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1778.Aus den »Abhandlungen der baierischen Akademie über Gegenstände der schönen Wissenschaften«. Erster Band. München, 1781, S. 25–138. Der Ausgabe der Werke, welcher wir folgen, ist ohne Zweifel eine von Herder selbst besorgte Durchsicht dieser Abhandlung zu Grunde gelegt. Herder hatte nämlich in Folge der Ankündigung einer Sammlung seiner Werke von Seiten eines Nachdruckers noch in seinem letzten Lebensjahre das Erscheinen einer von ihm selbst bearbeiteten Gesammtausgabe seiner Schriften angezeigt, und auf die zu diesem Zwecke gemachte Durchsicht sind die Textänderungen, welche die Ausgabe der Werke dem ersten Drucke gegenüber aufweist, zurückzuführen. Einzelne Versehen der Ausgabe der Werke konnten wir nach dem ersten Drucke verbessern. Manche Fehler des letztern sind auch in jene übergegangen und nur zum Theil später berichtigt worden. – D.
Utcunque defecere mores,
Dedecorant bene nata culpae.
Horat.Carm., IV. 4, 35. 36. – D.
Nach vielen Zeugnissen der Alten war Poesie bei ihnen vom stärksten Einflusse auf die Sitten. Sie, die Tochter des Himmels, soll, wie die Dichtung sagt, den Stab der Macht gehabt haben, Thiere zu bändigen, Steine zu beleben, den Seelen der Menschen einzuhauchen, was man wollte: Haß und Liebe, Muth und Sanftmuth, Ehrfurcht gegen die Götter, Schrecken, Zuversicht, Trost, Freude. Sie soll's gewesen sein, die rohe Völker unter die Gesetze, Verdrossene zu Kampf und Arbeit, Furchtsame zu Unternehmungen in Todesgefahr muthig und geschickt gemacht. Sie war das älteste und nach der Erzählung das wirksamste Mittel zur Lehre, zum Unterricht, zur Bildung der Sitten für Menschen und Bürger. Mercuri, nam te docilis magistro
Movit Amphion lapides canendo. –
Mercuri, facunde nepos Atlantis,
Qui feros cultus hominum recentum
Voce formasti. –
Gelidove in Haemo,
Unde vocalem temere insecutae
Orphea silvae
Arte materna rapidos morantem
Fluminum lapsus etc.
Horat. [Carm., III. 11; I. 10. 12].
Der Stellen, die ein Gleiches sagen, sind bei den Alten sehr viele. – H.
Wie? sind alle diese Nachrichten Fabel und selbst Poesie? oder wenn sie Wahrheit enthalten, wie konnte Plato ihr den Eingang in seine idealische Republik versagen? Oder hatte sie die Wirkung, hat sie sie noch? Was hat sich geändert, sie selbst oder die Welt um sie, Zeit, Sitten, Völker? Und hätte sie sie nicht mehr, was ist an ihre Stelle getreten? etwas Besseres? Schlechteres? nichts? Und wie könnte man ihr in den beiden letztern Fällen ihre alte Würde und Hoheit wiedergeben, ihr zurückhelfen auf den Thron ihrer Väter? Oder wäre sie so tief verfallen, daß sie sogar übeln Einfluß auf den Charakter und das Glück der Menschen hätte, wie könnte man diesem Uebel steuern, ihr das Gift nehmen und die verderbten Seelen der Menschen zur reinern Sprache des Olympus wieder gewöhnen?
Mich dünkt, diese und andere Fragen liegen vor mir. Ein weites Gebiet, groß wie die Geschichte gebildeter und ungebildeter Nationen! Zugleich umfaßt es Tiefen der menschlichen Seele, ihre edelsten Kräfte in Wirkung und im Empfange fremder Wirkung, in dem, was wir Sitten, Charakter, Gutes und Böses im Einzelnen und im Ganzen, Menschen- und Völkerglückseligkeit nennen.
Nichts ist angenehmer und lehrreicher als die Aussicht auf ein solches Feld und eine solche Ausbeute der innersten Menschengeschichte; nichts ist aber auch schwerer, als dies Feld zu ordnen und diese Ausbeute zu Tage zu legen. Soll ich also, da ich von Poesie schreibe, eine poetische Muse oder, da ich von ihrem Einfluß auf die Sitten schreibe, Wahrheit und Geschichte zum Beistande rufen? Mich dünkt, das Letzte. Von Poesie als ein Poet zu reden, bringt nicht weit; bist Du der, so rede nicht von ihr, sondern zeige sie selbst, dichte! Auch über Wirkungen und empfangene Einflüsse der menschlichen Seele allgemein zu sprechen, ohne besondere Zeugnisse, Proben und Gewährleistung dessen, was man behauptet, kann nie weit bringen, und am Mindesten weit bei einer so großen und verflochtenen Frage, als hier die Wörter Poesie, Einfluß, Sitten, alte und neue Zeiten in sich schließen müssen. Allgemeine BehauptungenAußer dem, was in allen Poetiken zum Besten der Poesie steht und stehen muß, haben Fraguier (T. I, II der Mémoires de l'Académie des belles-lettres), Massieu (T. II derselben Mémoires), Racine (T. VIII) und Andere gnug darüber geschrieben, deren Verzeichniß man in Schmid's Literatur der Poesie (Leipzig 1775), S. 154–157 finden und sich selbst vermehren kann. Das Gröbste, was meines Wissens gegen die Poesie gesagt ist, und zwar nicht unter dem Scheine der Andacht, sondern des gesunden Verstandes und der Wahrheit, steht in den Parrhasianis, p. 1–130, deren sonst verdienter Verfasser aber bei Erklärung biblischer Poesien gnugsam gezeigt hat, daß ihm für Dichtkunst der Sinn fehlte. Es ist der berühmte Le Clerc (Clericus). – H. über ein solches Thema liest man mit Widerwillen und Ekel; man weiß nie, wo man ist, noch wovon man, bestimmt gesagt, redet. Die Akademie hat durch die Bestimmung »alte und neue Zeiten« einen Wink gegeben, daß die Frage nach der Geschichte, aus den Sitten der Zeiten und Völker beantwortet werden solle; und das sei nach einem kurzen Capitel über das Allgemeine der Gang dieser Abhandlung. Erschöpft kann in ihr nichts werden; einzelne Früchte und Blumen einer langen und mühsamen Ernte bringe ich dar.
I. Was ist Poesie, wirkende Dichtkunst? und wie wirkt sie auf die Sitten der Menschen?
II. Wie wirkte sie bei den vornehmsten Nationen der Alten, die wir näher kennen, bei Ebräern, Griechen, Römern und etwa den nordischen Nationen?
III. Welche Veränderung geschah mit ihr in den mittlern und neuen Zeiten? und wie und was wirkt sie jetzt?Die Preisschrift der Akademie zu Mantua »Ueber den Einfluß der Dichtkunst in die Politik« vom Jahr 1770 habe ich nicht gelesen. Die Schrift, die am Meisten Aehnlichkeit mit unsrer Aufgabe hätte, wären Dr. Brown's Betrachtungen über Poesie und Musik (übersetzt Leipzig 1769), deren Verfasser bekanntermaßen die scharfe Schätzung der Sitten seiner Zeit geschrieben hatte. Da er aber mehr einer Kunsthypothese nachgeht, der (bei allen Uebertreibungen, worin sie sich verirrt) doch nicht ganz Gerechtigkeit geschehen ist, so hat er freilich die besten Sachen nur berühren, oft schief berühren müssen. Ich schweige davon, was über die Sittlichkeit der Schaubühne, Anakreontischer Dichter u. s. w. häufig für und gegen geschrieben worden. Praschii Werk De variis modis moralia tradendi ist eine bloße Compilation. – H.
Nothwendig fordert ein Umfang solcher Fragen, daß wir uns, so viel wir können, in jede Zeit, unter jedes Volk ganz hinstellen und nicht, wie die Schnecke ihr Haus, unsre enge eigene Denkart allenthalben umhertragen. Die schönsten und schlechtesten Einflüsse der Dichtkunst sind doch fein und vorübergehend gnug, um bei entlegenen Völkern und Zeiten sie auch nur in einem Schatten wahrnehmen zu können, der an die Wirklichkeit erinnere.
Ist Poesie das, was sie sein soll, so ist sie ihrem Wesen nach wirkend. Sie, die Sprache der Sinne, erster mächtiger Eindrücke, der Leidenschaft und der Einbildungskraft; sie, der Ausdruck großer Handlungen und der Freude oder des Schmerzes, mit welchen man sie erlebt, gesehen, bewirkt oder ihr Andenken empfangen hat, Poesie, die Sprache der Liebe und des Hasses, der Furcht und Hoffnung – wie sollte diese nicht wirken? Natur, Empfindung, die ganze Menschenseele floß in die Sprache, drückte sich in sie als ihren Körper ab, wirkt also auch durch ihn in Alles, was gleicher Natur ist, in alle mitempfindende Seelen. Wie der Magnet das Eisen zieht, wie der Ton einer Saite die andre regt, wie jede Bewegung, Leidenschaft und Empfindung sich fortpflanzt und mittheilt, wo sie nicht Widerstand findet, so ist auch die Wirkung der Sprache der Sinne, d. i. der Poesie, allgemein und im höchsten Grade natürlich. Sie drückt sich der Seele ein, wie sich Bild und Siegel in Wachs oder Leim formt.Es sind dies meistens Gleichnisse und Bilder, die Plato, Cicero und die Dichter selbst von der Art ihrer Wirkung gebraucht haben; es wäre zu weitläuftig, die Stellen alle zu citiren. – H.
Je wahrer also, je kenntlicher und stärker der Ausdruck unsrer Empfindungen ist, d. i. je mehr es wahre Poesie ist, desto stärker und wahrer ist ihr Eindruck, desto mehr und länger muß sie wirken. Nicht sie, sondern die Natur, die ganze Welt der Leidenschaften und Handlungen, die im Dichter lag, und die er durch die Sprache aus sich zu bringen strebt, diese wirkt. Die Sprache ist nur Canal, der wahre Dichter nur Dolmetscher oder eigentlich der Ueberbringer der Natur in die Seele und in das Herz seiner Brüder. Was auf ihn wirkte, und wie es auf ihn wirkte, das wirkt fort, nicht durch seine, nicht durch willkürliche, conventionelle, sondern durch Naturkräfte. Und je offner die Menschen sind, diese zu fühlen oder zu ahnen; je mehr sie Augen haben zu sehen, was in der Natur geschieht, und Ohren zu hören, wie es ihnen der Bote der Schöpfung mittheilt, desto stärker wirkt nothwendig die Dichtkunst in ihnen. Und sofort wirkt sie aus ihnen weiter. Je mehr sie auf Menschen in Menge wirkt, die ihre Eindrücke gemeinschaftlich empfangen und einander wie zurückgeworfene Strahlen der Sonne mittheilen, desto mehr nimmt Wärme und Erleuchtung, die aus ihr quillt, zu; der dichterische Glaube kann Glaube des Volkes, Handlung, Sitten, Charakter, Theil ihres Schadens oder ihrer Glückseligkeit werden.
Nun haben es schon treffliche Männer untersucht, in welchem Zustande und Zeitalter das menschliche Geschlecht und seine Gesellschaft dieser Sprache der Natur, ihrer Sinne und Leidenschaften am Offensten und Fähigsten sei, und alleIch will besonders und vor Allen nur Blackwell's Untersuchung über Homer's Leben und Schriften (übersetzt Leipz. 1776), Wood's Versuch über das Originalgenie Homer's (übersetzt Frankf. 1773), Blair's Abhandlung über Ossian (vor der Denis'schen Uebersetzung desselben) nennen; denn die meisten Neuern haben aus diesen geschöpft, sowie sie wiederum die Samenkörner ihrer besten Betrachtungen in den Alten selbst fanden. Wenn Viele den Satz so mißverstanden haben, als ob in gebildeten Staaten kein Dichter leben und werden könne, so muß man den Mißverstand bessern, nicht aber die Wahrheit der Geschichte aufgeben oder verändern. – H. haben es für die Kindheit und Jugend unsers Geschlechts, für die ersten Zustände einer sich bildenden Gesellschaft entschieden. So lange ein Mensch noch unter Gegenständen der Natur lebt, die ihn ganz berühren; je mehr er KindἸδιώτης πᾶς καὶ ἀπαίδευτος τρόπον τινὰ παῖς ἐοτι.
Strab. [1. 2].
Det primos versibus annos
Maeoniumque bibat felici pectore fontem.
Petron. [5, 12. 13]. – H. dieser lebendigen, kräftigen, vielförmigen Mutter ist, an ihren Brüsten liegt oder sich im ersten Spiele mit seinen Mitbrüdern, ihren Abdrücken und seinen Nebenzweigen auf einem Baume des Lebens freut; je mehr er ganz auf diese wirkt und sie ganz auf sich wirken läßt, nicht halbirt, meistert, schnitzelt, abstrahirt; je freier und göttlicher er, was er empfangen hat, in Sprache bringen kann und darf, sein Bild von Handlungen ganz darstellt und durch die ihm eingeborne, nicht aufgeheftete Kraft wirken läßt; endlich je treuer und wahrer die Menschen um ihn dies Alles empfangen, aufnehmen, wie er's gab, in seinen Ton gestimmt sind und Dichtkunst auf des Dichters, nicht auf der Zuhörer Weise wirken lassen: da lebt, da wirkt die Dichtkunst, und gerade ist dies in den Zeiten der ganzen wilden Natur oder auf den ersten Stufen der politischen Bildung. Weiterhin, je mehr Kunst an die Stelle der Natur tritt und gemachtes Gesetz an die Stelle der lautern Empfindung (Zustände, in denen die Menschen nichts mehr sind, oder was sie sind, ewig verhehlen), wo man sich Sinne und Gliedmaßen stümmelt, um die Natur nicht zu fühlen oder nicht von sich weiter wirken zu lassen: wie ist da Poesie, wahre, wirkende Sprache der Natur möglich? Lüge rührt nicht, Kunst, Zwang und Heuchelei kann nicht entzücken, so wenig als Nacht und Finsterniß erleuchten. Dichtet (im wörtlichen Verstande), dichtet immer;Οὐ τέχνη ποιοῦσιν, ἀλλὰ ϑείᾳ δυνάμει. – Οὐχ οὑτοί εἰσιν οἱ ταῦτα λέγοντες, ἀλλ' ὁ ϑεὸς αὐτός ἐστιν ὁ λέγων.
Plat. [Ion, 5, wo aber ταῦτα λέγουσιν statt ποιοῦσιν steht. – D.]
Σοφὸς ὁ πολλὰ εἰδὼς φυᾷ,
μαϑόντες δὲ λάβροι
παγγλωσσίᾳ, κόρακες ὡς,
ἄκραντα γαρύετον
Διὸς πρὸς ὄρνιχα ϑεῖον.
Pind. [Ol., II. 94–97]. – H. erdichtet Euch eine Natur, Empfindung, Handlung, Sitten, Sprache: die große Mutter der Wahrheit und Liebe sieht Euerm Spiele zu, sie lacht oder jammert; die wahre Poesie ist todt, die Flamme des Himmels erloschen und von ihren Wirkungen nur ein Häufchen Asche übrig.
Das ist also Dichtkunst, und so wirkt sie; aber was wirkt sie? wie bringt sie Sitten hervor? und sind diese gut oder böse? Mich dünkt, diese Fragen allgemein zu beantworten, ist gar nicht möglich. Alle Gabe Gottes in der Natur ist gut, und so auch die große Gabe über sie alle, ihre lebendige Sprache. Sinne, Einbildung, Handlung, Leidenschaft, Alles, was die Poesie ausdrückt und darstellt, ist gut; mithin kann auch ihr Eindruck auf Andere durch Harmonie und Einstimmung nicht böse genannt werden.S. Basilius, De legendis Graecorum libris. – H. [Aus dem Griechischen mehrfach übersetzt, auch von Hugo Grotius. – D.] So wie aber Alles in der Schöpfung und gerade das Edelste am Meisten mißbraucht wird, so kann auch die Poesie, der edle, entzückende Balsam aus den geheimsten Kräften der Schöpfung Gottes, süßes Gift, berauschende, tödtende Wollust werden. Saecli incommoda, pessimi poetae.Catull., 14. 23. – D. Das liegt alsdann nicht an der Sache, sondern am Mißbrauche; und eben weil es nur an diesem und also ganz in den Händen der Menschen liegt, müssen die Grenzen um so sorgfältiger geschieden, die Gegend des Mißbrauches um so genauer verzäunt und verwarnt werden.
Wir öffnen also ohne alle weitere metaphysische Umschweife von dem, was Poesie, Einfluß, Zeitalter, Gut und Böses heiße, das Buch der Geschichte: sie soll beweisen, lehren, warnen und entscheiden.
Erstes Capitel.
Wirkung der Dichtkunst bei den Ebräern.
Daß dieses Volk herrliche wirkende Poesie gehabt habe, können auch seine Feinde nicht leugnen; und was insonderheit den Geist ihrer Dichtkunst, die Art und Absicht ihrer Wirkung betrifft, darin, dünkt mich, sind sie das sonderbarste und einzige Muster der Erde. Auch blos in Wirkung ist ihre Poesie göttlich. Gott ist's, der da spricht; vom Geiste Gottes sind ihre Gedichte voll; auf Gott fließen sie zurück. Ihn darzustellen, zu preisen und zu offenbaren, das erwählte Volk zu seinem Volke, zu einem Volke Gottes zu bilden, das allein ist ihre große, reine Absicht.
Ich übergehe die ersten Denkmale von der Schöpfung und den ersten Schicksalen des Menschengeschlechts bis auf die Trennung der Völker. Sie sind, obwol sie dichterische Stellen haben, nicht eigentlich Poesie; jene aber müssen sie haben, weil sie gerade den Inhalt »Himmel und Erde, Schöpfung des Menschen und seinen ersten Zustand, die Umarmung der ersten Braut, die erste Sünde, Gefühl und Fluch des ersten Mörders, das große Gericht der Ueberschwemmung nebst dem Wiedergefühle der erneuerten Erde beim ersten lachenden Regenbogen« – diese und dergleichen große Dinge enthalten. Die einfachste Erzählung des Allen, jedesmal nach dem ersten ursprünglichen Eindruck, muß natürlich die wundersamste Wirkung machen; sie macht sie noch auf alle Kinder und unbefangene Gemüther; ja, sie hat sie auf der ganzen Erde gemacht, unter allen Völkern, wo je diese Ursagen der Welt hindrangen. Ueberall finden wir sie in der ältesten Geschichte, Einrichtung und Religion selbst der entlegensten und wildesten Völker, nur meistens verstellt, verändert und oft tief verkleidet, wieder, finden sie immer deutlicher wieder, je älter das Volk ist, und je mehr es seine ersten Denkmale erhalten, sehen sodann immer deutlicher, wie die ersten Gesetzgeber, Dichter und Weise in Bildung einzelner Völker auf diese Ursprünge der Menschenkenntniß mehr oder minder gebaut haben; Cithara crinitus Jopas
Personat aurata, docuit quem maximus Atlas.
