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Das erste Morgengold, das durch die Bastmatten blinzelte, fand uns wach, noch ehe Mr. Harper es nötig hatte, alle Schläfer munter zu bekommen. Wider Erwarten hatten wir einen erquickenden Schlaf gefunden, den kein widriges Vorkommnis gestört hatte. Jetzt beim Morgenlichte erschienen uns die Vorgänge des letzten Abends weniger aufregend, unsere Befürchtungen übertrieben. Das ganze Haus schien noch zu schlafen. Kein größeres Bild des Friedens war zu denken als der menschenleere Patio, zu dem nicht einmal gedämpft das Frühkonzert, das jeden Tropenmorgen einleitet, hereinklang. Nur auf dem Korridor wartete ein Neger, nicht mehr so sauber wie gestern, die Zigarre im Mundwinkel, und näherte sich, sobald wir von Zimmer zu Zimmer unsere Morgengrüße wechselten.
»Der Mann scheint hier geschlafen zu haben. Wir haben eine Schildwache gehabt.«
Es stellte sich heraus, daß uns der Schwarze beim Hinunterschaffen unseres Gepäcks behilflich sein sollte.
»Man stellt uns also keine Hindernisse in den Weg. Das ist erfreulich«, meinte der dicke Stenger, der nun schon verschiedene Male seine Ansicht über den Hausherrn gewechselt hatte. Diesmal war er der Meinung, daß wir uns gestern unnötige Gedanken gemacht hätten. Ja, wir hätten uns eigentlich nicht so schroff ablehnend verhalten sollen, als uns Don Carlos den Marsch in Morast und Modder ausredete und uns zum beliebigen Bleiben einlud. »Ich behaupte, die Hitze hat uns und unserer Einbildungskraft einen Streich gespielt.«
Da kam auch schon Herbert, der als Erster das Haus verlassen und am Tore keinerlei Widerstand gefunden hatte, mit der Nachricht zurück, daß unsere Arrieros frisch und munter seien. Nichts habe Mensch und Tier während der Nacht behelligt. Die Tiere wurden bereits geschirrt.
»Na, mehr kann man nicht verlangen!« Dr. Stenger prustete vor der winzigen Waschschüssel, die von Mann zu Mann ging. Selbst in diesem äußerlich europäisierten Haushalt waren die Reinigungsgeräte offenbar ein Luxusgegenstand. »Der Mann war ein Sonderling und sah nicht aus, als ob gut Kirschen essen mit ihm wäre – aber er hat seiner Pflicht als Wirt nichts vergeben. Was gehen uns seine persönlichen Händel an? Ich habe mir beim Einschlafen überlegt, daß die Leutchen, die nach Ihrer Ansicht als Kriegsgefangene eingebracht wurden, irgendwelche Strauchdiebe waren. Wahrscheinlich Indianer oder Mestizen.«
»Ich beneide Sie um Ihre Arglosigkeit«, brummte Mr. Harper. »Immer habe ich Menschen bewundert, denen ein Sonnenstrahl genügt, um ihre trübste Lebensanschauung in den hellsten Optimismus umzuwandeln. Solch ein Glückspilz sind Sie, Doktor.«
»Wollen Sie sich über mich lustig machen?«
»Lieber möchte ich darüber weinen, daß mir Ihre guten Gaben abgehen. Während Sie überm Einschlafen aller Besorgnisse Herr wurden, habe ich meine schlimmen Ahnungen bestätigt gesehen. Sie besinnen sich auf meine Manipulationen mit der Flasche?«
»Richtig! Habe mir aber nicht groß den Kopf darüber zerbrochen. Sie haben sie vermutlich auf dem Korridor an einem Faden ausgespannt, um gleich schußbereit in den Kissen aufzufahren, wenn einer, der uns besuchen kam, daran stieß.«
»Sehen Sie sich da drüben unauffällig die schmalen Luken an«, sagte der Amerikaner. »Dorthinein ließ ich meine Flaschenpost gehen. Leicht war es nicht. Die Zeit wurde lang, ehe ich das Garn wieder aufrollen konnte.«
Der Neger schritt mit unserem Gepäck voraus. Wie am Vortage tat sich uns von unsichtbarer Hand das Tor auf. Im farbigzitternden Strahl der jungen Tropensonne dehnte sich vorm grünen Walle unserer Festung die Mulde, in der unsere Begleitmannschaft das Frühmahl einnahm. Eine Rauchsäule stieg aus ihrer Mitte in den azurnen Himmel. Wie lachende Kinder liefen die hellrotbraunen Indios zwischen den Tieren hin und her. Schon unterschieden wir den bedächtigen Antonio, der unausgesetzt nach dem Tor und der Brücke Ausschau hielt, jetzt sah Huitaca mich über den Rand der Mulde lugen, schnellfüßig herzueilend, um die wertvollen Funkerinstrumente Mr. Harpers in Empfang zu nehmen. Der Guahibo aber, der gestern Abend das Chucho geblasen hatte und der der Spaßmacher der Gesellschaft zu sein schien, zählte an seinen Fingern, ob wir auch alle vollzählig aus der Höhle des Löwen, sprich der Wohnung der großen Geister, zurückgekehrt waren. In langen Freudensprüngen setzte Tyras über Gräser und Wurzeln, um seinen Herrn zu begrüßen.
