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Der unbekannte Gott

1

Doktor Zimmertür stand, die Hände auf dem Rücken verschränkt, vor einem Schaukasten in dem Aquarium von Monaco. Er war in Betrachtung eines Dramas versunken, das sich auf der andern Seite der durchsichtigen Glaswand abspielte. Einen Augenblick vorher hatte eine Hand eine lebende Krabbe in das Wasser des Bassins geworfen. Das kleine Schaltier machte einen Schlag mit der Schwanzflosse, erlangte das Gleichgewicht wieder und huschte, ohne eine Sekunde zu zögern, auf den Grund des Beckens, um sich dort in den Sand zu verbohren. Aber im Buche des Schicksals stand es anders geschrieben. Das klare Wasser wurde plötzlich von einem Schatten verdunkelt, der sich von einem der Seitenwände loszulösen schien. Etwas, das einem treibenden Ballon glich, senkte sich langsam, aber zielbewußt auf die Krabbe herab. Im selben Augenblick, in dem diese in den Kies verschwinden wollte, entfaltete der Ballon acht wogende, saugwarzengeschmückte Arme, die nach ihr griffen. Sie verschwand in das Innere des Ballons. Der Tintenfisch, eben noch purpurblau vor Aufregung, wie ein älterer Herr vor einem allzu opulenten Mittagessen, beruhigte sich so allmählich und nahm die graurotfleckige Giftschwammfarbe an, die sein normaler Teint war. Nur eine sachte wogende Bewegung des Ballonkörpers deutete an, daß die Krabbe nunmehr ihre vorausbestimmte Rolle im Haushalt der Natur zu Ende spielte.

»Kismet,« murmelte der Doktor zu sich selbst und hörte plötzlich eine Stimme an seiner Seite:

» Mangia molto piano! – Er ißt sehr langsam!« Ein italienischer Junge von etwa fünfzehn Jahren hatte sich in das Museum verirrt und verfolgte das Drama auf der andern Seite der Glaswand mit größter Spannung. Der Doktor sagte sich, daß sein junger Nachbar vermutlich die Mahlzeitgeschwindigkeit des Polypen mit dem Tempo verglich, in dem die Italiener Makkaroni essen, und mußte ihm recht geben.

Das Schauspiel war vorbei – Schauspiel auf der einen Seite der Glaswand, Brot auf der andern – und Doktor Zimmertür schickte sich an zu gehen, als der Friede des Museums durch Schritte und neue Stimmen gestört wurde. Eine Gesellschaft von zehn Personen bog um die Ecke – eine eigentümliche Gesellschaft.

Neun von ihnen waren leicht zu rubrizieren. Sie gehörten jener Klasse von Touristen an, die von Cook & Son zu Tausenden rings um die Welt transportiert werden. Aber was der zehnte war, ließ sich nicht so leicht sagen. Er ging mit dem Hut in der Hand. Man sah eine breite Stirn, die von einer silberweißen Löwenmähne beschattet wurde, eine geschwungene Nase und einen großen, satirischen Mund mit herabgezogenen Mundwinkeln. Der Kopf saß ein wenig eingesunken zwischen den Schultern; die Hände waren nonchalant in die Taschen einer Samtjoppe gesteckt. Ein Künstler? Ein Gelehrter? Das Aussehen schien es zu sagen – aber wie konnte ein Künstler oder ein Mann der Wissenschaft an einer Gesellschaftsreise teilnehmen, die von Cook und seinem Sohn arrangiert sein mußte? Nun standen sie vor dem Bassin des Tintenfisches. Einer der Museumsdiener näherte sich, um diese größte Sehenswürdigkeit des Aquariums zu demonstrieren. Aber kaum hatte er einige allgemeine Phrasen über den lateinischen Namen des Tintenfisches, seinen Heimatsort und seine Eigenschaften zum besten gegeben, als der Mann mit der Samtjacke ihn unterbrach:

»Schon gut! Wollen Sie dafür sorgen, daß das Tier gefüttert wird! Das ist ja das einzige, was uns alle interessiert. – Nicht wahr?« wandte er sich auf Holländisch an seine Gesellschaft.

Sie lächelte zustimmend. Der Doktor grübelte. Wo hatte er dieses Gesicht gesehen? Gesehen hatte er es, da war kein Zweifel. Der Mann mit der breiten Stirn sprach:

»Sie werden jetzt, meine geschätzten Freunde, Gelegenheit haben, wenn auch en miniature, dasselbe Schauspiel zu genießen, das den alten Römern so wohl gefiel, nämlich wie ein lebendes Wesen ein anderes verspeist. Was das Interesse erhöht, ist, daß das Tier im Rufe der List und Grausamkeit steht und in gewissen Fällen sogar uns Menschen gefährlich werden kann. Dieses Letztere ist von größter Bedeutung. Denn wenn wir nicht eine Parallele zwischen uns und dem Opfer spüren, verliert ein solches Schauspiel für uns an Interesse.«

Eine Hand zeigte sich oberhalb des Bassins und ließ einen silberglitzernden Fisch in das Wasser gleiten.

Er machte ein paar Schläge mit den Schwanzflossen, stellte sich dann auf und glotzte mit runden, starren Augen durch die Glasscheibe. Plötzlich löste sich ein Schatten von der Wand des Bassins. Er sank langsam herab. Acht Saugarme wogten, zwei schwarze, kalte Augen glommen in der Mitte eines ballonähnlichen Körpers. Die Damen der Reisegesellschaft stießen Entsetzensschreie aus. Plötzlich schossen die acht warzenbedeckten Arme zu einem gemeinsamen Ziel vor. Das kleine Fischlein zappelte und verschwand. Von der andern Seite der Glasscheibe funkelte ein kaltes, schwarzes Auge den Beschauern entgegen.

»Hu, wie gräßlich!«

»Ich werde heute nacht nicht schlafen können.«

Der Mann in der Samtjacke lächelte über das Entsetzen der Damen.

