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Erstes Kapitel.
Die Taranteln der Guaqueros.

Die Flammen der untergehenden Sonne ließen noch einmal die Fluten des Rio Meta erglühen, als wir einige Meilen ostwärts der kleinen Territorialhauptstadt Orocué unsere Zelte aufschlugen. Die indianischen Mietlinge, hellrotbraune, schlanke, aber kräftige Guahibos, die sich unserer Expedition erst vor wenigen Tagen verdingt hatten, bewältigten die Vorbereitungen für Mahlzeit und Nachtlager in wenigen Minuten, ohne sich durch die über dem Walde brütende Hitze ermattet zu zeigen.

Von uns anderen, die wir uns nicht, wie die Indios, zur Abwehr der Sonnenpfeile den Leib mit Palmöl bestrichen hatten, ächzte freilich noch mancher, denn wir waren die »Hitze aus erster Hand« noch nicht recht gewöhnt, und Dr. Eberhard Stenger, von Haus aus wohlbeleibt und zum ersten Male auf äquatorialer Reise, meinte, schlimmer könne es nun nicht mehr kommen.

»Der dunkelhäutige Wirt in der letzten Posada hat mir verraten,« sagte er scherzend, »daß die hiesigen Eingeborenen, die nach ihrem letzten Stündlein in die Hölle versetzt werden, noch einmal zurückkommen – um ihre wollenen Decken zu holen, weil es ihnen in der Hölle zu kalt ist. Ich muß sagen, ich kann das den Leuten nachfühlen.«

»Warum nicht gar!« widersprach gewohnheitsmäßig Mr. Lear Harper, ein Allerweltskerl und im Hauptberuf Berichterstatter für einen Zeitungstrust in Massachusetts. »Als ich früher noch als Orchideenjäger hier herumpürschte, wäre ich eines Nachts um ein Haar erfroren.«

»Übertreiben Sie auch nicht? Mir war's doch, als hätte ich Sie schon einmal in Schweiß gesehen.«

»Da meinen Sie den ersten Tag unserer Bekanntschaft, als ich hinter Bogotá mit einem meiner Maulesel zu Ihnen stieß?«

»Beziehungsweise zunächst nur Ihr Esel, der Ihnen ausgerückt war«, sagte der junge Herbert Stenger, der Neffe des Expeditionsleiters, der sich gern mit dem Amerikaner neckte. »Sie haben doch sicher nicht bereits vergessen, Mr. Harper, daß es meinem Oheim und Professor Wagemann vorbehalten blieb, Sie aus einer wenig beneidenswerten Körperlage zu befreien, in die Sie sich durch die Störrigkeit Ihres Grautieres versetzt sahen, auf gut deutsch aus der Pfütze einer Felsspalte?«

Mr. Harper, an Gestalt und Leibesumfang das gerade Gegenteil von Dr. Stenger, paffte, seine Beine über einen Sattel ausstreckend, behaglich blaue Wolken aus der von ihm unzertrennlichen Shagpfeife. » Well, junger Mann«, ließ er sich zu einer Antwort herbei, »ich stehe im Rufe, einer der ausgezeichnetsten Gedächtniskünstler zwischen Boston und Frisko zu sein. Ich vergesse also gar nichts! Und ich bin meinen edlen Rettern, wie Ihr Herr Onkel weiß, außerordentlich verbunden. Andererseits habe ich Ihnen bereits zweimal gesagt, daß mich nicht der Esel in das Loch geworfen hat, aus dem Sie mich herauszogen, sondern daß ich das Opfer meiner waghalsigen botanischen Studien geworden war.«

»Und das soll ich glauben?« Herbert ließ nicht locker, obwohl sein Oheim leicht die Stirn runzelte. Vielleicht ahnte er, daß wir anderen, der Ethnologe Professor Wagemann und ich, der ich mich nach Erledigung einer geographischen Erkundung für eine gelehrte Körperschaft der Stengerschen privaten Expedition angeschlossen hatte, auf seiner Seite standen, sooft es galt, die Großsprechereien des Amerikaners etwas zu dämpfen.

»Ob Sie es glauben oder nicht,« lautete Mr. Harpers Antwort, »hat nichts zu bedeuten. Mir ist die Hauptsache, daß man in den Vereinigten Staaten das kleine Ereignis so erfährt, wie ich es darzustellen für gut befinde. Während wir hier am letzten Rande der Kultur rasten, liest ein Millionenheer von Zeitungskäufern den erwähnten Zwischenfall, der mir auf der diesjährigen Forschungsreise das Leben kosten konnte, in seinem Abendblatt. Sie werden sich entsinnen, daß ich vorgestern und auch gestern wiederholt meine sehr geschätzten Funksprüche in alle Winde sandte. Sie kommen dieser Expedition riesig zugute. Ich verstehe mich auf Reklame, und ich bin dessen sicher, daß meine Mitteilungen inzwischen von der gesamten Presse mit gewohnter Schnelligkeit aufgefangen sind. Die Leute haben es schwarz auf weiß, und das ist, wie Ihre Herren Schiller oder Goethe, auf die Sie so gern zurückkommen, sehr schön sagen, nun einmal das, was man getrost nach Hause tragen kann.«

»Auf deutsch, Sie haben wieder eine Ente schwimmen lassen,« sagte der junge Professor Wagemann. »In dem Goethewort, das Sie anführen, kommt übrigens die Ironie zu Worte. Man kann durchaus nicht alles schwarz auf weiß Gedruckte getrost hinnehmen. Niemand weiß das besser als Sie, lieber Mister Harper, der Sie so wundervoll funken können.«

»Oh, man kann aus meiner Funkerei nur lernen.«

»Funkerei und Flunkerei dürfen aber nicht dasselbe sein. Ich fürchte, unser junger Freund Herbert lernt sonst schöne Sachen von Ihnen. Sicher hat ihn Dr. Stenger nicht auf diese weltferne Reise mitgenommen, daß er hier die vielgerühmte deutsche Ehrlichkeit verlernt.«

»Das werde ich auch nicht!« rief Herbert aus.

