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Es ließ sich nicht verbergen. Der Frühling war definitiv nach Mentone gekommen, und die Saison verebbte. Die Hotels begannen zu schließen, die Modegeschäfte begannen zu schließen, Katzen- und Hundeausstellungen waren schon längst geschlossen; eine Vergnügung nach der andern wurde von den Frühlingswinden weggewirbelt als welkes Laub am Baume der Lust! Man hoffte nur mehr auf die Deutschen; die Hotels, die noch offen hielten, versicherten ehrenwörtlich, daß sie Goethes Sprache liebten und beherrschten, und wenn man das Schaufensterlager der Bücherkioske auf unsittliche Literatur studierte, hätte man glauben sollen, daß das deutsche Volk die einzige Nation der Welt war, die sich einer solchen Lektüre hingab, und daß es über den Rhein gehen mußte, um seinen Bildungsdurst zu befriedigen.
»Das sind die ersten Früchte der Locarnopolitik,« murmelte Doktor Zimmertür zu sich selbst. »Das ist der Friede!«
Das einzige Vergnügen, das geblieben war, war das Kino, und Doktor Zimmertür, der ein warmer Freund der stummen Muse war, ging jeden zweiten Abend in ihren Tempel. Und während die Bilder auf der Leinwand wechselten, dachte er bei sich selbst:
»Der Kinematograph ist der verkörperte Zeitbegriff. Die Zeit, so lernten wir in der Schule, ist die Form des Nach-einander-seins, und diese Definition ist nie klarer illustriert worden als durch den Film. Was wir als einen Ereignisverlauf auffassen, existiert auf einmal und gleichzeitig auf der Filmspule. Aber wir müssen die Spule abrollen sehen, um seinen Sinn zu verstehen; wir können ihn nur als ein Nach-einander-sein erfassen; sowenig wir im lebendigen Leben der Herrschaft der Zeit entrinnen können. Wenn ich in ein Kinotheater gehe, ohne das Programm befragt zu haben, weiß ich nicht, ob ein Trauerspiel oder eine Posse gespielt wird, aber eines ist sicher: der Kinomaschinist weiß es. Was ich miterleben werde, ist im vorhinein bestimmt, und mein Beifall oder meine Proteste werden nicht eine einzige Szene ändern. Wie ist es mit dem großen Film, der Jahr um Jahr, Jahrhundert um Jahrhundert unter den Sternen abgerollt wird? Ist sein Ende ebenso vorausbestimmt? Und wie wird es sein? Sind wir geladen ein Trauerspiel zu sehen, eine Komödie oder eine Posse? Wer das wüßte! Bisher war der Verfasser des Films geschickt genug, seine Intentionen zu verbergen, und da der Maschinist die Spule mit irritierender Langsamkeit abrollt, ist es zweifelhaft, ob wir je erfahren werden, wie das Ganze ausgeht!«
Der Doktor erwachte aus seinen Betrachtungen dadurch, daß das Licht aufgedreht wurde. Man hatte die Aktualitäten der Woche vorgeführt und einen komischen Film, der nicht übertrieben amüsant war. Nun kam, wie das Programm mitteilte, ein großes französisches Drama, eines der klassischen Werke der französischen Filmkunst: ›Das Schloß in der Touraine oder die Erbin‹; Officine Trapa frères; Hauptdarsteller Monsieur Gilbert du Aripon vom Théâtre français und Mademoiselle Gaby d'Orsay von derselben Bühne.
Der Doktor gähnte.
»Klassisches Werk! Das will ich meinen. Ich erinnere mich an den Titel noch aus der Zeit, als ich mein Haar in der Mitte scheiteln konnte! Was besagt, daß er zehn Jahre alt ist, wenn nicht fünfzehn.«
Er wendete sich seinem Nachbar zu, einem typischen Südfranzosen, dessen Adlerprofil und blitzende Augen ihn ebensosehr zum Filmhelden wie zum Spezereihändler prädestinierten. Daß es der letztere Beruf war, der jetzt von seinen Talenten profitierte, wußte der Doktor zufälligerweise, denn er hatte hie und da Delikatessen in Monsieur Lemoines Geschäft gekauft, um einige Abwechslung in den Speisezettel des Hotels zu bringen.