»Fahren Sie fort«, sagte Dr. Stenger zu Mr. Harper, als er uns herangewinkt hatte. »Denken Sie, es hat seine Richtigkeit mit den Gefangenen. Mr. Harper hat mit ihnen gesprochen!«
»Ein ganz kurzer, schriftlicher Austausch. Ich will mich ebenso kurz fassen, denn, sobald der Troß marschfertig ist, rate ich, aufzubrechen. Ich hatte außer Licht. Bleifeder und Zündhölzern einen Fragebogen in der umwickelten Flasche in den Keller gleiten lassen. Das Garn hatte ich aufgehängt, damit niemand an meinem Spaziergang im Patio Anstoß nahm. Ich mußte meine Promenade auch derart wählen, daß ich mich vom Keller der Gefangenen möglichst fern hielt. Na, das sind alles Nebensachen, Gentlemen. Die Hauptsache ist die, daß wir jetzt wissen, mit wem wir es mit Don Carlos und seinen ›Jagdfreunden‹ zu tun haben, und zweitens, daß wir uns sehr schnell schlüssig werden müssen, wenn wir den armen Teufeln da unten helfen wollen. Ich hatte auf meinem Fragebogen gesagt, die Leute sollten mir nach bester Wahrheit anvertrauen, wer sie seien und wie sie nach Elisardo kämen. Ferner hatte ich gefragt, wer ihr Feind sei, ob sie Freunde in der Nähe und ob sie Kenntnis hätten, wo die nächste drahtlose Station sei. Ich schicke voraus, daß sie mir mit der Beantwortung der letzten Frage nichts Neues verraten konnten.«
»Sie haben wirklich das Unmögliche möglich gemacht. Schon gestern«, rief Professor Wagemann, »habe ich Ihnen im stillen manches abgebeten.«
»Sparen Sie sich diese nützliche Tätigkeit für später auf«, wehrte der Mister, geschmeichelt lächelnd, ab. »Die Namen tun zunächst nichts zur Sache. Die Leute sind in einer Pirogue oder, wie der unbekannte Antworter schreibt, in einer Curiara den Meta hinaufgegangen und wurden überrumpelt, als sie es sich angelegen sein ließen, der Spur der zu Arboleda reisenden Verschwörer zu folgen.«
»Verschwörer? Und Arboleda?«
Mr. Harper nickte. »Damit haben wir den Namen des Wüterichs, den wir ›nie befragen‹ sollten. Zugleich eine Lösung, hinter die zu kommen, keineswegs die Aufbietung zu großen Scharfsinns erforderte. Don Carlos – richtiger Pablo Arboleda – vormals unter dem Namen Pablo Arboleda, der Schreckliche, bekannt, war –«
»... war seinerzeit Gegenpräsident im Venezolanischen!«
»Sehr richtig! Der despotischeste und rücksichtsloseste, den das große Nachbarreich besessen hat. Der verhaßteste Mann, der – wenn auch nur wenige Monate – als Gegenpräsident Venezuela in Bürgerkriege und Elend stürzte, bevor er der Wut des Volkes weichen mußte. Bei diesem Mann, dessen Bereicherungssucht und Grausamkeit sprichwörtlich waren, haben wir heute nacht Quartier genommen, mit dem hierher in die Verbannung Geflüchteten haben wir an einem Tische gesessen. Und die er Jagdfreunde nannte, waren seine letzten Getreuen, waren Abenteurer, die ein neues Pronunziamiento planen!«
»Eine Verschwörung?«
»Nichts anderes! Arboleda will dem Nachbarstaate wieder als Erlöser kommen. Sie erinnern sich, wie ich aufhorchte, als der unschuldige Papagei der Donna Alienor von Arboleda als der »Esperanza« sprach und ihm der Expräsident dafür die Kehle abdrehen wollte. Eine nette Hoffnung, die hier in aller Heimlichkeit und Geschäftigkeit zusammengeschustert wird!«
»Sie sind ein Detektiv, wie er im Buche steht, Mr. Harper!«
»Die Leute,« fuhr der Amerikaner fort, »halten sich für verloren, wenn sie nicht ein Wunder aus den Händen des Teufels Arboleda befreit. Zufällig wollen sie verstanden haben, daß sie heute nach einer Waldquebrada geschleppt werden sollen. Sie befürchten, daß dort ihr Schicksal besiegelt wird und sie das Los ihrer unglücklichen Freunde teilen, die vor ihnen den neuerungssüchtigen Exstaatsmann belauschten.«
»Wir haben es also mit Spionen zu tun?«
»Wenn anders der ein Spion ist, der im Auftrage der gesetzmäßigen Regierung den Ränken eines Abenteurers und Verschwörers nachspürt.«
»Das rückt die Ärmsten freilich in ein anderes Licht. Aber was wollen Sie tun, Mr. Harper?«
»Ich habe mich gefragt, ob es zweckdienlich ist, nach allen Windrichtungen zu funken. Der Erfolg würde gleich Null sein, denn selbst im Falle, daß in der Grenzstadt Arauca oben im Norden ein wachsamer Mann die Funkenstation bedient, würden Tage vergehen, bevor die kolumbianische Regierung auf das etwaige Ansuchen der Venezolaner etwas gegen Arboleda oder für die Gefangenen ausrichten könnte. Die für meinen Apparat zu weit entfernte drahtlose Station in Meipures, die fast dreihundert englische Meilen ostwärts liegt, könnte uns noch weniger nützen, zumal in der Nachbarschaft davon Arboledas Anhänger tätig sein sollen. Vor allem aber würde uns –«
»Don José Vicente belauschen!«
Mr. Harper nickte. »Ihr Neffe hat gut aufgepaßt, Dr. Stenger. Wir würden uns selbst den Strick drehen. Wollen wir den Gefangenen helfen, müssen wir zur List greifen und den Transport abfangen, wenn er sich auf den Weg nach der Quebrada macht.«
»Sie ergreifen also völlig Partei gegen den Mann, der uns Gastfreundschaft gewährte?« Dr. Stenger kraute sich das Haar. »Ob sich nicht auf gütlichem Wege etwas erreichen ließe?«
»Eher würde der Rio Meta die Cordilleren hinauffließen! Und Gastfreundschaft? Sie war sauer genug gewährt. Um ein Haar hätten wir vorher unter der angesägten Brücke gelegen und den Guácharos zum Fraße gedient wie mein armer Reitesel! Denken Sie, wie der Mann uns beschwindelte. Neidisch konnte man werden!« setzte er, sich selbst verspottend, hinzu. »Und bedenken Sie, daß Arboleda der böse Geist seines Landes, die Gefangenen dagegen die Vertreter der ordnungsmäßigen Verfassung sind, die des Landes Bestes fördert. Für einen Deutschen, dem die geheiligte Ordnung über alles geht, müßte das doch geradezu ein Stichwort sein! Für mich ist der Name Pablo Arboleda ein Stichwort; denn es hat keinen heilloseren Hetzapostel gegen die Vereinigten Staaten, keinen ärgeren Feind Nordamerikas gegeben als ihn. Der Blutsauger seines eigenen Landes war zugleich unser unversöhnlichster politischer Gegner, dem jedes Mittel recht war, uns zu schädigen.«
Dr. Stenger machte eine abwehrende Bewegung. »Kein Wort über dergleichen! Die politischen Machenschaften gehen uns nichts an. Um was es sich hier handelt, ist allein die Frage: können wir Unglücklichen, die ein Privatmann nach alter Raubritterart ins Verließ geworfen hat, beistehen, und wie? Mit Gewalt ist doch nichts auszurichten.«
Mr. Harper zuckte verzweifelt die Achseln. »Ich habe doch den einzig möglichen Weg angedeutet. Mit nutzlosen Bedenklichkeiten verlieren wir kostbare Minuten. Wollen wir den gefangenen Beamten das Leben retten oder nicht?«
Ich sah, wie Herbert Stenger in jugendlichem Feuer nickte. Sein Oheim freilich schien noch unschlüssig. Aber Mr. Harper hatte recht: die Zeit drängte. Ich schlug vor, abzustimmen. Damit war's entschieden. Den Unglücklichen mußte geholfen werden. Dr. Stenger hatte sich bekehren lassen. Mr. Harper bat sich aus, die weiteren Anordnungen selbst treffen zu dürfen. Wir saßen gerade auf, als sich Don Alfonso und einer der Caballeros, der uns als Don Blanco vorgestellt war, unserem Lager näherten. In übertriebener Liebenswürdigkeit und mit ausgewählter Höflichkeit fragten sie uns teilnehmend, wie wir geschlafen hätten.