»Darf ich fragen, wie viele der Anwesenden Vegetarianer sind?« fragte er. »Keiner, nicht wahr? Worüber entsetzen wir uns dann so sehr? Es ist richtig, daß die meisten Völkerschaften heutzutage ihre Opfer töten, bevor sie sie essen, aber das ist keineswegs die Regel, und das beste Hors-d'œuvre der Chinesen besteht noch heute aus neugeborenen weißen Mäusen, die in Sirup getaucht und lebend geschluckt werden. Ich gebe zu, daß das gerade keine Assiette für meinen Magen wäre, aber ...«

Neue Rufe des Abscheus ertönten rings um ihn. Er fuhr unberührt fort:

»Aber übrigens gibt eine kleine Szene wie diese ungesucht Anlaß zu Betrachtungen, die größeren Wert haben als alle humanitären Ausbrüche! Falls das kleine Fischlein, das eben in das Bassin gelassen wurde, eine Vorstellungswelt hat, was so gut wie sicher ist, sintemalen wir Menschen eine haben und sintemalen alles gradweise entsteht und nichts aus nichts – in diesem Falle hat es sicherlich auch eine Art Religion. Und wer ist dann der Gott, den es anbetet? Mit ziemlicher Sicherheit unser Freund mit den acht Saugarmen drüben auf der andern Seite der Glasscheibe. Ihn fürchtet der Fisch, und wenn er einen seiner Genossen von dem Tintenfisch gefressen sieht, faßt er das als ein Strafgericht oder ein Opfer auf und fürchtet ihn nur noch mehr. Der Tintenfisch ist ein Gott.«

»Still doch!« riefen die Damen. »Wie können Sie nur so sprechen? Das gräßliche Tier dort drinnen soll ein Gott sein?«

»Es ist ein Gott,« erwiderte der Mann in der Samtjacke unberührt. »Denken Sie an die heiligen Krokodile der Ägypter und hundert andere Götter, denen Menschen Menschen geopfert haben. Was symbolisieren sie, wenn nicht ein und dasselbe Prinzip? Die Furcht! Wir fürchten uns, und darum beten wir an. Bei Kriegen, Erdbeben und Seuchen steigt die Religiosität, in langen Friedenszeiten sinkt sie. Das wird ihnen jeder Geistliche, den Sie fragen, bestätigen. Und darum sage ich, wenn Krabben und Fischchen einen Gott haben, den sie anbeten, so ist sein Name, den sie nicht kennen und den sie nie wagen würden auszusprechen, wenn sie ihn könnten, › Octopus vulgaris‹ oder der achtarmige Tintenfisch.«

Einer der Zuhörer bemerkte mit gerunzelter Stirn:

»Mir scheint, ich habe irgendwo gelesen, daß der Donner die Religion hervorgerufen hat!«

Der Mann in der Samtjacke lächelte ironisch, aber irritiert.

»Der Donner!« murrte er. »Wenn der Donner irgendwelche Bedeutung für die Religion der Menschen gehabt hat, ist es eben, weil er ihnen Schrecken einjagte! Ich selbst, der ich mich gewöhnt habe, alles aus dem Gesichtswinkel der Vernunft zu sehen, muß zugeben, daß ich äußerst empfindlich gegen Luftelektrizität bin. Die Spannung der Atmosphäre überträgt sich unmittelbar auf meine Nerven und äußert sich in Form von Angst. Das ist unlogisch, es ist atavistisch, aber ich kann es nicht überwinden. Was beweist das? Nur, daß nicht wir selbst oder unser ›Ich‹ in uns regieren, sondern unsere Zellen, unsere Drüsen und unsere Nervenbahnen. Es wird vielleicht noch Jahrhunderte dauern, bis es unserm Gehirn gelingt, sie zu unterjochen – aber wir werden es können, wir müssen es können!«

Er schüttelte seine weiße Mähne, steckte die Hände in die Taschen und ging weiter. Die Gesellschaft – sechs Damen und drei Herren vom Typus ›erfolgreicher Gemischtwarenhändler‹ – folgten ihm murmelnd und lächelnd.

»Da kann man sagen, was man will, anregend, das ist er!«

»Er weiß alles!«

»Nicht viele können sich einer solchen Reisegesellschaft rühmen!«

Dies waren die Bemerkungen, die Doktor Zimmertür auffing. Wer war doch der Mann mit der Silbermähne? Er hatte sein Bildnis irgendwo gesehen, er kannte seinen Namen.

»Spiegelmann! Eduard Julius Spiegelmann. Ja, gewiß! Daß ich das nicht gleich gesehen habe!«

Der Doktor trommelte auf die Glasscheibe, hinter der der Tintenfisch sein Opfermahl fortsetzte.

»Ich gratuliere dir, mein warzengeschmückter Freund, Spiegelmann hat dich zu einem Gott ernannt! Das ist ein Patentbrief – denn wer würde es wagen, dem Verfasser der ›Entstehung und des Untergangs der Religionen‹ entgegenzutreten?«

Kein Zeichen der Erregung war in dem schwarzen Auge des Tintenfisches zu sehen. Der Doktor schlug einen neuen Trommelwirbel mit den Fingern, diesmal gegen seine Stirn:

»Aber – was um Himmels willen – Himmel als optisches Phänomen, frei von allen Gottheiten, die Spiegelmann entlarvt hat – was um Himmels willen macht Eduard Julius Spiegelmann hier in solcher Gesellschaft?«

Das neue Numen, dem Professor Spiegelmann Macht und Gewalt in den Gewässern gegeben hatte, antwortete nicht, und nach einigem Nachsinnen ging der Doktor.

2

Die Antwort auf seine Fragen sollte ihm rascher werden, als er ahnte. Denn als er in das Hotel in Mentone, in dem er wohnte, zurückkam, fand er, daß die ganze Gesellschaft da einquartiert war. Nicht Cook & Son waren die Unternehmer der Reise, sondern ein holländisches Bureau, das nach dem Umschlag des Prospekts ›solide bürgerliche Hotels mit Preisen, die für jedes Portemonnaie erreichbar waren‹, vorzugsweise begünstigte. Da der Doktor auf seinen Reisen dasselbe Programm hatte, war es nicht zu verwundern, daß seine und die Wege der holländischen Gesellschaft sich kreuzten.