»Sie führen uns nicht gerade die allerletzten Neuigkeiten vor, Monsieur,« sagte der Doktor.
Der Spezereihändler verbeugte sich wiedererkennend.
»Wenn die Saison aus ist, geben sie das Billigste, was sie nur finden können! Dieses Stück ist mindestens seine fünfzehn Jahre alt. Ich möchte wissen, wo sie es aufgestöbert haben!«
»Ich glaube, es gibt Leihanstalten für solche alte Nummern,« sagte der Doktor. »Aber dieses Stück müßte selbst für sie etwas zu veraltet sein. Ich glaube nicht, daß es in der ganzen Welt noch zwei Kopien davon gibt.«
Das Licht wurde abgedreht. Das Drama begann. Trotz der vielen Jahre, die der Film auf dem Nacken hatte, war die Kopie selbst erstaunlich klar und deutlich. Wenn nur die Zeit ebenso schonend mit dem Inhalt verfahren wäre! Aber das war sie nicht. Das Spiel war, mit den Augen der Gegenwart gesehen, dilettantisch, die Konstruktion naiv und die Führung der Handlung unsagbar ungeschickt. Der Doktor gähnte sich fast die Kinnbacken aus den Scharnieren. Um sich die Zeit zu vertreiben, bis die Pause kam – wenn sie kam, beabsichtigte er zu gehen, das stand fest! – griff er zu einem bewährten Trick. Er begann die Zuschauer zu studieren anstatt des Dramas. Was für einen Eindruck machte dieses gestelzte, antiquierte Opus auf sie?
Zu seinem Staunen merkte er, daß er mit seinem ungünstigen Urteil offenbar allein stand. Die Zuschauer schien das Stück zu interessieren und zu unterhalten. Alle Gesichter waren gespannt auf die weiße Leinwand gerichtet. Und plötzlich sah er zwei Gesichter, die mit einem Ausdruck darauf gerichtet waren, der ihn die Augen aufreißen ließ. Es genügte nicht, ihn interessiert oder gespannt zu nennen; heftige Erregung war das einzige Wort, das zutraf! Er drehte sich ein bißchen herum, so daß er die beiden Gesichter besser beobachten konnte. Dann sah er auf den Film. Ging da etwas vor, das ein solches Interesse rechtfertigte? Soweit er verstehen konnte, absolut nicht! Es war nicht einmal eine Hauptszene, die auf der Leinwand vorbeizog – es war eine sogenannte Volksszene. Der Held und die Heldin wurden auf ihrem Schloß in der Touraine von den getreuen Dorfbewohnern empfangen. Die Sonne schien, die Bäume wehten im Winde, der Held stieg in tadellosem Abenddreß aus dem Wagen und reichte seiner Dame, die in großer Toilette und Schmuck war, galant die Hand ... und das Volk huldigte ihnen, alte wettergebräunte Ehrenmänner, alte verrunzelte Mütterchen, die sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischten, kleine Rotznasen, die vor lauter Enthusiasmus umpurzelten. Das Ganze war ebenso theaterländlich wie in hundert Volksstücken in hundert Ländern – aber zwei Mitglieder des ›Volkes‹ wagten sich nicht vor, um sich an den Hurrarufen zu beteiligen. Sie blieben hartnäckig in einer Ecke stehen, aus der sie die Heldin beobachteten und Ansichten über sie auszutauschen schienen. Gute Regie!