»Dann werden Sie nicht weit kommen«, sagte der Amerikaner. »Ganz schön, die Sache mit dem weißen Mann, der von Edelmut trieft, wenn er ins Land der Goldgräber- und Büffeljägerromantik hinauszieht. Die Jugendschmöker stellen solche Helden auf die Beine. Aber kein noch so geschickter Geschichtenschreiber und Märchenerzähler kann seine Helden aus der Schlinge ziehen, wenn er sie nicht möglichst verschlagen macht. Ich denke, wir werden sehr verschlagen sein müssen, nach allem, was wir in den letzten Tagen gesehen haben.«

»Reden Sie von den Halbindianern, die uns vorgestern durch ihre Flintenschüsse aufscheuchten?«

»Von nichts anderem, Dr. Stenger!«

»Aber die Kerle haben sich doch seitwärts in die Büsche geschlagen und unsere Wege seitdem nicht wieder gekreuzt. Malen Sie doch die Teufel nicht wieder an die Wand!«

»Ich denke, ich habe mehr bemerkt als Sie alle zusammen. Ich nahm mehrfach verdächtige Geräusche wahr, ohne allerdings jemand entdecken zu können. Ihre Zuversicht teile ich auf keinen Fall, daß uns die Leute, die bei den Gräbern von San Pedro de Arimenas die Schüsse abgaben, in Zukunft unbehelligt lassen.«

»Ja aber, was können sie denn nur von uns wollen? Daß wir es mit Straßenräubern zu tun hätten, haben Sie ja selbst für unwahrscheinlich erklärt.«

»Wohl. Aber Sie haben das eine Grab, das nur halb zugeschüttet war, nach den von Ihnen geliebten alten Topfscherben und Waffen durchstöbert.«

»Das ist nicht verboten. Ich habe die Erlaubnis des Regierungsvertreters in der Tasche. Zudem buche ich sorgfältig jeden Fund und werde ihn der Behörde vorlegen.«

»Überdies handelt es sich,« warf Professor Wagemann ein, »um alte Urwaldgräber, die hierzulande keine Pietät schützt. Der Gouverneur war grundsätzlich mit den Ausgrabungen einverstanden. Die vier Kerle, die ihre Gewehre abschossen und sich dann schnell, wie sie aufgetaucht waren, hinter die dichten Mangobäume zurückzogen, hatten kein Recht, Dr. Stengers Liebhabereien zu stören. All das haben wir genug besprochen.«

»Und sind dem Kernpunkt nicht nahe gekommen,« sagte Mr. Harper. »Ich habe das Rätsel inzwischen gelöst. Haben Sie einmal von sogenannten Guaqueros gehört?«

Wir schüttelten den Kopf. »Wieder ein Indianerstamm?«

»Damit hat der Name nichts zu tun. Ich hörte ihn zuerst von meinem besten Freund Hamilton Rice, der, wie Sie wissen, die Bekanntschaft der weißen Indianer von Esmeralda aus machte und dessen Spuren unsere kleine Karawane zu folgen entschlossen ist.«

»Sie wollen doch nicht sagen, daß Ihre Guaqueros mit ›unseren‹ weißen Indianern etwas zu tun haben?«

»Nicht mehr, als daß beides äußerst gefährliche Burschen sind. Die Guaqueros stellen ein zünftiges Gewerbe dar. Aber nun lassen Sie uns erst zu Abend speisen. Die Chinchorros (geflochtene Hängematten) sind vollzählig aufgehängt, und die Yucasuppe wird aufgetragen.«

Unsere Guahibos hatten sich auch hier wieder unter Leitung unseres bräunlichen Peons Antonio, der ihnen als Aufseher gesetzt war, flink und anstellig gezeigt. Die Hängematten waren gebrauchsfertig befestigt. Am Spieß röstete die Delikatesse des Tages – das in der kümmerlichen Asistenzia von Drocué mit Mühe und Not aufgetriebene Geflügel, und im Topfe war der Reis gar.

»Guaqueros ... ein zünftiges Gewerbe?« wiederholte Dr. Stenger, als er sich mit den ersten Bissen gestärkt hatte. »Der Name fehlt völlig in meinem Lexikon. Es soll also doch wohl darauf hinauskommen, daß wir es mit einer Räubergesellschaft zu tun hatten, die nur fortstob, weil sie uns im letzten Augenblick so gut bewaffnet sah?«

»Eine Wortbildung mit Klangmalerei«, sagte Professor Wagemann. »Ich denke unwillkürlich an den Vers des alten Ovid, wo er das Gequake der Frösche nachahmt –«

»als er die Verwandlung der phrygischen Bauern beschreibt«, fiel unser aufgewecktes Nesthäkchen Herbert ein, der schon öfters gezeigt hatte, daß er seine humanistischen Studien mit Ernst und Eifer betrieben hatte. Und er zitierte frisch aus dem Gedächtnis:

» Quamvis sint sub aqua – sub aqua maledicere tentant.«

»Bravo!« Professor Wagemann nickte schmunzelnd. »Das hat sich der gute Naso auch nicht träumen lassen, daß zweitausend Jährchen nach seinem Tode ein weiland deutscher Gymnasiast am Saume des südamerikanischen Urwaldes seine Verse herbetet!«

»Und auch der Oberlehrer, der meinem Neffen die ›Metamorphosen‹ eingetrichtert hat, hat wohl alles andere eher vermutet, nur nicht, daß Herbertchen sein Latein so wacker mit auf die Reise nehmen würde. Ich habe mit dem Mann manches Mal gesprochen und ihn vertrösten müssen. Gerade das Latein war lange Zeit Herberts schwache Seite, wohingegen er die Bücher über Länderkunde, die er bei mir fand, nur so verschlang. Ich gab sie ihm willig. Es war in der Zeit unseres großen Ringens gegen eine Welt von Feinden, wo unseres geliebten Deutschlands Grenzen wie mit spanischen Reitern für alle Reisenden gesperrt waren. Dem Jungen ist es bei seinem Studium genau so ergangen wie mir: sein Wollen und Sehnen ist hinausgeflogen über den eng gezogenen Stacheldraht des Hasses, den unsere Feinde um uns gezogen haben. Was dann kam, wissen Sie. Ich nahm ihn schnell entschlossen mit. Meine Wanderfahrten sollen seine Lehrjahre sein. Nun, er ist, wie Sie sehen, seinem Oheim nicht böse.«

