nie abbüßen konnte und sie also als einen unbefriedigten Reiz immerhin nährte, so kann man, wie ich glaube, die jugendliche Liebhaberei, die nachschmeckende Gefälligkeit, mit der er auch in seinem Alter Scenen dieser Art darstellt und ausmalt, abermals mit nichts als der Krankheit selbst entschuldigen, die bei Wiederholung solcher Erinnerungen seine unbefriedigten falschen Reize gewissermaßen noch befriedigend täuschte. Auf andre Art kann ich mir bei einem ernsten alten Mann, der über sich selbst nachdenkt, indem er sein Leben beschreibt, geschweige bei einem beredten Verehrer des Worts Tugend dergleichen Juvenilität nicht erklären. Ohne also der Posaune des letzten Gerichtes in den Ton fallen zu wollen, wage ich's immer zu sagen, daß es allerdings Menschen geben werde, denen, so wie Rousseau's Gaben und Sublimitäten, auch manche seiner Niedrigkeiten ganz fremd, ja moralisch unmöglich sein dürften, ohne daß sie deswegen besser als Rousseau sein wollten, dem nun einmal dieser reizbare Körper, dieser verirrte Gang seines Lebens zu Theil ward. Gegen seine Feinde, wie der kranke Mann sie sich dachte, mag er den Proceß von Blatt zu Blatt gewonnen haben; bei manchen seiner Verehrer, die gleichsam aus dem Schall seiner Stimme sich ein Bild von ihm schufen, ist er dagegen in Vielem gewiß zum Gleichmaß andrer Menschen hinabgestiegen; und auch dies ist nicht übel. Bei seinen seltnen Gaben an Geist und Charakter, bei seiner tönenden Wohlredenheit und brennenden Phantasie, bei seinen oft unwürdigen Schicksalen und Verfolgungen, insonderheit aber bei der großen Liebe zur Einsamkeit, die ihn mit sich selbst zu oft und zu sehr beschäftigte, hielt er vielleicht mehr von sich, als sich's zu halten gebührt; die Nemesis, die kein Uebermaß duldet, hat diesen Fehler an ihm noch nach seinem Tode auf eine Art gerächt, bei der Rousseau an diesen Erfolg schwerlich dachte. Aus seinem Grabe muß er noch selbst seine durchdringende Stimme erheben und den Menschen zurufen: »Ich war nicht Alles, wofür Ihr mich hieltet, weder im Guten noch im Bösen. So sehr ich die Tugend anpries und in meiner Phantasie liebte, so hatte ich doch, auch selbst noch in meinen Confessionen, über mich selbst noch kein moralisches Maß. Lernt also aus meinem Beispiel, Ihr Menschen, wie anders es sei, zu schreiben, zu phantasiren, und wie anders, zu handeln, zu sein! Ich habe durch meine Schriften gelehrt, ich warne durch mein Beispiel, ohne daß ich Euch selbst die Warnung jedesmal abziehen und deutlich machen konnte.«
Mich dünkt also, mein Freund, selbst Rousseau's Confessionen bewähren, was wir von der Schwierigkeit solcher Selbstbekenntnisse bisher bemerkten; denn gewiß war zu ihnen Niemand so leicht geschickter als er. Bei seiner großen Wahrheitsliebe und der ganzen moralischen Wendung, die sein Schriftstelleramt genommen hatte, lebte er unabhängig, war ein Liebhaber einsamer Gedanken und hatte Zeit gnug, sich mit seinem Genius zu unterhalten. Nun kamen aber seine Feinde dazwischen, die ihn unwürdig verachteten und seinen innern moralischen Stolz empörten. Als er schrieb, war er nicht mehr unbefangen; er fühlte sich besser als sie und wollte auch Situationen rechtfertigen, die vielleicht nicht zu rechtfertigen waren. Gegentheils mußte er Manches von sich verschweigen, das ihm zum Lobe gereichte, weil für einen bescheidenen Mann das Selbstlob immer die schwerste Sache bleibt; und so war Rousseau wiederum gewiß besser, als er sich selbst schildern konnte. Ueber manche seiner Fehler würde er zuverlässig anders geurtheilt haben, wenn er sie als Bekenntnisse eines Fremden hörte; und noch weniger würde er selbst es leugnen, daß manche Situationen seines Lebens, wie sie hier dargestellt sind, jungen oder schwachen Menschen