Die Szene dauerte ziemlich lange, bedeutend länger, als sie in einem modernen Film hätte dauern dürfen. Der Doktor sah noch immer von der Leinwand weg auf die zwei interessierten Zuschauer. Sie hatten einander bei den Armen gefaßt, wie um sich gegenseitig auf jedes Detail aufmerksam zu machen; sie standen von ihren Plätzen auf und hörten nicht, wie man sie anzischte, sich doch zu setzen. Sie waren absolut fasziniert. Erst als die einfache ›Volksszene‹ abgerollt war, ließ ihre Spannung so weit nach, daß sie sich wieder niedersetzten. Die zwei folgenden Szenen schilderten eine spannende Jagd durch die Einöde, aber während sie andauerte, verhielten sie sich – merkwürdigerweise – ganz ruhig. Hierauf folgte eine neue Volksszene: die treuen Dorfbewohner sind zum Feste versammelt. Der Held und die Heldin begrüßen sie lächelnd von der Schloßtreppe aus, und zwei Dutzend Zinnhumpen mit schäumendem Weine werden enthusiastisch zu der gnädigen Herrschaft erhoben. Aber zwei Mitglieder des Volkes schmollen in einer Ecke, und anstatt Hurra zu rufen, stecken sie die Köpfe zusammen und scheinen irgend etwas zu flüstern – ganz wie Statisten es im wirklichen Theater machen, wenn sie sich unbeobachtet glauben.
Die zwei sonderbaren Kinobesucher verschlangen diese Szene mit weitaufgerissenen Augen. Sah der Doktor recht? Oder gingen ihre Blicke nicht zu einer bestimmten Ecke der Leinwand – der Ecke, wo die beiden verdrießlichen Darsteller standen? Es sah so aus. Was war denn Interessantes an dem Anblick von zwei Statisten, die entweder so stumpfsinnig oder so schlecht instruiert sind, daß sie ihre Rolle nicht spielen können. Das war nicht leicht zu sagen. Aber daß diese beiden Kinobesucher es unerhört interessant fanden, erhellte am besten aus dem Zischen, das man von den hinteren Bänken hörte: sie waren schon wieder aufgestanden, um besser zu sehen!
Gleich darauf wurde das Licht aufgedreht. Die Pause kam. Der Doktor hatte sich selbst versprochen, so bald sie begann, zu gehen, aber er brach sein Versprechen ohne jedes Bedenken. Wenn das Filmdrama tödlich langweilig war, so war das Drama im Zuschauerraum um so interessanter! Er beeilte sich, die zwei Agierenden zu studieren. Hatte er sie schon einmal gesehen? Möglich – wenigstens kamen sie ihm bekannt vor. Sie hatten beide markante Gesichter mit Anzeichen beginnender Korpulenz; der eine hatte eine sehr hohe Stirn unter reichem graumeliertem Haar, der andere eine niedrige Stirn mit den eigentümlich gewölbten Augenbrauen, die man auf Porträts aus dem achtzehnten Jahrhundert sieht. Plötzlich erinnerte sich der Doktor, daß er einen ausgezeichneten Cicerone bei der Hand hatte, wenn er mehr zu wissen wünschte.