Hic canit errantem lunam, solisque labores,
Unde hominum genus etc. –
(Silenus) canebat, uti magnum per inane coacta
Semina terrarumque animaeque marisque fuissent etc.
Virg. Aen., I. 740–743; Buc., VI. 31. 32. D] Von den Griechen s. das ganze erste Buch von Fabricii Bibliotheca Graeca und von allen Völkern ihre alte Mythologie, Kosmogonie u. dgl. – H. mithin hatten diese geringen poetischen Ueberbleibsel die größte Wirkung und ein ziemlich unerkanntes, oft angestrittenes, aber um so edleres Verdienst um die Sitten der Welt und um die Bildung der ersten Völker. Indessen da dieser Gegenstand zu fern liegt, er auch in einzelnen Büchern oft bis zum verwegensten Uebermaße ausgeführt worden und wir ihn bei Gelegenheit der Griechen vielleicht auf seiner deutlichsten Stelle ins Auge bekommen werden, so sei hier gnug von demselben. Wir wenden uns zur eigentlichen Nationaldichtkunst des ebräischen Volkes.
Dies Volk war dichterisch selbst in seinem Ursprunge. Ein göttlicher poetischer Segen war's, der das Geschlecht Sem's, Abraham's, Isaak's, Jakob's und seiner zwölf Söhne unterschied1. Mos. 9, 24–27; 15, 12–17; 27, 27–46; 49, 1–27. – H. und vom sterbenden Vater ihnen als Krone auf ihr Haupt gesetzt, als Balsam auf ihre Scheitel gegossen wurde. Esau's Thränen und seine lange Rache beweisen es, wie hoch dieses Erbe göttlicher Worte geschätzt wurde. Es ging bis auf Kinder und Kindeskinder hinab: das Geschlecht Cham's blieb verflucht und ist es noch bei den morgenländischen Nationen, das Geschlecht Ismael's hat noch die Sitten des poetischen Spruches,S. Sale, Einleitung zum Koran, und eine eigne Abhandlung davon in Delany's Revelation examin'd with candour, T. II. Was Genealogien, Geschlechtssegen und Ruhm der Väter auf alle Stämme und Völker der Morgenländer für Wirkung haben, ist aus Nachrichten und Reisebeschreibungen bekannt gnug. – H. der auf ihren Urvater fiel, erhält sich darin und rühmt sich dessen: »Ihre Hand gegen Jedermann, Jedermanns Hand wider sie; die Wüste, das freie Feld ist ihnen gegeben.« Mit eben dem Glauben und mit noch größerer Entzückung und stolzer Freude konnte Isaak's und Jakob's Geschlecht an seinem Geschlechtsliede hangen. Sitten und Schicksale waren ihm darin vorgeprägt; das Gesicht Jakob's über seine Söhne enthält auf eine bewundernswürdige Weise ihr Bild, ihre Sitten, ihre Geschichte im ersten Abdrucke und bis in die spätesten Zeiten. Die Wirkung dieser Lieder aufs ganze Geschlecht war mehr als ein Golderbe, als todte Wappenbilder und erstrittene Fahnen. Als nach Jahrhunderten ihr Befreier und Gesetzgeber dem muthlosen und unterdrückten Volke erschien, sollte er ihnen keinen andern Namen nennen, der ihnen Muth und Gefühl von der Würde ihres Ursprungs gebe, als den Gott ihrer Väter, den Gott Abraham's, Isaak's und Jakob's.
Er that's, er errettete sie durch Wunder und Zeichen, und als er sie, nun sein Volk, ein Volk Gottes, in seinen Händen hatte, wie umfing er sie? womit gab er ihnen den ersten Eindruck? Durch Poesie! durch das herrliche Lied ihres Ausgangs,2. Mos. 15, 1–21. – H. das in der Ursprache, auch dem Schalle nach ganz lebendige Dichtkunst, als Mauer dasteht am Schilfmeere sowie sein letztes Lied5. Mos. 32, 1–44. – H. als die andere Mauer am Berge Pisga. Dort ist man unter Pauken und Tänzen der erretteten Männer und Weiber; hier – wer hat dies Lied gelesen und hat nicht gefühlt: so hat kein Gesetzgeber geendet! Die ganze Seele und das Herz Moses', sein Gesetz, sein Leben, das Herz, die Sitten des Volks, seine Bestimmung, Glück und Unglück, seine ganze Geschichte ist in dem herrlichen Liede. Es sollte ein Denkmal des Gesetzgebers, ein Lied sein, das auf die Sitten und das Herz des Volkes ewiglich wirkte. Die rührende Wiederholung des Gesetzes im fünften Buche voll Geschichte, Fluches und Segens war dazu Vorbereitung, lebende Grundlage zu einer lebendigen Denksäule, und der darauf folgende Segen5. Mos. 33, 1–29. – H. (der wenig veränderte Segen ihres letzten Stammvaters) war der dichterische Kranz, der die Bildsäule krönte. Welcher Gesetzgeber wollte tiefer auf Sitten seines Volkes wirken als Moses? Selbst Lykurg ist ihm nicht zu vergleichen; und wenn er nun die Wirkung seines Daseins in Worte zusammennahm, ward's – ein Lied.
Auch umliegende Völker mußten so auf dies Volk wirken. Die Geschichte Bileam's4. Mos. 22–24. – H. zeigt, welche Kraft Moab seinen poetischen Flüchen zugetraut habe, die sich in Segen über Segen auf Israel wandeln müssen. Noch jetzt kann man den höchst poetischen Ausdruck dieser Gesichte und Entzückungen4. Mos. 23 und 24. – H. nicht ohne Ehrfurcht und heiligen Schauer, zugleich aber auch mit wie hoch aufwallender Brust lesen; wie mag sie Israel gehört, gelernt, gesungen, empfunden haben! Den Fluch seiner Feinde wand es sich als Siegeskranz des Lobgesanges um seine Schläfe.
So zog's in sein Land: seine Siege wurden in Gesängen, die wir nicht mehr haben, dem Volke preisgegeben.Josua 10, 13. – H. Einen derselben haben wir, und er ist national, voll Wirkung aufs Volk, auf Freunde und Feinde, auf sieghafte und müssige Stämme, selbst auf die verschiedenen Stände und Classen des Volkes, als ich sonst keinen kenne – das Lied der Heldin und Dichterin Deborah.Richt. 5, 1–31. – H. Lob und Tadel, Spott und Ruhm fliegen aus der Hand der Siegerin in mehr als Pindarischen PfeilenNach Pindar's Ausdruck, Ol. II. 150. 163, – D.: an seinem lebendigen Feste muß er große Wirkung gehabt haben! Wie sie unter Palmen, so wohnte Israel damals unter Weinstöcken und Feigenbäumen, genoß die Natur und verstand ihre Sprache. Als der unterdrückte, verfolgte, kaum entkommene Flüchtling Jotham seine Landsleute zur Barmherzigkeit gegen sich und zur Einsicht über ihren blutigen Unterdrücker bringen wollte, that er's – durch eine FabelRicht. 9, 7-20. – H. Vielleicht die episch-politisch- und historisch-glücklichste Fabel, die je gesagt ward: sie enthält den Ursprung und die Sitten des ganzen Tyrannengeschlechts auf Erden.
Der zweite König in Israel, er, der unter allen Königen die größte Wirkung auf sein Volk gethan, daß Name und Regierung ihnen das Sprichwort der Macht und Herrlichkeit eines Königs wurde, war Hirt und Sänger, der lieblichste Psalmensänger,Sirach 47, 1–13. – H. den Israel gehabt hat, und der eben durch Psalmen königlich wirkte. Die mächtige, Angst und Wuth zähmende Harfe war's,1. Sam. 14, 14–23. – H. die ihn an Saul's Hof brachte, ein Siegesreigen der Weiber seiner Nation,1. Sam. 18, 7. 8. – H. der ihm Saul's Haß und Neid zuzog. Die Harfe war's endlich, die ihn in die Wüste und auf den Thron, in Leid und Freude, in die Schlacht und zum Altare begleitete und allenthalben den Gott seines Volkes pries. Alle Zustände seines Herzens, die größten und gefahrvollsten Begebenheiten seines Lebens flossen in Lieder, in Lieder von so außerordentlicher Wahrheit und Wirkung aufs Herz, daß sie Jahrtausende die Probe gehalten und unter den verschiedensten Umständen und Zeitläufen von außen Herzen erquickt und Seelen regiert haben. In allen ist der König Israel's Knecht Gottes, dem Gott hilft; das Volk, das ihm anvertraut war, ist Gottes Volk, eine Heerde, deren Hirt der Herr ist, und das auch an Sitten unvergleichbar sein soll unter allen Völkern auf Erden. Die Psalmen David's sind eigentliche National-Psalmen: auch wenn sie das Volk sang, ertönte eine Musik, von deren Art und Wirkung wir wirklich keinen Begriff haben. Es war der Siegeskranz am Ende seines Lebens;2. Sam. 23, 1. 2. – H. [Die Stelle ist ungenau wiedergegeben. – D.] so sprach der König lieblich mit Israel's Psalmen: »Der Geist Gottes hat durch mich gesungen, sein Wort ist durch meine Zunge geschehen.« Der Ruhm seiner Lieder blieb, die Wirkung derselben überdauerte die Wirkung seiner Siege. Das Volk sang ihn, und die Propheten weckten den Geist seiner Gesänge, wie ihn der Geist Moses' erweckt hatte. Er lebt noch! Wir hören ihn um Abner, um Jonathan klagen2. Sam. 3, 33–38; 2. Sam. 1, 19–27. – H. und weinen mit ihm; wir hören ihn frohlocken und frohlocken mit ihm; der Geist, der um seine Harfe schwebte, hat große Wirkung gethan auf der Erde und wird sie thun, wenn vielleicht die Poesie andrer Nationen ein Traum ist.
Wie die Regierung Salomo's war, war auch seine Dichtkunst, ein redender Beweis, wie Sitten auf Gedichte und Gedichte auf Sitten wirken. Fein, glänzend, berühmt, scharfsinnig, wollüstig wie sie, so sang und regierte er. Die Königin eines fremden Volkes kam, ihn mit Räthseln und Dichtkunst zu versuchen,1. Kön. 10, 1–9; 2. Chron. 9, 11. – H. und ward überwunden; er war so reich an Liedern als an Gold und Pracht und Weisheit;1. Kön. 4, 29–34. – H. seine Sprüche sind ein Köcher voll Pfeile des schärfsten Sinnes und Witzes, ihr Flug ist befiedert, und sie treffen das Herz;Nach Pindar, Ol. II. 149–152. – D. seine Lieder der Liebe sind die zartesten, geheimnißvollen Morgenrosen, die im Thale der Freuden je eine Königshand brach; sein Hof war glänzend, voll Sänger und Dichter, voll Liebhaber und Wetteifrer seiner königlichen Muse; indessen zeigt sein letztes poetisches BuchDer Prediger. – H. wie der Ausgang seiner Regierung, daß Alles eitel sei, was sich nicht auf die Furcht Jehovah's gründe. Weder ihn noch sein Volk konnte die glänzende oder zarte Dichtkunst glücklich machen; Israel seufzte nach einem Könige, der kein Poet sei.
Das Reich zerfiel, und nun gehen hie und da Gesandte Gottes ans Volk, Propheten, Sänger umher; aus der Königsstadt oder aus der Wüste, von Bergen schallt ihre Stimme, die Stimme Gottes an sein Land und seine verlaufenen Söhne. Wer kann noch jetzt sie lesen und wird nicht warm! stolz oder bange um seinen Gott, den Gott Israel's, um seine Worte und Verheißung! Vom Geiste Gottes sind voll, die da sprachen; nicht ihre, sondern Gottes Sache, Gottes Wort war's, was sie sprachen; es ängstete oder entzückte sie, was sie sahen und hörten, und da mußten sie singen. Jesaias und Habakuk, Hosea und Micha, Amos und Jeremia. Brand zu singen fühlten sie in sich, und Gluth sind ihre Gesänge! Das Land um sie ist Gottes Land, Schauplatz der Thaten Gottes in die tiefste Ferne; das Volk um sie ist Gottes Volk in Fluch und Segen, in Lohn und desto härtern Strafen; da stehen sie und arbeiten und schildern und bilden vor. Ihre Stimme will den Sturz abwenden, aber vergebens! Der Fall kömmt, und nun wird ihre Harfe voll rührender Klage, Trost und Hoffnung. Auch in der Ferne hatten sie den Blick des zerstreuten Volkes auf ihr Land geheftet, richten ihn immer zu den Bergen, von welchen ihnen Hilfe kommen würde, empor. Das Volk blieb immer Volk Gottes auch im fremden Lande; an den Flüssen Babel's sitzen sie und weinen, wenn sie an Zion dachten;Ps. 137, 1–4. – H. ihre Harfen hangen an den Weiden verstummt und traurig: »Wie sollten wir des Herrn Lied singen im fremden Lande?« Unter Weissagung kamen sie zurück, und unter traurigen Gesängen der Gegenwart, aber großen Gesichten der Zukunft stiegen die Mauern Jerusalem's und des Tempels wieder hervor. Die Stimme des Geistes ertönte durch ihre Sänger und Patrioten fort, bis sie wieder ein Volk waren, und auch später in elenden, kümmerlichen Zeiten kam immer ein Ton des Trostes, ein Hall der Freude zur rechten Zeit.
Glücklich, wenn diese göttliche Dichtkunst jedesmal die Wirkung ganz gethan hätte, die sie thun sollte und dazu der Keim in ihr lag! daß sie immer ein Brand gewesen wäre, der Herzen durchglühte, und ein Hammer, der Felsen zerschlug! Ader freilich war's auch ihr Schicksal: »Höret's und verstehet's nicht! sehet's und merket's nicht!«Jes. 6, 9. – H. Da es hier nicht darauf ankam, zu loben, zu bewundern oder die Ohren sich kitzeln zu lassen, sondern zu thun, zu folgen, zu gehorchen, Sitten und Neigungen zu ändern und in einem andern Geiste zu leben, so war das freilich eine zu hohe Forderung, eine zu schwere Last der Dichtkunst. Man fürchtete den Propheten oder haßte und verfolgte ihn. Da der Zweck seiner Gesänge so hoch über den Zweck der bloßen Menschendichtkunst als sein Geist über den Geist dieser ging, so war auch ihr Lohn anders. Statt sie auf den Parnassus zu führen, warf man sie in die Grube: das Lied von einem Weinberge, der Heerlinge trug statt süßer Trauben, war oft die Geschichte ihrer Wirkung.Jes. 5, 1–4. – H. Dies lag aber wol nicht an Denen, die sangen, sondern an Denen, die hörten; und noch fand zu jeder Zeit ihr Wort, »der Thau, der vom Himmel fiel, zu machen die Erde fruchtbar und wachsend«, seine Stelle.
Groß ist die Wirkung, die die Dichtkunst der Ebräer auf dies Volk und durch sie auf so viel andre Völker gemacht hat. Zu welchem Volke that sich auch in Gesängen und Liedern sein Gott also, wie zu diesem der seine? Die Dichtkunst der andern ward bald Fabel, Lüge, Mythologie, oft Gräuel und Schande; diese ist und blieb Gottes! die Tochter des Himmels, die Braut seiner Ehre und Rächerin seines Namens. Wenn unter allen Völkern eben Dichter die ersten Götzendiener, Schmeichler des Volkes und der Fürsten, Tändler und zuletzt Verschlimmerer der Sitten geworden sind, daß ihnen fast nichts mehr heilig bleiben konnte, so waren hier gerade Dichter die Eifrer gegen Abgötterei, Selbstruhm, Schmeichelei und weiche Sitten; ihre Poesie war Altar des einzigen Gottes der Wahrheit und Tugend. Welche Schilderungen! welche Beschreibungen desselben in Hiob, Moses, den Psalmen und Propheten! Man sei Jude, Christ oder Türke, man muß ihre Hoheit fühlen und die reinen Pflichten, die immer daran geknüpft werden, im Staube ehren. Die einzelne Vorsehung Gottes, wo ist sie kräftiger gepriesen und erwiesen als in der Geschichte dieses Volkes und in den Liedern, Prophezeihungen, Psalmen, die aus dieser Geschichte reden? Das Christenthum mit seiner simpeln göttlichen Weisheit ist aus diesem Stamme gesproßt, zog Saft aus dieser Wurzel in Bildern und Sprache. Lehre und Trost, Aufmunterung und Warnung, Alles, was ein Mensch Gottes bedarf, wornach er dürstet in den Tiefen seiner Seele, ist hier kräftig enthüllt oder reizend verhüllt, und wenn alle Menschendichtkunst Rauch und Pfütze würde, so glänzt in dieser die Sonne voll Licht, Leben und Wärme, hoch über Wollen, Dunst und Nebel.