Mr. Harper zahlte ihnen mit gleicher Münze heim: »Unübertrefflich, Señores!«
»Und Sie werden doch hoffentlich,« fragte Don Blanco, »nicht länger auf dem Plan bestehen, Ihre kostbare Gesundheit in der Fieberwildnis der Moräste aufs Spiel zu setzen und nach sagenhaften Gräbern zu forschen, die noch kein Sterblicher gesehen hat?«
Mr. Harper gurtete seinen Sattel fester. »Wir danken Ihnen für Ihre aufrichtige Besorgnis für unser unwürdiges Wohlergehen«, antwortete er wie vorher. »Sie vermuten richtig, Señores: wir vermögen uns der Stichhaltigkeit Ihrer wertvollen Ratschläge nicht zu entziehen. Wir reisen geradezu nach Osten und lassen die Sümpfe Ihres Fieberwaldes zur Rechten. Ohne Karte wäre das Unternehmen in der Tat aussichtslos und zu gefährlich.«
Die beiden kreolischen Gesichter sahen sich verdutzt an.
»Und außerdem hat mein Antennenapparat auf unerklärliche Weise eine Havarie erlitten,« fuhr der verschlagene Harper fort, »so daß ich ihn als altes Eisen werde verkaufen müssen. Nun, das fesselt die ehrenwerten Caballeros nicht. Good bye, my dearest Sir!«
Er legte die Schenkel an die Weichen seines Esels und winkte mit der Gerte. Die Hispano-Amerikaner traten zur Seite. »Sie tun gut daran! Sie tun gut daran!« versicherten sie unter Händedrücken. Auf dem Wall erschienen ein paar verschlafene Negergesichter. Dann hatte der letzte Arriero die Mulde verlassen, hinter blitzenden Gesträuchen blieb Elisardo zurück.
Die zauberische Luft der ersten Stunde des Tropenmorgens strich über unsere Stirnen. Goldleuchtend überflammte die Sonne den weit im Bogen gedehnten Waldsaum. Soweit uns Blicke von Elisardo folgen konnten, vermochten sie nichts anderes wahrzunehmen, als daß wir entschlossen schienen, dem nach Nordosten fließenden Rio Meta zu folgen ... auf einem Wege, wo man kein Handbeil und keinerlei Vorsichtsmaßnahmen gebrauchte. Glatt und eben lief er eine weite Strecke dahin, von riesenhaften Farnen umringt, über denen ein süßes Duften wogte.
»Daß Ihr Funkenapparat kaputt sein sollte, hat die höflichen Herren nicht weniger beruhigt,« sagte der Professor zu Mr. Harper, »als daß wir so folgsam waren und scheinbar unserem Plan entsagten. Glauben Sie überhaupt an den undurchdringlichen Sumpf?«
Mr. Harper lachte hell auf. »Wenn ein Riesensumpf vor den Gräbern der alten Kaziken läge, hätte uns Arboleda nicht zu warnen brauchen. Da hätten wir vernünftigerweise selbst kehrtgemacht. Den Schwindel habe ich sofort durchschaut. Und bald werden wir ihn an Ort und Stelle bestätigt finden.«
»Müssen wir schon abbiegen?«
Wir beugten uns über die Karten. Nur sechs Kilometer trennten uns, wenn die Zeichnung des alten Schiffsfähnrichs stimmen sollte, von unserem, nun scharf südlich liegenden Ziel. Ich hatte eigene Karten zum Vergleich. Wichtige Anhaltspunkte fehlten keineswegs. Stießen wir hart südlich ins Dickicht vor, so mußten wir nach einigen Meilen ungefähr dort ankommen, wo wir am Tage zuvor vor der zertrümmerten Brücke abgebogen waren, und wenn die alten Gräber existierten, so konnte der Weg nicht weit von ihnen entfernt liegen. Dieser Richtweg hinwieder mußte etwa in der Höhe der Grabstätten von dem von Elisardo heranführenden Weg geschnitten werden. Daß letzterer vorhanden war, dafür hatten uns mehrere Hufspuren, die in den Urwald führten, gebürgt. Es war für uns alle nicht zweifelhaft, daß es der Weg sein mußte, auf dem Arboleda mit seinen Intimen am Tage zuvor geritten war. Das aufgefangene Gespräch, als er vor der Leiche des einen Venezolaners stand, hatte ja verraten, daß er aus einer Quebrada und von einem ›‹Opferstock‹ kam. Dort sollten die erschossenen Kolumbianer liegen und heute der Erde übergeben werden. Dieselben, bei denen Don Carlos die seltsamen Karten gefunden hatte. Auch darüber, daß er ein Gefecht mit unseren Guaqueros gehabt hatte, bestand kein Zweifel mehr für uns.
»Und wie erklären Sie sich den Indio mit den Knaben?«
Mr. Harper ritt auf den Wald zu. »Entweder war es ein Bote, der Don Pablo Arboleda unser Kommen und unsere Kopfzahl meldete, oder es war tatsächlich ein wilder Jäger. Und nun lassen Sie uns absitzen. Hier muß mit scharfgeschliffenem Machete (Handbeil) das Wurzelgeschlinge zerschlagen werden.«
Die grüne Wildnis nahm uns wieder auf. In traumhafter, grüner Dämmerung lag das Dickicht vor uns. Das Auge, das sich noch eben an der reinen, sonnendurchflirrten Luft des Uferlandes gelabt hatte, mußte sich erst an das seltsame Licht gewöhnen. Je weiter wir vordrangen, um so mehr nahm die Helle ab. Aber der Erdboden war nicht sumpfiger, als in den Wäldern, die wir von Orocué an durchquert hatten, und daß wir hier einen Vorgeschmack von der Dämmerung dichtesten Urwaldes bekommen sollten, tat unseren Augen nur wohl.