»Verzeihen Sie, Monsieur Lemoine, können Sie mir vielleicht sagen, wer und was diese beiden Herren sind? Sind es nicht zwei bekannte Pariser? Ich glaube bestimmt, ich habe sie schon irgendwo gesehen.«
Er deutete mit einer diskreten Geste an, wen er meinte. Der Spezereiwarenhändler lächelte satirisch:
»Die dort? Nein, das sind keine Pariser. Das sind der Elektrotechniker Duroy und der Autoreparateur Picou hier aus der Stadt.«
»Das ist aber ein lächerlicher Irrtum,« sagte der Doktor mit einem genierten Lachen. »Verzeihen Sie, daß ich Sie störte, Monsieur!«
Das Licht wurde ausgelöscht, und das Drama auf der Leinwand begann seiner vorbestimmten Lösung zuzurollen. Wenn der Doktor sich dabei nicht unterhielt, so hatte er um so mehr Vergnügen an Duroy-Picou. Sie waren das Opfer einer Spannung, die sie nicht bemeistern konnten, der sie ganz einfach Ausdruck geben mußten! Einmal ums andere widerhallte die Reihe hinter ihnen von Protesten, wenn sie wieder aufstanden, um besser zu sehen. Einmal ums andere packte Monsieur Duroy seinen Freund Picou bei der Schulter, um ihn zu bitten, doch ja nicht dieses Detail zu versäumen; einmal ums andere packte Monsieur Picou seinen Freund Duroy bei der Schulter, um ihm denselben Liebesdienst zu erweisen. Zwei kleine Jungen bei ihrem ersten Zirkusbesuch konnten kein dankbareres Publikum sein. Schließlich hörte man einen Knall, dessen Natur dem Doktor anfangs nicht ganz klar war. So allmählich ging es ihm auf, daß entweder Monsieur Duroy Monsieur Picou auf das Knie geschlagen hatte, um seinen Gefühlen Ausdruck zu leihen, oder auch Monsieur Picou Monsieur Duroy, um seinen Gefühlen Luft zu machen, oder daß sie sich möglicherweise gleichzeitig auf die Knie geklatscht hatten. Und was hatte diesen Gefühlsausbruch hervorgerufen? Eine neue Volksszene! Die treuen Dorfbewohner in der Touraine befanden sich auf der Klappjagd; der tückische Verwalter-Verbrecher ist durchgebrannt, und es gilt, ihn zu fangen, bevor er Zeit hat, seine schurkischen Pläne zu verwirklichen. Die Männer gehen in einer Kette durch den Wald. Am äußersten Ende des einen Flügels befinden sich die zwei Typen, die dem Doktor schon früher aufgefallen sind – die beiden Individualisten, die weder an der Huldigung des Volkes für die Herrschaft noch an dem Feste mit dem ganzen gebratenen Ochsen teilnehmen wollten. Während die andern Landsleute sich mit Lust und Liebe der Klappjagd hingeben, scheinen sie von ganz andern Gedanken erfüllt; sie untersuchen weniger das Terrain als die Bäume; einmal ums andere bleiben sie musternd am Fuß eines Baumes stehen, doch nur um den Kopf zu schütteln und weiterzugehen. Schließlich bleiben sie vor einer mächtigen Eiche stehen; der eine macht den andern auf eine Höhlung im Stamm aufmerksam und sagt etwas; der andere lacht und antwortet. Dann werfen sie einen zornigen Blick auf die sie verfolgende Kamera und gehen weiter.
Das war das Ganze, und doch veranlaßte der Anblick dieser Szene zwei geachtete Bürger Mentones, sich so auf die Knie zu schlagen, daß es wie ein Büchsenschuß knallte, und jede Bewegung auf der weißen Leinwand mit weit aufgerissenen Augen zu verfolgen. Nach diesem Gefühlsausbruch beruhigten sie sich etwas, und während des letzten Aktes des Stückes saßen sie still da. Kurz vor dem Ende verschwanden sie.
»So rasch wird man höchster Lust überdrüssig!« dachte der Doktor, während er aus dem Saale wanderte. Er ging einige Schritte über die Straße und bog dann zur Strandpromenade ab. Vor einem kleinen Café saßen zwei Herren, die er sofort erkannte. Da der Doktor die Ankunft des Frühlings dadurch feierte, daß er die lautlosen Bastsandalen der Urbevölkerung anlegte, kam er so nahe an sie heran, daß er zwei Repliken auffing. Und diese zwei Repliken steigerten sein Interesse um hundert Prozent.
Monsieur Duroy und Monsieur Picou sprachen nicht über Geschäfte, wie man es von zwei französischen Kleinbürgern erwartet hätte, auch sprachen sie nicht von Frauen, wie man es von zwei französischen Kleinbürgern erwartet hätte, die nicht von Geschäften sprechen. Nein, sie diskutierten Kunst, eine ganz spezielle Form der Kunst, nämlich die stumme Kunst, genauer bestimmt, ein spezielles Erzeugnis dieser Kunstart, nämlich ›Das Schloß in der Touraine oder die Erbin‹.
