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»Daß es auf der ganzen Welt keine zwei Lebensberufe gibt, die größere Ähnlichkeiten aufweisen als die des Bartenders und des Irrenarztes, wird nur von Psychiatern und Barmixern ernstlich bestritten werden. Aber das beruht ausschließlich auf verletzter Berufseitelkeit. Der Irrenarzt wünscht nicht mit einem Bartender verglichen zu werden und der Barmixer nicht mit einem Psychiater. Und doch ist die Ähnlichkeit unverkennbar für jeden, der Augen hat, um zu sehen. Was tut der Psychiater den lieben langen Tag anderes als den Ergüssen von Narren zuzuhören und die Diagnose zu stellen? Und was tut der Barmann den lieben langen Tag, wenn nicht genau dasselbe? Man muß blind sein, um die Übereinstimmung nicht zu sehen.«
So dachte Doktor Zimmertür, während er auf einem Stuhl in der Bar des Griechen Achilles in Mentone hockte und einem kleinen wohlgemästeten Krammetsvogel glich, den man auf den Spieß gesteckt hat. Er dachte es, während er über den Rand seines Achilles-Cocktails in den Barspiegel starrte, dieses speculum vitae humanae. Und der Anlaß, daß er dies dachte, waren drei Herren, die auf den Stühlen in seiner Nähe hockten und sich gegenseitig in scherzhaften Bemerkungen überboten, ohne Rücksicht auf ihn und ohne Rücksicht auf den Bartender Theodoros zu nehmen. Dieser war der Bruder des Besitzers der Bar und, so eigentümlich dies auch klingt, taubstumm. Aber seine Fähigkeit, von den Lippen abzulesen, machte ihn jedem andern Bartender der Welt ganz ebenbürtig. In diesem Falle hatte er vor dem Doktor den Vorteil voraus, daß er von den Kunden und ihren Witzen nur insofern geniert wurde, als er sie ihnen vom Munde ablas, während der Doktor durch das Medium zweier Sinne in Mitleidenschaft gezogen wurde. Er konnte überhaupt nicht aus dem Bannkreis des Humors der drei Herren kommen, wenn er nicht wegging. Und draußen stürzte der Regen unter den prasselnden Ohrfeigen eines verspäteten, aber wütenden Maimistrals herab.
»Theodoros!« rief einer der Gäste, indem er eine Anekdote beendete, die von seinen Freunden mit Schweigen aufgenommen wurde. »Hast du den Witz verstanden?«
Theodoros antwortete nicht.
»Theodoros! Geben Sie mir ein Side-car!«
Theodoros servierte sofort ein Side-car.
»Du bist ein Schlaumeier, Theodor!« stellte der scherzhafte Kunde fest. »Du hörst nur, wenn es dir paßt!«
»Aber er hat eine gute Seite,« wendete der Nachbar des Witzboldes ein. »Er klatscht nicht unnötig!«
»Nein,« fügte der Dritte der Gesellschaft hinzu. »Er ist beinahe ebenso schweigsam wie der Mann, der unter dem Pantoffel stand.«
Diese Replik spornte die Lachmuskeln der drei Freunde zum höchstmöglichen Leistungsgrad an. Sie lachten, bis sie weinten. Sie kugelten sich geradezu vor Amüsement, so daß ihre Stühle umzukippen drohten. Endlich verstummten sie und wischten sich die Tränen aus den Augen. Aber in derselben Sekunde, in der ihre Blicke sich im Barspiegel begegneten, brach es wieder los. Die Lachsalven dröhnten, so daß man glauben konnte, das Dach würde einstürzen. Der Doktor hörte mit einem Interesse zu, das er sich gar nicht zu verbergen bemühte und das sie übrigens nicht im geringsten zu genieren schien. Was hatte diesen Zyklon entfesselt? Eine gewöhnliche Anspielung auf jemanden, der unter dem Pantoffel stand! Freilich wußte er seit langem, daß ein Franzose nur eine Art von Witz goutiert, nämlich die, die sich auf die Erotik und was damit zusammenhängt, bezieht, aber es war doch immerhin schwer, eine Heiterkeit wie diese hier auf solche Weise zu erklären. Dann erinnerte er sich, daß ein berühmter französischer Philosoph das Lachen als eine soziale Geste definiert hatte. Die Definition paßte sicher oft auf ein Lachen – in Frankreich. Aber dieses Lachen war, was immer es sein mochte, bestimmt keine Höflichkeitsgeste! – »Nun,« dachte er, als die Heiterkeit sich endlich legte, »sie haben natürlich einen privaten Jargon, dessen Anspielungen sie um so lebhafter goutieren, als kein anderer sie versteht.«
Nach der großen Kraftentladung senkte sich Ruhe über die drei. Sie steckten die Köpfe zusammen und begannen, in gedämpftem Ton über irgendeine Angelegenheit zu sprechen, die offenbar nicht an ihren Sinn für Humor appellierte. Ab und zu guckten sie auf, um zu sehen, ob Theodoros etwa vom Munde ablas. Aber Theodoros stand beim Eingang und sah gähnend in den Platzregen hinaus. Dem Doktor, der anscheinend in die ›Haagsche Post‹ vertieft dasaß, schenkten sie nicht die geringste Aufmerksamkeit. Im Schutze der Zeitung widmete der Doktor hingegen ihnen ein recht eingehendes Studium. Es waren drei Typen, die des Interesses nicht entbehrten.