In märchenhaften Glanz und Duft war diese Wildnis gewoben. Wie gestern drängten sich vor uns flammende Orchideen, strickten Lianen ihre Arme über unseren Pfad, prangten die Blüten der riesigen Wolfsmilchgewächse neben den, mit glänzendbraunen Früchten behangenen Morichepalmen. In majestätischer Schönheit trugen die stolzen Miritíbäume ihre prächtige Krone mit den jeden Sonnenstrahl abfangenden Riesenfächern. Gleich grünen Wogen glitten die mächtigen Farne um die Leiber unserer Pferde. Purpurne Malpighien und violette Passifloren warfen gleichsam Fangarme nach uns aus. Wie verzauberte Königstöchter des Urwaldes träumten in Gold und Purpur Cassien, Erythrinen, Bignonien und Jacaranden, und wie die verführerisch schönen Kinder des Tropenwaldes alle heißen mögen! Und stachlig dazwischen, mit Haken und Dornen, flügelartig ihre Fiedern von sich spreizend, die schöne Genoma. Die Stachelgewächse fehlten nie, drahtverhauartig den südamerikanischen Wald für des Menschen Fuß sperrend. Und andere natürliche Verhacks und Verhaue bildeten die modernden, wirr über einander liegenden Stämme der Eisenholzbäume und Algarobos, auf denen die Samen anderer Bäume gekeimt und neue Triebe in die Höhe hatten schießen lassen. Oder mächtige Waldesriesen, die das Ziel ihres Lebens erreicht hatten, lagen zusammengebrochen oder von Orkanen geknickt, nachdem sie zuvor zahllose Jahrzehnte jedem Axthieb getrotzt haben mochten. Der Gewittersturm einer Nacht mochte genügt haben, ihre mehr als armstarken Äste wie Streichhölzer zu brechen und den Giganten ins Gras zu strecken, und alles, was sich seinem Sterben entgegengestellt hatte, zermalmte sein Fall. Langsam dahinwesend machte er neuen Generationen von Riesenkindern Platz.
»Das Antlitz des Urwaldes ...«, murmelte Dr. Stenger in Schauen versunken.
»Tod und Leben«, nickte Mr. Harper.
»Ein grünes Meer«, sagte Herbert, sich den perlenden Schweiß von der Stirn wischend, denn er half hurtig mit seinem Façao. »Ein Meer, in dem Blumen schwimmen, die wie prächtige Schmetterlinge aussehen, und über dem Schmetterlinge gaukeln, die leuchtenden Orchideenkerzen gleichen.«
»Aber ein Meer, das auch unersättlich mordet«, sagte der Professor. »Unsere deutsche Nordsee gilt für gierig und hat bei Fahrensleuten den Beinamen Mordsee bekommen, aber was will das sagen gegen den tausendfältigen Tod, der unter den Lebewesen dieser grüngoldenen Meere Tag und Nacht seine Ernte hält! Es wächst und blüht und welkt dennoch fortwährend. Ungezählte Milliarden winzigster Lebewesen, voran die Beherrscherin des Waldes, die Ameise, sind unaufhörlich an ihrer grimmen Zerstörungsarbeit, daß die Naturforscher auf die Frage, wie es möglich ist, daß nicht die ganze Vegetation vom Erdboden weggefressen wird, nur die eine Antwort fanden: nur die unerschöpfliche Tropennatur, rastlos und ungeheuer wiedererzeugend und aufbauend, vermag solcher Zerstörung standzuhalten! Sie haben beide, Sie haben alle drei recht: es ist des Urwaldes eigentliches Antlitz. Unbekümmert wuchert das Leben über dem Tode, gaukelt es aus den Gräbern herauf, in Blumenfreude und Schmetterlingsfarben eine kurze Spanne Zeit mit üppigem Dufte zu erfüllen, und wieder in Staub zu zerfallen und von anderen lachend, blühend und tanzend überrankt zu werden.«
»Und dann kommt der Mensch. Kommt der rote Sohn, dem des Urwalds Losung, unerbittlicher Kampf auf Tod und Leben, zum Erbteil geworden ist. Kam der Weiße, der Europäer mit Gier und Feindschaft, mit Sünde und Haß, mit Pulver und Büchse, List, Gewalt und Blutvergießen. Grausam und unersättlich auch er, heimtückisch wie die Kobra, verschlagen wie der Fuchs, blutdürstig wie der Jaguar.«
Mr. Harper nickte vergnügt. »Die komplette Visitenkarte des geschätzten Pablo Arboleda! Sie mahnen uns zur rechten Zeit, daß wir uns tummeln müssen.«
Es war nun, während wir den Vormarsch wieder aufnahmen, an der Zeit, unsere Leute in unser Vorhaben einzuweihen. Antonio hatte schon Wind bekommen, um was es sich handelte. Allzu viel Vertrauen in seine Tapferkeit setzten wir nicht, denn gestern hatte er noch gesagt, man tue gut daran, Leute, die einander nachstellten, zu meiden. Seltsamerweise schien er während der Nacht anderes Sinnes geworden zu sein. Er erklärte uns gnädig, daß er Vertrauen zu uns habe, nachdem es sich gezeigt habe, daß wir den unheimlichen Señor zu überlisten verständen. Da ferner anzunehmen war, daß die Gefangenen keine starke Eskorte durch den Wald schleppen würde, eröffnete er uns, daß sich die in unserem Zuge befindlichen Mestizen auf sein Zureden für uns in Stücke schlagen würden, er selber würde den wichtigen Posten übernehmen, mit den Indios und den Tragtieren im Hintergrunde zu warten und alles zum Empfang der befreiten Señores bereit zu halten.
Herbert lachte. »Das bessere Teil der Tapferkeit ist Vorsicht!« Aber der Arriero hatte so unrecht nicht; auf ein schnelles Fortkommen, wenn unser Plan geglückt sein würde, mußte Bedacht genommen werden. Die nötigen Anordnungen dazu wurden mit Antonio besprochen. Es muß auch Leute geben, die »in der Etappe« ihren Mann stellen.
Und wieder ward der Wald dichter. Hochstämmige Moraceen, die kautschukliefernden Guarumo-Bäume, sperrten das abwechselnd ansteigende und abfallende Revier, und von Stamm zu Stamm flochten sich Luftwurzeln und Rebenranken. Gleich flimmernden Seilen hingen die biegsamen Lianen dazwischen, anmutige Festons, gleichzeitig aber, von Zweig zu Zweig sich schlingend, undurchdringliche, Stamm und Strauch überspinnende Geflechte bildend. Auch sie entzückten das Auge durch die Menge und Pracht ihrer glühenden Blumen.
»Was würden unsere Lieben in der fernen Heimat für solchen Anblick geben!« sagte Dr. Stenger. »Was wir daheim in blutwenigen Gärten schauen, kann nie ein Abbild dieser sinnberückenden Herrlichkeit geben, und selbst im Glashause ist meist alle Kunst vergebens. Hartnäckig spreizen sich die Lianen, will sorgfältige Abwartung sie zum Blühen bringen.«
»Weil es grausam ist,« meinte Herbert, »sie als Gefangene ins Glashaus zu sperren. Sie und die jubilierende Vogelschar, die diesen schönen Blumen huldigt.«
»Und die dennoch in der Haft noch dankbare Sänger sind, mein verehrter Poet. Bessere Sänger meist sogar als hier,« setzte der blonde Professor hinzu. »Mein engerer Landsmann Rudolf Baumbach läßt einmal einen sangesfrohen jungen Studenten singen:
»Auch aus des Edelfinken Brust
Kein neues Lied erklinget,
Solange er im Tannenbaum
Von Zweig zu Zweig sich schwinget.