»Er hat ein Los gezogen, das ihm Tausende neiden dürften.«

»Oder sagen Sie schon ruhig, das große Los habe ich zunächst gezogen, dem unverdienterweise die nötigen Mittel in den Schoß gefallen sind, um meinen sammlerischen Neigungen nachgehen und gleichzeitig anderen damit eine Freude bereiten zu können. Das erzieherische Element soll dabei nicht zu kurz kommen. Herbert lernt nicht nur diese dem Auge so paradiesisch schönen Erdstriche kennen, er wird zugleich inne, daß es auf Erden kein Schlaraffenland gibt. Auch für den Vergnügungsreisenden nicht, der in infernalischen Gluten schmoren, sich bei lebendigem Leibe von den sechsbeinigen Vampiren der Tropen anknabbern und hunderterlei Gefahren bestehen muß, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen läßt. Es ist gar nicht nötig, daß noch solche Buschklepper wie die Kaulquapperos des Misters Lear Harper dazukommen, um uns das Leben sauer zu machen.«

» Beg your pardon – die Leute heißen immer noch Guaqueros«, sagte der Amerikaner. »Und im übrigen bin ich erfreut, Sie nicht mehr von der Hitze erdrückt zu wissen. Ich hörte noch keine so lange Rede von Ihnen. Das ist ein gutes Zeichen. Ich werde Ihnen von den Guaqueros sagen, was ich weiß. Nur soll uns der Peon erst den Kaffee reichen.«

Es war jetzt dunkel geworden. Zwei Feuer glühten inmitten des aus Trümmern von Mauern bestehenden Hofes, der unser erstes Nachtlager jenseits von Drocué bilden sollte. Das eine schürte Antonio, der ein zuverlässiger Mensch zu sein schien und von Professor Wagemann schon auf einer Expedition nach Cabuyaro zu den unseren Guahibos sprachlich verwandten Churruyes-Indianern erprobt war, ein etwa dreißigjähriger Mischling. Das andere Lagerfeuer unterhielten die Arrieros. Mischlinge auch sie, wenn auch unter ihnen schon der indianische Typ vorherrschte. Sie lagerten trotzdem in gemessener Entfernung von den Guahibos, die für sie nackte Wilde waren, gerade gut genug, um einem Arriero von Beruf Handreichungen zu leisten. Sie schwatzten mit jener südländischen Lebhaftigkeit, wie sie jeder Italienreisende bei der ersten Grenzstation kennen lernt, und waren beim Vertilgen des kolumbianischen Nationalgetränkes, dem Guarapo (gegorenem Panelawasser), angelangt. Allerdings kreiste bei ihnen auch ein Flaschenkürbis, der den sehr geschätzten Rum oder Anisado enthalten mochte. Die Indianer dagegen hatten bereits ihre Hängematten ausgesucht.

»Also, um Sie nicht länger auf die Folter zu spannen«, nahm Mr. Harper wieder das Wort. »Die Guaqueros tun dasselbe wie Sie, Dr. Stenger.«

»Na, erlauben Sie mal! Vorhin sagten Sie, es seien genau so wüste Burschen wie die weißen Indios, die wir erwischen wollen. Bin ich ein Kannibale?«

»Dann würde ich mich hüten, in Ihrer Gesellschaft durch das unwegsamste Gebiet Amerikas zu reisen«, gab der Zeitungsmann zurück. »Die Guaqueros sind Leute, die den Gräbern zu Leibe gehen. Sie sind die heutigen Goldgräber der Kirchhöfe, und diesem unheiligen Geschäft widmen sich ganze Familien.«

»Das stimmt!« rief Professor Wagemann. »Es ist eine bekannte Tatsache, daß die jetzige halbindianische Bevölkerung des Landes vor den Grabstätten ihrer Altvordern nicht die geringste heilige Scheu zeigt, sondern sie, gewissermaßen unter den Augen der Regierung, nach vergrabenen Schätzen durchstöbert. Der Fund wird dann in der Regel in der nächsten Stadt zu Geld gemacht und dabei durchaus keine Heimlichkeit mit seiner Herkunft getrieben.«

»Ja, du liebe Güte! Da wissen Sie ja alles, lieber Wagemann!«

»Der von Mr. Harper genannte Name war mir neu. Allerdings sagt das Sprichwort ja, daß der Name nichts zur Sache tut. Nun, wir Jünger der Wissenschaft denken anders. Wir sind erst zufrieden, wenn alles in der Welt richtig registriert und etikettiert ist, und welche heillose Unordnung gäbe es, wenn das Kind nicht seinen richtigen Namen hätte. Also Guaqueros – .«

»Demnach wollten die Kerle mich durch ihre Schüsse verscheuchen!« sagte Dr. Stenger. »Du lieber Gott, als ob ich nach Gold hätte graben wollen! Mit der Behutsamkeit des Altertumsforschers habe ich ein paar Spatenstiche gemacht.«

» Well! Aber gerade das hat Sie hinreichend verdächtigt. Die Zünftigen lieben keinen unzünftigen Wettbewerb. Daß jemand nach Topfscherben gräbt, will den geldhungrigen Leuten nicht in den Kopf. Sie begingen außerdem in der Posada von San Pedro de Arimenas die Unvorsichtigkeit, sich der in Ihrem Besitz befindlichen alten Urkunden zu rühmen, in denen von großen Einzelgräbern indianischer Häuptlinge die Rede ist, die an unserem Wege liegen sollen.«

»Das ist richtig. Die alten Aufzeichnungen des spanischen Schiffsfähnrichs Bahadilla sind, wie Sie wissen, mein Stolz. Sie stammen aus dem Jahre 1763 und erwähnen zuerst die sagenhaften weißen Indianer, denen vor zwei Jahren Ihr Freund Hamilton Rice von Esmeralda aus wieder begegnet ist.«

»Und sie erwähnen auch die Kazikengräber mitten im Urwald. Das Gesindel in der Posada hatte aufmerksame Ohren. Kurz und gut, ich glaube bestimmt, daß wir diese Guaqueros zu Aufpassern haben werden.«

Professor Wagemann schüttelte den Kopf. »Mr. Harper, Ihre Einbildungskraft in Ehren, der Sie so oft bei Ihrer amerikanischen Leserschaft Ihre Lorbeeren verdanken, aber zunächst sind das Hirngespinste – nehmen Sie uns das nicht übel.«

»Ich möchte Sie fragen, ob auch die Flintenschüsse eine Ausgeburt meiner Einbildungskraft waren?«