fast verführerisch werden müssen, weil des Verfassers eignes strenges moralisches Urtheil darüber fehlt. Ja, wenn sein Buch einem der Weisen des Alterthums, einem Chilon, Zaleukus, Solon, Sokrates oder Marc-Aurel, vorgelegt würde, ist wol zu zweifeln, daß dieser darüber ein mißbilligendes Urtheil fällen würde? Wir wollen also, mein Freund, der Asche des armen Selbstpeinigers verzeihend, ihr eine friedliche Ruhe wünschen und uns lieber an den schönen Früchten und Blüthen, die dieser Baum hervorgebracht hat, erfreuen, als daß wir in seinem Leben jede Substanz des Erdreichs untersuchen wollten, aus und in welchem der Baum wuchs. Wenn Rousseau in seinen Schriften und überhaupt in den bessern Stunden seines Lebens so weit über sich selbst emporstieg, so müssen wir ihm als einem Ueberwinder sein selbst die Palme reichen und uns durch sein Beispiel warnen lassen, auch in Confessionen keine unbehutsamen Sonderlinge zu werden. Was wir sind, sind wir Gott; was wir hervorbringen oder ausüben können, das ist für Andre.
Ich unterscheide also auch von Confessionen gar sehr die Lebensbeschreibungen, die merkwürdige Personen zu gewissen bestimmten Zwecken für Andre von sich aufzeichnen. Wenn diese wahr und merkwürdig sind, verdienen sie das größte Lob und haben um so mehr Interesse in sich, je mehr sie ihren Zweck genau verfolgen. Ein Vater will seinen Kindern, ein Bürger seinen Mitbürgern, ein Gelehrter, ein Held, ein Staatsmann will Denen, die seines Berufs sind, ein Erbtheil an seinem Leben hinterlassen: wohl! er bereite diesen Schatz aufs Beste, als er kann, und er darf des Danks derselben gewiß sein: natürlich aber bleibt aus diesen Denkwürdigkeiten Alles weg, was sich nicht darstellen, nicht vortragen läßt, oder was nicht zur Erläuterung seiner selbst gehört. Auch die Fehler, die ein solcher Mann von sich zeigt, wird er in einem nützlichen Licht zeigen, und im Ganzen wird er mehr erzählen, als über sich selbst entscheiden und richten. Lebensbeschreibungen dieser Art sind wahre Vermächtnisse der Sinnesart denkwürdiger Personen, Spiegel der Zeitumstände, in denen sie lebten, und eine praktische Rechenschaft, was sie aus solchen und aus sich selbst gemacht, oder worin sie sich und ihre Zeit versäumt haben. Mit je froherem Herzen sie aufgezeichnet wurden, desto besser. Freunde und Feinde vergaß der Verfasser, ja, er sahe sich selbst als einen Hingeschiednen an, indem er sein Leben fürs Vaterland oder für die Seinen nützlich machte. Sein Genius oder die moralische Vernunft mußte ihm dabei die Feder führen, und kein anderes Resultat ihm vorschweben, als: »Wenn Ihr gethan habt, was Euch befohlen ist, so habt Ihr gethan, was Ihr zu thun schuldig waret.«
Sie wissen, mein Freund, daß wir unter mehrern Völkern schöne Denkwürdigkeiten dieser Art haben; und es wäre gut, wenn die unbekannteren ans Licht gebracht, das Zerstreute gesammelt und das Fremde zu uns hinübergeschafft würde. Es würde dies eine kleine Bibliothek der Schriftsteller über sich selbst und damit gewiß ein vortrefflicher Beitrag zur Geschichte der Menschheit. Da nun unleugbar der edlere Theil des Publicums auf diese immer aufmerksamer wird, indem unser Geschlecht es von Tage zu Tage inniger fühlt, daß es sich selbst das Nächste sei und sich selbst bearbeiten müsse, um aus und durch sich zu machen, was noch auf Erden geschehen soll: so dürfte Der, der sich einem solchen Werk unterzöge, wol gewiß auf den Beifall der Edelsten seiner Nation rechnen dürfen. Nur allerdings gehörte dazu auch, daß er diese Porträte und Büsten nicht als ein Lohndiener voll Unrath oder in wilder Verwirrung hinstellte, sondern – Gnug für diesesmal; wenn Sie Hand ans Werk legen wollen, soll es Ihnen an meinem weitern Rath nicht fehlen. Leben Sie wohl!