Doch wenn der Arme gefangen ist,
Wenn ihn ergreift das Sehnen,
Quillt aus der Brust ein neuer Sang
In reichen, vollen Tönen.«
»Und so hat schon mancher«, fügte er mit traumverlorenem Blick hinzu, »sein Glück erst besungen, wenn er es unwiederbringlich verloren hatte.«
»Seltsam«, stimmte ihm der dicke Stenger bei, »meine Gedanken gingen in die deutschen Gärten, und Sie reden hier von den Thüringer Tannen. Daß uns doch überall, wohin wir in die große, weite Welt fahren, immer die eine heiße Sehnsucht begleitet ... immer die Sehnsucht zum heiligen deutschen Vaterland!«
»Vorsicht!« sagte Mr. Harper. »Eine ausgewachsene Boa!«
»Ums Himmelswillen! Und das sagen Sie so ruhig?«
»Ich wollte Ihre Verse und Träumereien nicht unterbrechen«, gab der Mister mit leisem Spott zur Antwort. »Beobachtet hatte ich das Reptil schon lange. Unsere Karawane braucht nicht zu stocken, es windet sich schon seitwärts in die Büsche.«
Unser Fuß stockte aber doch. Die Größe des dicken Reptils, das gut seine vier Meter messen mochte, und tatsächlich Reißaus nahm, erfüllte uns mit Schaudern, obwohl wir nachgerade an den Anblick von mehr oder weniger gefährlichen Baumschlangen gewöhnt waren. Es war in der Tat ein ausgewachsenes Exemplar von Boa constrictor. Auf dem graurötlichen Rücken zog sich das schillernde Zickzackband hin. In gemessenen Windungen räumte sie das Feld, ihr tiefgespaltenes Maul zischte vor Wut, daß wir sie von ihrem Lieblingsplatz verscheucht hatten, und noch lange sahen wir ihr glänzendrotes Schwanzende.
Mr. Harper hatte allerdings recht daran getan, seine Ruhe zu bewahren, denn es steht fest, daß die Abgottschlange im Gegensatz zur Anakonda, trotz ihrer Stärke, den Menschen scheut und ihn auch wahrscheinlich nicht bewältigt. Aber unsere Abneigung gegen die Ungetüme blieb unüberwindlich und paarte sich, wie hier, sooft wir noch mit den schillernden Scheusalen Bekanntschaft machen sollten, mit einem gelinden Schreck.
Die Arrieros wollten mit Knüppeln hinterdrein, aber wir hielten sie zurück, weil wir zur Eile treiben mußten. Mr. Harper verwünschte die Gegend. Er sagte, immer sei eine Stelle, wo Guarumos stünden, »des Teufels Paradies«, und auch hier traf er den Nagel auf den Kopf. »Des Teufels Paradies« hatte vor Jahren der später so unglückliche Sir Roger Casement das reiche Gummigebiet in der tückischen Wildnis des Rio Putumayo getauft, der hundert Meilen südlich von unserem Dickicht dem Amazonenstrom zueilte – in jenem, in aller Mund kommenden Alarmruf und Entrüstungsschrei, der den an wehrlosen Indianern verübten Unmenschlichkeiten weißer Caucheros galt.
Endlich hatten wir den Gürtel der Kautschukbäume hinter uns. Der Boden ward sumpfiger. Sollte Don Carlos recht behalten?
Fast einen Kilometer weit mußten wir auf elastischer, unheimlicher Bodendecke fortschreiten, filzartig verwebtes Gräsergewirr hemmte den Fuß und ließ unsere Maultiere, die sich darein verwickelten, in die Knie sinken. Wir passierten eine jener tückischen Grasnarben, die sich über vermodertem Holz und Laub hinzieht, mit Stelzenwurzeln durchflochten ist und von ungezählten Kriechtieren und Amphibien wimmelt.
Aber dann fühlten wir zu unserer Freude wieder scharfes Steingeröll unter unseren Füßen. Eine tiefe Rinne, ein halbversiegtes Flußbett tat sich vor uns auf, in scharfer Biegung nach Westen ablenkend. Ich winkte Huitaca an meine Seite. Es brauchte keines großen Messens und Orientierens. Nach Verlauf weniger Minuten konnte ich meinen Freunden mitteilen, daß diese Schlucht dieselbe sei, auf die wir tags zuvor etliche Kilometer weiter westlich gestoßen seien und vor der wir, wegen der zerstörten Brücke, nordwärts nach Elisardo abgebogen waren.
»Nicht übel! Dann sind wir also unserem Ziele nahe?«
»Wir könnten es sein, wenn wir die Schlucht überbrücken würden. Sie ist hier tief, aber nicht halb so breit wie dort, wo Mr. Harpers Esel abstürzte.«
»Dann ungesäumt! Heute haben wir keine Zeit, das Verfahren jenes Kavalleristen anzuwenden, dem kein Graben zu breit war, wenn er sich nur umreiten ließ. Schnell her mit den beiden umgestürzten Bäumen, die da drüben liegen!«
»Probieren Sie aber erst, ob sie auch noch tragfähig sind,« warnte Dr. Stenger. »Vorhin wollte ich über einen anscheinend intakten Baumstamm weglaufen und brach durch die trügerische äußere Hülle. Um ein Haar, und ich wäre bis an die Hüften im faulenden Mulm versunken.«
Die Untersuchung war schnell beendet. Der Zersetzungsprozeß, der sich bei gefallenen Urwaldstämmen verhältnismäßig rasch vollzieht, die Fäulnis, Schimmelpilze und Insekten gleichzeitig zu benagen pflegen, war noch nicht weit vorgeschritten. Für einzelne Läufer genügten die beiden Stämme im Notfall. Nun hieß es: »Alle Mann ans Werk!« und im nu prasselten die Axthiebe, um Wurzeln und Geäst abzuschlagen. Mit vereinten Kräften gelang es, die Stämme über die Schlucht zu schieben. Eine Horde Brüllaffen jagte sich aufgeregt über uns in den Wipfeln. Allmählich wurden die Vierhänder aber stumm und sahen uns, vorsichtig die Zweige zurückbiegend, mit geradezu andächtigen Augen zu.
Es war auch der gegebene Ort, wo wir die Tiere zurücklassen mußten. Ganz allein wollten wir jedoch Antonio nicht als Wächter der Etappe wissen. Auf einen von uns mußte die Wahl fallen, und so hub der gleiche edle Wettstreit an wie neulich, als es ans Verteilen der Nachtwachen ging.