»Nein, die waren fraglos echt. Aber schon, was Sie von geheimnisvollen Geräuschen sagten, die Sie unterwegs gehört haben wollen, möchte ich ins blumige Reich Ihrer Phantasie verweisen, die so üppig ist wie die Landschaft, die wir durchqueren. Aus der sinnverwirrenden Kakophonie des Urwaldes ein einzelnes Geräusch als besonders verdächtig heraushören zu wollen, ist eine Leistung, die ich Ihnen nicht zutraue.«

»Vielleicht unterschätzen Sie meine Feinhörigkeit. Meine Freunde bezeugten mir, daß ich jedes Geräusch dieser Wälder richtig zu unterscheiden vermag.«

»Ein bescheidenes Wort!« sagte der Professor, und wir sahen uns lächelnd an, denn das sinneberauschende Konzert des nächtlichen Waldes hatte rings um unser einsames Biwak mit ohrenbetäubenden Akkorden eingesetzt ... dieses Konzert auf Tausenden geheimnisvoller und unsichtbarer Instrumente, das jeden Fremden erschauern läßt. In die hohen, hellen, feinen Geigentöne der Zikaden, in denen es oft schrill aufgellte wie das Schreien einer Feile, mischte sich das zitternde Summen der Heuschrecken, in das immer neue, wohl größere Arten mit dem Lärmen einer rasend gedrehten Knarre einfielen. Ein millionenstimmiger Chor unermüdlicher Bläser, Geiger und Zinkenisten war an der Arbeit, mit Tönen, die zu lachen schienen, und mit Klängen, in denen ein Zittern und Seufzen war und in denen die ganze Melancholie des Weltalls in die undurchdringliche Nacht hinausströmte!

»Macht der Gewohnheit!« sagte Lear Harper, sein Moskitonetz schüttelnd. »Daß der ganze Wald abends zu musizieren beliebt, wäre zu ertragen, wenn uns die Musizi nicht blutsaugerisch zu Leibe rückten. Übrigens sind die eigentlichen Moskitos hier glücklicherweise dünn gesät. Aber die Feuer müssen noch heller angeblasen werden, die Gegend ist schlangenreich. Der Rio Meta wirft gern nachts ein paar besonders stattliche Exemplare an Land, die leicht aus Wißbegierde unser Cama (Nachtlager) mit ihrem Besuche beglücken könnten. Darf ich fragen, an wen die Reihe der Nachtwache ist?«

Es war noch nichts bestimmt worden. Der dicke Dr. Stenger erbot sich dazu, mit dem Hinweis, daß er der leider noch immer nicht abflauenden Hitze wegen ja doch kein Auge zutun könne.

»Von dem Affenkonzert ganz zu schweigen, das mich, der ich mich stets rühmte, Nerven wie Stahltrossen zu haben, heute ganz nervös macht.«

»Bis jetzt halten sich die Vertreter des Affengeschlechtes noch merkwürdig ruhig«, stellte Professor Wagemann fest. »Aber es genügt, daß Sie, lieber Doktor, von der Hitze mehr mitgenommen sind als wir anderen. Sie müssen schon erlauben, daß ich mich freiwillig des Wächteramtes unterziehe.«

Doch auch Herbert und ich erboten uns dazu. Es wiederholte sich ein edler Wettstreit, wie er schon bei unserem ersten gemeinsamen Biwack unweit Villavicencios ausgetragen worden war. Vor allem waren wir uns darin einig, daß Dr. Stenger, als Ältester unserer Expedition, so lange es uns möglich war, von jeder abwendbaren Anstrengung ausgespart blieb. Als wir ihn an die Marschleistung des nächsten Tages erinnerten, die noch größere Anspannung unserer Kräfte unter dem mörderischen Klima des ostkolumbianischen Himmels erwarten ließ, wurde sein Widerspruch schwächer. Tatsächlich schlief er, trotz des höllischen Urwaldkonzerts, schon nach wenigen Minuten fest und brav in seiner Matte, über die wir ihm sorglich den Mosquitero gespannt hatten. Eine Liebe ist der anderen wert und Dr. Stenger vergalt uns bei jeder Gelegenheit durch Umsicht und Bereitstellung aller erforderlichen Mittel, die unserem Streifzuge eine Erleichterung bringen konnten, die geringen Liebesdienste, die wir Jüngeren ihm leisteten.

An seiner Stelle wollten sein Neffe und ich die erste Hälfte der Nacht, die zweite bis zum möglichst frühzeitig angesetzten Abbruch unseres Wigwams, Wagemann und Antonio die Wache übernehmen. Unsere Vorsorglichkeit war nicht so aus Furcht vor räuberischen Überfällen durch Wegelagerer oder Wilde geboten, als aus der bangen Erwartung, daß uns die Vierfüßer des Waldes oder die von Mr. Harper genannten Reptilien eine unliebsame Visite abstatten könnten. In Orocué war man bei unserem kurzen Aufenthalt in heller Erregung gewesen, weil tags zuvor Jaguare mehrere Pferde zerrissen hatten, und auf unserem Weitermarsch aus diesem Vorort der Kultur hatten wir wiederholt die Spuren großer Exemplare der gefleckten Katze auf dem schlammigen Boden gesehen, ohne freilich eine der Räuberinnen vor die Flinte zu bekommen.

»Machen Sie Ihr Gesellenstück, junger Mann«, rief Mr. Harper, bevor er sich in seine Matte schwang, und Herbert gab eben so schnell zurück: »Unbesorgt, Mister! Sie stiehlt niemand!« Dann war ich mit dem deutschen Jungen allein. Abwechselnd warfen wir das reichlich aufgeschichtete Reisig und trockenes Sperrholz zwischen die Kloben der Feuerbrände, daß die Flamme leuchtend über den steil nach dem Fluß hinabfallenden Hang tänzelte. Noch im Wasser spiegelte sich ihr Widerschein.