Sie saßen schon bei Tisch, als der Doktor in den Speisesaal trat. Sein Tisch stand dicht neben dem ihren, er konnte unbehindert der Konversation folgen, und er tat es mit kaum verhehlter Neugierde.

»Nein, Frau Pieters, das Geschäft, von dem Sie sprechen, kann unmöglich in der Rue Daumon in Paris gelegen sein, da Sie sich erinnern, daß die Hausnummer 32 war. Die Rue Daumon hat keine höhere Hausnummer als 28.«

»Wie alt die Berge hier über uns sind, Frau Serstevens? Nicht sehr alt. Sie gehen nur auf die Tertiärperiode zurück. Allerdings beginnen die großen Verschiebungen im Mittelmeergebiet schon in der Jura- und Kreideperiode, aber erst in der Tertiärperiode resultierte daraus die moderne Serie der Bergketten. Die Alpen, der Himalaja und die Anden sind ungefähr gleich alt.«

Doktor Zimmertür vergaß seine Suppe zu schlucken.

»Sie hörend und sie lehrend,« murmelte er. »Wahrlich, sie hörend und sie lehrend!«

Die Unterhaltung ging weiter.

»Toddy, Herr Panhuys, ist eigentlich ein indisches Wort und bedeutet Palmwein. Der indische Stamm ist tadi. Whisky hingegen kommt aus dem Keltischen und bedeutet Wasser. Die ursprüngliche Benennung war uisge beatha. – Lebenswasser. Wie Sie natürlich wissen, Herr Panhuys, waren die Kelten die ersten, denen es gelang Alkohol zu destillieren. Fanatische Abstinenzapostel wollten darin die Ursache des vorzeitigen Untergangs der keltischen Völker sehen.«

Doktor Zimmertürs Fisch wurde kalt, ohne daß er es merkte.

» Praeceptor Bataviae,« murmelte er, »wahrlich, sie lehrend, doch nicht sie hörend!«

Das Dessert wurde serviert.

»Höre ich recht, Frau Mayen? Sie machen sich nichts aus Romain Rollands Büchern? Da tun Sie unrecht. Er hat viel für die Annäherung von Frankreich an Deutschland getan. Niemand verbindet wie er französische Klarheit mit deutscher Unlesbarkeit.«

Doktor Zimmertür brach in ein unbeherrschtes, kicherndes Lachen aus, das ihn verriet. Professor Spiegelmann drehte sich auf dem Stuhl um.

»Sollten wir Landsleute sein?«

Der Doktor verbeugte sich.

»Mein Name ist Doktor Zimmertür aus Amsterdam. Entschuldigen Sie, daß ich zuhörte, Herr Professor!«

»Sie kennen mich?«

»Wer kennt Professor Spiegelmann nicht?«

In den dunkelblauen Augen des Professors leuchtete es auf.

»Wenn ich nicht irre, haben wir uns schon einmal gesehen?«

»Ja, heute nachmittag im Ozeanographischen Museum.«

»Wenn es nicht unbescheiden gewesen wäre, hätte ich gewagt gegen etwas, was Sie da sagten, Herr Professor, zu opponieren.«

»Was sagte ich denn?«

»Daß die Furcht die Mutter aller Religionen sei. Im Laufe meiner Praxis – ich habe das seltsame Metier, praktizierender Psychoanalytiker zu sein – im Laufe meiner Praxis habe ich immerhin zwei Religionen entstehen sehen, und keine von ihnen hatte ihren Ursprung in der Furcht.«

»So? Erzählen Sie.«

»Gern. Die eine Religion entstand auf einer der nordfriesischen Inseln, die im Winter nahezu vom Festland abgeschnitten daliegen. Eine der Fischerfrauen hatte eine Offenbarung, daß fünf die heiligste aller Zahlen sei. Wenn sie sich etwas wünschte, murmelte sie: ›fünf, fünf, fünf, fünf, fünf!‹ Ihre Nachbarinnen hörten sie dies tun und begannen ihrem Beispiel zu folgen. Nach einiger Zeit entstanden Konventikel, in denen man zu fünf und dem vielfachen von fünf betete. ›Fünfundfünfzig!‹ begann eine der Frauen. ›Fünfhundertfünfundfünfzig!‹ fiel eine andere ein; ›fünftausendfünfhundertfünfundfünfzig!‹ rief eine dritte. ›Fünfundfünfzigtausendfünfhundertfünfundfünfzig!‹ schrie eine vierte. Es fehlte nicht viel, und die Bewegung wäre in Ketzerverfolgungen und all das andere ausgeartet, das die Geburt einer neuen Religion zu begleiten pflegt.«

Professor Spiegelmann lachte aus vollem Hals.

»Und die andere Religion, die Sie entstehen sahen?«

»Die war einfacher. Da war ein Mann in Gelderland, auf den mageren Heiden an der deutschen Grenze, der erklärte plötzlich, er sei Gott. Er hieß Gintz, und es dauerte nicht lange, so fand er Anhänger, die ihn für das höchste Wesen in eigener Person hielten. Seine Verkündigung war einfach. In kurzer Zeit sollte die Welt untergehen, und dann würden die, die an ihn glaubten, gerettet werden, aber alle Ungläubigen würden vernichtet werden. Um seinen Glauben zu beweisen, hatte man nur eines zu tun: all seinen Grundbesitz auf den Namen des Gottes Gintz zu schreiben. Eines schönen Tages verschwand er aus Gelderland. Eine Woche später wurde er wegen ärgerniserregenden Betragens in einem Nachtcafé in Amsterdam festgenommen. Vorher hatte er all die Grundstücke, die die Gläubigen auf seinen Namen geschrieben hatten, in einer Hypothekenbank belehnen lassen. Aber keiner der Gläubigen wünschte, daß er bestraft wurde. Sie hüteten sich wohl, sich der Gotteslästerung schuldig zu machen.«

Professor Spiegelmann nickte.

»Das ist ja eine Kopie des Mormonismus im kleinen! Und was war der Mormonismus anderes als eine verkleinerte Kopie des Mohammedanismus!«

»Sagt das nicht Taine?« murmelte der Doktor mit gesenkten Augenlidern.

Der Professor zog irritiert die Brauen zusammen.