»Wir haben Sie damals ausgespart, lieber Stenger,« sagte Professor Wagemann zu Herberts Oheim. »Da ist es recht und billig, daß Sie die erste Anwartschaft auf diesen wichtigen Posten haben.«
Der gute, dicke Doktor polterte: »Da hört sich doch alles auf! Das ist doch etwas ganz anderes! Ich kann das nicht annehmen –«
»Sogar mit dem besten Gewissen auf Gottes weiter Welt. Sträuben Sie sich nicht. Zudem sind Sie, dank Ihrer noch immer erfreulich runden und rosigen Leibesstellung, der Hitzeempfänglichste von uns allen, und Ihr Ausgleiten auf dem schlüpfrigen Baumkadaver vorhin hat Ihnen die Pflicht auferlegt, nicht loszustürmen, sondern sich zu pflegen. Und Geschwindigkeit ist für den weiteren Gang der Dinge alles.«
Dr. Stenger war kein Unmensch. Er ließ sich zureden. »Schön,« sagte er drollig seufzend, »ich werde aber keine ruhige Minute haben. Vergessen Sie auch nicht, daß möglichst alles und jedes Blutvergießen vermieden wird, und beim ersten Anzeichen, daß Sie etwa die alte Kazikengrabstätte wittern, müssen Sie mich unbedingt heranholen. Dann galoppiere ich, sollen Sie sehen! Das müssen Sie mir in die Hand geloben!«
»Soweit sind wir vorderhand noch nicht, lieber Freund!« Lachend schüttelten wir uns die Hände.
Arboleda hatte uns einen gehörigen Bären aufgebunden: in diesem Teil des Waldes gab es den undurchdringlichen Sumpf nicht. Sowie wir über die improvisierte Brücke waren, empfing uns der trockenste Boden, den wir uns wünschen konnten. Ja, die Sonne meinte es in diesen lichteren Beständen sogar etwas reichlich gut mit uns. Wir waren ihrer acht. Drei davon Mischlinge aus unserer Trägerschar, die mit Flinten umzugehen wußten, und Huitaca, den ich mir allmählich zur ›Gefechtsordonnanz‹ herangebildet hatte – wie sich noch des öfteren zeigen sollte, ein glücklicher Griff. Er hatte seinen mannshohen Bogen und seine Rohrpfeile mitgebracht, mit denen wir ihn in Dienst genommen hatten, da er sich gerühmt hatte, ein guter Schütze auf Federwild zu sein. Außerdem baumelte ihm am Lendengurt sein liebster Kamerad – sein Schnupfapparat, von dem sich, wie wir schon gemerkt hatten, kein Guahibo auch nur kurze Zeit zu trennen vermag. Die Schnupfapparate bestehen aus einem großen Schneckenhaus, in dem das berauschende Yopopulver untergebracht ist und aus zwei in die Mündung mittelst Baumharzes hineingekitteten, hohlen Vogelknochen, aus deren Ende der Guahibo den Yoposchnupftabak mit dem gleichen Behagen aufschnauft, wie etwa ein verwöhnter Zigarrenraucher den Rauch einer delikaten ›Puro‹ einzieht. Wir anderen waren bewaffnet wie immer, aber unsere allernötigste Waffe war noch immer der scharfgeschliffene Machete: und er bekam noch manchmal Arbeit, ehe wir uns einer richtigen Lichtung, über die eine Art Pfad führte, gegenüber sahen und auf staubbedeckter Erde zum erstenmal wieder die Hufspuren von Pferden entdeckten. Es war erstaunlich, wie schnurgerade sich dieser Pfad durch das Gestrüpp hindurchwand. Bis weit nach Norden blieb er dem Auge deutlich als Lücke zwischen den Bäumen erkennbar.
»Der Weg von Pablo Arboleda!« rief Mr. Harper. »Man könnte sich denken, daß er ununterbrochen bis Elisardo so fortläuft.«
»Das stimmt der Richtung nach sogar genau mit meinen Berechnungen überein.«
»Und der geschlossene Teil der Pferdehufe zeigt nach Norden. Sie verraten die frischeste Spur. Es ist die Fährte Arboledas und seiner Caballeros von gestern abend.«
»Zugegeben! Demnach kamen sie von Süden. Die Quebrada, von der gesprochen wurde, kann nicht weit von hier zu suchen sein, und wenn die Gefangenen nach eben dieser Schlucht geschafft werden sollen, dann können sie diesen Fleck noch nicht passiert haben.«
Mr. Harper nickte. Das alles sei logisch, doch sei er dafür, daß wir uns nach der Schlucht selbst aufmachten und dort der Dinge warteten, die da kommen sollten. So machten wir uns auf. Die Mestizen und Huitaca voran. Sie hatten die Spuren, die die eisenlosen Hufe der Pferde eingedrückt hatten; da konnte es nicht fehlen. Aber die Spuren verschwanden oft im Gras, und nun zeigte sich der sichere Instinkt, mit der sie eine Spur in Gras und Moos verfolgten, die wir anderen mit dem angestrengtesten Auge nicht sehen konnten. Besonders Huitaca zeichnete sich vor den Arrieros hierbei aus. Er hatte nur ein welkes Blatt gewendet, und schon machte er uns ein Zeichen, daß wir vom Wege abbiegen müßten. Wir wollten es erst nicht glauben – aber sein feiner Spürsinn behielt recht. Der einer kerzengeraden Rinne gleichende Pfad lief weiter geradeaus, die Reiter von gestern aber waren aus einem Farrenkraut und Schlingpflanzengewirr herausgetreten. Ein paar Hiebe mit dem Waldmesser, und wir sahen hier tatsächlich die Spur der Pferde wieder!
Bis an die Augen wanderten wir in Farren und Gras, und die Sonne brannte scheitelrecht. Unsere weißen Tropenanzüge klatschten durchnäßt an unsere Körper. Und wieder sperrten Farren und Gras und zerstreutes Buschwerk die Aussicht.
Aber in diesem Augenblicke blieb Huitaca wie angewurzelt stehen. Mit zusammengepreßten Lippen zeigte er geradeaus. Regungslos und lautlos, wie ein kupfernes Standbild stand der Knabe da, und als Mr. Harper ihn anrief, begann er zu zittern und warf sich auf die Knie.
Vor uns aber, aus der grünen Wildnis hob sich ein weißer, verwitterter Block ... ein indianisches Göttermal! Und rechts davon dehnte sich eine tiefe Schlucht mit Hütten und Strohdächern ... eine, zwei, drei niedere Hütten in Wildnis und Einsamkeit und an einem Ort, wo selbst die Vogelstimmen zu schweigen schienen.
Da wußten wir, daß wir am Ziel standen ...
Das war Pablo Arbolodas »Quebrada«! Hier lag das alte Heidenmal, von dem die Karte des Schiffsfähnrichs Bahadilla Kunde gab ... die von unserem Doktor ersehnten Häuptlings- und Kazikengräber mit dem »Opferstock«, zu dem der verbitterte Verbannte von Elisardo uns den Weg hatte sperren wollen.