Aber warum mußten so erhabne Lehren und Triebfedern zur Sittlichkeit der Menschen in eine so enge, übertriebene, dunkle Nationaldichtkunst eines Volkes verhüllt werden? Ich glaube nicht, daß Jemand so fragen könne, der den Geist dieser Gedichte an Stelle und Ort gefühlt hat. Für dies Volk waren sie ja eigentlich, und so mußten sie in der Sprache, den Sitten, der Denkart des Volkes und keines andern in keiner andern Zeit sein. Nun lebte dies Volk noch unter Bäumen, wohnte in Hütten, in einem Lande, wo Milch und Honig floß; philosophische Grübeleien und sogenannte reine Abstractionen, die als aufgethaute Schälle, als unsichtbare Geister in der Luft fliegen, waren ihm und seiner Sprache fremde. Wie Gott also in der Natur zu ihm sprach und durch alle Begebenheiten seiner Geschichte, so wollte auch der Geist ihrer Dichtkunst zu ihnen sprechen, ans Herz, für Sinne und den ganzen Menschen. In Bildern konnte gesagt werden, was sich durch mutternackte Abstractionen nimmer oder äußerst matt und elend sagen läßt. Die Sprache der Leidenschaft und der Gesichte konnte unsichtbare oder zukünftige Welten umfassen, Dinge zur Aufmunterung, zum Trost darstellen, die erst eine späte Folgezeit entwickelte, ohne daß durch eine zu lichte Vorspiegelung eben die Erfüllung des Geweissagten verhindert wurde. Es waren Träume des Reichs Gottes, der geistigen und festen Zukunft, in Nebel gehüllt, aber eben in einen erquickenden, gesunden, Himmelsthau triefenden Nebel. Gesänge dieser Art sollten den Menschen treffen mit Herz, Muth und Sinn, nicht einen leeren Kopf voll Spinnweb der Abstractionen oder ein philosophisches Schattenantlitz. Die himmlische Leyer mußte also Saiten haben für jeden in uns schlafenden Ton, für jede fühlbare Taste unsers Herzens. Ueberdies, wer fühlt nicht, daß in diesem Engen und Eignen des Volkes und der Menschengattung die beste Wirkung ihrer Poesie ruhe?S. davon Manches in Lowth' De sacra poesi Hebraeorum, insonderheit Prael. VIII. IX. – H. Daß der Geist derselben so geheim und zuthätig zu ihnen sprach, um alle ihre Gegenstände des Heiligthums, der Natur, des häuslichen Lebens liebreich und vertraulich umherging und eben daraus Seile für ihr Herz wand, Bilder in ihrem Thale schuf für Himmel und Zukunft: lag nicht darin eben das Andringliche und Sittliche der Wirkung dieser Gedichte? Macht sie zu einer Abstraction, zum Hirngespinste für alle Zeiten und Völker, und sie werden für keine Zeit und kein Volk mehr sein. Der blühende Baum ist ausgerissen und schwebt, eine traurige, dürre Abstractions- und Faserngestalt, über den Bäumen. Und endlich, was ist's für Wahn, für eine taumelnde stolze Thorheit, zu verkennen, wer wir sind, uns als reine Geister, als philosophische Atome zu spiegeln und zu wollen, daß Gott sich uns, wie Jupiter der Semele, in dem, was er ist und wie er sich denkt, offenbare? Wie die ganze Natur Gottes, wie alle Geschichte zu uns spricht, so spreche auch die Dolmetscherin beider, die göttliche Dichtkunst!
Freilich ward dem erwählten Volke selbst diese göttliche Dichtkunst zuletzt Fall. Als der Geist von ihnen gewichen und nur noch der Leichnam derselben, der unverstandene, mißgedeutete Buchstabe da war; als man Wörter zählte, Silben fädelte und den Sinn dahingab, ihn mit eignem Tande, mit müssigen Träumen umflocht und daraus deutete, was man wollte: freilich da war Wolke ums Volk und eine Binde um die Augen ihrer Weisen. Vor lauter Glanz der Bilder sah man die Sache nicht, erkannte nicht, den man kennen sollte; der Kreis lebendiger Wirkung dieser Gedichte ans Herz und für die Sitten des Volkes war verschwunden. Der Zauber war aus, das Land den Heiden gegeben, die es zertraten; Sprache und Denkart ward Hellenismus, ein Gemisch und Chaos von fremden Völkern und Sprachen; die jungfräuliche Blüthe ihrer Dichtkunst war weg, und wann ist sie je einem Volke, einem Menschenleben zum zweiten Male wieder geworden? Es war verlebte Jugend, ein süßer Traum verstrichener blühender Jahre.
Zwar regte sich der Geist der Dichtkunst noch hie und da im Stillen, und je reiner, desto wirksamer. Auch noch auf dem Bettlersmantel der spätesten RabbinenIm Talmud, besonders in den Sprüchen der Väter, im Buch Zohar u. s. w. – H. sind Flicke großen Sinnes, Prophetenstellen, die man bedauert, daß man sie hier und also findet. Leider! eben durch solche Flicke und Prophetenstellen zogen sie sich zu Titus' Zeiten hartnäckig ihren Untergang zu und wurden ein Ball unter den Völkern der Erde. Entfernt von ihrem Lande, entfernten sie sich immer mehr von den heiligen lebendigen Quellen ihrer Dichtkunst, so theuer sie diese auch bewahren und eben damit das Aeußere ihrer Sitten und Gebräuche sich noch eigen erhalten. Wird einst eine Zeit sein, da der Geist ihrer Propheten sie wieder besuche, ihnen Erfüllung zeige und sie zum alten Volke des Herrn, ihres Gottes, mache? Jetzt zeigt die Geschichte und der Charakter dieses wunderbaren Volkes selbst in seinem Falle, von welcher Wirkung die heilige Dichtkunst einst auf ihre Väter gewesen und zum Theile noch auf sie ist.
Und welches war, mit einem Worte, diese Wirkung? Sie war göttlich, theurgisch. Was alle Dichter rühmen oder in Lügen formeln und in Formeln lügen, das war hier Wahrheit: Eingebung der heilige Quell ihrer Dichtkunst und die Absicht ihrer Wirkung nichts Unreiners und Geringers als Sitten, das ganze Herz des Volkes im innigsten Verstande. Es sollte ein Priesterthum Gottes, ein königliches Volk sein; nichts Anders und zu nichts Anderm war die Dichtkunst. Sie ist also in Allem, was sie war und nicht war, was sie erreichen sollte und nicht erreicht hat, das merkwürdigste, lehrendste Muster, »wie Dichtkunst auf Sitten eines Volkes wirken sollte, und was sie oft nicht wirke!«
Zweites Capitel.
Wirkung der Dichtkunst bei den Griechen.
Auch hier war die Poesie im Anfange göttlich, die Bilderin der Sitten der Menschen und Völker. Die ältesten Sagen und Märchen Griechenlandes schreiben's ihr zu, daß sie die Wilden gebändigt, Gesetze gegeben, sie den Menschen eingeflößt und unvermerkt in Gang gebracht habe. Die ältesten Gesetzgeber, Richter der Geheimnisse und innigsten Gottesdienste, ja endlich der Sage nach die Erfinder der schönsten Sachen und Gebräuche zur Sittlichkeit des Lebens waren Dichter.Fabricii Bibliotheca Graeca, L. I.; Brown's »Betrachtungen über Poesie und Musik«, Abschn. V.; Vossius, De poetis Graecis u. s. w. – H.
Ich mag die Fabeln von Orpheus, Amphion, Linus, Thales und alle den 70 Dichternamen vor Homer, die sich meistens wie Spielzeug einer in den andern und zuletzt die meisten in ein Bild, eine Allegorie stecken lassen – ich mag sie hier so wenig wiederholen als einzeln deuten. Gnug, Hymnen der Götter, Geheimnisse, Kosmogonie, die alten Geschichten der Urwelt, Gesetze, Sitten, meistens auch in Bildern, in Sagen, war ihr Gesang, ihre Lehre und Weisheit. Bei den meisten sieht man offenbar, woher sie gekommen, von welchen Geschichten sie der gebrochene Nachhall sind, und Baco nennt die älteste griechische Dichtkunst mit Recht einen Jüngling, der mit morgenländischem Winde zum Zeitvertreibe auf einer griechischen Flöte pfeift. Hier ist's nur unsre Sache, den Eindruck zu bemerken, den, nach den eignen Märchen der Griechen selbst, dies Alles auf sie gemacht hat. Von diesen alten Kosmogonien, Hymnen, Geheimnissen, Fabeln rechnen sie selbst ihre politische und moralische Sittlichkeit her; noch nach Jahrhunderten waren die Namen Linus, Orpheus, Musäus, Thales, und wie sie weiter heißen, als Wohlthäter der Weisheit und als Väter ihres Ruhms heilig.
Auch später, wo die Namen aufhören und wahre Gedichte da sind, blickt noch dieser heilige sittliche Gebrauch der alten Dichtkunst durch. Nur von Hymnen und Kriegen der Götter kam man aufs Lob und auf Kriege der Menschen: die ältesten Aoiden waren heilige Personen, jener bei der Klytämnestra der mächtige unbezwingbare Wächter ihrer Tugend.Odyssee, III. 267 f. – D. »Die Fürsten«, sagt Hesiod noch von der alten Sitte,Hesiod. Theog., 88–104. – H. »die Fürsten kommen vom Jupiter, die Sänger von den Musen und dem Apoll. Glücklich ist der Mann, den die Musen lieben; seine Lippen fließen über von sanften und süßen Tönen. Ist Jemand, der in seiner Seele einen geheimen nagenden Kummer fühlt, der Sänger, ein Diener der Musen, hebt nur an das Lob der Götter und alten Helden, sogleich vergißt er seinen Kummer und fühlt sein Leid nicht mehr. Seid mir gegrüßt, Jupiter's Töchter! begeistert mich mit Eurem mächtigen Gesange!« So sahe Hesiod die Dichtkunst an, und wie sie der Sänger fürs Vaterland, der wackre Tyrtäus, wie sie der Sänger für Griechenland, Pindar, brauchte, wie sie die alten Pythagoreer und Gnomologen anwandten, liegt noch in Ueberbleibseln zu Tage. Sowol TrauerspieleS. von Diesem und Anderm Aristoteles' Dichtkunst, Vossius, Scaliger und die unter allen Nationen Europens darüber commentirt haben; bei zu bekannten oder zu viel fassenden Sachen unterlassen wir Citationen. – H. als die meisten lyrischen Gattungen sind aus gottesdienstlichen Chören und Gebräuchen entstanden. Plato mit aller seiner Weisheit ist in jeder dunkeln verwickelten Frage von Dichtersprüchen und Sagen der alten Zeit voll;S. Timäus, Phädon u. s. w. – H. die ihm das verargen, thun sehr Unrecht; denn ohne sie wäre nie ein Plato worden. Aus Dichtern der Vorwelt hat sich also, nach Geschichte und Tradition, bei den Griechen ihre ganze Verfassung und Weisheit erzeugt.
Und zwar geschahen die größten Wirkungen der Dichtkunst, da sie noch lebendige Sage war, da noch keine Buchstaben, viel weniger geschriebene Regeln da waren. Der Dichter sah, was er sang, oder hatte es lebendig vernommen, trug's lange mit sich im Herzen als sein Schooßkind umher; nun öffnete er den Mund und sprach Wunder und Wahrheit. Der Kreis um ihn staunte, horchte, lernte, sang, vergaß die Göttersprüche nie: sie waren ihm mit Nägeln des Gesanges in die Seele geheftet. Kam's nun noch dazu, daß der Dichter höhere Absicht hatte, daß er wirklich ein Bote der Götter, ein Mann für sein Volk und Vaterland, ein heiliger Stifter des Guten auf Geschlechter hinab war und diesen Schatz und diesen Drang in sich fühlte: wie Pfeile flogen die Töne aus seinem goldenen Köcher ins Herz der Menschen. Die griechische Musik, Töne, unter griechischem Himmel den Saiten entlockt, nahmen ihn auf ihre Flügel; Musen und Grazien halfen den Gesang vollenden.
Die Wirkung davon zeigt das Bild der Griechen in der Geschichte ihrer Werke und Productionen, ja ihr Charakter bis auf den heutigen Tag. Sie waren die erste cultivirte Nation, wie selbst Aegyptier und Phönicier nicht waren. Ihre Sprache war so dichterisch, biegsam, klingend, fein und reich, daß man wol sieht, frühe Dichter haben sie gebildet, und sie konnte wieder neue Dichter wecken. Alles, was sie bei den Nachbarn sahen, von den Ausländern lernten, faßten sie rund und ganz als Gedicht, als schöne Weise und bildeten's selbst, bis auf Namen und Geist der Sache, nach ihrem Charakter wie zum Klange der Leyer. Die Götter der Aegyptier wurden bei ihnen schöne dichterische Wesen, sie warfen überflüssigen Putz und alles schwere Geräth ab und zeigten sich, wie Mutter Natur sie geschaffen, nackt, in schöner menschlicher Bildung und dazu, wie es dem Gange der Dichtkunst und dem Fluge ihrer Saiten geziemte, in menschlicher, oft zu menschlicher Handlung. Die Kunst fing mit der Dichtkunst an zu wetteifern; aus zwei Versen Homer'sIlias, I. 528–530. – D. ward Phidias' Jupiter wie durch Offenbarung. Der Geschmack ihres Lebens konnte dem Gange ihrer Dichtkunst voll Götter und Helden nicht unähnlich werden; sie machten sich Alles leicht, kränzten sich Alles mit Blumen. Unter Musik und Gesange übten sie sich in Kämpfen und Spielen; unter Flötenschalle und wie im Tanze zogen sie zur Schlacht. Ihre Erziehung in den schönsten Zeiten waren Leibesübung, Musik und Dichtkunst; diese standen unter der Aussicht der Obern und waren von den Gesetzgebern ihrer Staaten zu Grundfäden ihres Charakters angewandt worden, durch die sich nun Gesetze und Lehren schlangen. Homer war ihnen Alles, und der feine Blick, mit dem dieser Alles gesehen, jeden Gegenstand, nicht straff angezogen, sondern in seinem leichten, reinen Umrisse richtig und leicht gemessen, gezeichnet hatte – der feine Blick, das leichte, richtige, natürliche Verhältniß in Allem wurde auch ihr Blick. Leichte also und natürliche Gesetze, ein geschicktes Verhältniß der Menschen gegen einander waren ihre Anstalt, ihre Erfindung. Die Denkart der Menschen, ihre Sitten und Sprache bekamen einen Strom, eine Fülle, eine Runde, die sie noch nicht gehabt; alles zu Tiefe wurde erhöht, das Schwere leicht, das Dunkle helle; denn aus Homer holten sie Sittlichkeit, Kunst und Weisheit – und freilich machten sie auch aus Homer, was Jeder wollte, nachdem ihm eine Lust ankam, dies oder das zu kosten.
Daß in diesem dichterischen Charakter der Griechen Alles zu bewundern und nachzuahmen sei, will ich nicht sagen. Offenbar ward hiemit Manches zu sehr schaugetragen, Alles zu flüssig und leicht gemacht. Die Religion ward auch der Wirkung und dem Werthe nach Mythologie, die fremde, zumal alte oder Alltagsgeschichte Märchen, die Staatsweisheit Rednerei, die Philosophie Sophistik. Wahrer Werth verlor sich mit der Zeit aus Allem, und es blieb schönes Spielwerk, bunte Oberfläche übrig. So lange noch Reste der Heldenzeit da waren und das heilige Feuer der Freiheit hie und da glimmte, waren sie edel, wirksam, fochten und fühlten; bald fochten und fühlten sie, zumal die Athenienser, nur in Worten, gaben sich der Cabale, dem Vergnügen und den Rednerkunstgriffen preis. Im peloponnesischen Kriege hungerten sie lieber, als daß sie tägliches Schauspiel entbehrten; gegen den Philippus ließen sie den Demosthenes fechten und, überwunden, waren sie, insonderheit um Lob, die niedrigsten Schmeichler. Das waren sie unter den Macedoniern und unter den Römern noch mehr: freiwillige Sclaven, wenn ihnen nur der Name der Freiheit und das Lob ihrer Dichtkunst, Rednerei und andrer Siebensachen blieb. Ihr Charakter, ihr Kriegs- und Nationalglück war also auch nur ein Gedicht, d. i. eine schöne Fabel, nach Zeit und Auftritten behandelt. So sind sie noch.S. A. P. Guy's Voyage littéraire de la Grèce, T. I. II. – H. Lieder kränzen die Ketten, die sie tragen; Lieder und ihr altes Lob wiegen sie ein auf dem Ruhebette der Armuth und Verachtung. Hätten sie weniger poetische Talente, vielleicht wären sie stärker, frei, glücklich. Da indessen einige dieser Stücke, so kurz gesagt, zu schwer auffallen könnten, so muß ich ein paar Worte ausführlich hinzuthun.
Die Griechen waren immer Kinder, wie sie jener Aegyptier nannte, also immer auf etwas Neues begierig und alles Neue zum Vergnügen, zur Ergetzlichkeit brauchend. Vielleicht hatten die alten Gesetzgeber, Dichter und Weise nur zu ihnen als Kindern geredet; daß sie aber nun solche blieben, Alles zu Ergetzlichkeit und zu Märchen machten mich dünkt, die Wirkung der Dichtkunst war weder groß noch nützlich.
Die Dame Mythologie hat viele Ritter gefunden, die für sie fochten, und wenn für eine Mythologie zu fechten war, so mag's immer griechische sein und keine andre. Aber was heißt Mythologie, und was ist sie? Daß anfangs in ihren Grundzügen Bedeutung gewesen, daran ist nicht zu zweifeln; auch der ärgste Lügner kann nicht ohne Grund lügen. Aber daß nun schon in den ältesten Zeiten, die wir kennen, und aus denen wir Gedichte haben, das Meiste bloße Volkssage gewesen, mich dünkt, das ist auch schwer zu leugnen. Schon bei Homer ist's eine alte Bemerkung, daß seine Götter unter seinen Menschen stehen. Bei diesen ist er zu Hause; jene sind ihm nur Maschinen, die er zur Fortleitung des Gedichts und zum Vergnügen der Hörenden einflocht. So braucht Pindar die Göttergeschichte auf seine, so die Tragiker und Komödienschreiber auf ihre Weise. Sie war ein zarter Leim, aus dem man machen konnte, was man wollte, weil der Leim dazu da und von je her Alles daraus gemacht war.
Nun läßt sich, auch sehr dichterisch gedacht, ein solcher mythologischer Dichtungskram wol zur Grundlage einer festen Sittlichkeit und Religion des Volkes rechnen, wie wir die Worte nehmen? Schon Plato verbannte die Dichter aus seiner Republik und führte die Ursachen an, warum er sie verbannte. Wie mußte sich Plutarch, der freilich hier mehr den Schulmeister als den Philosophen machte, krümmen, als er die Frage aufwarf: »wie man die griechischen Dichter lesen müsse.«In der Schrift: »De audiendis poetis«. – D. Man stelle sich vor Aristophanes' Bühne hin, wenn er seine Götter aufführt, und frage, was das für Eindrücke aufs Volk habe geben sollen. Da Dichter die Religion schmiedeten und verschmiedeten und nirgend etwas Gewisses war, so mußten sich nothwendig schöner Aberglaube und Unglaube ins Volk theilen. Daher finden wir die leichtsinnigen, zum Schönen aller Kunst gebildeten Griechen auf der einen Seite den Ahnungen, den übeln Vorbedeutungen, der Einwirkung der Dämonen so sehr ergeben, als auf der andern Seite ihre Philosophen willkürlich an Sittlichkeit und Religion flickten, als ob diese erst ganz von ihrem Geschwätze und System abhinge, und falls sie sich nicht eine ersännen, gar keine da sei. Auch ihre erhabensten Hymnen und prächtigsten Pindarischen Gesänge sinken im mythologischen Theile, und über die Religion ihrer Schaubühne wird noch lange gestritten werden können.