Der erste, der Mann mit den maßlos komischen Geschichten, sah am ehesten nach einem Handelsreisenden aus. Er war sehr vierschrötig gebaut und mußte ein reiner Meisterringer sein, wenn seine Arme und sein Oberkörper hielten, was sie versprachen. Er hatte rotes Haar, einen roten gestutzten Schnurrbart und kleine blitzende Schweinsäuglein, die beständig auf der Jagd nach versteckten Anspielungen zu sein schienen. Sein nächster Nachbar war ein kleiner schwarzäugiger Mann mit einem Blick, der stets abschweifte. Er war so übertrieben elegant, wie es in der Regel nur ein Tänzer oder ein Varietékomiker ist. Wenn er einem dieser Lebensberufe angehörte, so vermutlich dem letzteren, denn er war zu rundlich, um bei den Damen Erfolg zu haben. Hingegen trug der Dritte in der Gesellschaft, der übrigens wie ein Italiener aussah, deutlich den Berufsstempel des Tänzers. Wenigstens sieht man selten außerhalb von Italien solche Wespentaillen und so enge Jackenärmel. Er hatte blaßgrüne Augen in einem olivefarbenen Gesicht und geöltes, schwarzlockiges Haar. Es unterlag keinem Zweifel, daß er sich selbst für einen Adonis hielt. Aber jedesmal, wenn er den Blick vom Spiegel abwandte, sah der Doktor unwillkürlich nach, ob er nicht eine Spur auf der Glasscheibe hinterlassen hatte – wie eine Schnecke oder ein Reptil.
Nun erhoben sie die Stimmen wieder so, daß der Doktor einige Worte auffangen konnte. Es war der ›Tänzer‹, der Mann mit den engen Ärmeln, der sprach:
»In gewisser Weise könnte man wünschen, daß man ihn bei der Hand hätte.«
»Wen?« fragte sein Freund mit dem unruhigen Blicke.
»Du weißt schon, wen ich meine – den Mann, der – der ...«
»Den Mann, der unter dem Pantoffel steht!« explodierte der rothaarige ›Handelsreisende‹. »Ah – hahaha, ah – hahaha! Nein, der wird noch mein Tod sein! Ich sage euch: der wird noch mein Tod sein!«
Seine Freunde nahmen diese Mitteilung mit Gemütsruhe auf. Diesmal stimmten sie mehr mechanisch in seine Heiterkeit ein. Der Mann mit den engen Ärmeln rümpfte geradezu die Nase. Das Gespräch glitt wieder in eine flüsternde Tonlage herab, die es erst einige Zeit später verließ, worauf der Doktor zum drittenmal in die Lage kam, ein paar Brocken aufzufangen.
Diesmal drehte sich das Gespräch offenbar um irgendeinen teuren Dahingeschiedenen, dessen Namen man einen Erinnerungskranz flocht.
»Da kann man sagen, was man will,« sagte der Mann mit dem unruhigen Blick, »ein ekliges Ende hat er genommen – beinahe noch ekliger als der andere – ihr wißt schon, wen ich meine.«
»Schon wieder er!« schrie der Mann mit dem roten Haar. »Der Mann, der unter dem Pantoffel stand? Darf ich fragen: hat der ein trauriges Ende gefunden? Ich frage euch, wie viele finden ein solches Ende wie er?«
Sie lachten, aber antworteten nicht. Der Rothaarige stellte fest, daß der Mann, der unter dem Pantoffel stand, ein weit, weit besseres Ende gefunden hatte, als er verdiente. Die Konversation stockte, und kurz darauf zahlten sie und gingen.
Der Doktor blieb sitzen und ließ seine Gedanken, die gerade nichts anderes zu tun hatten, um sie und ihren Freund kreisen, den Mann, der unter dem Pantoffel stand. Der Doktor dachte:
»Ein deutscher Gelehrter hat alle Anekdoten der Welt auf eine Anzahl von 48 reduziert, die sich via Urgermanisches, Sanskrit und Urindoeuropäisches auf zwölf Grundanekdoten einschränken lassen. Ich bezweifle nicht, daß eine dieser Uranekdoten eben von Männern handelt, die unter dem Pantoffel stehen. Aber ich möchte wissen, ob irgendein Mensch, selbst in dem Heimatland dieses Professors und dem der ›Fliegenden Blätter‹ so herzlich über Witze dieser Kategorie lacht, wie die drei romanischen Herren, denen ich eben zuhörte. Ich bezweifle es im höchsten Grade!«
Er rief Theodoros heran und fragte ihn, ob er wisse, wie die drei Witzlinge hießen. Theodoros wußte es. Sie hießen Laurence, respektive Fayard und Ruggieri, und sie wohnten alle drei in Mentone. Monsieur Laurence – das war der Rothaarige – war nicht Handelsreisender, sondern Antiquitätenhändler. Monsieur Fayard – das war der Mann mit dem unruhigen Blick – war nicht Varietékünstler, sondern Kellner in einem der großen Hotels. Monsieur Ruggieri aber – der Mann mit dem Reptilblick und den schmalen Ärmeln – war Tänzer, ganz wie der Doktor vermutet hatte. Wie ein Antiquitätenhändler, ein Mann in geachteter Stellung, so vertraut mit einem Kellner und einem Eintänzer sein konnte? Ach, aber Monsieur Laurence war nicht immer sein eigener Herr gewesen! Er war zuerst Kommis bei einem holländischen Antiquitätenhändler in der Stadt und dann sein Kompagnon, bis der Holländer in seine Heimat zurückfuhr und Laurence das Geschäft übernahm.