»So, Sie kennen Taines Essay? Aber eines verstehe ich nicht, und das ist, wie Sie behaupten können, daß ihren zwei Religionsformen nicht die Furcht zugrunde liegt. Die Anhänger ihrer ersten Religion fürchteten die Zukunft hier auf Erden und suchten sie durch Magie zu beschwören, und die Anhänger Ihrer zweiten Religion fürchteten die Zukunft in einem andern Dasein und suchten sich bessere Bedingungen dafür zu erkaufen. Alle Gläubigen fürchten, und die Religionsstifter sagen: ›Ihr habt recht! Fürchtet das Schlimmste, wenn ihr nicht an mich glaubt!‹«

»Und warum sagen die Religionsstifter dies? Aus Lust, die Massen zu unterjochen, wie Voltaire von Mohammed behauptete? Oder ist es Betrug wie im Falle Joseph Smith? Oder ist es Selbstbetrug?«

Der Professor lächelte mephistophelisch.

»Sie hätten die drei Kategorien nicht besser formulieren können, wenn Sie meine Bücher gelesen hätten, was Sie, wie ich merke, nicht getan haben!«

»Und eine vierte Kategorie gibt es nicht? Nennen Sie sie Offenbarung oder wie Sie wollen!«

Die dunkelblauen Augen blitzten.

»Nein! Mitten in einer Zeit, die von Aberglauben und Wahnglauben strotzt, ist es mein Stolz, Mann der Wissenschaft zu verbleiben und die Wahrheit zu suchen, wie schmerzlich sie auch sein mag! Sie fragen mich mit einer Umschreibung, ob ich an etwas Übersinnliches glaube, und ich antworte Ihnen klar und deutlich: Nein!«

Professor Spiegelmann wendete sich seinen andern Zuhörern zu und sagte:

»Wie meinten Sie doch, Herr Panhuys? Was Teratom bedeutet? Teratom ist ganz einfach ...«

Bevor der Doktor zu Bette ging, schlug er sich plötzlich an die Stirn:

»Jetzt weiß ich es! Jetzt weiß ich, warum er in solcher Gesellschaft reist! Um immer jemanden zu haben, der ihm zuhört, aber nie jemanden, der ihm widersprechen kann!«

Er kicherte einen Augenblick in sich hinein und fügte dann hinzu:

»Übrigens wüßte ich gern, wie es gehen würde, wenn seine Ansichten in der Wirklichkeit auf die Probe gestellt würden!«

3

Es lag durchaus nicht an einem Zufall, daß Doktor Zimmertür am nächsten Nachmittag im selben Auto saß wie der Professor und seine unkongeniale Reisegesellschaft, sondern es war Absicht von ihm.

Das Auto war nämlich ein Autobus, der Platz für zwölf Personen hatte, und er befand sich auf dem Wege zum Castello Cargese.

Es war schon lange die Absicht des Doktors gewesen, einen Ausflug dorthin zu unternehmen. Als er nun hörte, daß die Reisegesellschaft an diesem Tage das Schloß besichtigen wollte, überlegte er es sich nicht lange und erstand ein Billett.

Der Autobus stieg, summend wie eine Riesenhummel, durch blaue und blauere Täler empor.

»Die prähistorischen Menschen locken Sie, nicht wahr?« erkundigte sich Doktor Zimmertür. Ein Trinkgeld an den Chauffeur hatte ihm den Platz neben dem Professor verschafft.

Professor Spiegelmann lächelte kalt.

»Die meisten Passagiere in diesem Autobus,« murmelte er, »brauchen nicht erst in ein Museum zu gehen, um prähistorische Menschen zu sehen. Sie können sich damit begnügen, in einen Spiegel zu schauen.«

»Drommels, Herr Professor, Sie können doch nicht erwarten, daß alle Menschen so avanciert sind wie Sie selbst!«

»Nein!« rief der Mann mit der Silbermähne. »Ich weiß, daß ich das nicht erwarten kann. Aber was mich mit Raserei über das Dasein erfüllt, ist, daß keine Aussicht besteht, es je erwarten zu können. Wie alt ist das Menschengeschlecht? Vielleicht eine halbe Million Jahre. Ich frage Sie: Sind neunundneunzig dieser Vettern der Affen um einen einzigen Schritt weitergekommen, als ihre baumkletternden Verwandten? Lassen sie sich von etwas anderm leiten als von Trieben und Gefühlsdenken? Wünschen sie etwas anderes, als ihr elendes Leben solange als möglich zu fristen und es so reichlich als möglich fortzupflanzen? Ich frage Sie, und Sie bleiben mir die Antwort schuldig.«

»Allerdings!« gab der Doktor herzlich zu. »Als älterer kinderloser Vetter der Baumkletterer weiß ich am besten, wie hoch ich selbst das Leben einschätze – aber – wenn Sie Ihre weniger entwickelten Genossen so tief verachten, warum reisen Sie dann mit einer Gesellschaft aus einem Reisebureau?«

Er blinzelte dem Professor verschmitzt zu, doch dieser runzelte die Augenbrauen wie ein zürnender Jupiter und geruhte nicht zu antworten. Graue Türme tauchten hinter einer Wegbiegung auf. Man war am Ziele.

»Wie ist das?« fragte der Doktor, um die Verbindung wieder anzuknüpfen. »Ist das Schloß nicht in englischen Händen?«

»Ja,« antwortete sein Nachbar kurz. »Der Vater des jetzigen Besitzers hat es vor dreißig Jahren gekauft, bevor die Ausgrabungen begonnen hatten, ich kannte ihn damals. Er war ein recht vorurteilsloser Kopf – für einen Engländer. Er starb auf einer Forschungsreise in Afrika. Der jetzige Besitzer ist mir unbekannt.«

Sie waren die Schloßtreppe hinaufgekommen und standen in dem Saal, in dem die Sehenswürdigkeiten des Schlosses untergebracht waren. In den Grotten in der Umgebung des Castello Cargese hatte man die ältesten bekannten Spuren der Menschen in Europa gefunden. Ihre Skelette, Hirnschalen, Äxte und Pfeile ruhten nun in schmucken Glasvitrinen. Andere Vitrinen enthielten Rekonstruktionen in Gips. Ein Mann in Uniform trug gerade eine auswendig gelernte Lektion vor, die mit Jahrtausenden und geologischen Adjektiven gespickt war. Die Reisegesellschaft lauschte andächtig. Professor Spiegelmann hohnlachte, bis sein gestutzter Schnurrbart wie die Borsten eines Katers über seinen herabgezogenen Mundwinkeln abstand.