Und das war keineswegs die einzige Illumination. Wer den Zauber der Urwaldnächte kennt, weiß, daß mit dem ersten Zirpen der Myriaden von Grillen, von denen man alle Gräser erbeben glaubt, mit weißgelbem, phosphoreszierendem grünem und leuchtendem rötlichen Glanz zugleich Myriaden von Irrlichtern einhergaukeln, unseren Glühwürmchen und Johanniskäfern ähnelnd, und doch ein rein amerikanisches, gewaltiges Geschlecht von Lampyriden, das die Nacht aus seinen Verstecken ruft. Gerade die ersten Abendstunden schwirrt dieses Riesenheer kleiner und kleinster Lichtträger am rasendsten. Es ist, als ob die Nacht ihren Mantel schüttelt und aus jeder Falte tausend und aber tausend Funken hervorsprühen, die nun in tollem Wirbel durcheinander tanzen. Es sind rasende Tänzer unter ihnen. Raketengleich schnellen die leuchtenden Cocuyos vom heißen, gärenden Boden bis hinauf in die Wipfel der Riesen des Waldes, und die kleinen Feuer an ihren Halsschilden, die des Forschers Lupe nur mit Mühe zu erkennen vermag, glühen dabei so heftig, daß sie vor dem menschlichen Auge als rotgelbe Linie, sternschnuppenartig, dahinzüngeln.

Herbert Stenger sah mit klaren Augen durch die Nacht, deren Himmel blauschwarz schimmerte. Die kristallklare Luft ließ den tropischen Sternkreis in glänzender Pracht strahlen. Wie gleißende Juwelen blinkten und blitzten die größeren Sterne des poesieumwobenen südlichen Kreuzes. In weißem Lichtgefunkel glühte der Sirius, in rotem Feuer der Antares, eine hellsprühende Fackel war der Kanopus. Und der Mond, nur als Sichel am wunderbar tiefblauen Himmel schwebend, ließ von deren Hörnern einen Silberreif ausgehen, der die ganze Scheibe umfaßte. Was so viele Tropenreisende bezeugten, offenbarte sich uns in dieser heißen Nacht aufs neue: der Himmel, der auf die schlummernden Städte der deutschen Heimat herniedersieht, ist reicher an Sternen, ungleich prächtiger und klarer aber strahlen die Sterne, die über den Wäldern und Savannen des Südens stehen.

»Mein Oheim ist ein seelensguter Mensch«, sagte Herbert leise. »Wenn das wahr wäre, was Mr. Harper über die Guaqueros gesagt hat, ich wäre sehr traurig. Sagen Sie, daß Sie es nicht glauben, daß uns diese Bande meuchlerisch auflauert!«

»Darauf läßt sich schwer antworten. Wir kennen Mr. Harpers tropisch üppige Phantasie. Auch liebt er es, sich von Zeit zu Zeit wichtig zu machen – gewissermaßen als Gegengewicht, daß er sich als smarter Jingo dazu herabgelassen hat, sich einer deutschen Expedition anzuschließen. In Wirklichkeit war er dem Zufall sehr dankbar, der ihn auf uns stoßen ließ, denn er scheint die Schwierigkeiten dieser Zone anfangs erheblich unterschätzt zu haben.«

»Sind sie tatsächlich so groß? Ich frage natürlich nicht etwa aus irgendwelcher Bangigkeit heraus.«

»Es steht fest, daß die Grenzgebiete zwischen Kolumbien und Venezuela von allem zivilisierten Verkehr abgetrennt und noch reichlich geheimnisvoll sind. Uns Geographen bietet sich hier jedenfalls ein reiches, unendlich dankbares Arbeitsfeld. In der Hauptsache sind wir lediglich über die bedeutendsten Nebenflüsse des Rio Meta und die die Llanos von San Martin durchziehenden Wasserläufe unterrichtet. Was seitab der Ufer dieser Flüsse liegt, ist wenig oder größtenteils gar nicht erforschtes Gebiet.«

»An sich herrlich ...«

Ich lachte. »Bleib auf dieser Reise gesund und du hast dann ohne Frage erreicht, was sich jeder mutige Junge in seinen kühnsten Träumen wünscht, denen leider so selten Erfüllung wird. Aber auch die kecksten Träumer, die von den Wundern dieser Terra incognita lesen, werden sich schwerlich ein lebenswahres Bild von der Mannigfaltigkeit, Farbenpracht und Schönheit des Weges machen können, den du mit den lichten Augen und dem aufnahmefähigen Herzen der goldenen Jugend betrittst. Nur wenige Wanderer werden in den kommenden Tagen oder Wochen unsere Straße kreuzen, die sonst nur von Indianern auf ihren Nomadenzügen, von verwegenen Gummisammlern oder den wenigen Forschungsreisenden überschritten wurden, die gleich uns in eine geheimnisvolle Welt eindrangen. Daß bald kleineren, bald größeren Gefahren getrotzt werden muß, wissen wir alle, und daß tapfere Pioniere ihren Vorstoß mit dem Leben bezahlten, hat ja erst in der jüngsten Zeit das Verschwinden des deutschen Ansiedlers Ramshorn und seiner Familie wieder bewiesen, die nach den Angaben des von Mr. Harper so gern zitierten Amazonenstromforschers Dr. Rice den weißfarbenen Bergindios in die Hände gefallen sein müssen.«

»Ja, ich weiß. Jener Dr. Rice hat die Farmersleute zum letzten Male kurz vor seiner unverhofften Begegnung mit den weißen Kannibalen getroffen. Seitdem fehlt jede Kunde von ihnen, und die Hoffnung meines Oheims, über die letzten Schicksale der Unglücklichen etwas in Erfahrung bringen zu können, steht natürlich auf schwachen Füßen. Aber es ist merkwürdig mit Onkel Eberhard: was er sich einmal in den Kopf gesetzt hat, und sei es auch nur, wie hier, der Glaube an einen blinden Zufall, davon ist er nicht abzubringen. Die Schilderungen, die Mr. Harper von den Erlebnissen des Amazonenstromforschers machte, haben ihn in seiner Zuversicht womöglich noch bestärkt. Es ist nicht nett von mir, wenn ich es sage ... aber es ist wie eine fixe Idee.«

Ich stocherte in den Flammen. Professor Wagemanns Wolfshund Tyras hatte sich zu unseren Füßen niedergetan. Es war ein schönes Tier, das einem ausgewachsenen Wolf an Größe gleichkam, und in seltenem Grade wachsam. Er fuhr ein paarmal lauschend mit dem Kopf in die Höhe und blickte dann angestrengt nach einer ganz bestimmten Richtung des Dickichts, sprungfertig, aber ohne sich zu rühren. Erst nach einer längeren Weile tat er sich wieder hin.