Kurz darauf hörte es auf zu regnen, und Theodoros' Versuchen widerstehend, ihn in eine politische Debatte über Venizelos und die Vorzüge des Absolutismus gegenüber der Demokratie zu verwickeln, zahlte der Doktor und ging spazieren.
Er schlug den Weg ein, der durch das Gorbiotal bergauf führt. Die Bäume leuchteten blank nach dem Regen. Die Wolken glitten mit dem abnehmenden Strom des Mistral über den Himmel. Der starke Duft von Eukalyptusbäumen und Pinien mischte sich mit den süßen Honigströmen der Mimosen. Der Doktor weitete die Brust und schöpfte tief Atem. Dies war köstlicher, als auf Straßen von Gold zu wandeln.
Unter ihm brauste der angeschwollene Gorbio durch sein felsiges Bett. Je höher er stieg, desto länger wurden die Zwischenräume zwischen den Häusern. Während der untere Teil des Tales eine Vorstadt von Mentone war, eine sehr bescheidene Vorstadt, lagen hier oben Bauernhöfe zwischen hellgrünen Terrassen, die Wein und Weizen trugen. Schließlich hörten auch die Bauernhöfe auf. Weit und breit war keine menschliche Wohnstätte zu sehen. Hier und dort sah man einen Rücken, der sich über einen Spaten beugte, aber das war dann irgendein Landarbeiter unten aus dem Tale.
Dann kam eine kleine Villa und dann wieder eine. Wenn es Sommer wird, zieht der Teil der Stadtbevölkerung, der in der Lage dazu ist, ins Gebirge hinauf, denn man hat hier den festgewurzelten Glauben, daß es ungesund ist, sich in den warmen Monaten in der Nähe des Meeres aufzuhalten. Hier lag eine Villa Duroy. Der Doktor erinnerte sich seines Freundes, des Elektrikers, und sagte sich, daß sein Geschäft gut gehen mußte! Hier lag eine Propriété Lemoine, offenbar dem Materialwarenhändler gehörig. Und hier lag wahrhaftig ein Chalet Laurence. Laurence! War das der Mann, den er heute nachmittag in der Achilles-Bar gesehen hatte? Schwer zu sagen. Der Name war ja nicht selten. Der Blick des Doktors glitt gleichgültig über eine Villenfassade mit vielen Vorsprüngen und Balkons; nicht einmal einen Turm hatte Herr Laurence sich versagt! Der Garten war hingegen vernachlässigt. Er wollte schon weitergehen, als er etwas erblickte, das ihn innehalten ließ.
Monsieur Laurences Schloß war klein, aber gab ihm nichtsdestoweniger Gelegenheit, allen feudalen Passionen und Instinkten zu frönen! Es hatte sowohl Türme wie Balkons. Aber Laurence beschützte auch andere Musen als die der Architektur, er förderte Praxiteles' und Rodins Kunst, er hatte eine Statue in seinem Garten! Sie stand in einer Ecke vor einer künstlichen Grotte, ebenfalls eine Manifestation der Schloßherrninstinkte des Besitzers. Es war eine männliche Gestalt in Lebensgröße oder eigentlich Überlebensgröße. Das Motiv war barock; der Mann war dargestellt, wie er sich niederhockte und gleichsam in groteskem Entsetzen aufblickte. Aus der Ferne war es nicht ganz leicht festzustellen, was er sah. Es war irgendein Gegenstand, der über seinem Kopfe schwebte, nur zur Hälfte aus dem Block gemeißelt, in der Art, die Rodin eingeführt hat – ein länglicher Gegenstand, vermutlich irgendein Symbol. Der Doktor strengte seine Augen zum äußersten an, um die Art des Symbols zu erfassen, und plötzlich wurde seine Mühe belohnt. Er sah, was es war, was den gemeißelten Mann in komischem Entsetzen hinaufstarren ließ. Und obgleich die Entdeckung, als sie kam, so banal war, daß sie ihn laut auflachen ließ, lief ihm dabei zugleich ein unwillkürlicher Schauer über den Rücken.
Das Symbol, zu dem die Statue aufsah, war ein Pantoffel!
Ein Pantoffel, nichts anderes! Unbestreitbar ein Symbol, das viele lebende Männer mit Schrecken erfüllt hat – aber nicht minder unbestreitbar ein Symbol, für dessen Verwendung in der Bildhauerkunst es nicht viele Beispiele gab.
Man mochte von Monsieur Laurence sagen, was man wollte, eines stand fest: er war nicht der Mann, der einen Spaß auf die leichte Achsel nahm! Wenn er sich für einen bestimmten Witz engagierte, so führte er ihn auch bis zu den äußersten Konsequenzen durch! Den ganzen Nachmittag hatte er sich über Anspielungen auf Männer, die unter dem Pantoffel stehen, vor Lachen gewälzt. Und wenn man nun zufällig an seiner Sommervilla vorbeikam – nunmehr war es unmöglich zu bezweifeln, daß es seine Villa war! – hat er eine Statue in seinem Garten, und was stellt sie vor? Einen Mann, der unter dem Pantoffel steht! Buchstäblich gesprochen: unter dem Pantoffel steht! Das war eine bewunderungswürdige Konsequenz. Das war eine neue Manifestation jener unerbittlichen Logik, die alles in Frankreich prägt, von der französischen Sprache bis zum Code Napoleon und einer Farce in den Boulevardtheatern. Eine solche Farce kann von der verrücktesten Idee, die es nur gibt, ausgehen, aber wenn diese Idee einmal festgelegt wurde, wird sie mit unerbittlicher Konsequenz durchgeführt, ohne den geringsten Verstoß gegen die Regeln der Logik. Monsieur Laurence war ein echter Sohn seines Landes, und man mußte vor seinem Humor den Hut ziehen ...