Monsieur Picou rief:
»Ah, mon vieux! Nach all diesen Jahren! Ich hätte nicht geglaubt, daß er noch existiert! Sag mir eines: glaubst du, daß jemand etwas gemerkt hat?«
Monsieur Duroy antwortete:
»Wer weiß? Ich glaube nicht, aber ... wo können sie den aufgefischt haben? Die Frage ist, sollen wir uns gefallen lassen, daß ...«
Hier knirschte ein kleiner, von der Unheilsgöttin placierter Stein unter dem Fuße des Doktors. Die Konversation der beiden Freunde brach so jäh ab, als hätte man sie mit einer Schere abgeschnitten. Der Doktor nahm seine unbefangenste Haltung an, als er an ihrem Tische vorbeiging. Aber weder dies noch der Umstand, daß er das Trinklied aus der ›Traviata‹ pfiff, schien die Herren Duroy und Picou ganz irrezuführen. Sie starrten ihm nach, und er fühlte die lebhafte innere Überzeugung, daß, wenn er zufällig verschwinden sollte, sein Signalement jedenfalls von zwei Personen in Mentone angegeben werden konnte.
Ohne seine Darbietung aus der ›Traviata‹ zu beenden, trat er rasch in die Achilles-Bar, um sich einen Drink geben zu lassen und nachzudenken. Die Bar gehörte einem Griechen namens Achilles, und sie hatte zwei Spezialitäten – die eine war ein Cocktail, der selbstverständlich den Namen Achillesferse führte, die andere war der Bartender, ein jüngerer Bruder des Besitzers, der seinerseits zwei Eigenheiten hatte, erstens war er taubstumm, und zweitens konnte er dessen ungeachtet einen Drink rascher servieren als die meisten redebegabten Barmixer der Welt. Nun war es ja richtig, daß die Bargäste meistens eine Achillesferse bestellten, aber ob sie nun einen Bronx verlangten, einen Martini, einen Side-car, einen Pousse l'amour, einen Tais-toi, Bébé oder Morning glory, war gleichgültig. Theodoros servierte ihn in wenigen Sekunden, denn Theodoros las rascher von den Lippen ab, als andere Menschen in einem Buche lesen, und es fehlte ihm nur die Gabe der Sprache, um einer der hervorragendsten Linguisten der Welt zu werden. Was möglicherweise wie ein Paradoxon klingt, aber das Leben ist so voll von Paradoxen, daß man beinahe sagen könnte, es ist auf sie aufgebaut, wie eine Brücke auf der Vereinigung von zwei Gegensätzen aufgebaut ist.
Nachdem er sich mit zwei verwundbaren Fersen versorgt hatte, ging der Doktor nach Hause und legte sich schlafen. Und das erste, was er am nächsten Tage hörte, war, daß im Laufe der Nacht ein Einbruch stattgefunden hatte. Und wo?
Im Excelsior Cinéma, dem Kinotheater, in dem er am vorigen Abend ›Das Schloß in der Touraine‹ gesehen hatte.
Die Details waren nicht zahlreich. Der Dieb oder die Diebe hatten sich Zutritt verschafft, indem sie eine Hintertür mit dem Dietrich öffneten. Dann hatten sie sich den Weg in das Operationszimmer gebahnt, wo sie den Versuch gemacht hatten, die eiserne Kasse zu öffnen, die jedoch ihren Anstrengungen getrotzt hatte. Die Kasse war ihnen also entgangen. Aber erbittert über die magere Ausbeute der Expedition hatten die Verbrecher in anderer Weise Rache genommen: sie hatten das ganze Archiv von Filmspulen durchwühlt und sie wie Kraut und Rüben auf den Boden geworfen. Einige waren so arg zugerichtet, daß sie gar nicht mehr vorgeführt werden konnten.