Ueber die Griechen selbst in ihrem Zeitalter und Weltende sind wir in diesem Allen keine Richter; wir aber, jetzt, und wo wir leben, wenn wir den leichten Duft der griechischen Mythologie in unser Eis verwandeln, sie aus hohem Geschmacke des Alterthums auch in ihren dürftigen Begriffen, in ihrem leichten Sinne und schönen Aberglauben nachahmen wollten, was wäre das? Hesiod, Aeschylus und Aristophanes können so wenig das Maß unserer Religion und Sittlichkeit im epischen Gedichte oder auf der Schaubühne sein, als wenig wir jetzt im alten Athen oder Ionien leben, als wenig unsere Religion das sein soll, was die ihrige war.
Mit solchem Gebrauche der Mythologie war ein anderes Ding verbunden, das, wenn man will, die Dichtkunst schön machte und in Regeln brachte, aber auch bald in ihrer ursprünglichen Bestimmung und Wirkung herabstieß, nämlich sie wurde im eigentlichsten Verstande Dichtkunst, Machwerk. Das Geschlecht der Aoiden ward eine Zunft, ihre Sängerei Handwerk. Homer, der auch in den kleinsten Zügen, die wir kennen, so unendlich sich an Natur und Wahrheit hielt, machte Sängern Raum, die zum Vergnügen des Ohres sangen, und je besser Jemand das konnte, desto mehr war er Poet. Nun entstanden Dichtungsarten, Provinzen, in die man sich theilte, die meistens das Ohr des Volkes zum Richter und ihr Vergnügen zur Absicht hatten; man leitete also nicht, sondern folgte. Das Hauptwerk der Dichtkunst ward jetzt, wie es auch die Kunstrichter laut sagen, Erdichtung, Fabelei zum Ergetzen. Der große Sophokles! wenn man seine Personen nur mit denen im Homer vergleicht, wie mußte er umbilden, verändern, sich schmiegen, daß ein Theaterstück, daß seine Theaterabsicht erreicht wurde! Und welches war diese Theaterabsicht? Der Kunstrichter Aristoteles hat gut sagen, »die Leidenschaften zu reinigen«; wie dies in jedem Moment des griechischen Trauerspiels geschah, wird immer ein Problem bleiben. Der Philosoph sagte ein Gesetz, zog aus den besten Situationen der besten Trauerspiele etwa die beste Absicht heraus und gab sie als Wirkung des Trauerspiels an; die einzelne Anwendung des Gesetzes ist das Schwerste. Auch kann ich mir nicht vorstellen, daß Athen, wenn so viel Trauerspiele ihre Wirkung thaten, zugleich so viel Lust an Aristophanes' Stücken fand und in denselben, oft mit ziemlich ungereinigten Leidenschaften, selbst die Rollen spielte. Auch die langen theatralischen Wettstreite ließen wol nicht immer die Wirkung, die Aristoteles vorschreibt, suchen oder erreichen; wenn man den ganzen Tag Schauspiele sieht, thut man's kaum, die Leidenschaften zu reinigen. Plato und Epiktet, die Beide Griechen waren, unterwarfen die Bühne einer scharfen sittlichen Musterung, von der es schwer zu behaupten ist, daß sie sich in Athen immer habe finden lassen oder je gefunden habe. Also wird dieser Endzweck des griechischen Theaters wol noch lange Problem bleiben. Nicht immer thut's zur Sache, ob Dichter selbst die Sitten haben, die sie schildern; so viel ist aber gewiß, daß etwa ein allgemeines Gemälde der Sitten aus ihrer Art, Gegenstände zu behandeln, folge. Anakreon kann für sich immer ein Weiser, d. i. ein Poet gewesen sein, da er Wein und Liebe sang, und vermuthlich sind die Gedichte, die seinen Namen führen, gar nur eine Anthologie des Inhalts, zu dem er den Ton gab. Sappho mit ihrer Liebe zu Phaon, Archilochus mit seinen Satiren, der große Solon mit seinen leichten Liedern, Andere mit ihren Lobpreisungen der Knabenliebe mögen Ausnahmen machen, oder diese Sitten wirklich unschuldig oder etwa nur schöne Flecken sein im Charakter der liebenswürdigen Griechen; für uns, die wir keine Griechen sind, die wir nicht wie sie unter Tänzen, Festen und Kränzen leben, ist wenigstens diese Seite nicht gerade die erste nachzuahmen oder zu lobsingen. Die Alcibiades unseres Volkes werden meistens Gecken sowie die große Schaar junger Anakreonten elende Tändler. Und wenn sie auch nicht die Sitten verderben, wozu meistens ihre Muse zu schwach und arm ist, so helfen sie doch den Sitten eben nicht auf; denn wahrlich, durch sie werden wir auch im guten, im ganzen feinen Gefühle jener Stücke, in der unschuldigen Wollust, die sie für Griechenland hauchen, nicht Griechen werden. Alles dies abgerechnet oder geschätzt, wie man will, wird die griechische Dichtkunst ewig eine schöne Blüthe der Sittlichkeit menschlicher Jugend bleiben. Die schöne Natur, die schöne Menschheit, Lust und Freude zu leben, die Freiheit kleiner Staaten in einem schönen Himmelsstriche, die leichteste Wissenschaft, Kunst und Weisheit wird nie angenehmer gesungen werden, als sie die Griechen besungen haben; auch haben die Stobäi große Schätze von Moral aus ihren Dichtern gesammelt, die bei den Edelsten der Nation in ihren besten Zeiten durch stille Thaten besser sprach, als je ein Dichter sie besingen konnte. Der Verfasser fühlt's lebhaft, was diesem ganzen Capitel von den Griechen noch fehle; für diesmal und für diesen engen Raum muß es gnug sein. Clodius' Versuche aus der Literatur und Moral der Griechen, die fast dieselbe Materie abhandeln, sind ohne mich bekannt gnug.
Drittes Capitel.
Wirkung der Dichtkunst bei den Römern.
Mit den Römern hatte es andere Bewandniß. Sie waren nicht wie die Griechen unter dem Schalle der Leyer gebildet, sondern durch Einrichtung, Gesetz, politische Religionsgebräuche eherne Römer. Als die Dichtkunst der Griechen zu ihnen kam, hatten sie ihre Arbeit fast vollendet.
In den ersten Zeiten, da Rom in Armuth, im Kampfe und immerwährenden Drange der Noth war und, wie Horazens duris ilex tonsa bipennibus,Carm., IV. 4, 57. – D. unter harten Stürmen erwuchs, waren sie zu beschäftigt und zu roh, als daß sie dichten und Gedichte empfangen konnten. Die Musik bei ihren Opfern, die rohen Verse ihrer salischen Priester und die frühen Gesänge von den Thaten ihrer Vorfahren bei GastmählernNumerorum illa summa vis carminibus est aptior et cantibus, non neglecta, ut mihi videtur, a Numa Pompilio, rege doctissimo, majoribusque nostris, ut epularum solemnium fides ac tibiae Saliorumque versus indicant. Cic., De orat., III. 51, 197. Est in Originibus, solitos esse in epulis canere convivas ad tibicinem de clarorum hominum virtutibus. Cic. Tusc., I. 2, 3. Utinam exstarent illa carmina, quae multis saeculis ante suam aetatem in epulis esse cantata a singulis convivis de clarorum virorum laudibus in Originibus scriptum reliquit Cato. Cic., De clar. orat., 19, 75. – H. waren die einzige Poesie der Römer; roh war sie gewiß, aber vielleicht von großer Wirkung. Alle etrurischen Religionsgebräuche, die Rom in sein Staats- und Kriegssystem eingeflochten hatte, waren bei ihnen in den ersten Zeiten so schauerlich groß, die Thaten ihrer Väter lebten in ihnen, daß, was hier der Kunst abging, gewiß die Wahrheit des Gefühls und Stärke des Ausdrucks ersetzte. Selbst Horaz, wenn er seinen August hoch loben will, geht in diese Zeiten und ruft:Carm., IV. 15, 25–32. – H.
Nosque et profestis lucibus et sacris
Inter jocosi munera Liberi,
Cum prole matronisque nostris
Rite Deos prius apprecati,
Virtute functos, more patrum, duces,
Lydis remisto carmine tibiis,
Trojamque et Anchisen et almae
Progeniem Veneris canemus.
Sobald die Römer eigne Poesie bekamen, so ging auch ihre Wirkung in den ersten und besten Zeiten hauptsächlich zu diesem Zwecke. Denn wenn ich die ersten rohen Spiele der römischen Jugend ausnehme, die wol nichts als Gaukeleien, Possen und Erholungen von der Art gewesen sein mögen, wie alle rohe Nationen sie als Zeitvertreib in den Zwischenzeiten müssiger Ruhe haben und haben müssen, so verwandelte sich diese Satire bald ins römische Schauspiel, das am Glücklichsten die Geschichte ihrer Vorfahren dargestellt haben soll. An einem andern blos Künstlichen, Erborgten, Fremden konnten sie lange nicht Geschmack finden und hatten eigentlich gar keinen Begriff, was die schöne, feine Dichtkunst für ein rühmliches Amt im Staate sei. Lange waren ihre Schauspieler Knechte und ihre Dichter überwundene, müssige Griechen aus den Provinzen.Casaubon's Abhandlung De satyrica Graecorum poesi et Romanorum satyra, und Dacier's Mémoires, T. II der Académie des Inscriptions, enthalten die gesammelten Stellen hierüber, doch hat der Letzte seine Hypothese. S. auch Jagemann's Geschichte der Wissenschaften in Italien u. A. – H.
Im sechsten Jahrhunderte Rom's kam nach der Eroberung Siciliens Livius Andronicus nach Rom; Nävius, Plautus, Ennius, Terenz folgten. Entweder bildeten Diese den Griechen nach, und dann hatten sie wenigstens die Wirkung, Sprache und Sitten auf dem Schauplatze zu verfeinern; oder sie bequemten sich nach dem römischen Geiste, und da waren wol Plautus und Ennius die Ersten: Jener durch seinen reichen Witz und so treue Gemälde der niedrigen Stände; Dieser, der erste eigentliche Dichter der Römer, der ihre Unternehmungen in seinen Jahrbüchern schrieb und auch zu seinen Trauerspielen die Geschichte dieses Volks wählte. Mit Ruhm heißt er also Vater der römischen Dichtkunst; noch zu Gellius' ZeitenVgl. Gell., XVIII. 5. 1. – D. wurden seine Jahrbücher auf dem Schauplatze zu Pozzuoli vor dem ganzen Volke vorgelesen, und seine Bildsäule stand neben den beiden Scipionen auf ihrem Grabe.Liv., XXXVIII. 56. – D.
Ungeachtet der Menge Schauspiele dieser Dichter hat die Bühne Rom's nie Wirkung aufs Volk gehabt, die eine Bühne haben soll, oder die solche bei den Griechen hatte. Quintilian bekennt, daß das römische Trauerspiel dem Lustspiele vorgehe, weil zu diesem der römischen Sprache und den römischen Sitten Feinheit fehle. Das Trauerspiel selbst, wenn es nicht römische Geschichte war und als solche reizte, beschäftigte wenig. Mitten in ihrer Vorstellung forderte das VolkHorat., L. II. Ep. I. Ad Augustum. Ein trefflicher Brief über die römische Dichtkunst, wie sie Horaz ansah. – H. Thier- und Gladiatorengefechte, und die Ritter wünschten Triumphe von Königen, überwundnen Völkern und erbeuteten Schätzen zu sehen mit einem Getöse und Händeklatschen, daß man von den Schauspielern kein Wort vernehmen konnte. Was sich daher auch am Längsten erhielt, waren die mimischen Spiele. Die Römer liebten sie sehr, und was auch Cicero von seinem Roscius prahle,Pro Arch., 8. 17. – D. so war er vielleicht mehr mimischer Spieler als Schauspieler, wie wir das Wort nehmen.
So wie der Mensch zu Mehrerem da ist als zum Geschmacke, so ist auch ein Staat, die Hauptstadt eines Reiches, wie das römische war, zu etwas Anderm da als zum Schauspiele. Wären sie Römer geworden, wenn sie Griechen hätten sein wollen oder sein können? Gladiatoren und verliebte Helden, Thiergefechte und rührende Schauspiele zusammen kann eine Bühne niemals leiden, und da Rom einmal zur Eroberung der Welt eingerichtet war, so konnten damals sanftere Sitten und die Blumen feinerer Dichtkunst wol nicht gedeihen. Auch Lucilius, der Erfinder der römischen Satire, war ein Dichter von römischer Stärke und Kühnheit; Wahrheit war seine Muse, die römische Tugend und Freimüthigkeit die Ader seiner Begeisterung. Man muß sich an Horaz vielleicht nicht zu sehr kehren, wenn er über diese ältern Dichter spottet; er spottet als Mann von Geschmack, als Dichter des goldenen Zeitalters, als Höfling August's, der freilich solche alte Zeiten und Sitten nicht anpreisen konnte.
Je feiner Rom ward, desto feiner ward seine Dichtkunst, desto schlechter und schwächer aber auch deren Wirkung. Es bekam einen philosophischen, gar Epikurischen Dichter, Lucrez. Je edler die Stärke seiner Sprache, desto schlechter, auch für das stoische Rom schlechter, ist sein System. Rom in den Gärten Epikur's konnte kein Rom mehr bleiben. Catull erschien; schön ist seine Sprache, mannichfalt und reizend seine Dichtkunst; aber wie ist großentheils ihr Inhalt? Wie verfallen waren die Sitten, wo ein Catull so schrieb und scherzte?Qui (versus) tum denique habent salem ac leporem,
Si sunt molliculi ac parum pudici,
Et quod pruriat, incitare possunt. [16, 7–9.] – H. Als er gegen Cäsar dichtete, behielt ihn Dieser zum Abendschmause, und damit war der Zwist geendet.
August regierte, und nun blühten die Dichter unter dem glänzenden August. Die großen, ewigen Namen Virgil, Horaz, Tibull, Properz, Ovid, sie mit der classischen Richtigkeit, Zierlichkeit, Feinheit Nebenbuhler der Griechen und ewige Muster des guten Geschmackes! Alles wohl! nur verzeihe man, daß ich die Wirkung ihrer Dichtkunst in Rom, dem Rom, zu schildern mich nicht getraue. So viel ist gewiß, daß sie den Augustus fein lobten. Sie, vor Allen Horaz, erquickten ihn, daß er der kriegsmatten Erde den Frieden gegeben hatte, in den Höhlen der Musen mit Gesange,Carm., III. 4. 37–40. – D. sie schmückten seinen Hof, seine Sprache, seine Regierung; Horaz gab dem römischen Scherze, der römischen Muse eine Urbanität, die bisher nur die Atheniensische gehabt haben sollte – Vieles dergleichen mehr. Wie weit das aber auf Sitten reichte, kann ich nicht untersuchen. Ohne Zweifel war's die Absicht dieser Dichter nicht, die Sitten der Zeit anzugreifen oder zu bessern; vielleicht konnten sie auch nicht, zumal durch sie nicht, gebessert werden. Horaz, der Tiefste von ihnen, hat auch sittlich herrliche Oden, schildert die alten oder zu bessernden Sitten Rom's vortrefflich; wenn man indessen andere Stellen liest, so sollte man denken, daß auch jenes nur Dichtergluth und nicht sein Ernst war. Er scheint sein Schild wegzuwerfen, wie er's in der Schlacht wegwarf;Carm., II. 7. 10. – D. und auch in seinen Satiren spottet er nicht mehr, als er bessert? Sein Brief an die Pisonen ist wol keine römische Nationaldichtkunst, sowie Virgil's Aeneide mehr den Glanz Rom's anging als die Sitten desselben. Seine Georgica sollen den Feldbau empfehlen, sagt man; und seine Bucolica sollen das Hirtenleben empfehlen, sagt man ebenfalls. Am Sichersten ist's wol, daß beide die Nachahmung der Griechen empfehlen sollen, so wie es gewiß ist, daß Ovid's Kunst zu lieben diese Kunst wirklich und mit vielem Nachdruck empfohlen habe. Der arme Herr mußte dafür unter die Scythen pro eo, quod tres libros amatoriae artis conscripserit,Nach der früher verbreitetsten Annahme. Er selbst sagt (Trist., II. 207):
Perdiderint cum me duo crimina, carmen et error. – D. und winselte darüber, wie Bussy Rabutin, etliche Meilen von Paris verbannt,Wegen seiner »Histoire amoureuse des Gaules« und eines Spottgedichtes auf Ludwig XIV. – D. bis ans Ende seines Lebens. Die feine Sittlichkeit des Dichters hatte zu nah in das Geschlecht des Kaisers gewirkt, und so mußte er jetzt dafür büßen. Hatte die Dichtkunst dieser Höflinge keine andre Wirkung, so war's die, poetische Blumenketten um die Fesseln Rom's zu winden, damit dieses etwa sie angenehmer und sanft getäuscht trage.
Die dem August nachfolgenden Tyrannen zeigen, wie wenig die Dichtkunst als Kunst, als Schulübung über lasterhafte Gemüther, zumalen über Despoten des Menschengeschlechts vermöge! Tiberius, Caligula, noch mehr Claudius, und Nero am Meisten, waren in ihrem Sinne große Dichter, schrieben, sangen, ließen ausschreien und stifteten auch für die Dichtkunst Manches; aber scheußlich war Alles, zu ihrem närrischen Selbstruhme und zu anderer Menschen, zumal besserer Dichter Verderben. Lucan, der überspannte, feurige und dichterische Jüngling, erlag in seinem Blute. Juvenal und Persius züchtigten die Sitten Rom's, aber da half kein Züchtigen mehr. Das mimische Schauspiel spottete, aber unvermerkt. Andere schmeichelten, witzelten, krochen, und Die hatten freilich den besten Theil. Ueberhaupt wird am Meisten Tugend gelobt, wo am Wenigsten zu loben ist, und wo schon so viel gelobt wird, wo Panegyristen in Poesie und Prose declamiren, da ist's übles Zeichen, da wirkt selbst das Lob nicht viel mehr. So ging's mit Rom in seinen verfallenen Zeiten. Kein Held konnte retten, geschweige ein Dichter! Barbaren mußten kommen und dem entvölkerten Italien, dem mit der Grundsuppe von Menschen überschwemmten Rom Brand und Verwüstung und sodann neue Kräfte, neue Sitten, neuen Lebensgeist geben.