4.
Ich wollte, mein Freund, noch zum Petrarca zurückkehren und auf das Grab des bescheidnen, edeln Mannes einige Blumen pflanzen. Wo fände ich aber bessere als in seinen eignen Gedichten; und so mögen einige seiner Sonette hier stehn, die gewiß auch, wie mehrere seiner Poesien, für Confessionen gelten können. Leider aber sind sie seiner Sprache kaum zu entwenden, und wie ich sie hersetze, sind sie nichts als welke traurige Erinnerungen dessen, was sie bei ihm sind.
Canzoniere, I. Son. 18. – D.Je mehr ich mich dem letzten Tage nahe,
Der endlich kürzet unser menschlich Elend,
Je mehr erseh' ich, wie die Zeit dahinfliegt,
Und was ich von ihr hoffte, mit ihr flieget.
Nicht lange, sprech' ich denn zu meiner Seele,
Nicht lange werden wir, von Liebe schwätzend,
Zusammen fürder gehn; die Last der Erde
Zerschmilzt wie frischer Schnee: dann ruhn wir Beide.
Mit ihr dann sinkt auch jene Hoffnung nieder,
Die eitle, die so lang mich irre führte,
Schmerz, Freude, Furcht und Zorn sind dann vorüber.
Dann werden wir erkennen, wie so öfters
Ein scheinbar Unglück unser bestes Glück war,
Und wie so öfters wir ohn' Ursach weinten.
Canzoniere, I. Son. 49. – D.So müde bin ich von der alten Bürde
Der Fehler, die mir zur Gewohnheit wurden,
Daß ich in Weges Mitte zu erliegen
Und meinem Feind ein Raub zu werden fürchte.
Da kam zum Glücke mir, mich zu erretten,
Aus unaussprechlicher, aus höchster Güte
Ein edler Freund; ach! aber er entflog mir
So schnell, daß ihm mein Blick vergebens nachsieht!
Jedoch, noch schallet seine Stimm' hienieden:
»O Ihr Mühseligen! hier ist die Straße!
Kommt zu mir, kommt! wenn sonst Euch nichts zurückhält!«
O, welche Gnad' und Liebe! welch ein Schicksal!
Wer leiht mir gleich der Taube Flügel, aufwärts
Zu schwingen mich, damit ich Ruhe finde?
Schlaf, Ueppigkeit und Trägheit, ach, sie haben
Aus unsrer Welt verbannet jede Tugend;
Verscheucht von ihrer Laufbahn ist die Menschheit,
In Banden der Gewohnheit fest gebunden,
Und so erloschen jeder gute Lichtstrahl
Des Himmels, der noch unser Leben aufhellt,
Daß wundernd man auf Den mit Fingern zeiget,
Der jetzt vom Helikon will Ströme leiten.
»Was ist denn an dem Lorbeer? an der Myrte?
Die arme nackte Philosophie!« So höhnet,
Auf niedrigen Gewinn erpicht, der Pöbel.
Nur Wenig' also werden Dich begleiten,
Und um so mehr bitt' ich, anmuth'ge Seele,Das Sonett war eine Antwort auf das Sonett einer Dichterin mit den von ihr selbst gebrauchten Reimen. – H. [An Giustina Levi Perrotti von Sassoferrato (Rime varie, 4). – D.]
Verfolge Deine große Unternehmung!