»Und wenn es nichts wäre als eine fixe Idee« antwortete ich nach einer Pause, »so ist es keine Spielerei und kein Zeitvertreib. Daß wir auf die seltenen Vögel, diese weißen Menschenfresser, stoßen, wäre allerdings ein Forscherglück, an das auch ich noch nicht recht glaube. Und das gleiche ist meine Meinung hinsichtlich des Aufspürens einer Spur des gewiß längst um Leben gekommenen Farmers Ramshorn. Die ungebändigte Kraft der Urwaldserde überwuchert über Nacht die Fährte, die eines Menschen Fuß hinterläßt: sie nach Jahr und Tag wiederfinden wollen, wäre dasselbe, als wollte man einer Welle des Amazonas oder Orinocos nachjagen. Aber auch ein Christoph Columbus jagte einer fixen Idee nach und fand, statt des äußersten Indiens, die Neue Welt. So stoßen wir auf Schritt und Tritt, indem wir auf Saumpfaden und Strömen diese wunderbaren Gegenden durchqueren, auf neues Land, und die kleinste Entdeckung wiegt jede Mühsal auf. Jedem von uns wird, wenn das Glück uns geneigt bleibt, reiche Ausbeute winken, dem Forscher wie dem Sammler und dem Vergnügungsreisenden. Denn über dem Vergnügen, das du zu finden hoffst, steht der heilsame Zwang. Körperliche Erkräftigung und Abhärtung sind der Gewinn.«

Ich weiß nicht, ob Herbert mir genau gefolgt war. Er kraute den Kopf des Wolfshundes und schaute zu den Chinchorros, die wie Webervogelnester dahingen. Er fragte, ob ich glaube, daß unsere Guahibos zuverlässige Leute seien.

Ich antwortete ihm, so gut ich konnte. Ich wies darauf hin, daß man wilde und halbwilde Indios unterscheiden müsse. Der größte Teil der Guahibo-Indianer sei noch völlig wild, nur ein verschwindend kleiner Teil von ihnen, der in Orocué ein- und ausgehe und sich zeitweise verdinge, sei notdürftig von der Kultur beleckt. Andere Stammesangehörige machten die Ufer des Rio Meta und Orinocos noch weidlich unsicher und hätten schon manchem Reisenden die Biwaks am Lande verleidet. Habe man sie zu Dienern, so seien sie ohne Frage angenehmer als etwa die Rothäute, die ich in der Savanne von Bogotá genau kennengelernt hätte und die samt und sonders einen ungemein gedrückten Eindruck gemacht und niemals ein Lächeln auf ihren finsteren Mienen gezeigt hätten.

Ich muß wohl etwas zu lehrhaft geworden sein, und das vertragen die wenigsten deutschen Jungen; denn als ich zufällig zu Herbert aufsah, hatte er die Augen geschlossen und war friedlich eingeschlummert.

Er erwachte auch nicht, als Tyras plötzlich mit einem Satze quer über unseren Lagerplatz setzte und genau auf die Stelle zu jagte, der schon vorher seine stumme Aufmerksamkeit gegolten hatte. Er stand lautlos, den einen Lauf in der Luft, nicht anders als ein Jagdhund, der auf das Auffliegen einer Hühnerkette wartet.

Mein erster Blick galt unseren Pferden und Maultieren, die sich nicht regten und rührten: und das sagte mir, daß uns schwerlich von einer Bestie Gefahr drohte, da sie eine solche nicht später als Tyras gewittert haben würden. Vorsichtig richtete ich mich auf, mit der Rechten den Karabiner fassend. Ich stand jetzt im Schatten und war darauf gefaßt, im nächsten Augenblick etwas Feindseliges über die kaum mannshohen Mauerreste hereinbrechen zu sehen.

Doch ich konnte nichts erspähen; nur der laute Ruf eines Vogels klang auf, dem der gleiche Ruf von der anderen Seite unseres mauerumfriedeten Lagers antwortete. Es war der wohlbekannte Lockruf eines Tukans, der infolge seines langen Schnabels wie eine Karikatur wirkt. Im selben Augenblick fiel mir aber auch schon ein, daß die Tukane ihr Locken – einen der charakteristischesten Laute des Tropenwaldes – sonst nur in den ersten Morgen- und Abendstunden ausstoßen. Hier mußte also etwas nicht richtig sein.

Und in diesem Momente sah ich, zunächst an ein Gaukelspiel meiner aufgeregten Sinne glaubend, eine Hand ... eine menschliche Hand über die Krone des Mauerwerks tasten. Eine zweite Hand wurde sichtbar und umkrallte einen Façao – jenes lange, spitze Waldmesser, wie es jeder Vacqueiro in den Campos führt. Und schon fuhr Tyras mit wütendem Bellen, im Nu das ganze Biwak alarmierend, gegen den Angreifer an.

Die Hand mit dem Messer verschwand blitzartig schnell, zumal mein Karabiner losging. Als ich an der gefahrverheißenden Stelle anlangte, war nicht das geringste mehr zu entdecken. Tyras war in riesigem Satz über die Mauer gesprungen und gleich dem Angreifer in der Finsternis verschwunden.

Dafür wieherten und quiekten jetzt unsere Tiere, und aus dem Stimmengewirr der Arrieros, die ihre Flinten vom Boden rissen, hörte ich, daß etwas Schreckliches vor sich gegangen sein mußte. Als ich mit Herbert, der an meine Seite geeilt war, nach dem anderen Teil des Lagerplatzes stürzte, schlugen die Tiere wie unsinnig um sich. Eine dunkle Masse war zwischen sie geworfen worden. Später stellte sich heraus, daß es ein umfangreicher Sack gewesen war. Das absonderliche Wurfgeschoß hatte seinen verheerenden Inhalt im Niederfallen ausgeschüttet. Professor Wagemann stieß einen gellenden Schmerzensschrei aus. Antonio warf sich über ihn und trommelte dann laut fluchend auf ein mehr als faustgroßes Etwas ein. Mit Knüppeln und Fäusten arbeiteten sich die Eseltreiber an die geängstigten Tiere heran, und jetzt erst, beim Schein der Fackeln, wurden wir der Größe des hinterlistigen Überfalles inne: was da in wütendem Durcheinander am Boden krabbelte, waren Skorpione – jene blutgierigen Verwandten der südeuropäischen Taranteln – hundert oder mehr, und die größten Exemplare, die wir bis dahin kennengelernt hatten!