Doktor Zimmertür polierte sich nachdenklich die Nase. Man war es ja gewohnt, von den Tricks zu hören, deren sich die Filmreklame bedient, um Aufsehen zu erregen. Einer der einfachsten Kniffe war das gestohlene Perlenkollier der Primadonna. Aber einen Einbruch in einem bescheidenen Kinotheater in Mentone zu fingieren, um Reklame zu machen – das war zu ausstudiert, selbst wenn man in Betracht zog, daß jetzt die tote Saison war! Nein, der Einbruch war wohl echt! Und jedenfalls interessierte er ihn, weil er gerade in diesem Theater verübt worden war. Er beschloß, einen Blick auf den Schauplatz des Verbrechens zu werfen.
Er fand den Kinobesitzer tief erregt über das Unrecht, das an ihm begangen worden war – so erregt, daß der Doktor es übertrieben fand und wieder an der Echtheit des Phänomens zu zweifeln begann. Aber der Direktor zeigte ihm bereitwillig den Schauplatz des Verbrechens, und dessen Aussehen sprach beredt genug: eine solche Verwirrung richtet man nicht zum Scherz an, und so viele Filme zerreißt man nicht zu Reklamezwecken.
»Ich besuchte Ihr Theater gestern abend,« sagte er, »und sah da ein sehr interessantes Drama, das Schloßleben in der Touraine. Ist es auch den Dieben zum Opfer gefallen?«
»Nein!« knurrte der Direktor. »Die großen Filme pflege ich in die Kasse einzusperren, und da lag er!«
»Darf ich fragen, wie es Ihnen gelungen ist, einen solchen Film aufzutreiben? Der muß doch selten sein.«
Der Direktor kicherte:
»Selten! Das will ich meinen! Ich weiß nicht, ob es überhaupt noch eine Kopie davon gibt. Ein Bureau in Nizza hat ihn verliehen. Solange die Touristen hier sind, kann man ja nichts anderes zeigen als amerikanische Filme, aber jetzt sind sie fort, und das französische Publikum will die guten, alten, französischen Filme haben. Dieser Film hier ist übrigens in mehr als einem Sinne klassisch. Der hat eine Geschichte.«
»So?« sagte der Doktor zerstreut. Er hörte kaum zu. »Hat die Polizei keine Spuren der Verbrecher?«
»Keine!« erwiderte der Kinobesitzer verärgert. »Kaum daß sie sich die Mühe nahmen hierherzukommen, als sie hörten, daß sonst nichts gestohlen worden war.«
»Sie haben nicht nach Daumenabdrücken gesucht?«
»Nein!«
»Ich habe mich selbst hie und da ein bißchen mit Kriminalistik befaßt,« sagte der Doktor. »Wenn Sie gestatten, nehme ich mir ein paar Streifen dieser zerrissenen Filme mit und studiere sie zu Hause.«
»Oh, bitte sehr!« rief der Direktor mit Begeisterung! »Sie machen sich wirklich mehr Mühe als die Polizei!«
»Nehmen Sie es als Dank für die ausgezeichnete Vorstellung, die ich gestern sah,« versicherte der Doktor und ging.