Canzoniere, I. Son. 1. – D.Die Ihr in meinen Reimen jene Seufzer
Vernehmt, mit denen ich mein Herz einst nährte,
Als ich im ersten jugendlichen Irrthum
Zum Theil ein Andrer war, als der ich jetzt bin,
Ach, wer von Euch die Liebe selbst erfahren,
Der wird mir, wenn ich weine, wenn ich rede
Von eiteln Hoffnungen und eiteln Schmerzen,
Mitleiden doch, wo nicht Verzeihung schenken.
Wohl seh' ich's jetzo ein, welch eine Fabel
Ich lange, lange Zeit dem Volk gewesen;
Worüber dann ich oft vor mir erröthe.
Und dies Erröthen ist von meinen Fehlern
Die Frucht nun, sammt der reuig klaren Einsicht,
Daß, was der Welt gefällt, ein kurzer Traum sei.
Canzoniere, II. Son. 14. – D.Was thust, was denkst Du? schauest immer rückwärts
Auf Zeiten, die nie können wiederkehren?
Trostlose Seele, giebst noch immer Nahrung
Dem Feuer, das Dich brennet und verzehret?
Die sanften Worte, jene süßen Blicke,
Die all' und jede Du Dir sangst und maltest,
Du weißt, entronnen sind sie jetzt der Erde;
Unzeitig, hier sie wieder suchen wollen.
Ach, so erneue nicht, was Dich nur tödtet;
Verfolge nicht den eiteln Wahngedanken,
Verfolge, was zum besten Ziel Dich leitet!
Laß uns den Himmel suchen, wenn hienieden
Uns nichts gefällt. Unglücklich, wenn die Schöne
Uns todt wie lebend nur die Ruhe raubte!
Cancionere, II. Son. 88. – D.Ich geh' beweinend meine vor'gen Tage,
In denen ich nur Sterblichkeiten liebte
Und hob nicht aufwärts mich auf meinen Schwingen,
Daß ich der Welt kein schlechtes Vorbild würde.
Du, der mich Kranken, mich Unwerthen kennet,
Unsichtbar-Ewiger, des Himmels König,
O, hilf der schwachen, der verirrten Seele,
Füll ihren Mangel aus mit Deiner Gnade!
So daß, da ich in Streit und Stürmen lebte,
Im Frieden ich und in dem Hafen sterbe
Und aus der eiteln Wohnung ehrlich scheide.
Die wenig Schritte hin, die mir bevorstehn,
Und dann im Tode reiche Deine Hand mir;
Du weißt, dies ist noch meine einz'ge Hoffnung!
Have, anima pia, have!
Leipzig 1798.Sie steht vor dem zweiten Bande. D. Friedrich Majer gehörte zu Herder's jüngern Hausfreunden. – D.
Da der Verfasser sowol die Idee als den Zweck seiner Abhandlungen in einer eignen Vorrede deutlich ans Licht gesetzt hat, und es anmaßend wäre, als Vorredner sein Lobredner oder sein erster Recensent zu werden, so bleibt mir nichts übrig, als über den Werth seines Zwecks national- und zeitmäßig einige Worte hinzuzufügen, deren Anwendung sich sodann selbst ergiebt.
1. Nur durch den Geist, den wir in die Geschichte bringen und aus ihr ziehen, wird uns Menschen- und Völkergeschichte nützlich. Geistlos zusammengestellte Facta stehen unfruchtbar da; auch die Entwicklung historischer Umstände kann keinen andern Zweck haben als Evidenz, Wahrheit.
2. Was uns in der Geschichte zunächst anspricht, sind Sitten und Charaktere sowol der Völker als einzelner Menschen. Diese ins Licht zu stellen, sie durch Erweise und Vergleichungen sprechend zu machen, ist der edle Zweck einer psychagogischen Geschichte. Welche Nation dies am Besten that, die bearbeitete das Feld der Begebenheiten aufs Nutzbarste, aufs Angenehmste.
Daß wir Deutsche hierin nicht nur den Alten, sondern auch einigen benachbarten Nationen noch nachstehen, ist ebenso bekannt, als oft beklagt worden. Namenverzeichnisse, Genealogien, die Beschreibung von Kriegszügen, Helden- und Staatsactionen, das Skelett des Herkommens endlich hinderten uns oft, den Geist der Zeit zu entwickeln, die Menschengeschichte für Menschen sprechen zu lassen, charakteristisch, sittlich.