»Ein Überfall, der eines Teufels würdig ist!« rief Mr. Harper, mit den Füßen wild den Boden stampfend. »Nun, geben Sie zu, daß ich richtig prophezeit habe?«

Wir mühten uns um unseren Professor, dessen Lippen jetzt qualvoll geschlossen blieben. Sein markdurchdringender Schrei war zu verstehen. Sein rechter Unterarm war unförmig angeschwollen und blutig. Man muß die Attacke eines derartigen Skorpions gesehen haben, um sich von seiner Gefährlichkeit die richtige Vorstellung machen zu können. Der Stachel dieser grimmen Spinnen bearbeitet mit der Schnelligkeit einer Nadel der Nähmaschine in rasendem Wüten ein ganzes Feld der Haut ... Stich neben Stich, Biß auf Biß. Und sofort wird die Wirkung des heimtückischen Giftes offenbar.

In dem auf unsere armen Tiere geschleuderten Sack wurde noch eine ganze Anzahl der blutsaugerischen Kanker entdeckt und unschädlich gemacht. Bis wir und unsere Leute den Platz gesäubert und Pferde und Maulesel von den Peinigern befreit hatten, ging eine gute Stunde hin. Unser Grimm auf die feigen, unsichtbaren Angreifer kannte keine Grenzen.

Professor Wagemann wehrte unsere Teilnahme ab. »Das Schlimmste ist überstanden. Skorpionengift ist nicht tödlich. Aber die Art der hundsföttischen Waffe ist ebenso grausam wie neu. Auch ist das nicht Indianerarbeit. Die Guahibos ekeln sich, einen Skorpion zu berühren. Auch dürfen wir uns auf die Auskunft der Leute von Orocué verlassen, daß in dieser Gegend keine Indianerüberfälle stattfinden. Es ist ein stillschweigendes Übereinkommen, das der Wilde respektiert, da er nun einmal auf Kauf und Tausch auf die Orocuéser angewiesen ist. Auch die Farm Elisardo, der wir morgen zusteuern wollen, gilt den Rothäuten für unverletzlich –«

»bis es einem Häuptling eines schönen Tages anders in den Sinn kommt!«

»Was hat das alles mit diesen Taranteln zu tun?« Mr. Lear Harper untersuchte seinen Maulesel, der sich am tollsten von allen gebärdet hatte. »Ein kluges Tier; es ist zum Angriff übergegangen, ehe die Kanker es zu fassen bekamen. So hätten wir es auch machen sollen.«

»Leicht gesagt, wo wir nicht einmal wissen, wem wir diese bodenlose Gemeinheit verdanken!«

»Immer noch nicht?« Mr. Harper gab seinem Esel einen Klapps auf die Hanken. »Und dabei haben wir stundenlang über Ihre Konkurrenz geredet, Dr. Stenger! Wer anders soll sich denn in dieser eigenartigen und für ihn verhältnismäßig ungefährlichen Art herangepirscht haben als unser Guaqueroschwarm?«

»Wenn Sie wirklich recht hätten?«

»Habe ich! Bitte, sehen Sie selbst!« Gerade kam Professor Wagemanns Tyras zurück. Zwischen den Lefzen hing ihm ein Panamahut, den er seinem Herrn apportierte.

»Ich denke, der Beweis ist erbracht! Solchen schmutzigen, breitrandigen Hut hat der Mann getragen, der die Skorpione auf unsere Tiere warf oder der andere, der sich mit dem Façao über die Brüstung schwingen wollte.«

Wir leuchteten mit Tyras den Umkreis des Biwaks ab. Der verständige Hund führte uns nach der Stelle, wo er den Hut aufgehoben hatte. Sie lag vor einem mit schwarzglänzendem Wasser gefüllten Graben, über den ein schmaler Baumstamm gelegt war.

»Hier konnte das Tier den Unholden nicht folgen. Über diesen Stamm führte der Rückzug. Wir müssen morgen mit dem Finger am Abzug reiten.«

Da hörten wir Dr. Stenger, der zurückgeblieben war, laut unsere Namen rufen. Der reiche Sammler war um eine unliebsame Entdeckung reicher geworden. Ihm fehlte ein Gepäckstück mit wichtigen Papieren ...

»Dachte ich's doch fast!« rief Professor Wagemann aus. »Es ist also doch solch ein Bandit bis auf unseren Lagerplatz selbst gekommen! Er wartete nur ab, bis der wachsame Hund auf und davon und wir zu unseren Pferden geeilt waren. Das stellt eine weitere Überlistung dar. Dort der Scheinangriff, hier –«

»Welche Mappe fehlt?« fragte Mr. Harper dazwischen. »Etwa die auffallend blaue, die Sie in der Posada von San Pedro auf dem Tisch hatten?«

»Die und keine andere! Und hier sind auch Stiefelabdrücke ... sehen Sie.«

» Well! Und die Mappe enthielt die Dokumente über die Indianergräber südlich vom Rancho Elisardo?«

»Allerdings! All meine wertvollen, mit Randbemerkungen versehenen Schriften. Die alten Reiseberichte des Fähnrichs Bahadilla freilich, wie ich mit Genugtuung feststellen kann, nur in einem Schreibmaschinendurchschlag. Ferner Karten und eine von mir begonnene Arbeit, der ich den Titel ›Das Antlitz des Urwalds‹ geben wollte. Allerdings war sie noch nicht weit gediehen.«

»Also nichts Unersetzliches.«

»Na, erlauben Sie gütigst, Mister!«

Der Amerikaner schüttelte den Kopf. »Verstehen wir uns nicht falsch! Ich habe Sie bisher immer als die verständnisvollsten Germans schätzen gelernt, mit denen ich zu tun hatte. Ich wollte sagen, daß nichts unersetzlich ist, so lange man noch ein lebendiger Mensch ist, der sich seiner Haut wehren kann. Denken Sie an Mr. Robinson, der kaum das Hemd auf dem Leibe hatte, als er in Juan Fernandez auf die nackten Klippen gespült wurde und dennoch alles in beste Ordnung brachte. Genau so werden Sie alles wieder in Ordnung bringen. Mit den nötigen Karten helfen wir anderen Ihnen aus, von den alten Schriftstücken besitzen Sie einen Durchschlag.«