Der Doktor stockte jäh in seinem Gedankengang. Erst jetzt fiel ihm etwas ein, das Monsieur Laurences Humor nicht nur imponierend, sondern beinahe überwältigend erscheinen ließ. Der Ausdruck, der den Antiquitätenhändler und seine zwei romanischen Freunde einen ganzen Regentag lang zu so donnernden Lachsalven verlockt hatte – dieser Ausdruck existierte im Französischen gar nicht! Man sagt von einem allzu sanftmütigen Ehemann in Frankreich nicht, daß er unter dem Pantoffel steht. Man sagt, er läßt sich an der Nase herumführen, man sagt, seine Frau hat die Hosen an, aber niemand kommt auf die Idee anzudeuten, daß ein Pantoffel über seinem Haupte schwebt. Sollte die Französin sich gewisse bestimmte Freiheiten nehmen, bekommt der Mann einen gewissen bestimmten Spitznamen, dessen melodische Zweisilbigkeit die Gedanken zum Gesang des Kuckucks führt, und man placiert die Geweihkrone des Hirsches über seiner Stirn – aber keinen Pantoffel, nein, nie einen Pantoffel! Der Pantoffel ist ein germanisches Attribut, sogar ein kontinental-germanisches, denn die englischen Ehemänner lassen sich von Hühnern picken, aber sie nehmen nicht unter einem Slipper Platz.
Wie konnten sich dann Monsieur Laurence und seine Freunde so über einen Witz amüsieren, der ihnen unendlich ferne liegen mußte? Und wie konnte Monsieur Laurence selbst in seiner Schätzung des germanischen Humors so weit gehen, daß er ihm in seinem eigenen Garten ein Denkmal errichtete?
Das war sehr sonderbar! Es war ebenso sonderbar, wie wenn man in einem deutschen Garten die Statue eines Mannes gefunden hätte, der von Hühnern gepickt wird, oder wenn ein englischer Park die Statue einer Frau gezeigt hätte, die die Hosen ihres Mannes trägt!
Der Doktor starrte und starrte die zusammengeduckte Gestalt unter dem Pantoffel an. Aus was für einem Material war sie eigentlich ausgehauen? Marmor war es nicht, soviel stand fest. War es Sandstein? Das Material glich Sandstein, aber war es wahrscheinlich doch nicht. Sandstein ist zu weich für das alles verwitternde Rivieraklima. Mit einem Male sah er, welches Material es war. Und diese Entdeckung steigerte sein Interesse für Monsieur Laurences Statue noch mehr.
Die Statue war aus Zement! Ganz einfach aus Zement.
Er wußte, daß man in ultramodernen Bildhauerkreisen begonnen hatte, sich auch dieses Materials als Ausdrucksmittel zu bedienen. Aber es wunderte ihn unleugbar, es hier angewendet zu finden! Monsieur Laurences Villa und sein Garten machten einen alles eher als modernen Eindruck. Sie waren so altmodisch kleinbürgerlich als nur möglich. Aber nichtsdestoweniger stand eine Tatsache fest: Monsieur Laurence hatte in seinem Garten eine Statue aufgestellt, und sie war aus Zement. Das Material der Statue war nicht so eigentümlich wie die Stoffwahl, aber immerhin – immerhin ... konnte es Sparsamkeit sein, die die Wahl diktiert hatte? Vermutlich – aber warum in diesem Fall überhaupt eine Statue aufstellen?
Die Frage war nicht zu beantworten, und genau genommen ging sie ihn auch nichts an. Nichtsdestoweniger beschloß er, gelegentlich Theodoros über Monsieur Laurence und seine Gewohnheiten zu befragen. Und nachdem er diesen Beschluß in seinem Kopfe notiert hatte, schlenderte er langsam wieder talabwärts.
Er vergaß jedoch sofort diesen Entschluß, als er nach Hause in sein Hotel kam. Da hatte ein Einbruch stattgefunden! Nicht bei ihm selbst, aber bei einer der englischen Damen, die da wohnten, einer Frau von zweiundsechzig Jahren, die aussah, als wäre sie vierzig, und sich kleidete, als wäre sie neunzehn. Sie war ein Original, hatte den größten Teil ihres Lebens in Indien verbracht, eifersüchtig bewacht von einem Manne, der nicht weit davon entfernt war zu verlangen, daß sie den Purdah anlegen solle wie die einheimischen Frauen. Nach seinem Tode war sie an die Riviera geeilt; und wenn sie da seinem Wunsche gefolgt war und sich in Schleier gekleidet hatte, so war es nicht gerade in der Art, wie er es sich gedacht. Sie war die gegebene Ballkönigin, wo sie sich auch zeigte, denn sie tanzte mit dem Abandon einer Spanierin und gab den Tänzern Trinkgelder wie eine Begum. Der ganze Saal klatschte im Takte, wenn sie erschien, und die meisten andern Paare stellten den Tanz ein. Übrigens war sie sich ganz klar darüber, was man von ihr dachte, aber es machte ihr Spaß, die Parasiten vor dem Gelde kriechen zu sehen. Und das taten sie! Wo sie ging und stand, folgten ihr galante Kavaliere, die hingerissen ihre vollen Handgelenke küßten, und das Rückgrat der Hoteldirektoren erweichte sich zu ökonomischer Tabes, sowie sie ihr Papageienprofil erblickten.