Nehmen wir Alles zusammen, so ist in Rom die Dichtkunst wol nie eine Triebfeder, noch weniger eine Grundsäule ihres Staats gewesen. Die Mauern Rom's wurden nicht unter dem Schalle der Leyer, sondern unter Waffenklang und Bruderblut erbaut; die Nymphe Egeria war keine Dichterin, sondern eine religiöse, strenge Vestalin. Das kämpfende Rom hatte keinen Tyrtäus vor sich her, wenn's auszog; seine Kriegszucht und Staatssitten hingen von etwas Festerm ab als von dem Tonmaß einer Flöte. Wenn dem Volke und den Edeln daher immer Rauhigkeit und Stärke blieb, so konnten ohne solche keine Reguli und Scauri, kein Curius incomtis capillis und kein Camillus, quem utilem bello tulit saeva paupertas et avitus apto cum lare fundus, werden.Hor., Carm. I. 12, 37–44. – D. Die männliche Beredsamkeit und Rechtskraft der Römer vertrat die Stelle der Dichtkunst; des Menenius Agrippa Fabel, dadurch er das entwichene Volk wieder nach Rom brachte,Liv., II. 32. – D. war mehr werth als zehn blöde Trauerspiele nach Mustern der Griechen.
Auch was auf einzelne edle Römer die Dichtkunst wirkte, war mehr Zierde als Nothdurft, mehr Kranz auf ihren Helm als Brustharnisch. Die Scipionen waren Ennius' Freunde und selbst Dichter; sie dichteten aber nicht, sondern redeten im Senat, ordneten im Heer, schlugen. Als später die Ritter selbst Schauspiele machen durften, wissen wir, welche bittere Verse es den Laberius kostete, als Cäsar ihn sein Stück selbst zu agiren zwang; er hielt's für den größten Schimpf seines Alters, und die Ritter nahmen ihn mit Mühe auf ihren Sitz wieder. August und Mäcenas wurden durch die treffliche und zum Theil so altrömische Poesie ihrer Dichter weder sittlicher noch stärker; Mäcenas' kranke Wollust trug vielleicht mit zu seinem Ruhm in der Dichtungsgeschichte bei. Er konnte nicht schlafen und ließ sich also Verse vorlesen und ward darüber der unsterbliche Mäcenas.
Wo indessen auch in einzelnen Charakteren die Wirkung der Dichtkunst anschlug, da bildete sie Männer, die am Umfang von Talenten kaum anderswo Ihresgleichen hatten. Ein Römer, der Held und Redner, Geschichtschreiber und Liebhaber der Dichtkunst war, ist ohne Zweifel ein anderes Geschöpf als ein Barbar unserer Tage mit Stiefeln und Schwert. Da wurden edle Scipionen, ein Germanicus, ein Titus; und auch dem Hadrian und Seinesgleichen schadete wenigstens ihre Liebhaberei nicht. Ueberhaupt sind die edeln und sittlichen Blumen, auch der römischen Sprache, unverwelklich; selbst in den dunkelsten Zeiten haben Virgil's Georgica, Horazens Sermonen, Boëthius' Tröstungen der Philosophie zu wirken nicht aufgehört und nebst Bildung des Geschmackes und der Sprache auch in Sitten wol ihr Gutes geleistet. Uebrigens wollen wir lieber den feinen Geschmack der Priapeen, einiger Catullischen, Horazischen und Martialischen Gedichte entbehren, als daß wir uns die Sitten wünschen oder liebhaberisch nacherkünsteln sollten. Die deutsche Uebersetzung Petron'sVon Heinse (1773) unter dem Titel: »Begebenheiten des Encolp, aus dem Satiricon des Petron übersetzt«. – D. wird also Stellen, Noten und dem Geiste des Buchs nach, trotz ihrer Kunst, ein Flecke unserer Sprache bleiben.
Viertes Capitel.
Wirkung der Dichtkunst bei den nordischen Völkern.
Wir kommen hier wieder in ein lebendiges Feld der Dichtkunst, wo sie wirkte, wo sie lebendige That schuf. Alle nordischen Völker, die damals wie Wellen des Meers, wie Eisschollen oder Walfische in großer Bewegung waren, hatten Gesänge, Gesänge, in denen das Leben ihrer Väter, die Thaten derselben, ihr Muth und Herz lebte. So zogen sie nach Süden, und nichts konnte ihnen widerstehen; sie fochten mit Gesange wie mit dem Schwert.
Den nordischen Gesängen haben wir's also mit zuzuschreiben, daß sich das Schicksal Europens so änderte, und daß wir da, wo wir jetzt sind, wohnen. Daß Rom über Deutschland nichts vermochte, haben wir ihren Helden und Barden zu danken, dem Schlacht- und Freiheitsgesange, der zwischen den Schilden ihrer Väter tönte.Tacitus, De situ, moribus et populis Germaniae [3]. – H. O, hätten wir diese Gesänge noch, oder fänden wir sie wieder! Vielleicht besitzt das Land, für das ich jetzt schreibe, einen irgend verborgenen Rest dieses Schatzes! Vielleicht hat der edle Kreis, in dem ich jetzt gelesen werde, das Glück, ihn zu suchen und zu finden! Es wäre die lebendigste Beantwortung der Frage von Wirkung der Dichtkunst auf die starken, edeln, keuschen, redlichen Sitten unsrer Väter.
Die nordischen Völker sind glücklicher gewesen, haben ihrer mehr erhalten, und da es im Grunde eine Sprache und ein Volk ist, so ist uns der Schluß frei, was für ein Muth in dem unsern gelebt habe. Ein gelehrter Däne hat im Buche »Von Verachtung des Todes der alten Dänen«Bartholini Antiquitatum Danicarum de causis contemtae a Danis adhuc gentilibus mortis libri II. – H. durch Proben und mit einer unermeßlichen Gelehrsamkeit gezeigt, was die Gedichte, die Sagen, der Glaube, die Mythologie der Skalder auf die Heldenväter der Nordländer für große Wirkung gehabt hat, wie sie furchtlos und ruhmvoll dem Tode zulächelten, auf dem Felde und nicht im Bette oder vor Alter zu sterben sich sehnten, Wunden im Rücken, Flucht und Gefangenschaft ärger als die Hölle scheuten, und was dazu die Vorbilder ihrer Väter, ihre Gesänge, der Stein auf ihrem Grabe, ihr Glaube an Odin's Mahl, an die Helden mit ihm, an die Freuden der Walhalla und an das Schicksal der Walkyriur beitrug. In Regner Lodbrog's, Asbiom Prude's, Hako's Sterbegesängen und in unzähligen andern Schlachtliedern, die in den nordischen Sagen als Belege ihrer Helden- und Fabelgeschichte zu finden, lebt diese Wirkung noch.S. diese Gesänge in Olai Wormii Literatura Runica, Bartholinus a. a. O. und in den Sagen. – H.
Ueberhaupt hatten diese Nationen einen unendlichen Glauben an die Kraft solcher Gesänge und Lieder. Sie setzten sie der Zauberei zunächst, und OdinS. Edda. [Odin's Runenlied. – D.] In Mallet's Geschichte von Dänemark, Th. 1 findet man Vieles, wiewol Alles verstümmelt und nichts im Geist des Originals mehr. – H. rühmt sich, Lieder zu wissen, wodurch er »Hilfe geben, Zank, Krankheit, Traurigkeit, Schmerz vertreiben, die Waffen der Feinde stumpf machen, Bande und Ketten von sich abwenden, den Haß auslöschen, Liebe erregen, ja Todte lebendig machen und zur Antwort bringen könne«. Ein Glaube der Art mußte große Wirkung hervorbringen; er war die Seele ihrer Lieder; auch haben ihn Thaten bewährt. Wo sind die Normänner nicht hingekommen in den mittlern Zeiten? wo haben sie nicht gestreift, geschlagen und überwunden?
Rauher Heldenmuth war die Seele dieser Gesänge, obgleich auch andere Stücke zeigen, wie zart sie vom weiblichen Geschlechte gedacht und, wie schon Tacitus von den Deutschen rühmt, das Göttliche in ihnen verehrt wurde. Ihr Land, Klima, der Bau ihres Körpers und am Meisten ihr langer Beruf und die Seele, die ihnen ihr Führer Odin eingehaucht hatte, machte sie den Rosen des Gesanges unempfindlich; als sie diese in den Südländern genießen lernten, war die Stärke ihrer Brust dahin, sie entschlummerten in Armida's Armen. Indessen zeigt der Charakter einiger großen Männer dieser Völker, die wir näher kennen, daß sie nicht so barbarisch gewesen, als sie ihre Feinde ausgaben und ausgeben mußten: ihr Eroberungs- und Verwüstungsgeist war eine traurige Folge von vielerlei zum Theil edeln, zum Theil zu entschuldigenden Gründen, ob sie gleich freilich Ideal der Sittlichkeit damit nicht werden, auch nicht werden wollen.
Briten, Iren, Gallier, Schotten hatten Dichter, vates, Religions-, Muth- und TugendsängerE. Evans, De Bardis. Es ist ein Gemisch darüber 1770 (Leipzig bei Dyk) ins Deutsche übersetzt worden, aber unvollständig und ohne Proben. In der Collection of several Pieces of Mr. Toland steht ein Specimen of the critical history of the Celtic religion and learning, das wünschen macht, Toland hätte das größere Werk zu Stande bringen können; es wäre vielleicht seine beste Schrift geworden. – H. wie alle alte Nationen, nur scheint's nicht, daß die Gesänge dieser so hart und wild als der Normänner gewesen. Sei Ossian ganz alt oder nur aus alten Gesängen zusammengesetzt und geschaffen: welche weichere Seele ist in ihm! Ein Zauber der Einsamkeit und Liebe, des Muths und der Schonung! Sturm und Mondlicht, Mitternacht und die Stimme der Väter wechseln mit Thränen und mit den zartesten Tönen der Harfe. Für uns haben diese Lieder noch so viel Macht; auf ihrer Stelle, zu ihrer Zeit, in ihrer Sprache, welche Wirkung müssen sie gehabt haben! O, hätten wir noch die Gesänge der Barden! Hätte unter unsern Vätern ein Ossian gelebt! Bei allen Nationen, die wir Wilde nennen, und die oft gesitteter als wir sind, sind Gesänge der Art ihr ganzer Schatz des Lebens; Lehre und Geschichte, Gesetz und Sitten, Entzückung, Freuds und Trost, die Stunden ihres Himmels hier auf Erden sind in ihnen. So lange es Barden gab, war der Nationalgeist dieser Völker unbezwinglich, ihre Sitten und Gebräuche unauslöschbar. Man weiß, welche Grausamkeit ein Tyrann Englands in der mittlern Zeit an den walischen Barden verübte; die Kraft ihrer Lieder war dauernder Aufruhr gegen die Gesetze seines Reiches. In Evans' Specimen of the Poetry of the anciens Welsh Bards sind einige rührende Elegien über diese Schicksale der letzten Barden.
Daher war auch das Schicksal der meisten, daß sie untergingen, als sich mit Art und Zeit die Sitten des Volkes, ihre Religion und Denkart änderte. Wie die Barbaren die Mythologie, Kunst und Dichtkunst der Römer zerstörten, so ging auch die ihrige einem großen Theile nach zu Grunde, weil ihre alten Sitten, Meinungen und Sagen gar zu kräftig in ihren Gesängen lebten. Was wir haben, ist nur dem Schiffbruche entronnen und hat sich an Küsten, in den Winkeln der Erde, wo noch jetzt zum Theile mit diesen Gesängen die Sitten der Väter herrschen, gerettet. Sie kamen in die Mittagssonne, und was sollten nun die kleinen Lampen weiter?
Wie es indessen Providenz war, daß diese Völker so lange in dem Zustande, den wir Wildheit nennen, wie unter einem wohlthuenden Nebel schlummern, auf Licht warten und fern von Verfeinerung, Gelehrsamkeit, Ueppigkeit und Reichthum ihre rauhen Kräfte erhalten sollten, so war gewiß auch Absicht darin, daß ihnen das Christenthum gerade jetzt und in solchem Zustande werden mußte. Späterhin hatten sie weder Einfalt für seine Lehre noch gesundes starkes Herz für seinen Gesang. Es wäre ihnen so ekel gewesen als der mythologisch-atheistisch-deistischen Ueppigkeit der Griechen, Römer oder unsers Jahrhunderts. Daher war's auch meistens in Gesängen und Gebräuchen, d. i. nach ihrer Weise, wie sie's aufnahmen. Die Bibel ward in Verse ihrer Sprache gekleidet, so gut es ihre Bekehrer konnten;S. Schilter's Thesaurus antiquitatum Germanicarum, T. I, und den zweiten Theil von Hikesii Thesaurus linguarum septentrionalium. – H. Legenden der Heiligen kamen dazu und flossen mit den Gesängen ihrer Väter wunderbar zusammen; es war der einzige Weg, auf sie zu wirken. Ihre Sprache war undisciplinirt, auch wurde sie von den lateinischen Fremdlingen wol nicht in aller Macht gefaßt und behandelt; daher sind die ersten Versuche dieser Art so roh, arm und elend; sie beweisen indeß, daß Ohr und Seele ihrer Bekehrten an nichts als so etwas gewöhnt war.
Und nun müssen wir abbrechen, wenn wir über die folgenden mittleren Zeiten etwas Gründliches sagen wollen. Sowol Dichtkunst als Sitten der Völker Europens war damals ein so wunderbares Gemisch und zusammengesetztes Gebäude, daß wir von allen Seiten der Welt Materialien zusammenholen müssen, um den Einfluß des Einen ins Andere zu zeigen. Die enge Nationaldichtkunst sowie die enge Nationalwirkung derselben auf Sitten und Charakter hört auf; es wird eine bunte Fluth, eine Ueberschwemmung Europens.
Erstes Capitel.
Wirkung der Dichtkunst unter den Arabern, die einen Theil Europens überschwemmten.
Von je her waren die Araber Dichter, ihre Sprache und Sitten war unter und zu Gedichten gebildet. Sie lebten in Zelten bei immerwährender Bewegung und Veränderung, unter Abenteuern und dabei in sehr einförmigen, alten, mäßigen Sitten, kurz, ganz in dichterischer Natur. Statt der Kronen rühmten sie sich der Turbane, statt der Mauern ihrer Zelte, ihrer Schwerter statt der Schanzen und statt bürgerlicher Gesetze ihrer Gedichte. Auch haben diese von je her mehr auf ihre Sitten gewirkt, als jene vielleicht je auf Sitten wirken können.S. Pococke, Specimen historiae Arabum, Sale's Vorrede zum Koran, Pococke, Ad Carmen Tograi u. s. w. – H.
Welch ein Abdruck sind die Gedichte der Araber von ihrer Denkart, von ihrem Leben!Ich kann nur von denen reden, mit denen Schultens und Reiske uns beschenkt haben; die andern sind verborgene Schätze der Bibliotheken oder einzelner Kenner und Liebhaber. Es wäre aber, da die freilich reichere Absicht, daß sie im Original gedruckt würden, so selten und lästig erreicht werden kann, wenigstens gut, wenn treue Uebersetzungen davon veranstaltet würden. Die der Sage nach sprachgelehrtesten Franzosen wollen uns nichts als Einfälle der Morgenländer geben. – H. Sie athmen Ununterwürfigkeit und Freiheit, sind voll des Abenteuergeistes, der Ehre zu Unternehmungen, des Muths, der so oft in unauslöschliche Rachsucht gegen die Feinde als Treue gegen die Freunde und Bundesgenossen ausbrach. Ihr Ziehen und Entfernen hat den Abenteuergeist auch in der Liebe geboren, verliebte Klagen sammt männlichem Muth, im Andenken seiner abwesenden Braut Alles zu unternehmen. Lange vor Mohammed waren sie Dichter; als Dieser ihnen aber seine poetische Religion und sein Meisterstück von Dichtkunst, wo er alle Dichter zum Wettkampf vorrief, den Koran eben aus poetischer Kraft und im dichterischen Glauben aufgeschwatzt hatte, wirkte er dadurch in ihre Sitten wie in ihre Dichtkunst. Der Glaube an Gott und seine Propheten, die Ergebung in seinen Willen, die Erwartung des Gerichts und das Erbarmen gegen die Armen ward ihr Gepräge. Als sie von den Griechen Alles annahmen, nahmen sie die Mythologie und den Geist griechischer Dichtkunst nicht an; sie blieben ihrer Poesie treu wie ihrer Religion und Sitten; ja, durch jene haben sich diese eben auch so lange unverändert und unverrückt erhalten.
Als Araber einen Theil Europens überschwemmten und Jahrhunderte darin wohnten, konnten sie nicht anders als Spuren, wie ihrer Dichtkunst, so auch ihrer Wissenschaften und Sitten lassen. Durch jene, die Dichtkunst, haben sie vielleicht so viel gewirkt als durch diese, die Wissenschaften, die wir fast alle aus ihren Händen empfingen; und die Sitten sind ein Gefolge von beiden. Es kam ein Geschmack des Wunderbaren, des AbenteuerlichenS. hierüber viel Merkwürdiges in Wharton's History of the English Poetry in der ersten Preliminary Dissertation on the origin of the Romantic fiction in Europe. – H. in Unternehmung, Religion, Ehre und Liebe nach Europa, der sich unvermerkt von Süden immer weiter nach Norden pflanzte, mit der christlichen Religion und zugleich mit dem nordischen Riesengeschmack mischte und einen sonderbaren Druck auf die Sitten der Völker machte, auf die er flog. Artus und seine Tafelrunde, Karl der Große und die Pairs von Frankreich, Feen-, Ritter- und Riesengeschichten entstanden; denn der Geist dieser Völker war zu massiv, als daß er den Duft der arabischen Dichtkunst rein fassen konnte; er mußte mit ihren Ideen vermengt und gleichsam in Eis und Erz gehüllt werden. Die Araber mit ihren Stammtafeln haben jene falschen Ableitungen und Chronologien erzeugt, von denen die Chroniken der mittleren Zeit voll sind; dies mischte sich bald in die Legenden, und Alles endlich, Märchen aus Süden und die wirklichen Abenteuer und Streifereien aus Norden bereiteten den Geist der Kreuzzüge nach Orient hin, der so erstaunende Wirkungen in Europa hervorgebracht hat.