»Der Pithecanthropus unterweist seine Brüder über den Pithecanthropus!«

Im selben Augenblick kam ein junger Mann, den sie bis dahin nicht bemerkt hatten, auf sie zu. Er war hochaufgeschossen, mager und etwas vornübergebeugt. Seine blauen Augen hatten einen eigentümlich verschleierten Blick, in dem es hie und da beinahe boshaft aufleuchtete. Er sprach mit überaus gedämpfter Stimme. Mit einem ehrerbietigen Gruße wandte er sich an den Professor.

»Entschuldigen Sie,« sagte er auf Englisch, »aber sind Sie nicht der berühmte Professor Spiegelmann? Ich bin der Besitzer dieses Schlosses. Mein Name ist Lord Huxton.«

Der Professor strahlte.

»Ah, welches Vergnügen! Ich habe Ihren Vater gekannt. Aber woher wußten Sie, wer ich bin?«

»Wer kennt Ihr Aussehen nicht, Herr Professor?« gab Lord Huxton zurück und deutete mit einer Geste auf die neun. »Das einzige, was mich in meiner Annahme unsicher machte, war Ihre Gesellschaft!«

Spiegelmanns Grimasse war vielsagend.

»Man wählt seine Gesellschaft nicht immer,« erwiderte er, und Doktor Zimmertür, der wußte, wieviel Wahrheit seine Worte enthielten, kicherte so unerzogen, daß es im Saale widerhallte. Lord Huxton warf einen forschenden Blick auf den Doktor und ging in einen andern Saal voran.

»Da Sie meinen Vater kannten, Herr Professor, wird es Sie vielleicht interessieren, sich die Sammlungen anzusehen, die er von seiner letzten Reise heimbrachte.«

Er zeigte ihnen ein Gewirr von Waffen, Götzenbildern, Schmucksachen und Kleidungsstücken. Unterdessen sprach er mit seiner leisen, schnurrenden Stimme und musterte den Professor dabei so unverhohlen, daß es auf die meisten andern Menschen störend gewirkt hätte.

»Ihr Name, Herr Professor, ist einer der ersten, deren ich mich aus meiner Kindheit entsinne. Sie wissen vielleicht, daß mein Vater Sie bewunderte – bewunderte ist nicht das richtige Wort, er vergötterte Sie, so wie man vor hundertfünfzig Jahren Voltaire vergötterte. Sie waren sein Leitstern, und was Sie schrieben oder sagten, war für ihn Gesetz. Als meine Erziehung begann, wurde sie nach Ihren Prinzipien durchgeführt. Mein Vater wollte, daß ein Mensch endlich einmal ins Leben treten sollte, ohne mit all den atavistischen Meinungen belastet zu sein, die man andern Kindern mit Gewalt aufzwingt. Ich sollte meine Lebensbahn als ein freier Mann beginnen. Wenn ihm dies gelungen ist, habe ich ausschließlich einem dafür zu danken, und das sind Sie, Herr Professor!«

Professor Spiegelmann schnurrte vor Wohlbehagen wie ein majestätischer Kater.

»Ich war nicht mehr als zwölf Jahre alt,« fuhr der junge Lord fort, »als mein Vater mir Ihr Buch über die Entstehung und den Untergang der Religionen in die Hand gab. Welchen Eindruck es auf mich machte, können Sie sich wohl selbst am besten vorstellen. Aber erst später verstand ich die ganze Tragweite des Buches. Hier war endlich ein Mann, der reinen Tisch machte und der Wahrheit ins Auge sah, ohne mit der Wimper zu zucken. Unser Leben soll gelebt werden, es soll hier auf Erden gelebt werden, und es soll so reich und so schön als möglich gestaltet werden. Die erste Bedingung war, uns von all den nebelhaften Träumen von einem Leben nach diesem zu befreien. Dura lex, sed lex! war Ihr Wahlspruch. Die Wahrheit um jeden Preis, und nichts anderes als die Wahrheit! Sie ließen nicht einmal einen Altar für den ›unbekannten Gott‹ bestehen, von dem die Bibel spricht. Ich danke Ihnen für das, was ich von Ihnen gelernt habe, Herr Professor.«

Professor Spiegelmann warf seine weiße Mähne zurück.

»Der unbekannte Gott!« wiederholte er mit einem schneidenden Klang in der Stimme. »Nein, ich habe ihm keinen Altar übriggelassen! Reichen Sie dem Mystizismus den kleinen Finger, und in fünf Minuten hat er schon die ganze Hand. Andere vor mir haben Götter und Göttergeschlechter abgesetzt, aber letzten Endes haben sie doch diesem ›unbekannten Gott‹ einen Platz freigelassen. Und dann zeigte es sich, daß dieser Gott genau derselbe ewige Begleiter war, den die Menschheit schon seit Urbeginn der Zeiten mitgeschleppt hat – eine Macht, die ihnen selbst nützt und ihren Feinden schadet, ihre eigene, vergrößerte groteske Projektion bis in die Unendlichkeit! Reduziert man ihn auf seine richtigen Proportionen, bekommt man immer einen Gott wie diesen hier!«

Er griff nach einer Holzstatuette auf einem der Regale und hob sie empor, wie die Priester bei katholischen Festen die Heiligenbilder emporheben. Es war eine kleine, untersetzte, mißgestaltete männliche Figur, kaum ein Fuß hoch, mit unnatürlich großem Mund und geschlitzten Metallaugen. Auf dem Kopfe hatte er Holzfibern als Haar und um den gedunsenen Leib einen Gürtel aus Bast. Die Mundwinkel des Professors waren höhnisch und erbittert herabgezogen, und seine blauen Augen flammten. Der junge Lord Huxton sah ihn mit drolligem Ernst an.