»Das ist richtig.«

»Bliebe also nur die von Ihnen angefangene Abhandlung, deren Ersatz nur eine Frage von Tinte und Papier ist: denn Sie werden nicht von heute zu morgen vergessen haben, was Sie zu sagen wünschten. Vielleicht darf ich Sie sogar dazu beglückwünschen, daß Sie die Arbeit nochmals beginnen. Wir stehen erst am Rande des Waldes, der uns allen sein wahres Gesicht erst zeigen will, und das wird sich ganz anders ausnehmen, als Sie in Ihrer Vorrede sagten. Der Titel ist vielversprechend und gefällt mir ungemein. Ich werde die nächste Gelegenheit benützen, die wissenschaftliche Welt auf das Erscheinen der Arbeit vorzubereiten.«

»Sie verstehen es großartig,« sagte der dicke Doktor lächelnd, »jedem Stachel das Gift zu nehmen. Halb und halb bin ich bereits getröstet.«

»Und Sie werden es vielleicht ganz sein, wenn es uns gelungen ist, den Guaqueros ihre Beute wieder abzujagen. Sie wissen nun alle, Gentlemen, welches der tiefere Sinn des nächtlichen Angriffes war.«

»Natürlich! Es sollte ein Denkzettel sein, daß ich mich nicht wieder an den alten Grabstätten vergreife, deren Plünderung dieses Gesindel für sein ihm allein zustehendes Recht ansieht. Um sicher zu gehen, stibitzten sie mir die Karten und suchten uns durch Unbrauchbarmachung unserer Reit- und Packtiere davon abzuhalten, zu den Urwaldgräbern ihrer indianischen Vorfahren zu gelangen.«

»Das und nichts anderes. Und nun werden wir ihnen erst recht zeigen, daß uns eine Rotte von Wegelagerern, die besser stiehlt als schießt, nicht von einmal gefaßten Entschlüssen abbringen kann!«

»Das ist geradezu Ehrensache!« sagte der Amerikaner. »Wenn solch ein zusammengelaufenes Volk derartigen Scharfsinn aufbietet, uns abzuschrecken, ist etwas zu holen, was sich der Mühe lohnt.«

Unser Oberarriero Antonio schüttelte lebhaft den Kopf. Wir fragten ihn, was er von alledem denke. Er gab zur Antwort, es werde unmöglich sein, zu den Gräbern zu gelangen, wo die mächtigen Kaziken ihre Häuptlinge bestattet hätten. Längst habe er zu Bogotá von diesen Gräbern reden hören, in denen der vergoldete Mann – el dorado – schlafen solle. Noch kein Weißer sei zu dem Eldorado vorgedrungen. Böse Mächte verwehrten den Zugang. Heute hätten sie Skorpionen ins Lager geworfen, morgen würden sie Prunkottern und Königsschlangen vom Himmel fallen lassen.

Wir antworteten ihm, daß wir seine bösen Mächte, die sich zu solchen Gastgeschenken eines Sackes bedienen müßten, nicht für voll ansähen. Und vor Geistern, die Karten und Papiere beiseite schafften, hätten wir wenig Respekt. Es war vorauszusehen gewesen, daß wir bei Antonio auf das unausrottbare Erbübel des krassesten Aberglaubens stoßen würden. Sein Umgang mit Europäern hatte nichts daran geändert. Interessanter war uns, daß er von der Sage vom Eldorado etwas wußte. Seit der Zeit der Konquistadoren spukt sie bekanntlich in ganz Südamerika und hat zahlreiche habgierige Eroberer von Ort zu Ort gelockt. Neu war uns, daß Antonio das Märchen vom vergoldeten Mann, das in den unzugänglichen Urwäldern Guyanas zur Ruhe gekommen schien, nachdem es wie ein Irrbild bald hierhin, bald dorthin geflohen war, in unsere nächste Nachbarschaft verlegte. Zugleich aber auch ein neuer Ansporn, den Kampf mit Antonios »bösen Mächten« aufzunehmen. Jeder einzelne von uns, die wir den Rest der Nacht über nicht mehr zum Schlafen kamen, versprach sich jetzt eine besondere Ausbeute von dem uns so hartnäckig versperrten Ort: Dr. Stenger für seine »alten Töpfe«, wie Mr. Harper geringschätzig das Aufstöbern indianischer Altertümer nannte, Professor Wagemann für seine Studien der Völkerkunde, Mr. Harper für seine Orchideensammlung und seine »epochalen« Zeitungsenten, die er so gern auffliegen ließ. Und mir selbst mußte gewiß jeder weiße Fleck auf der Landkarte an sich schon ein – Eldorado sein. Antonios Bemerkung, daß die verlorenen Urwaldgräber noch nie von weißen Männern gesichtet worden seien, hatte gezündet, wenn sie auch nichts anderes war als eine Bestätigung dessen, was uns schon die Leute in San Pedro de Arimenas und in Orocué gesagt hatten.

»Und vor allem«, sagte Herbert Stenger, »müssen wir unseren feigen Feinden ihre Niedertracht heimzahlen.«

»Ganz schön«, nickte Mr. Harper. »Aber was werden dazu Ihre Schmökerhelden sagen, die alles Böse mit Gutem vergelten und vor lauter Ehrlichkeit und Edelmut triefen?«

»Meine Schmökerhelden und Vorbilder sind das nicht!« lautete die mit besonderer Entschiedenheit gegebene Antwort, so daß der leise, spöttische Zug auf den Lippen des Amerikaners verschwand. »Von solchen Leuten haben Sie gesprochen, nicht ich. Und da wir schon wieder von der Ehrlichkeit reden, so lassen Sie sich von einem deutschen Jungen sagen, Mr. Harper, daß wir auch ein ehrliches Hassen kennen. Wenn es Ihnen Spaß macht, können Sie das noch heute Ihren verehrten Landsleuten funken!«

»Oohla ... oohla!« Mr. Lear Harper gebrauchte unwillkürlich, den kecken Sprecher verdutzt ansehend, den Bremsruf, den er ausstoßen mochte, wenn ihm die jungen Pferde durchgingen. »Nur nicht gleich so – wie sagt man in Germany? – so ... so kratzbürstig! Sie täten gut, noch ein wenig zu schlafen, junger Mann.«

»Danke, Mr. Harper. Und im übrigen galt meine ›Kratzbürstigkeit‹, wie Sie so schön sagen, selbstverständlich den südamerikanischen Bösewichtern. Oder dachten Sie etwas anderes?«

»Ich? O yes, Mr. Stenger ... ich habe mir gedacht, daß Sie abgeben einen regelrechten Slingel! ...«


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