Ueber Begebenheiten, die große Blätter aus dem Buche des Schicksals sind, sollte man nicht kunstrichtern, sondern nur Ursache, Art und Folgen zeigen. Das Wunderbare ist die einzige Nahrung der Menschen in dem Zustande, da diese Völker damals waren; sie standen und staunten, suchten zu umfassen, was sie noch nicht umfassen konnten, und übten damit Geisteskräfte und bereiteten sich zu besserer Speise der Wahrheit. Ueberdies kann ich's nie glauben, daß der männliche Geist von Unternehmung, Freigebigkeit, Erbarmen, zarter, wunderbarer Liebe, wenn er auch nur in Romanen und abenteuerlichen Erzählungen vorschwebte, damals, als man in Unwissenheit daran glaubte, einen bösen Eindruck gemacht haben kann. Die romantische Liebe zum Frauenzimmer, unterstützt von nordischer Keuschheit, hat Jahrhunderte herab viel Gutes auf Europa gewirkt, was freche Romanen und zügellose Gedichte nie wirken werden. Laß Alles steif und unnatürlich sein; die Sitten der Zeit waren selbst steif, und der Grad des Unnatürlichen oder Wahrscheinlichen richtet sich nur nach dem Maße unserer Unwissenheit und Fähigkeit zu glauben.
Ueberhaupt ist's thöricht, die Wirkung einer Sache zu einer Zeit aus dem Geiste einer ganz andern zu beurtheilen oder gar zu leugnen. Durch rohe Dinge von der Art wurden damals Unternehmungen hervorgebracht, die wir jetzt mit unserer feinen Poesie und Staatsklugheit kaum hervorbringen könnten; die Kreuzzüge nach Orient sind deren gewiß eine. So wie sie nun von Sitten und Sagen, mit Gründen der Religion unterstützt, sonderbar hervorkamen, so hatten sie wiederum auf die Sitten und Sagen Europens noch einen sonderbarern Einfluß. Nun flossen Erzählungen, Wunder und Lügen noch eines dritten Welttheils dazu; Norden, Afrika, Spanien, Sicilien, Frankreich, das gelobte und das Feenland wurden gepaart. Der europäische Rittergeist ward morgenländisch und geistlich; es entstanden Heldengesänge, Abenteuer- und Wundererzählungen, die aufs unwissende und abergläubige Europa mit Erstaunen wirkten. Alles war voll Sagen, Romanzen und Romanen. An den Höfen der Könige und in den Klöstern, auf Märkten und selbst in Kirchen wurden Gedichte gesungen, allegorische Ritterspiele, Mysterien und Moralitäten gespielt. Die Mönche selbst machten dergleichen, und sie hatten des Volkes Ohr. Da man damals sehr wenig Bücher hatte, da außer geistlichen Gesängen und Legenden, Erzählungen der Art die beste Seelenweide waren, und dazu eine so prächtige, wunderbare, fernhergeholte Weide, so stand Alles und gaffte und horchte. Die Conteurs, Jongleurs, Musars, Comirs, Plaisantins, Pantomimes, Romanciers, Troubadours, und wie sie zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Absichten und Oertern hießen, waren damals Homere, sie sangen Gesta und Fabliaux fernher und waren die Stimme der Zeiten.S. Percy's Essay on the ancients English Minstrels vor seinen Reliques of ancient English Poetry, Vol. I, Hurd's Lettres on Chivalry, insonderheit Wharton's History of the English Poetry, T. I. Von den Franzosen kennt man die Mémoires de la chevalerie par Mr. Curne de St. Palaye, T. III, die Histoire litéraire des Troubadours, T. III, ebenfalls aus seinen Papieren, und die einzelnen Abhandlungen von ihm, Lancelot u. A. in den Mémoires de l' Académie des belles lettres. – H.
Wenn es nun schon ziemlich ausgemacht ist, was das Feudal-Ritterwesen, Kreuzzüge, und was zur Herrlichkeit dieses Zeitalters gehört, für gute und nachtheilige Wirkung auf die Sitten Europens gemacht haben, so ist der Schluß über die Poesie, die davon sang, ziemlich gleichförmig. Sie gehörte mit zur Pracht und zum Schmucke dieser Aufzüge, Einrichtungen und Abenteuer; die Dichter selbst zogen mit und waren den Fürsten zur Seite. Bei allem Unförmlichen erhielten diese Gesänge und Anstalten den Geist der Tapferkeit, des Ruhms, der Unternehmung, der Andacht und Liebe rege. Solche Heere und solche Pracht hatte Europa noch nicht gesehen, solche Erzählungen noch nicht gehört. Die feindseligsten Nationen, Fürsten und Stände wurden Brüder, Christen unter einer Kreuzesfahne; das harte Band der Knechtschaft fing an zu erschlaffen oder hie und da aufgelöst zu werden. Die Kenntniß verbreitete sich, das Wunderbare näherte sich schon von ferne der Wahrheit; man fing an zu lesen; auch die sonst nie gelesen hatten, Ritter und Herren, lasen diese wunderbaren, tapfern, andächtigen Geschichten. Schade nur, daß ihre Sprachen für uns so veraltet sind, und wie es der Geist der Sache war, auch die Mundart ein Gemisch von Sprachen sein mußte! Dadurch ist für uns die Wirkung, auch wenn die Zeit sich nicht so sehr geändert hätte, großentheils verloren.
Eine andere Gattung von Poesie aus demselben Stamme und von eben der großen Wirkung auf Sitten war der Minnegesang, die Akademie der Liebe.Außer der Histoire litéraire des Troubadours, Mémoires de la chevalerie par Curne de St. Palaye hat Bodmer für Deutschland den Gegenstand am Meisten behandelt in seiner Sammlung kritischer Schriften, Crito, den kritischen Briefen u. s. w., sowie auch in den großen Mémoires de Petrarque viele Nachrichten über die Provençaux und Sonettendichter vorkommen. – H. Sie waren Blüthen der Galanterie des damaligen Rittergeistes. Kaiser und Könige, Fürsten und Grafen schämten sich nicht, daran Theil zu nehmen. Sie machten Sprache und Sitten geschmeidig, verwandelten eine wilde Leidenschaft in zartere Empfindungen und ketteten die voraus zu sehr getrennten Geschlechter durch unschuldige Blumenkränze. Die sogenannte Petrarchische Liebe ist Geist gewordener Duft dieser Zeiten, sowie Petrarca selbst seine schönsten Sonette und Lieder aus diesem Garten der Liebe brach. Der spätere Mißbrauch und die bald erfolgte erschreckliche Einförmigkeit der Wendungen und Gedanken kann zwar die Sache selbst nicht verleiden; indessen ist doch kaum zu leugnen, daß zu viel Blumenspiel dabei stattfand, und daß Alles endlich in die überfeinen Sentiments ausartete, die der wahren Liebe wenig Nahrung gewähren. Wie alles Vorhergehende, so gehörte auch diese Poesie zum Uebergange, zur Verschmelzung der Sitten ins Feinere, bis sie so fein geworden sind, als das heutige Tageslicht zeigt.
Zweites Capitel.
Wirkung der christlichen Poesie auf die Sitten der Völker.
Das Christenthum hat höhere Zwecke, als Poeten hervorzubringen, auch waren seine ersten Lehrer keine Dichter. Die Wirkung desselben aufs menschliche Herz sollte nicht vom Schmucke der Bilder und vom Geklingel ins Ohr, sondern von einfältiger Wahrheit kommen und auf Geist und Leben wirken. Indessen konnt's nicht anders sein, als daß auch die ersten Christen schon ihre Empfindungen in Lieder gossenKoloss. 3, 16. – H. und sich damit gegen Spott und Verachtung stärkten. Von Wüthrichen verfolgt, in Nacht und Höhlen klangen ihre Lieder, deren Wirkung nicht von Kunst abhing, so wie sie nicht für den Zeitvertreib gedichtet waren, sondern Gott den Herrn in ihrem Herzen sangen. Wer ist noch, der den ältesten Gesängen der Kirche,Ueber diesen ganzen Abschnitt ist des Abt Gerbert's Buch De cantu sacro voll Materialien und Geschichte, so wie die Wirkung einzelner Lieder theils in Vorreden und Anmerkungen zu Cantionalen häufig berührt und registrirt worden. Das gar zu große Detail wäre aber für diesen Ort zu weitläuftig. – H. den Hymnen Ambrosius', Synesius', Sedulius', Prudenz' u. s. w. Kraft und Drang zur Seele absprechen könnte? Mit dem lieblichen Klange des Liedes, sagt Augustin, zieht sich das Wort Gottes ins Herz; die Seele wird hinaufgeschwungen und fühlt mehr die Wahrheit, den Ton, das Leben ihrer Lehre.
An der Wirkung also, die das Christenthum auf die Sitten der Welt gehabt hat,Im ersten Druck findet sich zu dieser Stelle folgende Anmerkung: »Rothens Buch von den Wirkungen des Christenthums auf die Sitten Europens ist eine ekle Lobrede im spitzesten, schwülstigsten Ton. Der große Gegenstand fordert noch einen Meister, der ihn behandle, obgleich die Engländer bereits viel treffliche Beiträge dazu geliefert haben.« – D. nimmt auch sein großes Werkzeug, das Lied, Theil; nur geht auch hier die Kraft des Himmels stille und verborgen einher; die Wirkung keiner Poesie ist vielleicht verkannter als dieser. Und doch wirkt sie auf den besten, treusten Theil der Menschheit, und das nicht selten, sondern täglich, nicht über Gleichgiltigkeiten, sondern eben bei den drückendsten Umständen am Meisten, da ihm Hilfe noth thut. Jene heiligen Hymnen und Psalmen, die Jahrtausende alt und bei jeder Wirkung noch neu und ganz sind, welche Wohlthäter der armen Menschheit sind sie gewesen! Sie gingen mit dem Einsamen in seine Zelle, mit dem Gedrückten in seine Kammer, in seine Noth, in sein Grab; da er sie sang, vergaß er seiner Mühe und seines Kummers; der erdermattete traurige Geist bekam Schwingen in eine andere Welt zur Himmelsfreude; er kehrte stärker zurück auf die Erde, fuhr fort, litt, duldete, wirkte im Stillen und überwand. Was reicht an den Lohn, an die Wirkung dieser Lieder! Oder wenn sie im heiligen Chor den Zerstreuten umfingen, ihn in die hohe Wolke des Staunens versenkten, daß er hören und merken mußte; oder wenn im dunkeln Gewölbe, unter dem hohen Ruf der Glocken und dem durchdringenden Anhauch der Orgel sie dem Unterdrücker Gericht zuriefen, dem verborgnen Bösewicht Gewalt des Richters; wenn sie Hohe und Niedre vereinten, vereint auf die Kniee warfen und Ewigkeit in ihre Seele senkten: welche Philosophie, welch leichtes, lichtes Lied des Spotts und der Narrheit hat das gethan und wird's je thun können? Wenn diese Poesie nicht auf Charakter und Sitten wirkt, welche wird denn wirken?
Ich leugne nicht, daß in den Mittlern Zeiten die lateinische, die Mönchssprache viel Rührendes in der Art gehabt hat. Außerdem, daß sie immer, weil sie lateinisch war, eine Anzahl andrer Schriften und Kenntnisse mit sich erhielt, sind mir im elenden Mönchsstil Elegien, Hymnen zu Gesicht gekommen, die ich wahrlich nicht zu übersetzen wüßte. Sie haben ein Feierliches, ein Andächtiges oder ein so dunkel und sanft Klagendes, das unmittelbar ans Herz geht, und dem zu seiner Zeit es gewiß an Wirkung nicht fehlte. Die ersten Stimmen in den Reformationszeiten waren Elegien oder Satiren; diese bereiteten die Gemüther vor, bis sie auch in der Landes- und Volkssprache erschallen konnten. In England gingen die Plowman's Visions und Plowman's Creeds Wiklefen sowie in Deutschland Klagen und Elegien Hussen voraus. Von beiden Seiten wird überall, wie mit Streitschriften, so auch mit Liedern gefochten, und Lieder sind allemal, Gesinnungen unter das Volk zu bringen, das wirksamste Mittel gewesen. Was die Gesänge der böhmischen Brüder und Luther's Lieder ausgerichtet, ist bekannt. Auch in unserm Jahrhunderte unterließ Zinzendorf nicht, durch Gesänge auf seine Brüdergemeinen zu wirken. Ein Chor Singender ist gleichsam schon eine Gesellschaft Brüder; das Herz wird geöffnet; sie fühlen im Strom des Gesanges sich ein Herz und eine Seele.
Die ersten wirksamen Gedichte in der Volkssprache waren also auch, da sich die Dichtkunst wieder emporhob, Kinder aus dem Schooß und Busen der Religion. Dante's großes herrliches Gedicht umfaßt die Encyklopädie seines Wissens, das Herz seines Lebens und seiner Erfahrungen, die Blüthe aller Mysterien und Moralitäten, Himmel und Erde. Von diesem Baume brach Milton seinen Zweig, da er das Verlorne und Wiedergefundene Paradies schrieb. Die erhabensten und rührendsten Stellen Petrarch's gewährt ihm die Unsterblichkeit seiner Laura. Die Poesie ist so sehr Kind des Himmels, daß sie sich nie reiner und voller in ihrem Ursprunge fühlt, als wenn sie sich in Hymnen, im unendlichen All verliert.
Wenn also eine Poesie der neuern Zeiten Werth hat, so müßte es diese sein; und wie kommt's, daß eben sie und die moralische Dichtkunst, ihre Schwester, am Meisten ihre Kraft verloren? Wir gehen zu den neuern Zeiten über und wollen aus dem so vervielfältigten, reichen und bunten Garten der Dichtkunst nur die für uns notwendigsten Blumen und Früchte brechen.
Drittes Capitel.
Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten neuerer Zeiten.Vgl. Herders Werke. XIII. S. 417 ff. – D.
Als die Wissenschaften in Italien auflebten, entstand zuerst eine neulateinische und wo möglich neugriechische Dichtkunst. Man war in die wieder aufgefundenen Alten so verliebt, daß man sie, wie man nur konnte, nachahmte, sogar die alten Götter und Göttinnen als schöne Phrasen hervorbrachte und sich nun überredete, daß man recht classisch schrieb. Nun ging's freilich nicht an, sich flugs in einen Griechen und Römer zu verwandeln, und noch schwerer war's, die ganze Welt um sich griechisch und römisch zu machen; aber das schadete nicht, es war doch eine so schöne Sprache; es waren so schöne Muster; man versificirte und dichtete römisch.
Daraus mußten Nachtheile entstehen, die einem gewissen Theile der Menschen das ganze Ziel der Dichtkunst verrückt haben. Das Volk verstand diese Sprache nicht, und aufs Volk konnte die Dichtkunst also nicht wirken; der beste lebendige Zweck und Prüfstein der Güte ging also verloren. Gelehrte schrieben für Gelehrte, Pedanten für Pedanten, die meistens, wie ihre herrliche Auslegung der Alten zeigt, gar keiner Wirkung der Dichtkunst fähig waren. Schrieb man also für die, so brauchte es auch keiner poetischen Talente, keiner Kraft und Absicht zur Wirkung. Die Muster der Alten waren da; schrieb man nur wie diese in schönen abgemessenen Zeilen, nach allen, oft sehr elend abgezogenen äußern Regeln, Geist der Alten mochte sein, wo er wollte, ein Schreiber klatschte dem andern zu: »Du bist classisch! ich bin's auch! Jene, das Volk, sind Barbaren, Pöbel der lieben Frau Muttersprache, sind verflucht!« So wurden nun elende, lendenlahme, kraftlose, gemalte Schatten geheiligt; sie waren der Traum von einem Traume und wurden Muster. Und so ward Dichtkunst nun das laue Ding, das Niemand zu haben und zu genießen wußte, der Natur, dem Sinne des Volks, seinem Herzen, dem Herzen des Dichters selbst fremde: und sollte Wunderdinge wirken! Wie lange quälte sich Italien mit dieser Nachahmung und jede andre Nation im mindern Grade, gerade wie vormals im Anfange die Römer mit dem griechischen Schauspiele! Apostolo Zeno vermachte den Dominicanern in Venedig eine Bibliothek von 4000 Stücken im Geschmack der sogenannten alten Komödie, die alle in einem Jahrhundert geschrieben und alle in demselben Jahrhundert vergessen waren. Mit dem Trauerspiele ging's ebenso, und Italien hat noch keines. Zeno wandte Alles an, die Oper griechisch zu machen; von Pastoralen, von arkadischen Tändeleien, die im Geschmack der Alten sein sollten, wimmelte Italien, und da diese dem Lande, der Zeit, den Sitten so fremde, zum Theil so unnatürlich waren, auf wen konnten sie wirken? Die Dichtkunst ward Ergetzlichkeit, schöne Kunst, Spiel.
Ursachen aus aller Welt Ende kamen damals zusammen, Europens Sitten zu ändern, mithin ward auch ihr Nachbild, die Dichtkunst, theils anders, theils kam diese immer mehr außer Wirkung. Aus Spanien wurden die Mohren vertrieben; ihr Carthago war also zerstört: der Rittergeist fiel allmählich; das Land kam in sanften Tod, d. i. in politische Ordnung. So ging's dem Rittergeiste in allen Ländern: statt der Mohren wurden die Vasallen gedemüthigt, die Provinzen vereinigt; Monarchie im Staate erhob ihr Haupt. Je mehr nun Freiheit, Natur, Eigenheit der Sitten in allen Ständen abnahm; je mehr einzelne Kräfte geschwächt wurden, um zu den Füßen des Einen zu ruhen; je mehr überall mechanische Ordnung an die Stelle des Muths, der Wirkung individueller Seelen trat: so mehr entging der Dichtkunst lebendiger Stoff und lebendige Wirkung. Der alte Rittergeist konnte nur zum Spotte gebraucht werden; die neuern Sitten, sie hingen so wenig mit Poesie zusammen, als sie von ihr abhingen, vom Gesetze und Rechte und ganz veränderten Umständen der Welt gingen sie aus. Den Regenten schmeicheln, einförmige Kriegszüge, politische Rechtshändel, Macchiavellische Negotiationen besingen, war das Zweck der Dichtkunst?