»Lästern Sie nicht!« sagte er. »Dieser Gott ist sehr mächtig, wie die Neger meinem Vater versicherten. Woher wissen Sie, daß nicht er der unbekannte Gott ist?«

Professor Spiegelmann ließ das Mahagonifigürchen los, das krachend zu Boden fiel, und zwar so unglücklich, daß einer der Arme sich löste. Der Professor lachte, daß er keuchte, und erst nach und nach gelang es ihm, eine Entschuldigung wegen seiner Ungeschicklichkeit hervorzustammeln. Lord Huxton nahm sie mit gravitätischem Kopfneigen entgegen. Kurz darauf entschuldigte er sich und verschwand für einige Minuten.

Als die Gesellschaft etwas später zum Aufbruch rüstete, stellte es sich heraus, daß dies unmöglich war. Ein Unglück war passiert. Der Chauffeur des Autobusses war gestolpert und hatte sich den rechten Arm verstaucht. Daß er mit einem Arme chauffieren sollte, war undenkbar, daß die Gesellschaft dreißig Kilometer zu Fuß gehen sollte, noch undenkbarer. Lord Huxton löste das Problem, indem er alle einlud, im Schlosse zu übernachten und am nächsten Morgen die Ankunft eines neuen Chauffeurs abzuwarten.

Selbstverständlich wurde der Vorschlag mit unterwürfiger Dankbarkeit angenommen. Der Abend verfloß in angenehmster Weise. Professor Spiegelmann entwickelte sein ganzes Konversationstalent. Die Ausfälle, die er gegen die Spezies homo sapiens machte, ließen seine Zuhörer sich vor Lachen wälzen und förmlich nach Atem schnappen. Lord Huxton hörte ihm unverwandt zu und geleitete ihn, als es Zeit zum Schlafengehen wurde, persönlich in das Zimmer, das er bewohnen sollte – einen großen Raum in einer Ecke der Schloßfassade.

Der Professor, den das Treppensteigen atemlos machte, nahm, um dies zu bemänteln, den jungen Lord beim Arm und rief:

»Sehen Sie all diese Millionen von Gestirnen dort oben? Sagen Sie mir, glauben Sie, daß es ein einziges gibt, auf dem die Dummheit größer sein kann als hier auf Erden?«

Gleichsam wie zur Antwort ertönte ein dumpfes, fernes Grollen.

»Sollten wir ein Gewitter bekommen?« fügte er hastig hinzu. »Das will ich wirklich nicht hoffen.«

»Der Gott, den Sie verunglimpft haben, ist ein Donnergott,« erwiderte Lord Huxton. »Vielleicht will er sich rächen! Fünf Minuten, nachdem Sie ihm den Arm abgeschlagen hatten, verstauchte sich Ihr Chauffeur den Arm und zwang Sie hierzubleiben. Geben Sie zu, daß dies ein Zusammentreffen ist, das abergläubische Menschen ängstlich machen könnte!«

Professor Spiegelmann fauchte höhnisch, aber antwortete nichts. Er sah zum Fenster hinaus, konstatierte, daß der ganze Himmel sternklar war und begleitete dann seinen Gastgeber zur Tür.

Als Doktor Zimmertür ihn das nächste Mal wiedersah, lag er ausgestreckt auf dem Boden seines Zimmers, das Antlitz zwischen den Händen begraben, in einer Stellung, die unüberwindliches Entsetzen ausdrückte.

4

Es war kaum acht Uhr morgens. Wer den Doktor herbeirief, war kein anderer als Lord Huxton selbst. Er war bleich.

»Sie sind ja Arzt. Wollen Sie nicht nachsehen, ob der Professor vielleicht ... ob irgend etwas ...«

»Ich bin Arzt,« gab der Doktor zu. »Aber ich beschäftige mich jetzt mehr mit der Seele als mit dem Körper.«

Er nahm eine hastige Untersuchung vor.

»Nun?« fragte der Lord.

»Professor Spiegelmann,« erwiderte der Doktor, indem er sich erhob, »wird keinen Arzt mehr brauchen. Soviel ich sehen kann, ist die Todesursache Herzschlag.«

Lord Huxton verschwand. Der Doktor erwartete, daß er zurückkommen würde, aber das war nicht der Fall. Minuten vergingen, und er fragte sich, was die Ursache dieses plötzlichen Todesfalles sein konnte. Noch am vorigen Abend war der Professor von geradezu blendender Vitalität gewesen, und diesen Morgen ...

Er zuckte zusammen.

Was stand denn da auf dem Kaminfries?

Zuerst wollte er seinen Augen nicht trauen – aber doch – es war wahr! An Stelle der Pendule, die auf französischen Kaminen zu stehen pflegt, thronte eine untersetzte, grotesk häßliche Figur. Sie war kaum ein Fuß hoch; sie hatte Pflanzenfibern anstatt Haare, Metallknöpfe als Augen und eine Bastmatte um den angeschwollenen Bauch; der eine Arm baumelte halb abgerissen von der Achsel. Kein Zweifel – es war das Mahagonibild aus dem schwärzesten Afrika, das der Professor mißhandelt und von dem der Besitzer gesagt hatte: ›Lästern Sie nicht! Woher wissen Sie, daß nicht er der unbekannte Gott ist! Vielleicht wird er sich rächen!‹

Der Doktor fühlte, wie feuchte Tropfen aus seinem Haaransatz sickerten. Ließ es sich denken, daß ...

Er wehrte den bloßen Gedanken mit einer wütenden Geste ab. Es war unwürdig, es war lächerlich, auch nur einen Augenblick einen solchen Gedanken zu hegen. Welches Hohnlachen hätte er, der hier ausgestreckt auf dem Boden lag, für eine solche Idee gehabt! Aber die Tatsache blieb bestehen: er war tot auf dem Boden vor dem Mahagonigott aufgefunden worden, und keine einigermaßen vernünftige Todesursache ließ sich ausfindig machen.

Warum kam der Lord nicht zurück?

Ein schlaftrunkenes Gesicht mit rotgeränderten Augen guckte zur Tür herein. Es war Herr Panhuys, einer der Reisegefährten des Professors.