Zwar suchte man diesen Mangel seit einem Jahrhundert durch ein andres Extrem zu ersetzen, indem man Geschichte mit Roman mischte oder gar historische Charaktere undramatisch dramatisirte; es liegt aber am Tage, daß dadurch die poetische Kunst so wenig gewann als die Geschichte. Sogenannte historische Romane sind gemeiniglich die langweiligsten Romane, historische die schläfrigsten Dramen; und überhaupt giebt es dem Gemüth eine unangenehme Empfindung, wenn ohne Erreichung einer Kunstidee das Geschehene und die Dichtung dergestalt vermengt werden, daß man nicht weiß, was man liest. Die reine historische Exposition eines Zeitraums, eines gesellschaftlichen Verhältnisses als eines charakteristischen Sittengemäldes, wenn sie gleich nicht so lebhaft als ein Roman oder Drama sein kann und sein soll, wird dem ruhigen Leser dennoch unterhaltend und lehrreich sein; sie belohnt ihre mindere Lebhaftigkeit durch einen reineren Umriß der Wahrheit.
3. Unter allen gesellschaftlichen Verhältnissen ist das Band der Geschlechter und Familien das zarteste, das die Geschichte entwickeln kann und festhalten sollte; denn auf ihm beruht nicht nur der ächte Ruhm einer Nation, sondern auch ihr innerer dauernder Wohlstand. Kriegstugenden sind nur abwehrende Tugenden; wo sie angreifen, erobern, zudringlich und überlästig werden, hören sie auf Tugenden zu sein und werden erst Andern, dann der Nation selbst fürchterliche Dämonen. Indem sie den häuslichen Wohlstand Fremder zerrütten, bringen sie durch Ueberspannung der Bedürfnisse, der Neigungen und Kräfte eine Unform zuwege, in der sich die Mutter aller häuslichen und bürgerlichen Glückseligkeit, die Sophrosyne, am Wenigsten erkennt.
Immer also höre ich lieber der Deutschen häusliche Tugenden als ihre Kriegsthaten – loben. In den alten wilden Zeiten drängten sie als gedrängte Völker andre Nationen und setzten sich, wo und wie sie konnten. In den mittleren barbarischen Zeiten hielten sie rohere Völker, Hunnen und Mongolen, in ihrem verheerenden Lauf auf oder ließen sich, treu der Fahne des Gehorsams, gegen welt- und geistliche Mächte bis ans Ende der Welt führen und vergaßen darüber, sich in ihrem Lande eine Constitution zu geben, die den Namen eines Staats verdiente. Aber ihre häuslichen Tugenden lobe man; denn sie verdienen das Lob, das zuletzt alle Elogien überlebt. Aus ihnen entsprang in Deutschland das Städte- und Bürger-Gemeinwesen, das ganz auf häuslicher Glückseligkeit beruhte und diese bezweckte.
Wie kommt's nun, daß wir diese stillen Tugenden nicht ehren? daß wir die unzweifelhaften Vorzüge unsrer Väter, die im deutschen Charakter liegen, weniger schätzen als die blendenden Eigenschaften fremder Nationen? Daß viele Deutsche der deutschen Staatsgeschichte unkundig sind, ist sehr verzeihlich; aber auch der Charakter- und Sittengeschichte? Wir wollen, die Hand vors Auge haltend, den Grund nur darin suchen, daß diese weniger als die deutsche Kriegs-, Reichs-, Staats-, Rechts-, Herkommensgeschichte behandelt worden. Und doch reicht auch diese Täuschung zum Troste kaum hin; denn wie Wenige haben – ich will nicht sagen Mascov's, Schmidt's oder eines Andern »Geschichte der Deutschen«, Müller's »Geschichte der Schweiz« u. s. w. gelesen, sondern sich auch nur um einzelne Zeitperioden, merkwürdige deutsche Institute, Verdienste, Charakterzüge bekümmert! Sind (um nur einige zu nennen) Möser's, Möhsen's, Hegewisch's, Stetten's Schriften in den Händen, in denen sie sein sollten? Wird Schlözer's »Geschichte der Deutschen in Siebenbürgen«, die ein so großes Blatt des deutschen Culturfleißes aus mehreren Ländern enthält,Vgl. oben S. 635 ff. – D. so laut verkündet als ein triviales britisches Pamphlet über die Botanybai, die Maratten und Hyder Ali?
