Karl Henckell
Weltmusik
Karl Henckell

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Das alte Tor

Nach Ada Negri

        Das alte Tor geht auf in dunkler Winkelgasse:
Elend und Aussatz tropft der Mauer klebrige Masse.

Schwarz wie ein Schlund und stumm das Tor, das unheilschwere,
Die Wolken hängen tief, tot starrt es, schrecklich ins Leere.

Tot? . . . nein, es denkt. – Weiß Dinge, begraben in Zeitennacht,
Weiß vieles – Lieben und Leiden, Erbarmen und Niedertracht:

. . . Heiter ging morgens hinaus, abends kam müd und verdrossen
Zurück die zarte Gestalt, wachsbleich, mit ihren Genossen.

Um den stolzen Mund, in dem graugrünen Auge träumt' es so leuchtend schön.
Eines Tages kam sie nicht wieder. Niemand hat sie wiedergesehn.

Das alte Tor sinnt nach: – In der dunkeln Gass', eines Nachts,
Zwei Leiber, ein Knäuel, ein Stoß, ein Schuß, in den Wölbungen kracht's –

Zwei Worte: Weh mir! Zu Hilfe! Hilflos, im Dunkeln belauert,
Ermordet . . . Die ganze Nacht hat das Röcheln des Opfers gedauert.

Vorüber zogen rhachitischer Kinder kleine, armselige Bahren,
Sie starben an Schwindsucht und Hunger in ihren unschuldigsten Jahren.

Die Mutter beweinte sie nicht, ganz kurz nur währten die Klagen,
Süß winkt des Friedhofs Ruhe den schwachen Kindlein im Schragen.

Vorüber zogen die Arbeiter singend. Aber sie sangen
In schwerem Rhythmus, es klang nach heimlicher Trauer und Bangen.

Klang nach verborgenen Tränen . . . Von oben schaute ein Mädchen und bückte
Tief ihr Gesicht in die kranke Geranie, die dürftig ihr Fensterchen schmückte.

Wie viele Seufzer und Träume des armen Lebens vernahm
Das alte Tor? . . . Nun ist's müde und denkt. Genug Grauen und Gram!
Nun werd' ich fallen!

*           *
*

Mit heller Freude werden morgen die Picken und Hämmer die grauen
Häuser des häßlichen Gäßchens zu Schutt und Trümmern zerhauen.

Niederreißen die Mauern, die feucht von Fieber und Typhus triefen,
Die geschwätzigen Treppengeländer, die Bögen, die schmutzigen, schiefen.

Die Stuben, wo wüst durcheinander auf engen Lagerstätten
Väter und Mütter und Kinder zur ruhlosen Ruhe sich betten. –

Dann spürt die traurige Brut zuerst der Liebe Wehen
Und sieht, daß auf der Erde noch Bäume in Blüte stehen.

Sieht reine, schlichte Freuden, sieht Häuser mit schmucken Balkonen
Voll Luft und Wind, wo Lachen und fröhliche Lieder wohnen.

Und du, du altes Tor, gestürzt in Staub und Trümmern,
Du siehst zum ersten Male im Fallen die Lichtwelt schimmern.

Hörst pochen den heiligen Lenz, den Wecker der Veilchen und Wonne,
Atmest im Sterben den Sieg der starken, fruchtbaren Sonne.


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