Am Abend stattete er dem Theater einen neuerlichen Besuch ab. Er erhielt sofort einen Beweis für die Macht der Reklame; das Gerücht von dem Einbruch hatte den Zuschauerraum bis auf den letzten Platz gefüllt. Er wurde jedoch vom Direktor erkannt, der ihm einen Ehrenplatz in einer Loge anwies. Daß er das Stück noch einmal sehen wollte, hatte ausschließlich einen Grund: er wollte herausfinden, was daran die Herren Picou und Duroy in solchem Grade fasziniert haben konnte. Aber es war unmöglich. Er gab den Versuch auf und gedachte zu gehen, als er etwas bemerkte:
Unten im Parterre saß Monsieur Picou und sah sich das Stück in Gesellschaft von Monsieur Duroy nochmals an. Und nicht genug damit: die beiden Freunde verfolgten die Vorstellung mit demselben unverhohlenem Interesse wie am Vortage! Ihre Augen hingen an der weißen Leinwand; sie erhoben sich halb, um besser zu sehen, und sie versetzten einander bei jeder speziellen Pointe verständnisvolle Rippenstöße. Zwischendurch sahen sie sich halb schuldbewußt um. Schämten sie sich ihres Interesses? Man hätte es glauben können. Jetzt rollte die Szene mit der Klappjagd gerade vorbei. Monsieur Picou und Monsieur Duroy verschlangen sie mit vorgestreckten Hälsen. Und plötzlich zuckte der Doktor zusammen.
Als am vorigen Abend das Licht aufgedreht worden war und er zum erstenmal Gelegenheit gehabt hatte, das Paar Duroy-Picou eingehender zu studieren, hatte er den Eindruck erhalten, sie schon einmal gesehen zu haben, und hatte dies auch zu Monsieur Lemoine gesagt. Nun wußte er plötzlich, daß dieser Eindruck richtig gewesen war. Er hatte sie schon gesehen – vor fünfzehn Jahren, wenn man die Ausdrucksweise gebrauchte, die wir Menschen, wir Sklaven des Zeitbegriffs, gebrauchen – vor fünfzehn Jahren und doch im jetzigen Moment. Denn auf der weißen Leinwand hatte er sie gesehen, in dem Film: ›Das Schloß in der Touraine‹! Kein Zweifel. Die Zeit, die Form des Nach-einander-seins, hatte ihre Züge ein wenig umgemeißelt, hier Fett aufgelegt, dort Runzeln eingegraben, aber all das waren nur Unwesentlichkeiten. In der Hauptsache waren die Gesichter unverändert. Die Herren Duroy und Picou, die nun dort unten saßen und sich gegenseitig auf die Knie schlugen, spielten in dem Film mit! Sie waren identisch mit den zwei morosen Mitgliedern des ›Volks‹, denen es so schwer fiel, mit den andern auf den Bildern zu verschmelzen! Herr Duroy war der Mann mit der hohen Stirn und dem reichen Haar, Herr Picou der Mann mit der niedrigen Stirn und den geschwungenen Augenbrauen. Darum interessierten sie die Volksszenen mehr als alles übrige an dem Film! Darum hatten sie sich zwei Tage hintereinander Billette spendiert! Das war überaus menschlich und überaus begreiflich. Nur eines war nicht ganz leicht zu verstehen: daß sie ihre Freude nicht andern mitteilten – daß sie nicht stolz ihren Mitbürgern in Mentone zuriefen: das sind wir! Hier seht ihr, daß wir, der Elektriker Duroy und der Autoreparateur Picou noch andere Saiten auf unserer Leier haben! Seinerzeit bestiegen wir den Kothurn, wir waren Tempeldiener der zehnten Muse! – Dies hatten sie das Recht, staunenden und bewundernden Mitbürgern zuzurufen, aber sie taten es nicht. Warum? Aus Bescheidenheit? Vermutlich, aber eine solche Bescheidenheit war schon beinahe unbegreiflich. Kein Zweifel, daß die Bürger von Mentone das ›Schloß in der Touraine‹ für einen ausgezeichneten Film, ein klassisches Werk hielten. Kein Zweifel, daß sie die zwei Mitglieder des ›Volks‹ mit Akklamation begrüßt haben würden, wenn sie gewußt hätten, daß sie zwei geachtete Mentoneser Bürger waren. Aber weit davon entfernt, sich den Lorbeerkranz des Histrionen um die Stirn zu winden, schienen die Herren Picou und Duroy vielmehr ängstlich besorgt, daß jemand ihren Ruhm ernten könnte. Davon zeugten die vorsichtigen Blicke, mit denen sie sich umsahen. Davon zeugten die Worte, die Monsieur Picou am Abend vorher fallen gelassen hatte: ›Glaubst du, daß jemand etwas gemerkt hat?‹
Eine höchst seltsame Bescheidenheit! Eine höchst seltsame Bescheidenheit! Hatte sie irgendeine Ursache?