Da wir so lange, aus uns geworfen, uns Selbst entrissen, andern Nationen gedient, ihnen gefröhnt haben, sollte uns nicht die jetzige Zeit selbst mit gewaltiger grausamer Hand auf uns zurückdrängen, uns zurufend: »Lerne Dich selbst kennen! denn Andre kennen und mißbrauchen Dich. Requirire Dich, damit Du nicht requirirt werdest!« Und was führte dazu mehr als historische Untersuchungen dessen, was unsre Väter waren, wir vielleicht nicht mehr sind, vielleicht auch nie mehr – doch das sei ferne! Wir sind, was wir sind; unter gegebenen Umständen kann unser Charakter sinken, unsre Natur aber können wir nie vertauschen. Die gedrückte elastische Kraft wird deshalb nicht unterdrückt; sie hebt sich empor, und der Druck selbst war ihr nöthig. In keinem Verhältniß wollen wir die reine Germanität, d. i. Treue und Einfalt mit Anhänglichkeit und Muth verbunden, aufgeben. Der Name German, germanischer Charakter behauptete sich unter den Römern selbst rühmlich.
Zweifelhafter denke ich über den deutschen Rittergeist, sofern er Cultur bewirkt hat. Daß er mit dem französischen, spanischen, normännischen in England und Italien die Galanterie nicht in gleichem Maß emportrieb, möchten wir ihm verzeihen; aber (siehe die Burgen und Raubschlösser mit ihren Verließen, die Trinksäle u. s. w. an!) bewirkte er nicht etwas Anders? Gnug! Der Geist hat sich überlebt. Wir wollen, wie bei dem Leichenbegängniß des letzten Stammhelden, ihm eine Lob- und Leichenrede halten, die Turniere seiner Vorfahren erzählen, den ehrenhaften Schild aufhängen und das Wappen mit dem Todten begraben. Pfarrer oder Küster stellen ihm aus den Diptychen einst sein glaubhaftes Zeugniß aus.
Mehr interessirt die Culturgeschichte der Menschheit jene sanfte Nation, die Erfinderin keiner schädlichen und so vieler nutzbaren Künste, die Hindu. Alles, was uns unter ihren Himmel versetzt, hat die Zauberkraft in sich, daß es uns sittsamer macht und milder. Die Zusammenstellungen des Verfassers, der auch das unlängst erschienene Gesetzbuch des Menu (die letzte Frucht von W. Jones' glücklichem Fleiße) gebraucht hat, verweilen uns sanft bei ihnen; und da Sakontala leider bisher die einzige Probe eines ihrer vollendeten Geisteswerke geblieben, das uns statt der übrigen gelten muß, so verweilt man auch an ihr gern, wenn man sie gleich schon kannte. Gebe die nächste Zeit uns mehr Sakontalas, die schönsten Beiträge zur Culturgeschichte der Völker!
»Culturgeschichte der Völker«, in welchen Traum versetzt uns dies Wort, oder vielmehr in welche unendliche Laufbahn! Wie viel und wie wenig ist in ihr geschehen! und auf welchen Wegen ist Manches bewirkt worden! Völker blühten und verblühten; mancherlei war ihre Frucht im großen Garten. Sie pflanzten sich fort, sie mischten sich mit einander; auch jener blühende Dorn, auch jene stechende prächtige Distel. Und dort und da, wie ungeheure Wüsteneien, auf die kein Regen fällt, die kein Thautropfe bethaut; ihnen entgegenglänzende Eisthürme, in deren Klüften nur Lichen wächst. Ueber die gesammte Culturgeschichte der Menschheit haben wir nichts zu verantworten, aber Jeder an seiner Stelle. Wolauf! lasset uns eilen! Quantum est, quod restat!
Weimar, den 1. Mai 1798.