Und nicht er allein! Die Zusammenhänge lagen ja jetzt klar zu Tage. Auch sie hatten mit List und Gewalt uns den Weg hierher verlegen wollen, die wir wenige Minuten später entseelt neben den Schuppen in der Schlucht auffinden sollten.
Wir waren darauf vorbereitet, aber dennoch lähmte Entsetzen unseren Schritt, als wir jetzt, hart bei einander im Grase die vier leblosen Körper der unseligen Guaqueros tatsächlich liegen sahen! Es waren die Leute aus der Posada von San Pedro de Arimenas. Nur ihre Kleidung gab uns hierüber Aufschluß. Schon waren die Gesichter entstellt, und der Anblick war grauenvoll. Don Pablo und seine Schützen hatten ganze Arbeit getan – hatten gewissermaßen das rächende Amt der Nemesis ausgeübt, indem sie die Grabräuber, die keine heilige Scheu vor dem Unbegreiflichen des Todes und der Ewigkeit kannten, wenige Schritte vor den Gräbern ihrer indianischen Altvordern hingestreckt hatten.
»Ruhig, Tyras!« Wagemann nahm seinen vorwärtsdrängenden Wolfshund kürzer an die Leine. »Warum schoß Arboleda die Leute einfach über den Haufen?« fragte er.
Mr. Harper stellte die Gegenfrage: »Warum suchte uns der alte Schuft mit allen Mitteln der Überredung von hier fern zu halten?«
»Die Frage wird sich lösen,« sagte ich, »wenn wir uns die Hütten da unten näher ansehen. Sie sind noch nicht alt, wie man sieht.«
»Wenigstens im Vergleich zu dem steinernen Mal hier«, sagte Wagemann. »Der berühmte Opferstock. Ich hatte ihn mir größer vorgestellt, und auch Stenger wird enttäuscht sein. Ein paar umgestürzte Tonbilder ... Trümmer ... aber nichts von Gräbern! Immerhin eine Fundstätte altindianischen Kults, wenn auch wenig beredt. Sicherlich haben hier die alten Chibchas gehaust, wie die wilden Soldaten der Konquistadoren den Stamm nach seiner Sprache nannten. Aber der weißtönerne Opferstock, verwittert und weidlich zerschlagen, bleibt hinter ähnlichen Denkmälern, die man uns in Bogotá zeigen konnte, zurück. Nur daß der Ort stimmt, ist wirklich schön. Ob wir noch Zeit haben, den guten Doktor heranzuholen?«
»Über Mittag wird schwerlich jemand von Elisardo sich auf den Weg machen. Vielleicht wird uns also sogar die Zeit hier ziemlich lang werden. Aber wollen wir ihn wirklich jetzt, wo die Sonnenstrahlen wie gezückte Dolchspitzen wirken, aus der Mittagsruhe aufscheuchen?«
Wir entschlossen uns, uns erst näher umzusehen. Das aufgeregte Gebaren des Wolfshundes deutete darauf, daß nicht alles geheuer war. Auch Huitaca, der seinen ersten heiligen Schreck ebenso schnell überstanden hatte, wie er ihm beim Anblick des Tongötzen in die Glieder gefahren war, spähte und lauschte angestrengt nach der Quebrada hinunter. Wir hatten noch keine zehn Schritte gemacht, als sich aus den die vorderste Hütte umgebenden Büschen eine schwarze Gestalt löste, die ihre Hände bittflehend emporhob und etwas Spanisches rief.
»Ein Nigger! Was ruft der Nigger?«
»Gnade und Barmherzigkeit –«
Jetzt verstanden wir es alle. Es war ein hünenhafter Kerl und ganz gehörig bewaffnet. Aber er hatte seinen Karabiner vor sich ins Gras geworfen. Erst allmählich verstanden wir, was er wollte und wen wir eigentlich vor uns hatten.
»Ich nicht wollten schießen, Señores. Santa Virgen, ich wollten fliehen, aber die Knie waren mir gelähmt. Ich nicht wollten auf die Señores schießen!«
Wir hatten eine Schildwache vor uns, ohne zunächst zu wissen, was es hier zu bewachen gab. Sollte Arboleda hier noch mehr Gefangene eingesperrt halten ... etwa als Geiseln?
Es war ein rechtes Mischmasch zwischen Spanisch und Kapenglisch, was der tapfere Mohr von sich gab. Nur um sein teures Leben verstand er in reinem Spanisch und bestem Englisch noch wiederholt zu bitten und zu betteln, obwohl niemand von uns bisher die Absicht verraten hatte, sich an dem Mann, der den bescheidenen Namen Bonaparte führte, zu vergreifen. Er gestand, daß er die »Depots« von Don Carlos zu bewachen und jeden über den Haufen zu schießen habe, der sich ihnen nähere. In zwei Stunden werde er abgelöst werden, denn dann habe er vierundzwanzig Stunden lang ununterbrochen seine Wache versehen, und dann komme ein anderer, der auf jeden Feuer geben werde.
»Und warum hast du nicht gefeuert, als wir kamen?«
Die Antwort war aufrichtig. Wir hätten ihn bei der Siesta überrascht, außerdem habe er eine unüberwindliche Abneigung, auf Fremde Feuer zu geben, die in der Übermacht seien. Wir sollten ja nicht glauben, daß er die vier Indios erschossen habe, die wir im Grase gefunden hätten. Als er die Wache angetreten habe, sei schon das Feuergefecht vorüber gewesen.
»Und was sind es für Leute?«
Es seien arme Teufel, in deren Taschen nicht ein einziger Cuartillo Der Dollar oder Peso teilt sich in Kolumbien in zehn Reale – es sind nur Papier und geringwertige Nickelmünzen im Umlauf – und diese in halbe und viertel – Medios und Cuartillos. zu finden gewesen wäre. Was sie sonst bei sich gehabt hätten, sei von Don Carlos beschlagnahmt worden.
Wir dachten an die Karten. Wir wollten nun wissen, was es mit dem »Depot« auf sich hatte. Der Name verriet ja eigentlich schon genug.