»Schon auf, Doktor? Haben Sie bei dem Gewitter schlafen können?«

Der Doktor antwortete mechanisch:

»Danke, ich habe vorzüglich geschlafen. Wollen Sie nicht sehen, ob Sie nicht Lord Huxton irgendwo ...«

Er hielt jäh inne, ohne den Satz zu vollenden. Ein Wort, von Herrn Panhuys hingeworfen, hatte in seinem Bewußtsein ein Echo geweckt – aber erst jetzt – beinahe so wie der Donnerschlag mehrere Sekunden später kommt als der Blitz.

»Was reden Sie da von einem Gewitter?« schrie er beinahe. »Ich habe keinen Donner gehört, und ich habe doch die halbe Nacht wach gelegen.«

»Um so mehr habe ich gehört,« erwiderte Herr Panhuys. »Stundenlang hat es gegrollt und gedröhnt. Einmal ums andere klang es so, als ob der Blitz ins Haus oder dicht davor eingeschlagen hätte. Ich lag mit dem Kopf unter der Decke, um nur nichts zu hören, aber es half nichts. Ich bin genau wie der arme Professor Spiegelmann, ich vertrage nun einmal kein Gewitter ...«

»Welches Zimmer haben Sie?« fragte der Doktor mit heiserer Stimme.

»Das Zimmer unmittelbar daneben,« antwortete Herr Panhuys. Im selben Augenblick bemerkte er die stumme Gestalt auf dem Boden. – »Was ist denn mit dem Professor?« rief er. »Ist er krank? ... Er wird doch nicht ...«

Er erhielt keine Antwort auf seine Frage. Der Doktor, dessen Benehmen ihm mehr als sonderbar vorkam, packte hastig einen Stuhl, schob ihn an die Wand, die an Herrn Panhuys' Zimmer grenzte, nahm einen Stock und schlug damit gegen den oberen Teil der Wand. Es kam ein dumpfes Echo, wie von einer Trommel. So rasch zwei kurze Beine ihn tragen konnten, stürzte der Doktor in den Korridor und untersuchte die Außenseite der Tür. Er konstatierte, daß sie ein Patentschloß hatte und daß innen kein Schlüssel steckte. Er eilte weiter in das Zimmer, in dem Herr Panhuys die Nacht verbracht hatte, stieg dort auf einen Stuhl und schlug abermals ein Signal gegen den oberen Teil der Wand. Dasselbe dumpfe Echo antwortete ihm. Die kurzen Beine trugen ihn im Eilmarsch aus dem Zimmer, durch den Korridor zu einem bestimmten Teil des Schlosses. ›Gewitter, Gewitter, ich bin wie der arme Professor, ich vertrage kein Gewitter,‹ Herrn Panhuys' Worte widerhallten in seinem Innern, während er weiterlief. Was hatte ihnen doch Lord Huxton gestern nachmittag gezeigt, als sie eine Runde durch das Schloß machten? Es war ein Residuum aus dem achtzehnten Jahrhundert, aus der Zeit, als die Besitzer des Castello Cargese Italiener waren und mehr die schönen Künste als die Wissenschaft förderten, eine Miniaturbühne, auf der das Echo von Lullys und Rameaus Opern noch zu zögern schien. In der jetzigen Sammlung des Schlosses von Museumsgegenständen wirkte sie wie ein komisches Rudiment, wie ein Atavismus, aber wie Lord Huxton sagte, als er die Bühne zeigte: ›Es gibt Rudimente, die man beläßt, weil es zu teuer wäre, sie fortzuoperieren!‹ Der Professor hatte mißbilligend den Kopf geschüttelt, und der Lord hatte lächelnd hinzugefügt: ›Das finden Sie nicht? Sie würden am liebsten alle Rudimente und Atavismen auf einmal exstirpieren, wenn Sie könnten – wie Sie in Ihrem Buche sagen, daß man es mit den religiösen Vorurteilen tun soll?‹ – ›Es ist wichtiger, sie herauszuschneiden als den Blinddarm!‹ hatte der Professor mit grimmigem Lächeln geantwortet, und ...

Hier war das Theater, da war der Aufgang zur Bühne und da – ja, da stand der Schloßherr des Castello Cargese. Als er die Schritte des Doktors hörte, sah er mit einem Blick auf, der keine übermäßige Verwunderung ausdrückte.

»Sie suchen mich?«

»Ja.«

»Hat man Ihnen gesagt, daß ich hier bin?«

»Nein, niemand hat mir gesagt, daß Euer Lordschaft hier sind.«

»Woher wissen Sie es dann?«

Doktor Zimmertür lächelte ein blasses Lächeln.

»Ich wußte es, weil ich eine unbezwingliche Neigung habe, schlechte Wortspiele zu machen. Das ist eine Angewohnheit, die man in gewisser Weise ein Berufsrisiko nennen kann. Ein Psychoanalytiker muß sich trainieren, alle Gedanken zu verfolgen, die durch ein zufällig hingeworfenes Wort zum Leben erweckt werden. Sowie ich ein Wort höre, das Eindruck auf mich macht, sucht mein unterbewußtes Ich sofort ein Parallelwort dazu oder einen Doppelsinn zu finden. Aber ich will Euer Lordschaft nicht mit den Einzelheiten dieser Angewohnheit langweilen. Sie ist bei mir ebenso unausrottbar wie die Gewitterangst bei dem seligen Professor Spiegelmann.«

Lord Huxton schnitt eine Grimasse.

»Wenn etwas imstande sein könnte, ihn wieder zum Leben zu erwecken,« sagte er, »so wäre es die Wut darüber, selig genannt zu werden. Aber was für ein schlechtes Wortspiel war es, das Sie herführte?«

»Jemand ließ in meiner Anwesenheit das Wort ›Gewitter‹ fallen,« erwiderte der Doktor langsam. »Sofort ging mein Unterbewußtsein auf der Jagd nach Parallelworten durch. Das einzige, das es fand, war ›Theatergewitter‹.«

Lord Huxton erbleichte etwas und lachte dann.