An diesem Nachmittag war sie das Zentrum des Five o'clock-Tanzes im Hotel Semiramis gewesen, wo sie wohnte. Die Eintänzer hatten sie umschwärmt, wie die Bienen den Honigtopf. Der ganze Saal hatte ihr abwechselnd applaudiert – wenn sie hinsah – und sich vor Lachen gewälzt – wenn sie den Rücken drehte – und sie hatte sich königlich unterhalten.
Als der Tanz aus war und sie in ihr Appartement hinaufkam, konstatierte sie jedoch, daß alle Juwelen, die sich da befunden hatten, in ihrer Abwesenheit gestohlen worden waren. Aber was sie mehr schmerzte als der Einbruch, war, daß man gleichzeitig von ihrer Person gestohlen haben mußte, während sie tanzte – eine Brosche mit Diamanten und ein Armband aus Jade. Sie konnte nicht bestimmt sagen, daß sie diese Schmuckgegenstände getragen hatte, aber sie glaubte es, und ihr verrücktes Herz strömte von Bitterkeit über.
»Diese miserable Bagage!« rief sie. »Aus dem Gelde mache ich mir nichts, aber die Art! Ich bezahle sie, und sie lachen mich aus. Bitte sehr! Das ist ihr Recht! Aber mich bestehlen, während ich bezahle, das ist zu gemein. Das ist ein schmutziges Land!«
Das ganze Hotel verbeugte sich unterwürfig zustimmend. Vom Direktor bis zum Pikkolo. Sie erblickte Doktor Zimmertür und unterbrach sich.
»Da ist ja der kleine Sebulon! Kommen Sie her, Sebulon, und trösten Sie mich. Sie sind ja so eine Art Gedankenleser. Können Sie nicht den Dieb für mich ausfindig machen?«
»Wenn ich es kann,« krächzte der Doktor, »hoffe ich, daß Mylady ihn so behandeln, wie ein Dieb in Bikanir behandelt wird.«
»Wie denn, Sebulon?«
»Ich habe gehört, daß man sie mit spanischem Pfeffer vollstopft und sie vor dem Stadtbrunnen krummschließt. Ist das nicht so?«
»Ich habe nie von dieser Strafe gehört, aber für die Leute hier in der Gegend wäre sie nicht zu hart. Die sind alle miteinander Diebe. Alle miteinander!« rief Lady McJustin und durchbohrte den Kreis bekümmerter Hotelbediensteten mit ihren blitzenden Augen.
Alle verbeugten sich zustimmend vom Direktor bis zum Pikkolo. Etwas besänftigt wandte sie sich an den Doktor.
»Helfen Sie mir jetzt, Sebulon, seien Sie nett! Sie haben ihre Detektivs hergeschickt. Größere Esel habe ich in meinem Leben nicht gesehen. Sie wollten wissen, wie mein Vater geheißen hat und wie meine Mutter geheißen hatte und wann sie geboren sind und wann ich geboren bin – aber als ich sie fragte, wen sie im Verdacht hätten, da blieben sie mir die Antwort schuldig. Nehmen Sie die Diebe fest, Sebulon, hören Sie, oder erwischen Sie wenigstens den, der mich bestohlen hat, während wir tanzten.«
»Ich werde tun, was ich kann,« krächzte der Doktor, der wirkliche Sympathie für das alte Original empfand. »Aber einige Einzelheiten muß ich haben, Mylady – nein, keine Geburtsjahre, keine Geburtsjahre!«
Sie gab ihm so viele Aufschlüsse, als sie in ihrer exaltierten Stimmung konnte, aber viele waren es nicht. Sie hatte mit einem halben Dutzend Eintänzer aller Nationen getanzt, und sie schmetterte dem Doktor ihre Namen ins Ohr – Pierre, Georges, William, Iwan, Alonzo, ja sogar einer, der den klassischen Namen Orestes trug. Aber sie hatte keinen von ihnen im Verdacht! Alle waren es so nette Jungen, wirklich, versicherte sie jedesmal, wenn der Doktor versuchte, die Sprache auf einen bestimmten der sechs zu bringen. Schließlich verabschiedete sich der Doktor mit dem Gefühl, daß er ebensogut sein Kartenspiel befragen konnte, wer der Dieb war. Aber er versprach, sein Bestes zu tun.
Gegen Abend trat er in die Achilles-Bar, um sich die nötige Bettschwere zu holen. Außerdem fiel ihm plötzlich ein, daß er Theodoros noch etwas zu fragen hatte. Aber diese Frage mußte er für später verschieben, das sah er gleich. Denn der Herr, dem die Frage galt, saß in Gesellschaft seiner zwei Freunde selbst in der Bar. Aber ein größerer Unterschied als der zwischen der Gesellschaft, wie sie jetzt war und wie sie früher am Tage gewesen, ließ sich nicht ausdenken!
Damals waren sie in ihrer Heiterkeit geradezu stürmisch gewesen. Nun saßen sie stumm wie ägyptische Priester um einen Tisch, der nur drei Tassen Kaffee trug. Mit halbschlummernden Pupillen starrten sie vor sich hin. Sie glichen, durchblitzte es den Doktor, drei Raubtieren, die sich sattgefressen haben.