»Hoffentlich kein Pulver«, sagte ich. »Bei Ciudad Bolívar flog die Dynamitfabrik so lange in die Luft, bis man das Unternehmen aufgab. Die natürliche Hitze ließ die Sprenggarnitur explodieren, obwohl sie unterirdisch lagerte und reichlich mit Orinocowasser gekühlt wurde.«
»Das erzählen Sie Dr. Stenger, wenn er wieder einmal am heißesten Fleck der Erde angelangt sein will!«
Mr. Harper hatte den Schwarzen vor sich her getrieben. »Eine ungeheure Menge von Gewehren und Sätteln liegt hier verstaut«, rief er, als er mit Bonapartes Hilfe einen Fensterflügel an der vordersten Hütte aufgerissen hatte. »Und rings an den Wänden stehen Patronenkisten, hängen Patronengurte, Steigbügel, Zügel und Kandaren. Es ist ein kleines Kriegsdepot, das wohl am besten beweist und illustriert, was wir von Arboledas dunklen Machenschaften ahnten. Kein Wunder, daß er vor diese Kostbarkeiten einen »undurchdringlichen Morast« zauberte! Und damit ist auch erklärt, warum er die Guaqueros über den Haufen knallte. Mitwisser kann ein Pablo Arboleda nicht gebrauchen.«
Im zweiten Schuppen wiederholte sich das gleiche Bild. Der langgestreckte Raum unterschied sich vom ersten nur dadurch, daß in der Mitte ein mächtiger Tisch und zahlreiche grobgezimmerte Stühle standen. Auch Hängematten fehlten nicht.
»Aha! Der Konferenzsaal, wo wacker am Pronunziamiento geschmiedet wird. Hier finden die geheimen Zusammenkünfte statt, bei denen sich wahrscheinlich noch mehr solche ›Jagdfreunde‹ einfinden, wie sie Arboleda gestern mitbrachte. Damit die Herren Verschwörer hier ungestört an ihren Umsturzplänen arbeiten können, haben sie die Brücken abgebrochen. Die Schlucht zieht sich in weitem Bogen um dies Versteck herum.«
Wagemann schüttelte erstaunt den Kopf. »Sie haben recht: das reine Arsenal. Hier scheint alles untergebracht zu sein, was auf Elisardo keinen Platz hat.«
»Oder deshalb, weil der Urwald verschwiegen zu sein pflegt, während die Hazienda doch einmal behördlichen Besuch bekommen könnte.«
»Und die unnatürlich vielseitigen Verteidigungsanlagen auf ihr?«
»Die hat sich Arboleda zum persönlichen Schutz erbaut, weil er genau weiß, wieviel erbitterte Hasser er in Venezuela zurückgelassen hat. Sie wissen, wie glühend diese Südländer zu hassen pflegen. Sie vergessen nichts, und Arboleda läßt alle Minen springen, um sich seine Feinde vom Halse zu halten. Daher der beinahe hermetische Verschluß seines Hauses, daher die Leibwache von afrikanischen Riesen – die freilich, wie das Beispiel Bonaparte zeigt, nicht immer hält, was sie verspricht. Daher sein ewiger Argwohn, sein Mißtrauen, sein scheuer Blick – und daher wohl auch der zur nahen Verwirklichung gereifte Plan, sich durch einen kecken Gegenstoß Luft zu machen und nach einem mit allen Künsten der Heimlichkeit und Verschlagenheit vorbereiteten Abenteuer mit einem neuen Staatsstreich, mit neuem, grausamem Blutbad seine Feinde abzuschütteln. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich kann an den Menschen nicht denken, ohne mich in die Hitze zu reden!«
»Das sehen wir, lieber Harper,« sagte der Professor: »schließlich sind wir nicht berufen, dem Mann in den Arm zu fallen. Wem sollten wir erzählen –«
»Oder sagen Sie ruhig, ›ihn denunzieren‹! Überlassen Sie das mir. Es genügt, daß er die vier Kolumbianer erschossen, einen Venezolaner von seinen Hunden hat zerfleischen lassen und drei weitere der Freiheit beraubt hat – Hallo, was gibt's?«
Ein Aufschrei Herberts hatte ihn unterbrochen. Vom offen stehenden Zugang zur dritten Hütte, zu der er, von Tyras gefolgt, geeilt war, sahen wir ihn erschrocken zurücktaumeln. Aber er faßte sich rasch. »Die Knochen erschreckten mich. Hier liegen tote Menschen. Was in den Gräbern lag, scheint hierher gebracht worden zu sein.«
Bonaparte grinste. »Alles tot«, sagte er. »Ich nicht schuldig sein, Señores. Ich nichts sein als armes Schildwache ...«
Ein furchtbares Ahnen überkam uns. Als wir durch die allerdings offene, aber mit mächtigen Eisenkrammen versehene Tür ins Innere traten, schlug uns der Pesthauch der Verwesung entgegen. Greulich von Ratten und anderem Getier zugerichtet lagen auf dem Boden die Gebeine von Menschen, die schwerlich aus indianischen Gräbern stammten! Die weitere Untersuchung bestätigte unsere Befürchtungen. Wir entdeckten die Reste der Kleidung, die den Toten gehört hatten. Bonapartes Worte brachen vollends das Dunkel. Kein Zweifel – wir standen im Gefängnis der Quebrada, wohin Arboleda seine Gefangenen zu schleppen pflegte und wo die Unglücklichen elend ihr Leben ließen!
»Und in diese Pesthöhle sollen auch die drei ...?«
»Daran zweifle ich nicht! Habe ich nun zu viel gesagt, als ich Arboleda ein Scheusal nannte?«
»Wenn Sie recht hätten ...«
Mr. Harper gab dem noch immer grinsenden Bonaparte einen Tritt. »Dieser Kerl hat wahrscheinlich das Todesröcheln der hier Verhungerten mit angehört. Die grausamsten Peiniger sind einem Unmenschen, wie es Arboleda ist, natürlich gerade gut genug. Nun verstehen Sie wohl auch, warum er sich nur Nigger vom Sambesi hält. Wir müssen diesen abgefeimten Nigger mit uns nehmen, sonst verrät er uns. Entlaufen wird er freilich bei der ersten besten Gelegenheit.«
Professor Wagemann suchte nochmals, als wir den Ort des Entsetzens verließen, den ganzen Umkreis oben bei dem Torso des Tongötzen nach alten Grabstätten ab, aber alles Forschen war vergebens. In diesem Punkte schien der Besitzer von Elisardo die Wahrheit gesagt zu haben: wenn hier Gräber vorhanden gewesen waren, so gab nichts mehr von ihnen Kunde.
»Wir können nichts besseres tun, als Dr. Stenger den Weg hierher sparen«, lautete das Ergebnis, zu dem er kam, und wir mußten ihm beipflichten.
Der Schwarze wurde gefesselt. Er nahm das nicht weiter übel, da er zuerst auf Schlimmeres gefaßt gewesen war. Unter Huitacas Aufsicht verbargen wir ihn im Gebüsch, nicht ohne ihm klar gemacht zu haben, daß er beim ersten verräterischen Zeichen oder beim geringsten Fluchtversuch sein Leben verwirkt habe.
Seine Antwort lautete: »Señores gut sein. Bonaparte für weiße Señores durchs Feuer gehen bis ans Lebensende –«
»Maul halten!« drohte Mr. Harper mit der Pistole.