»Und darum stürzen Sie gleich zum Theater hin?«

»Ja! Der Mann, der das fatale Wort erwähnte, sagte nämlich, daß es heute nacht gewittert hätte. Ich habe selbst mehr als die halbe Nacht wach gelegen und weiß, daß es nicht gewittert hat. Nun hatte der Mann, von dem ich spreche, zufälligerweise das Zimmer neben dem Professor Spiegelmanns. Ein Gewitter, bei dem der eine unter die Decke kroch, mußte auf den andern sicherlich eine noch stärkere Wirkung haben, da dieser eine unüberwindliche Idiosynkrasie eben vor Gewittern hatte. Oder was meinen Euer Lordschaft?«

Lord Huxton neigte den Kopf.

»Ich pflichte Ihnen bei.«

»Ich weiß, daß Euer Lordschaft meiner Ansicht sind. Ich glaube sogar, noch mehr zu wissen.«

»Und das wäre?« fragte der Lord mit leiser Stimme.

»Daß ein Luftschacht oder ein alter Geheimgang oberhalb des Plafonds der beiden erwähnten Zimmer geht. Wenn die höchst erstaunliche Maschine zur Erzeugung von Theatergewittern, die hier neben Eurer Lordschaft steht, an die gegenüberliegende Mündung des Geheimganges oder Luftschachtes gebracht und in Funktion gesetzt würde, würden die Bewohner dieser beiden Zimmer Gelegenheit haben, ein Gewitter zu hören, das allerdings für alle andern ungefährlich wäre, nicht aber für ihre Nerven. Wenn überdies das Patentschloß an der Tür des einen von außen verriegelt wäre, würde das seine Situation nicht gerade erleichtern ... er würde um Hilfe rufen, er würde der Dienerschaft klingeln, er würde im Zimmer herumrasen und mit seinen geballten Fäusten an die Wände schlagen ... aber die Wände sind dick, und obwohl sie deutliche Spuren verzweifelter Schläge aufweisen, hat doch niemand diese Schläge gehört. Und durch einen seltsamen Zufall ist sowohl das elektrische Licht wie die Klingelleitung gerade zu diesem Zimmer abgeschnitten ... Wenn nun der Mann, den ich meine, mitten in seiner Erregung und seinem Entsetzen ein abscheulich häßliches Götzenbild erblickt, das am Abend vorher mit Absicht auf den Kaminsims gestellt wurde, so glaube ich ...«

Der Doktor verstummte. Lord Huxton, dessen Gesicht unnatürlich ruhig war, wiederholte:

»So glauben Sie, daß ...?«

»So glaube ich,« fuhr der Doktor gelassen fort, »daß diese Tatsachen hinreichen würden, um den Anblick zu erklären, der sich mir eben in Professor Spiegelmanns Zimmer bot.«

Der Lord antwortete in einer eigentümlichen Weise. Mit einem Handgriff setzte er die Maschine, von der der Doktor gesprochen, in Bewegung. Es war ein minutiös ausgearbeiteter Apparat aus Leder und Kupfer, offenbar in dem Jahrhundert verfertigt, in dem man Spezialist in kuriosen Uhren, Automaten, die Menschen nachahmten, und sinnreichen Torturinstrumenten war. Die ganze Skala, über die der Donner verfügt, dröhnte durch den Raum. Es grollte wie von schweren Kanonen, es starb langsam hin wie ein Raubtierknurren, es knatterte wieder los wie rasende Mitrailleusensalven. Obwohl der Doktor den Laut vor seinen Augen entstehen sah, mußte er sich doch in den Arm kneifen, um glauben zu können, daß dies nur Schein und nicht Wirklichkeit war. Lord Huxton beschloß sein wunderliches Konzert mit einer Salve, so rasend, daß es klang, als ob das Haus über ihren Köpfen zusammenstürzte.

»Sie haben recht,« sagte er. »Er, den Sie den seligen Professor Spiegelmann nennen, litt an Gewitterfurcht. Ich wußte das schon durch meinen Vater. Alle Furcht ist ein unwürdiges Gefühl. Und wenn sie nicht unterdrückt wird, geht sie unfehlbar in Religion über – das hat er in einem Buche nach dem andern bewiesen. Er, der es sich zum Ziele gesetzt hatte, alle rudimentären und atavistischen Gefühle bei andern fortzuoperieren, verdiente es, daß jemand ihm denselben Dienst erwies. Ich beschloß es zu tun. Das war nicht mehr als gerecht. Das hieß ihm nur das vergelten, was er für mich getan hatte, als ich ein Kind war! Und mein Einschreiten geschah in der letzten Minute! Wir fanden den Professor tot vor dem ›unbekannten Gott‹. Das beweist, wie nahe daran er war, seine Furcht in Religion übergehen zu lassen. Hätte er die Nacht überlebt, man hätte das Ärgste befürchten müssen!«

Er deutete auf eine Ecke des Raumes.

»Der Luftschacht, von dem Sie sprachen, mündet dort drüben,« sagte er. »Sie haben alle Karten auf den Tisch gelegt, und ich ergebe mich. Machen Sie mit mir, was Sie wollen.«

Doktor Zimmertür erwiderte, ohne den Blick von ihm abzuwenden:

»Ich habe weiter nichts zu tun. Was vorgefallen ist, bleibt eine Sache zwischen Ihnen und Ihrem Gewissen. Leben Sie wohl.«

Kurz darauf rollte der Autobus nach Mentone mit einem Passagier weniger, als am vorigen Tage zurück. Es erregte bei dem Doktor weniger Staunen als bei der übrigen Gesellschaft, daß der Arm des Chauffeurs im Laufe der Nacht seine ganze Beweglichkeit wiedererlangt hatte. Ein Arm, der für hundert oder zweihundert Frank verstaucht wird, ist durch eine Dosis derselben Medizin leicht zu heilen.

Professor Spiegelmanns Nachruf stand am nächsten Tag in allen europäischen Zeitungen zu lesen. Einige Wochen später brachten ein paar von ihnen eine Notiz, daß Lord Percy Huxton, der Sohn des ›radikalen Lord Huxton‹, auf seine Titel und seine Besitzungen Verzicht geleistet hatte und in einen Trappistenorden eingetreten war, dessen Devise lautete: › ense, cruce, aratro – mit dem Schwerte, mit dem Kreuze, mit dem Pflug‹.


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