Er beobachtete sie im Schutze seiner Hand, die er über die Augen gelegt hatte. Plötzlich brach der rothaarige Antiquitätenhändler das Schweigen. Er wandte sich an seinen Freund, den Kellner, und fragte:
»Eine Zigarre?«
Der Mann mit dem unruhigen Blick schüttelte den Kopf. Der Rothaarige wendete sich an den Dritten in der Gesellschaft und sagte:
»Zeit, zu Bett zu gehen, Orestes?«
Der Italiener nickte. Sie zahlten und gingen. Aber der Doktor, der noch vor einem Augenblick Lust gehabt hatte, zu Bett zu gehen, war jetzt plötzlich hellwach. Zwei Gedanken kreuzten blitzschnell sein Hirn. Am selben Morgen hatte Theodoros gesagt, daß der Mann mit den unruhigen Augen Kellner in einem der großen Hotels war. Sollte das möglicherweise im ›Semiramis‹ sein?
»Theodoros,« rief er. »Kommen Sie her!«
Der taubstumme Bartender kam. Seit dem Abenteuer mit dem Kinodrama hegte er einen beinahe abergläubischen Respekt vor dem kleinen Doktor. Man konnte ohne Übertreibung sagen, daß er jedes Wort, das über die Lippen des Doktors kam, mit den Augen verschlang.
»Theodoros!« sagte der Doktor. »In welchem Hotel ist unser Freund Fayard Kellner? Vielleicht im ›Semiramis‹?«
Der Grieche nickte eifrig. »Ja.« Seine Augen glänzten in der Erwartung eines neuen Abenteuers.
»Sonderbar,« murmelte der Doktor. »Ich habe ihn nie gesehen, und ich wohne doch im Hotel!«
Theodoros kritzelte einige Worte auf ein Blatt Papier. Der Doktor las:
»Er ist Etagenkellner – erster Stock.«
»Das erklärt die Sache,« sagte der Doktor. »Ich wohne ganz bescheiden im vierten. Im ersten Stock wohnt, wie ich das Vergnügen habe zu wissen, Lady McJustin. Ist es zuviel gesagt, daß dieser Zufall wie ein Gedanke aussieht? Ein Etagenkellner hat, wenn ich mich nicht irre, einen Hauptschlüssel, der zu allen Schlössern paßt. Aber ...«
Er versank in Grübeleien.
»Herr Laurence hatte den Mann mit den schmalen Ärmeln tatsächlich Orestes genannt. Ich hörte es selbst. Theodoros hat gesagt, daß Orestes Tänzer ist. Soweit ist alles klar. Aber ...«
Wieder versank er in Grübeleien. Der junge Barmixer starrte ihn an, wie er die Eichen Dodonas angestarrt haben könnte.
»Aber wenn die Sache auch insoweit klar scheint, so ist das nur scheinbar. Monsieur Laurence ist ja ein geachteter Geschäftsmann hier in der Stadt, und das Geschäft ist nicht einmal sein eigenes! Er ist ja nur der jüngere Kompagnon eines Holländers, eines Landsmannes von mir ... Ich kenne meine Landsleute hinlänglich, um zu wissen, daß keiner von ihnen je wagen würde, sich auch nur in annähernd derartige Geschäfte einzulassen. Nein, nie! Er hätte ja alles zu verlieren und nichts zu gewinnen.«
Zum drittenmal verstummte er. Plötzlich schlug er mit der Hand auf den Tisch.
»Anderseits!« rief er. »Anderseits, wenn mein Landsmann und sein Kompagnon, Monsieur Laurence, sich entschlossen hätten, die Ehrlichkeit über Bord zu werfen, wären sie ja eine beinahe naturnotwendige Ergänzung der Herren Fayard und Ruggieri! Ein Mann ist Antiquitätenhändler – das heißt, daß er zum Beruf hat, Waren zu verkaufen, deren Ursprung zu verbergen er alle Möglichkeiten hat! Und ...«
Ein neuer Gedanke fügte sich zu den vorhergehenden und erfüllte seine Augen mit strahlendem Glanze. Wenn die Idee richtig war, so löste sie zugleich das Problem des Vormittags und des Nachmittags. Dann erklärte sie sowohl die unbändige Heiterkeit in der Bar, wie die eigentümlichen Ereignisse im ›Semiramis‹.
»Theodoros!« rief der Doktor. »Sagen Sie mir eines: Monsieur Laurences älterer Kompagnon, der Holländer, ist der verheiratet?«
Der Barmixer nickte eifrig ja. Dann zeichnete er ein Kreuz.
»Ich verstehe, er ist Witwer! Wissen Sie etwas über seine Ehe, Theodoros?«
Der Barmixer schmunzelte verschmitzt und schrieb ein paar Worte auf ein Stück Papier:
»Madame hatte die Hosen an!«
Der Glanz in den Augen des Doktors nahm zu.
»Habe ich es mir nicht gedacht! Nur, daß man die Sache auf Holländisch anders ausdrücken würde! Dann würde man sagen, daß er – aber das ist egal. Erzählen Sie mir noch mehr von dem Manne, dessen Frau die Hosen anhatte, Theodoros! Ist seine Firma geachtet?«
Der Barmixer nickte, aber lächelte dabei unschlüssig.