Wie mit dem Rittergeiste war's mit der Religion; ihre Wirkung ward verlacht; sie konnte in Gedichten nur als Fratze oder als Mythologie neben rein lateinischen, antiken und mythologischen Namen gelten, und so trat sie auch hervor. Ich will bekannte Gedichte und zum Theile sehr berühmte Namen nicht einzeln nennen; es war der sonderbare Geschmack dieser mit neuem Lichte aufgehenden Zeiten. Nun wird mit der Religion des Volks der Dichtkunst Herz und Seele genommen: ein Volk, das keine Religion hat oder sie als Burleske braucht, für das ist keine wirkende Poesie möglich.
Meistens nennen wir diesen Zustand Wachsthum der Philosophie; er sei's, aber diese Philosophie dient der Dichtkunst und dem menschlichen Herzen wenig. Streicht alles Wunderbare, Göttliche und Große aus der Welt aus und setzt lauter Namen an die Stelle; deß wird sich kein Geschöpf auf Gottes Erdboden als etwa der Wortgelehrte freuen. Die Dichtkunst kann nie entspringen und nie wirken, als wo man Kraft fühlt, lebendige Kraft selbst sieht, aufnimmt und fortpflanzt. Bayle's atheistischer Staat wird wahrlich keine oder elende Dichter haben, sowie alle philosophische Staaten Kerker. Sie lassen Dichter weder zu, noch können sie solche erzeugen, und diese können an einem philosophischen Schatten- und Plaudervolke ihre Kunst nimmer erweisen.
Alle große Revolutionen damals flossen wie ein Meer zusammen, auf dem die Dichtkunst nicht anders als zum Spiel hinfürder schwimmen konnte. Zwei Welttheile wurden erfunden. Man denkt vielleicht beim ersten Anblicke: ei, wie neuer, reicher Stoff zur Dichtkunst! Der Erfolg zeigt, daß dieser Stoff nichts zu bedeuten hatte gegen die Wirkung, die im Ganzen die Dichtkunst durch diese Entdeckungen verlor. Gold und Silber, Gewürze und Bequemlichkeiten mögen viel Guts hervorbringen, nur nicht neues Leben für die Poesie; die Kaffeetasse ist kein Trank des Odin und die Prickeleien fremder Gewürze auf unsrer Zunge und in unserm Blute kein goldner Stachel des Apollo.
Die Buchdruckerei hat viel Gutes gestiftet; der Dichtkunst hat sie viel von ihrer lebendigen Wirkung geraubt. Einst tönten die Gedichte im lebendigen Kreise zur Harfe, von Stimme, Muth und Herz des Sängers oder Dichters belebt; jetzt standen sie da schwarz auf Weiß, schön gedruckt auf Blätter von Lumpen. Gleichviel, zu welcher Zeit einem lieben geneigten Leser nun der Wisch kam, er ward gelesen, sacht und selig überflogen, überwischt, überträumelt. Ist's wahr, daß lebendige Gegenwart, Aufweckung, Stimmung der Seele so ungemein viel und zum Empfange der Dichtkunst am Meisten thut; ist's ein großer Unterschied, etwas zu hören und zu lesen, vom Dichter oder seinem Ausleger, dem göttlichen Rhapsoden es selbst zu hören oder sich es matt zu denken und vorzusyllabiren: so setze man nun, alles Vorige dazu genommen, die neue Sitte in ihren Umfang, wie viel mußte mit ihr die Dichtkunst an Kunst gewinnen und an Wirkung verlieren! Jetzt schrieb der Dichter, voraus sang er; er schrieb langsam, um gelesen zu werden, voraus sammelte er Accente, lebendig ins Herz zu tönen. Nun mußte er suchen, schön, verständlich zu schreiben; Kommata und Punkte, Reim und Periode sollten fein ersetzen, bestimmen und ausfüllen, was voraus die lebendige Stimme tausendmal vielfacher, besser und stärker selbst sagte. Endlich schrieb er jetzt gar für das liebe classische Werk und Wesen, für die papierne Ewigkeit, da der vorige Sänger und Rhapsode nur für den jetzigen Augenblick sang, in demselben aber eine Wirkung machte, daß Herz und Gedächtniß die Stelle der Bücherkammer auf Jahrhunderte hin vertraten.
Die Musik ward eine eigne Kunst und sonderte sich von der Dichtkunst. So gewiß es ist, daß dadurch beide als Künste gewannen, so viel scheint's, daß sie an bestimmter Wirkung beide verloren. Die Empfindungen, die die Musik allein sagt, kann sie nur dunkel sagen; nähme man nicht unvermerkt das Kunstgefühl immer zu Hilfe, so wäre uns Vieles in ihr ein Buch mit unbekannten Lettern, und wir würden sie nicht lange in solcher Unbestimmtheit ertragen. Die Dichtkunst ohne Klang und Gesang mußte bald Letternkram, Naturwissenschaft, Philosophie, Sittenlehre, trockne Weisheit, Studium werden.
Je mehr die Länder zusammenrückten, die Cultur der Wissenschaften, die Gemeinschaft der Stände, Provinzen, Königreiche und Welttheile zunahm, je mehr also, wie alle Literatur, so auch Poesie an Raum und Oberfläche die Wirkung gewann, desto mehr verlor sie an Eindrang, Tiefe und Bestimmtheit. In engen Staaten, bei kleinen Völkern, ihren einförmigen Sitten, engem und jedem einzelnen Gliede anschaulichem Interesse, bei Thaten, wo Jeder Richter und Zeuge sein konnte, hatte sie gewirkt und geblüht: jetzt zerfloß ihre Flamme in Staaten und Schimmer auf der Erde. Wer konnte übersehen, was ein Fürst wollte, und was für Recht er dazu hatte? Und wenn man's konnte, wer wollte, wer durfte es? Weder Volk noch Dichter. Den freien politischen Satiren der mittlern Zeiten war der Mund gestopft; aus der Mündung der Kanonen flammen keine poetische Thaten. Weder Helden noch Bürger der alten Zeit ziehen zu dem meistens entfernten, ungereizten und unübersehbaren Kriege; es sind arme Kriegsknechte, die dahin ziehen, und den Ländern ist's meistens gleichviel, welchem Deo ex machina sie fröhnen und dienen. Die Kriegs- und Friedensposaune lassen also gern alle neun Musen liegen und beweinen höchstens Blutvergießen, Hunger, Krankheiten und gekränkte Rechte der Menschheit von beiden Seiten.
Endlich und am Meisten, wenn die Sitten und Herzen aller sogenannten gebildeten Völker allmählich abgegriffene Münzen werden, da die Dichtkunst nur mit Schaustücken zu thun haben soll: wie anders, als daß diese auch so werde? Fein ausgearbeitet, bequem und schön, aber meistens ohne Inhalt und Werth der alten engen Nationaldichtkunst. Der meiste Theil ist Scheidemünze, wo das Kupfer durchblickt; den edeln Theil lassen wir ungebraucht ruhen, damit er unsre Taschen nicht reiße, oder wandeln ihn schnell in das, was wir nöthiger brauchen als Sitten der alten ächten Dichtkunst. Uns bilden Gesetze, Gesellschaften, Moden, Stände, Sorgen der Nahrung; unsre Musen sind das Vergnügen und der Apollo derselben die liebe Noth. Die Poesie ist Literatur, ein Paradies voll schöner Blumen und lachender Früchte; nur zeigt die schöne Farbe nicht von Güte derselben, noch weniger der süße Geschmack. Die italienische Poesie war's, die sich zuerst formte. Ihre schöne Sprache, das Land, der Charakter der Nation, ihre Verfassung, die mithelfenden Künste trugen bei, daß sie bald und in blühender Gestalt erschien, eine liebliche Blume auf der Römer Grabe, aber nur Blume. Im großen Dante kämpfen noch alle seine Leidenschaften; sein Gedicht ist Umfang seines Herzens, seiner Seele, seiner Wissenschaft, seines besondern und öffentlichen Lebens; er ist noch ein Stamm aus dem alten Walde der Freiheit und Mönchswirkung. In Petrarca lebt seine Laura, sofern es die Gesetze des Sonetts und des Liedes der Provençalen zulassen; seine Mitgehilfen ergaben sich noch mehr der lieben Mythologie oder den ausgelassenen Sitten des Zeitalters. Im Jahrhunderte der Medicis ward Alles classisch; man schrieb Latein oder schöne Sonette und liebliche Stanzen nach Petrarch's Weise. Ariost erschien, und der göttliche Ariost schrieb einen Roman zum Vergnügen, wo sein Herr und FreundDer Cardinal Hippolyt von Este. – D. vorzüglich zu bewundern hatte, wo er alle solch Zeug hätte auffinden können. Er und Tasso lebten von Nachlässen der mittlern Zeiten, weil zu ihren Zeiten wenig Poetisches mehr zu wirken war; die Nachfolger im vermehrten Verhältniß. Die Dichtkunst der Italiener ist wie ihre Seele, ein stilles Meer voll gehaltner tiefer Leidenschaft und Stärke; tief unten kann der Sturm wüthen, und oben fließen noch sanfte Wellen. Vielleicht hat die Dichtkunst viel zu diesen Sitten, deren Bild sie trägt, selbst beigetragen. Sie unterhält so sanft, beruhigt und ergetzt so süße; der Gondelfahrer auf dem Meere und der Pilger zu Lande singt, spielt und ist fröhlich, vergnügt auch unterm Drucke, fröhlich auch in der Armuth. Wie Vieles zeigt nicht aber in auffahrenden Funken, was in ihnen für eine Flamme schlafe, die nur auf andere Umstände, auf einen Wind des Himmels wartet?
Mit der Poesie Frankreichs (ich spreche mit aller Bescheidenheit eines Idioten, der nur nach seinem Gefühle zu urtheilen wagt) ist's in Betracht ihrer Wirkung auf Sitten noch unbestimmbarer. So wie dieses Volk vielleicht weniger Poesie und poetische Sprache hat als die Italiener, so hat auch nach Maßgabe ihres Charakters diese mindere Poesie auch mindere Wirkung auf Sitten haben müssen. Anstand ist ihr großer Richter und Gesellschaftskreise der Schauplatz ihrer Poesie; selbst ihr Theater ist Kreis der Gesellschaft. Oben spielt eine Partie Herren und Damen und oft l'auteur durch sie, unten desgleichen; und wie elend ist oft die Pythia, die schon vorher völlig den Ton stimmt! Oft werden Sentenzen, Tiraden und Declamation bewundert, d. i. Alles, wovon in der Gesellschaft gesprochen werden kann – und so werde denn gesprochen! Der theatralische Staats- und Kriegsmann Corneille, der tragische Idyllendichter Racine, Voltaire, der Maler und Philosoph, herrschen nach angenommenem Gesellschaftsmaßstabe, d. i. sie erleuchten und amüsiren. Voltaire insonderheit, er, in Poesie Philosoph und in Prose Dichter, er, der große Lehrer unserer Zeit in leichter Philosophie und Skepticismus, der große Verfasser der Pièces fugitives und der göttlichen Pucelle – welche Mängel, welche Bedürfnisse des Jahrhunderts (anderer Länder beinahe mehr als seines eigenen Volks) füllt er nicht aus! Wie reine, feste Sitten waren's nicht, die er bildete! Als ob heut zu Tage ein Dichter schriebe, um Sitten zu bilden! Und wozu schreibt er denn? Er sucht Ruhm, er folgt der Laune, er opfert den Götzen des Jahrhunderts, er amüsirt. Gutes oder Böses, was daraus komme – was ist dem Dichter gut oder böse?
Meine Absicht ist nicht, zu kunstrichtern, sondern zu bezeichnen, was mich also dünkt. Seit dem goldnen Jahrhunderte Ludwig's wurde die französische Poesie als unterhaltende Gesellschafterin aufgeführt; und ist sie das nicht geblieben? Die Epopöe Fénélon's wurde vergessen, höchstens spricht man von ihren Blumen; aus Quinault weiß man zarte Sentiments, aus Boileau Moralen oder ungerechte Streiche, aus La Fontaine schöne Niäserien. Molière dichtete als großer Dichter, dem übrigens Alles gleich war, was lachen machte, und jetzt – weiß ich nicht, was man dichtet. Man wiederholt, man trillert aux Italiens tausendmal Einerlei nach, man bettelt. Geßner und Young, Haller und Ossian, Shakespeare und der Otaheite, Alles macht gleiche Wirkung – keine!
Das heißt, wie der große Voltaire meldet, das Licht ist so verbreitet, daß nirgend mehr Flamme werden kann. Die Sitten der Nation sind so gebildet, daß nichts mehr zu bilden ist. Und o! eine Dichtkunst zu Paris die Sitten der Nation bilden! warum nicht gar des Universums? Und was sind moeurs? und was ist effet und influence nach dem französischen Nachdrucke? Und endlich, was ist wirkende Poesie? Etwa ein Trinklied oder ein Roman der Liebe?
Wir schiffen über den Canal, und plötzlich sind wir in einem olim wilden Lande, das jetzt auch sehr gesittet zu sein beginnt; es ist das stolze England. Aus den Resten der Ritterzeit hat es Dichter, große Dichter – Chaucer, Spenser, Shakespeare! Shakespeare insonderheit, der Mann, der eine Welt voll Charaktere, Kräfte, Leidenschaften, Sitten, Begebenheiten umfaßt und eine Welt derselben nachbildend in uns wirkt! Welch ein Schatz der Nation ist's, einen Shakespeare, ein Buch der Sitten und menschlichen Scenen aus und nach ihm zu haben! Er hat freilich kein System; seine Seele ist weit wie die Welt, sein Schauplatz ist für alle Sitten und alle Völker. Eine ähnliche Seele gehört auch dazu, Shakespeare zu umfassen und, wie er angewandt sein will, anzuwenden! Und da man jetzt Alles nach dem flüchtigen Augenblicke und mit dem Maßstabe des leichten Geschmackes mißt, so wird seine Desdemona bald der Zaïre und sein Hamlet dem französischen Hamlet billig weichen. Er ist, sagt man, für unsere Sitten zu stark, zu rauh, zu wechselnd, zu geschmacklos.
Seitdem Geschmack an die Stelle des Genies trat und England seinen letzten Genius, Swift, nach Irland verbannte, ist die Poesie viel correcter, moralischer, classischer, feiner geworden; aber nicht zugleich auch viel unwirksamer, unpoetischer, kälter? Wer hat schönere Moralen in Reimen geklingelt als Pope, und wer schönere Stubencharaktere gezeichnet als Addison? Man frage indeß nicht um jedes Worts Ursprung, Zweck und Wirkung. So viel ist gewiß, wenn moralische Sentenzen und Wochenblätter Sitten bilden können, so haben Pope, Addison, Steele ihre Nation (die beiden Letzten auf allen Kaffeehäusern insonderheit) gebildet. Ihre Schriften werden die ersten ihrer Art bleiben und Addison insonderheit der Sokrates seines Volkes.
Indessen ist's drückend wahr, der Geist des Jahrhunderts, dem sich eben die edeln Schriftsteller ja auch in der Einkleidung bequemten, will, daß das Alles als Gedicht, als periodische Schrift, als Wochenblatt gelesen werde; und wie oft zerstört da eben die Schönheit der Einkleidung ihre Kunst, ihre Feinheit alle Wirkung! Der Reim ist eine schöne Sache, wo er ungezwungen da ist: er stützt, wie ein deutscher Dichter sagt, und hebt die Phantasie – und leimt die Rede ins Gedächtnis;Vgl. Herder's Werke, XIII. S. 394. – D. indessen ist's eben auch so gewiß, daß, wenn keine andere Seele, kein höherer Geist weckt, der Reim einschläfert und mit süßem Geklingel sanft betäubt. Wird das Gemüth mit sogenannten Samenkörnern der Tugend überhäuft und gleichsam zu dick besät, so kann nichts aufgehen, zumal ja Alles allgemein ist und nichts seine rechte Stelle findet. Merkt man's nun noch dem Dichter an, daß er Dichter ist, als Nachtigall sang und als Versificateur oder artiger moralischer Schriftsteller schrieb, so liest man ihn auch als solchen, hört der Nachtigall als Nachtigall zu, läßt ihr seinen Dank widerfahren und geht nach Hause. Bei allen moralischen Dichtungen der Art kommt's also darauf an, wie wir's lesen, ob's uns Scherz oder Ernst ist. Und mein! warum mußte denn dies, die Hauptbedingung der Kraft auf unsere Sitten, warum mußte sie unbestimmt bleiben? Ja, warum mußte der Dichter eben durch seine Kunst, durch seine ewigen Bequemnisse für unsere Ergetzlichkeit uns gar überreden, daß es ihm nur um diese und um Lob dieserhalb zu thun sei? Löscht er überdies mit der einen Hand aus, was er mit der andern schrieb, wie ist uns nun zu Muth? was sollen wir glauben? Und bei wie vielen Dichtern, Reimern, Einkleidern und Romanschriftstellern insonderheit ist gerade das der Fall!
Die Engländer haben zwei Gattungen der Romanclasse: die eine ist idealisch, die andere treue Natur; Richardson und Fielding sind ihre Führer. Beide Gattungen haben Vortheile und Nachtheile; Alles kommt hier wie überall auf den Gebrauch an. Sich in idealische Wesen verlieben, kann herzlich gut sein, aber auch sehr gefährlich. Man findet den schönen Traum entweder, wo er nicht ist, sieht allenthalben Engel, Clarissen und Grandisons fliegen und wird jämmerlich betrogen; oder der Engel Clarisse thut nur einen kleinen Fehltritt, den ihm ja Jedermann verzeiht, und der Folgen hat, für denen sich jeder gesunde Bauernverstand, der kein Engel ist, bewahrt hätte. In beiderlei Fall hilft das Uebertreiben und Idealisiren zum Unfall; und überhaupt ist's eine so feine Speise, ein so süßer Duft, daß er starke Bewegung und gute Säfte fordert, wenn er nicht schädlich sein soll. Bekanntermaßen haben nun Die, die sich am Meisten dieses Duftes bedienen, nicht viel Bewegung, nicht viel Anblick der ganzen gesunden Menschheit in wahren Beziehungen des Lebens; was Wunder also, daß sie träumeln und kränkeln und, wenn sie einmal an dies Opium gewöhnt sind, nie mehr davon lassen können. Das nennen wir Verfeinerung der Sitten und Gesinnungen durch angenehme und unterhaltende Lectüre; die Verfeinerung ist aber oft wahres Verderbniß. Meistens macht sie zu aller gesunden Speise, zu gründlicherer Nahrung des Geistes und Herzens, am Meisten zu wahren Freuden und wahrem Gebrauche des Lebens untauglich. Wenn die romantischen Engel aus ihrem Mondparadiese zur Erde kommen und die im heiligen Schleier der Entfernung erschienenen Liebhaber einander in der Nähe von Angesicht zu Angesicht schauen, so ist in mehr als einem Verstande der Roman aus; die durch schöne Dichtung verdrängte Wahrheit kommt, wie die Göttin Ate,Vielmehr die Dike. – D. nach und rächt sich gewaltig.