»Man sagt,« schrieb er auf das Papier, »daß nicht alle seine Sachen gleich alt sind.«
»Und sicherlich mit Recht!« erwiderte der Doktor. »Alle Sachen in einem Antiquitätengeschäft dürfen ganz einfach nicht gleich alt sein. Aber sagen Sie mir jetzt, Theodoros, wissen Sie eines? Wissen Sie, ob er antike Statuen verkaufte?«
Die Augen des Taubstummen erweiterten sich, bis sie beinahe Entsetzen ausdrückten. »Ja,« deutete er und schrieb dann:
»Woher wissen Herr Doktor das? Man sagt ...«
Die Feder stand still.
»Weiter!« ermunterte der Doktor. Er fühlte, wie der Schweiß an seinem Haaransatz hervorsickerte – oder dort, wo einstmals sein Haaransatz gewesen war. »Weiter, Theodoros!«
»Man sagt,« schrieb die Feder, »daß es Laurence war, der ihm seine Statuen verfertigte und daß er ihn darum zum Kompagnon nehmen mußte. Sonst ...«
Die Feder hielt inne. Der Barmixer sah sich hastig um, als fürchtete er, Monsieur Laurence über seine Schulter mitlesen zu sehen. Als er sah, daß der Doktor alles gelesen hatte, zerriß er das Papier hastig.
»Sie brauchen sich nicht zu fürchten, Theodoros!« sagte der Doktor. »Ich glaube, daß ich – nein, noch etwas! Wie lange ist es her, daß der Holländer in seine Heimat zurückfuhr?«
Der Barmixer hob einen Finger.
»Ein Jahr? Gut! Und seither hat man nichts von ihm gehört?«
Der Taubstumme schüttelte den Kopf.
»Herr Laurence schickt ihm natürlich seine Einkünfte von hier aus?«
Der Bartender nickte.
»Das habe ich mir gedacht! Noch eine letzte Sache, Theodoros, bevor ich gehe: wie hieß der Holländer?«
»Cornelius Heyermann,« schrieb die Feder, und mit diesem Zettel in der Tasche verschwand der Doktor in die Nacht hinaus.
Der Polizeikommissar starrte Doktor Zimmertür mit einem Mißtrauen an, das er gar nicht bemüht oder auch fähig war zu verbergen.
»Aber das ist ja der reine Wahnwitz, den Sie da von mir verlangen!« rief er. »Der reine, glatte Wahnwitz, nichts anderes!«
»Darf ich fragen, Herr Polizeikommissar, haben Sie irgendwelche Spuren in der Sache mit Lady McJustins Juwelen?«
Der Kommissar errötete vor Ärger.
»Nein!«
»Man kann also getrost annehmen,« fragte der Doktor, »daß da ganz gerissene Diebe im Spiele waren?«
»Ja! Aber ich sehe nicht ein ...«
»Geradeso,« fuhr der Doktor fort, »wie bei dem ersten Diebstahl im Hotel Semiramis, bei dem die Baronin Beaujol-Thierry fast um ihren ganzen Schmuck kam, und der auch nicht aufgeklärt wurde? Oder wie bei dem Einbruch in der Villa Miramar, wo Mrs. Bannerman Gold- und Silbergegenstände im Werte von dreitausend Pfund verlor und der gleichfalls ...«
Der Kommissar unterbrach ihn erregt.
»... Und der gleichfalls ungeahndet blieb! Ganz richtig! Aber was ich Sie frage, mein Herr, ist: Was hat all dies mit Ihrem Wunsche zu tun, einen Hausfriedensbruch bei einem geachteten Bürger dieser Stadt zu begehen?«
»Der Zusammenhang ist ganz einfach,« erwiderte der Doktor. »Ich habe diesen Herrn im Verdacht, der Diebeshehler der Bande zu sein, die alle drei Einbruchsdiebstähle verübt hat – wenn man zwei Personen eine Bande nennen kann. Das französische Gesetz gestattet die Hausuntersuchung bei einem Verdächtigen. Aber ich bin überzeugt, daß eine Hausvisitation gar kein Resultat ergeben würde. Die Betreffenden haben sich gegen etwas Derartiges gewiß gesichert! Aber was ich nicht nur vermute, sondern wovon ich steif und fest überzeugt bin, ist, daß eine Hausvisitation, wie ich sie Ihnen vorgeschlagen habe, den vollkommen entscheidenden Beweis dafür liefern würde, was und wer er ist. Sie können es mir ganz einfach nach allem, was ich Ihnen bewiesen habe, nicht abschlagen, sie vorzunehmen!«
»Doch!« versicherte der Kommissar. »Und ich wüßte gar nicht, daß Sie irgend etwas bewiesen haben.«
»Ich habe bewiesen,« sagte der Doktor mit Engelsgeduld in der Stimme, »daß Herr Cornelius Heyermann vor genau einem Jahre aus Mentone verschwunden ist, ohne von irgend jemandem Abschied zu nehmen.«
»Er kann es eilig gehabt haben!«
»Hat man es so eilig, wenn man eine Stadt für ein Jahr oder länger zu verlassen gedenkt? Utrecht ist sein Geburtsort. Dort hat man nichts von ihm gehört, wie dieses Telegramm der Detektivpolizei mitteilt. Lebende Verwandte scheint er nicht mehr zu haben. Auf eine Annonce in allen großen holländischen Zeitungen, in der Nachrichten über Cornelius Heyermann erbeten wurden, haben vier oder fünf Geschäftsfreunde geantwortet. Keiner von ihnen hatte seit einem Jahr etwas von ihm gehört. Was geht daraus hervor?«
»Daß er die Geschäfte aufgegeben und sich ins Privatleben zurückgezogen hat,« stellte der Kommissar fest.
»Schließlich,« fuhr der Doktor fort, »gelang es mir, die Adresse seiner holländischen Bank auszukundschaften, und ich telegraphierte an sie. Sie hat seit einem Jahre nichts von ihm gehört und kein Geld für seine Rechnung aus Mentone erhalten. Was beweist das?«
»Daß er sich eine genügend große Reisekasse mitgenommen hat,« erwiderte der Kommissar mit einem Gähnen. »Sonst gar nichts.«
»Und also?« fragte der Doktor mit einem eigentümlichen Leuchten im Auge.
»Und also kann ich Ihnen das Recht zu der Untersuchung, die Sie wünschen, nicht gewähren – Menschenskind, was tun Sie denn da? Was haben Sie in dieser Tasche?«
»Nur dies,« sagte der Doktor und zog ein Paket aus der erwähnten Tasche. »Ich sah nämlich voraus, daß das Gesetz mir seinen Schutz verweigern würde, und darum beschloß ich, außerhalb des Gesetzes zu handeln. Als ich gestern abend die Antworten auf meine sämtlichen Telegramme in Händen hatte, und diese Antworten meiner Ansicht nach erschöpfend beweisen, daß meine Theorie über Cornelius Heyermanns Aufenthaltsort die einzig mögliche ist, begab ich mich in das Chalet Laurence, das im Gorbiotal liegt und Cornelius Heyermanns Kompagnon, Monsieur Laurence, gehört. Da beging ich jenen Hausfriedensbruch, den Sie mir verbieten wollen zu begehen, Herr Kommissar, und außerdem ein Sakrileg. Der Hausfriedensbruch war nicht riskant, da die Villa im Winter leer steht, und das Sakrileg hätte sich eventuell reparieren lassen – wenn es ein Sakrileg gewesen wäre! Dazu hätte man nur ein bißchen neuen Zement gebraucht. Im Garten des Chalet Laurence steht eine Statue. Sie stellt einen Mann dar, der sich voll Entsetzen unter einem Pantoffel zusammenduckt. Ich klopfte ihm mit Hilfe eines Meißels und eines Hammers den Kopf ab – erschrecken Sie nicht, Herr Kommissar, es ist nur ein Zementkopf – von außen!«
Während der Doktor die letzten Sätze etwas staccato vorbrachte, hatte er langsam das Paket aufgewickelt. Als der letzte Umschlag gefallen war, stieß der Kommissar einen Schrei des Entsetzens aus, denn er glaubte einen abgehauenen Menschenkopf zu sehen. Der Anblick des Zementgesichtes mit seinen komisch verzerrten Zügen beruhigte ihn wieder. Aber als der Doktor mit einer raschen Handbewegung den Kopf umdrehte und ihm dessen Inneres zeigte, wurde er bleicher als ein Leichnam. Es dauerte lange, bis er überhaupt sprechen konnte. Endlich murmelte er:
»Ich kannte Cornelius Heyermann nicht persönlich, und ob dieser Totenschädel und das übrige, was hier ist, seine sterblichen Reste sind oder nicht, müssen andere entscheiden. Eines ist sicher: ein Mord ist begangen worden, und der ihn begangen hat, kann kein anderer sein, als der diese Statue ausgehauen ...«
»Und sich diese Art ausgedacht hat, sich von einem lästigen Kompagnon zu befreien,« ergänzte der Doktor, »um das Geschäft in neuer Richtung zu erweitern – indem er als Diebeshehler für fingerfertige und unternehmende Freunde auftrat. Hätte er sich damit begnügt, seinen ermordeten Kompagnon in dem Zementblock schlummern zu lassen, wäre das Verbrechen vielleicht nie entdeckt worden. Aber als er den feuchten Zement um das erstarren sah, was einstmals Heyermann gewesen, erwachten künstlerische Instinkte in ihm, und er beschloß. Heyermann ein Monument zu setzen, das dauernder war als Kupfer! Nicht einmal, sondern hundertmal hatte er ihn darüber seufzen hören, daß er unter dem Pantoffel stehe. Der Ausdruck war ihm immer ungeheuer komisch vorgekommen, und – und das übrige wissen wir. Ich hoffe, daß die Hausuntersuchung, die Sie jetzt vornehmen werden, Herr Kommissar, gründlich genug sein wird, um auch die kleineren Dinge zutage zu fördern, die er verschwinden ließ – beispielsweise die Juwelen meiner Freundin Lady McJustin.«
»Sebulon!« sagte Lady McJustin. »Sie sind ein Zauberer! Wie haben Sie das gemacht?«
»Berufsgeheimnisse, Berufsgeheimnisse!« krächzte der Doktor.
»Man redete von einem Manne, der unter dem Pantoffel stand,« sagte die Lady. »Was ist das für ein Geschwätz?«
»Das weiß ich nicht,« gluckste der Doktor und verbeugte sich chevaleresk. »Ich weiß nur, daß, wenn ich unter irgendeinem Pantoffel stehen wollte, es der Ihrige sein müßte, Lady McJustin!«
»Schmeichler!« kicherte sie. »Aber ist es wirklich wahr, daß Orestes, der ein so netter Junge war ...«
»Es ist wahr. Aber lassen Sie mich seine Pflichten und Rechte übernehmen!« bat der Doktor galant und führte sie über das Parkett des Ballsaales. »Es wird das letztemal sein, denn morgen reise ich heim nach Amsterdam. Meine Ferien sind zu Ende.«