Die Fielding'sche Gattung des Romans ist dem AugeDem idealisirenden, das überall Engel sieht. – D. nicht unterworfen, sie öffnet das Auge ungemein für Wahrheit. Und wenn sie nun mit eben der Wahrheit das Herz für Güte öffnet und diese zum bestimmten Zwecke hat, so kann sie die schönste Galerie des menschlichen Lebens heißen. Wie kommt's nun aber, daß meistens auch diese Gattung Schriften den Schwächen der Zeit nachgiebt, statt diese zu überwinden? wie kommt's, daß auch die individuellen Charaktere meistens in einem Lichte stehen, wie sie das liebe Herz gern hat? War den Verfassern an dieser kranken Sympathie, an diesem ängstigen Zuwallen gelegen, das eben daher rührt, weil ihre Hand den Wunden unsers Herzens schmeichelt? Dichter, bist Du alsdann Mann? ehrlicher Menschenfreund? Diener der Gesundheit, Glückseligkeit und Wahrheit? Was würdest Du von dem Arzte halten, der Opium oder süßes Gift reichte, nur daß die schöne Kranke ihm die Hand drücke? Soll der Dichter schwachen Seiten, bösen Sitten seines Jahrhunderts fröhnen? oder soll er sie bessern?
Wenn Cervantes' trefflicher Roman den Sitten seiner Nation Leid angethan und mit dem Lächerlichen der Ritterschaft auch viele Tugenden derselben ausgetilgt haben soll (das wol des Dichters Absicht nicht war); wenn mit ihrem Fehltritte die himmlische Clarisse und die philosophische Julie, so wie bei Terenz jenes Jupitersgemälde, geärgert und Jünglinge zu Tom-Jones gesagt haben sollen: Si iste, cur ego homuncio non?Ter. Eun., III. 5. 42: Ego homuncio hoc non fecerim? – D. wenn Fälle der Art wahr sind: welcher Dichter wird nicht selbst über zu lautes Lob und warmes Aufwallen zittern und, so viel an ihm ist, das quid honestum, utile, decens?Vgl. Hor. Epist., I. 2. 3. – D. ja nicht schwankend sein lassen! Ueberhaupt aber sind Schriften der Art leider zu sehr das Ruhekissen weicher Bequemlichkeit, als daß man die hohen moralischen Wirkungen derselben für etwas Anders, als sie selbst sind, für Dichtung und Roman halten könne. Ich sage dies bei den Engländern, es gilt aber bei allen Nationen.
Endlich hat die englische Wuth der Freiheit sich einer Gattung Dichter bemeistert, die recht national sein und auf Sitten wirken wollen; es sind ihre politischen Parteigänger und satyres. Butler mit seinem Hudibras steht obenan, Swift in der Mitte, Churchill und horum progenies vitiosiorNach Horaz' Carm., III. 6. 48. – D. folgen. Bestimmt gnug ist's, was sie sagen, und an Leidenschaft und Stärke fehlt's auch nicht, womit sie Alles beleben; ob aber der moralische Nutze davon so groß sei, kann ich nicht entscheiden. Meistens ist Alles so parteilich, grimmig und schrecklich übertrieben, daß jedem Fremden auch bei den stärksten Stellen weh ist. So spottet Butler und hat Schaden angerichtet; so zerfleischt Swift mit Tigerklauen die Menschheit, daß man Mitleid über ihn und nicht über die Menschheit weinen möchte; so züchtigt Churchill. Es sind blutreiche Auswüchse, ekle, aber saftvolle Geschwüre der gepriesenen englischen Freiheit, die wir ihnen nicht zu beneiden haben. Meistens sind sie auch durch sich selbst unkräftig; die Gegenpartei handelt und läßt diese sprechen, wüthen; und nach wenigen Jahren ist Alles entweder vergessen, oder die schärfsten Pfeile des Genies, in Gluth der Hölle gehärtet, haben ihre Spitze verloren. Ueberhaupt ist alles Uebertriebene (und wer übertreibt mehr und lieber als ein Engländer?) in eben dem Maße unkräftig. Wo Milton Teufelsbrücken baut, rührt er nicht, und wo Young den Gräbern des erhabenen Unsinns zu nahe wirbelt, wird er nicht bessern. Wo Thomson und seine Gesellen zu viel schildern, ermatten sie und ermüden Andre; und wo die Adler ihrer Pindarischen Oden mit Beiwörtern beladen und vollgestopft sind, da kommen sie gewiß nicht zur Sonne. Vielleicht gleicht die Poesie dieses Landes anjetzt einem überfüllten Körper, der zuletzt für lauter Epithetenfülle und Gesundheit auf dem Leichengerüste prangt! Und da bei ihnen Alles so national ist, so muß, je mehr die Sitten sinken, je mehr Ueppigkeit und selbstgenügsamer Stolz, heroische Dummheit und Bestechung regieren, auch die Dichtkunst sinken und davon Farbe tragen. Ihr letztes, so vergöttertes Genie, Sterne – man lese seine weichen Schriften und hintennach die Briefe seines Lebens, herausgegeben von seiner eignen Tochter, und man wird fühlen, worauf ich deute.
Jetzt soll ich von meiner Nation reden, aber ich kann kurz sein, weil ich oft nur wiederholen müßte, was ich bei andern, denen wir lange nachgebuhlt haben, schon sagte. Von je her hat die Poesie weniger Wirkung auf uns gehabt als auf die beregten Nationen. Unsre Barden sind verloren, die Minnesinger lagen auf der Pariser Bibliothek ruhig; die mittlere Zeit hindurch ward Deutschland immer außer Deutschland geschleppt oder mit andern Völkern überschwemmt, bekam also nicht Zeit, sich zu sammeln und auf die Stimme seiner eignen Dichtkunst zu merken. Ueberdem ist's ein getheiltes Land, ein Sund von kleinen monarchischen Inseln. Eine Provinz versteht die andere kaum; Sitten, Religion, Interesse, Stufe der Bildung, Regierung sind verschieden, hindern und sondern die beste Wirkung. Opitz sang für gewisse Provinzen Deutschlands lange, als ob er in Siebenbürgen gesungen hätte. Schweizer und Sachsen wollten sich lange nicht für Landsleute erkennen, und Nord- und Süddeutschland wollen's in manchem Betracht noch nicht. Ueberdem kommt bei uns das Volk in dem, was wir Sitten und Wirkung der Dichtkunst auf Sitten nennen, gar nicht in Betracht; für sie existirt noch keine als etwa die geistliche Dichtkunst. Was bleibt uns nun für ein lesendes Publicum übrig, von dessen dichterischen Sitten wir reden sollen? Gelehrte? Aber die haben ihre Sitten schon und sind oft keiner Wirkung der Dichtkunst fähig; sie lesen zum Zeitvertreib, einen dumpfen Kopf sich etwa zu erheitern. Also Kunstrichter? Aber die, ob sie gleich meistens nicht Gelehrte sind, haben mit jenen theils ein gleiches, theils noch das ärgere Schicksal, daß sie als Kunstrichter lesen, von Buchhändlern gemiethet, wol gar gestimmt und oft an Leib und Seele erblindet. Genießt der Krämer den Duft seiner Gewürze? Und ist's nicht Wohlthat für den Reiniger dunkler Gemächer, daß ihn sein Geruch nicht mehr stört? Also dichte man für Jünglinge? Aber auch die sind nach dem neuesten Geschmack selbst Dichter und dienen an einem Almanach deutscher Musen; also ist auch da die Wirkung gebrochen und veräfft. Also für geschmackliebende Jungfraun, ihre Bonnen und Tanten? oder für jene vornehmen Leser und Leserinnen, die es neulichst von den Franzosen vernommen, ersehen und erlernt haben, daß auch Deutschland Dichter besitze, und daß man diese wirklich lesen könne? Allein was ist nun auch für diese zu dichten und was an ihren Sitten zu bilden? Nach zehn französischen Büchern ein deutsches zu durchlaufen, mit matter, verdauungsloser Seele es zu durchträumen, durchnaschen, durchgähnen, sodann zu jenen zehn hinstellen und abermals nach den neuesten Modebissen schnappen: ist das Dichterlectüre? was kann sie nützen? wer mag für sie dichten? wer in den Armen einer verwelkten Buhlerin liegen und ihr gar Sitten geben wollen? Also bliebe nichts als die Buchhändler übrig, für die denn auch wirklich die meisten Meßjünger schreiben; was diese erwählte Schaar aber (die Jupiters, Apollos und Mäcene der deutschen Musen!), was diese aus ihrer poetischen Meßwaare für Sitten ziehen, mögen sie selbst unter einander am Besten wissen!
Was für Wirkung können Gaben thun, die verhandelt und erhandelt werden? Was für Sitten kann ein Tempel der Dichtkunst stiften, wo Wechslertische und Taubenkrämer,Joh. 2, 14. – D. Recensenten und OchsenhändlerS. die Geschichte Hieronymus' in Nothanker's erstem Theil. – H. ihr Gewerbe treiben? Ihr, Dichter der Vorwelt, Ossian und Orpheus, erscheint wieder! Werdet Ihr Eure Mitbrüder erkennen? werdet Ihr für die Presse singen und jetzt in Deutschland gedruckte, recensirte, gelobte, elend nachgeahmte Dichter werden? Man verzeihe, daß ich bei diesem Aeußern verweile; von solchem Aeußern hängt das meiste Innere ab. Der Buchhändler kauft und verkauft, erhandelt sich Autor und Recensenten, bestimmt den Werth seines Meßguts, und nach dem Anklange geht die Stimme fort. Dem lieben Deutschland ist Alles gleichviel, wenn's in den Zeitungen nur gelobt ist. Siegwart und Agathon, Messias und den Nothanker, Werther's Leiden und Werther's Freuden liest's mit gleichem Muthe; und das ausländische Gemisch, woher es auch komme, und was für Sitten es wirke, bleibt billig im Vorrecht.
Bei diesem dürftigen Zustande der Leserei haben wir uns über die Dichter und die Sitten, die sie wirken wollen, gewiß nicht zu beklagen. Opitz und Brockes, Gellert und Hagedorn, Kleist und Geßner, Haller und Withof sind untadelhaft von dieser Seite; der ehrliche fromme Charakter der Deutschen zeigt sich auch hier. Sie wollten lieber minder Dichter sein als unsittliche und unweise Dichter. Der erste Dichter, der auf die Nation vorzüglich gewirkt, war gewiß fromm, Gellert.
Auch der höhere Kranz, nach dem sodann die deutsche Muse lief, war den Sitten fürwahr unschädlich: es war die biblische Dichtkunst. Hätte diese Wirkung auf die Nation machen und den Glauben des Volkes verdienen können, der einem Inhalte der Art gebührt! Aber dann hätte vor Klopstock kein Milton sein, dann hätte sein Messias nicht mitten in einem Haufen Dichtungen und Episoden stehen müssen, die ewig allen Glauben abzwingen und abwürgen! Wie es indessen sei, verdient seine Dichtkunst nicht den Preis der Engel, so verdient sie den Kranz unschuldiger Menschen, nachgebender Jünglinge, zärtlicher Kinder. Nie wird man ihr und der Muse des kältern, gelehrten moralischen Bodmer's sittliches Uebel nachsagen können, wenn auch nicht Alles himmlisches Gold wäre.
Vielleicht war's selbst diese übergroße Moralität der Deutschen, die, wie an so vielen Patriarchaden, an den Bardengesängen des jüngsten bald verstrichenen Zeitalters Schuld war. Unmaßgeblich reizte die Tugend der Frau Thusnelde so stark als die Tapferkeit des Herrn Hermann's: man freute sich dessen, übersah das Andere, und da Ossian dazukam, war der Bardengesang geboren. Sollte es also auch mit der Wirkung dieser Gesänge und Fabellehre auf unsere Sitten nicht so ganz recht sein, so bleibt dem errichteten Altare immer eine Aufschrift: Pietati! »Ein etwelches Denkmal, der Tugend und den Sitten der Väter heilig.«
Da die deutsche Muse eine so ehrwürdige Vestalin, die Priesterin der Wahrheit und Tugend ist, warum sollten wir nicht auch die Kleinigkeiten übersehen, die hie und da Alten oder Ausländern zu weit nachfolgen. Ist Gleim denn nur Anakreon, oder ist er nicht auch der wackre Helden- und Tugendsänger? Und ist er's in jenen Scherzen denn auch je außer den Grenzen der Zucht? Hat Wieland hie und da sich mit der Muse Crébillon's zu nahe befreundet, wie viel Anders im andern Geschmacke hat er geschrieben! In der That ist's viel, was wir von den lieben Musen des heiligen römischen Reichs verlangen, und äußerst wenig, was wir, das lesende Publicum, ihnen gewähren; Geschenke und Gaben verstehe ich damit nicht. Gebt uns andre Zeiten, andre Sitten, andre Leser und Leserinnen, andre Schriften, die Leser und Leserinnen bilden, und die Dichtkunst wird ihnen nicht widerstreben.
Freilich ist's auch hier edel, vorzugehen, und einem gottgegebenen Dichter wird nie sein Kreis williger Ohren und Herzen mangeln. Ein Dichter ist Schöpfer eines Volkes um sich; er giebt ihnen eine Welt zu sehen und hat ihre Seelen in seiner Hand, sie dahin zu führen. So soll's sein, so war's ehemals; immer aber und überall kann nur ein Gott solche Dichter geben. Was Menschenwerk ist, folgt auch menschlichen Sitten um sich her; es ist von der Erde und spricht irdisch: der Sänger, der vom Olymp kömmt, ist über Alle, und eben der Stab seiner Wirkung ist das Creditiv seines Berufs. Wie der Magnet das Eisen, kann er Herzen an sich ziehen, und wie der elektrische Funke allgegenwärtig durchdringt, allmächtig fortwandelt, so trifft auch sein Blitz, wo er will, die Seele. Er wird weder Weichling sein noch Kitzler noch Sittenverderber, nicht aus Gesetzen von außen, sondern weil er edleres Feuer, höhern Beruf in sich fühlt.
Wir, die keine Götter sind, solche Sittenverwandler zu schaffen und der dürftigen Zeit zu geben, wollen ihren Werth wenigstens erkennen und ihr irdisches Werden nicht aufhalten. So lang unsere Dichtkunst Meßgut ist und Carmen an den Geburtstagen der Großen, so wird jeder Chiron in den FelsAuf dem Pelion. Ovid. A. A., I. 11. 12. – D. gehen und einen jungen Achilles etwa allein die Leyer lehren. Kein Tyrtäus wird vor unsern nach Amerika verkauften Brüdern einherziehen und kein Homerus diesen traurigen Feldzug singen. Sind Religion, Volk, Vaterland unterdrückte, neblichte Namen, so wird auch jede edle Harfe dumpf und im Nebel tönen. Ja endlich (die Ursache von Allem!), so lange wir in naturloser Weichheit, Unentschlossenheit und üppigem Zagen für Geld und Ruhm singen, wird nie eine Leyer erschallen, die Sitten schaffe, die Sitten bilde.
Fortes creantur fortibus et bonis.
Est in juvencis, est in equis patrum
Virtus, nec imbellem feroces
Progenerant aquilae columbam.
Doctrina sed vim promovet insitam
Rectique cultus pectora roborant:
Utcunque defecere mores,
Dedecorant bene nata culpae.Hor. Carm., IV. 4, 29-36. – D.
Οὐχ οἶόν τε ἀγαϑὸν γενέσϑαι ποιητὴν, μὴ πρότερον γενηϑέντα ἄνδρα ἀγαϑόν. Strab., I. 2. Ἡ ποίησις ἱερόν τι χρῆμα καὶ ϑεσπέσιον.Dieser Satz steht nicht bei Plato. – D. Ὃς δ'ἂν ἄνευ μανίας Μουσῶν ἐπὶ ποιητικὰς ϑύρας ἀφίκηται, πεισϑεὶς, ὡς ἄρα ἐκ τέχνης ἱκανῶς ποιητὴς ἐσόμενος, ἀτελὴς αὐτός τε καὶ ἡ ποίησις ὑπὸ τῆς τῶν μαινομένων ἡ τοῦ σωφρονοῦντος ἠφανίσϑη. Plat. [Phaedr., p. 245 A.] – H.
Beschluß.
Die Hauptsätze meiner Abhandlung wären also diese:
1) Dann ist die Dichtkunst am Wirksamsten, wenn sie wahre Sitten, lebendige Natur darstellt; sind die Sitten gut, stellt sie die lebendige Natur zu guten Zwecken dar, so kann sie auch gute Sitten wirken und lange erhalten.
2) Unter den Ebräern wies Gott, welches der Zweck der Dichtkunst sei, auf welche und zu welchen Sitten sie wirken müsse; das Volk blieb der Absicht des Gottes, der sie begeisterte, unendlich zurück; und unter den Griechen ward die Dichtkunst nach guten Anfängen und mit einzelnen herrlichen Ausnahmen Mythologie, Machwerk, schöne Kunst, Märchen und endlich mit die Verderberin ihrer Sitten.
3) In Rom war sie unabhängig vom Staate: gut, aber roh, so lange die Sitten gut waren; unnütz, müssig oder böse und verschlimmernd in dem Maße, als diese fielen. Unter Nordländern, Arabern und allen einzelnen thätigen Völkern hatte und erhielt sie den Charakter der Nation im Guten und Bösen.
4) Als Europa von den nordischen Völkern neue Sitten und neue Verfassung erhielt, änderte sich auch die Dichtkunst. Eben aber die Mischung und Wanderung der Völker gab ihr einen unbestimmten, zusammengeflossenen Märchencharakter. Auch in den rohesten Zeiten hat die simple Poesie des Christenthums großen Nutzen gehabt und hat ihn noch.
5) Mit der Nachahmung der wiedergefundenen Alten und dem neuen Zustande der Welt ward die Dichtkunst regelmäßiger, aber auch unwirksamer, abgetrennt von Wirkung lebendiger Sitten. Sie hat sich unendlich verfeint, alle Vorstellungsarten und Moralen erschöpft, wirkt aber wenig und kann und soll jetzt leider nur wenig wirken; sie ist zum lieben Vergnügen.
6) Proben darüber in einzelnen Gattungen bei mehr als einem Volke und stille Winke, daß sie lebendiger und wirksamer werde.