Die Gedanken des Doktors, stets auf der Jagd nach Kombinationen, kehrten plötzlich zu ein paar Worten des Kinobesitzers zurück: ›Dieser Film hier ist in mehr als einem Sinne klassisch. Er hat eine Geschichte.‹ Er hatte kaum recht hingehört, als sie gesprochen wurden. Aber sein Gehirn hatte sie registriert, und nun tauchten sie auf. Nicht genug damit: sie bekamen für sein Ohr plötzlich einen mystischen Klang. Sie erfüllten ihn mit so großer Neugierde, daß er ohne weiteres seine Loge verließ und den Mann aufsuchte, der sie fallen gelassen hatte.
Er fand ihn die Tageskasse überzählend und frei von der Wehmut des Vormittags. Als er erwähnte, was ihn herführte, schlug der Direktor eine Lache auf.
»Eine Geschichte? Ja, das will ich meinen. Das Perlenkollier der Primadonna und ihr ganzer übriger Schmuck wurde mitten in der Probe gestohlen.«
»Weiter nichts!« rief der Doktor enttäuscht. »Es vergeht ja keine Woche, ohne daß der Schmuck einer Filmprimadonna gestohlen wird.«
»Ja, aber der wurde tatsächlich gestohlen!« rief der Direktor. »Und was mehr ist, er kam nie zutage. Nie! Ich weiß es, denn ich war damals zufällig bei dem Konsortium angestellt, und wir hatten schreckliche Plagereien, bis wir die Versicherungsgesellschaft dazu brachten zu glauben, daß dies nicht einer der gewöhnlichen Reklamediebstähle war.«
»So?« sagte der Doktor zerstreut. »Erinnern Sie sich noch an irgendwelche Details? Wen verdächtigte man denn des Diebstahls?«
»Ob ich mich an die Details erinnere!« rief der Direktor. »Das will ich meinen! Was Film hätte sein sollen, wurde ganz einfach Wirklichkeit. Die Heldin sollte im Walde von Banditen überfallen werden, und sie wurde überfallen, aber nicht von einem Filmbanditen, sondern von einem wirklichen Banditen – wie es sich herausstellte. Der wirkliche Bandit hatte das Äußere des Filmbanditen angenommen, was ganz einfach war, da er maskiert aufzutreten hatte. Der Photograph filmte das Ganze, ohne einen Unterschied zu merken. Erst als der richtige Filmbandit kam, roch man Lunte. Er war auf dem Wege zum Probenlokal von zwei Männern überfallen worden. Bevor er wußte, wie ihm geschah, war er gebunden und geknebelt. Die Männer waren vermummt – an einem Orte, wo ein Film einstudiert wird, kann man ja ruhig mit einer Maske und in jedem erdenklichen Kostüm herumgehen! – und als der Filmbandit ordentlich gebunden war, beeilte sich der eine der beiden, seine Rolle in der Weise, die ich Ihnen schon erzählt habe, zu übernehmen! Das war ein Drama im Drama, kann ich Ihnen sagen!«
»Wie in Hamlet!« bemerkte der Doktor. »Da wird der Mörder durch ein Drama im Drama enthüllt. Vielleicht könnte man den Dieb in diesem Drama auf dieselbe Weise entlarven!«
»Das wird wohl ein bißchen zu spät sein!« lachte der Direktor. »Sie fragen, ob niemand verdächtigt wurde! Es gab niemand, den man nicht verdächtigte! Aber das Ganze war so rasch gegangen, und da waren so viele Statisten und so viele andere Leute, die in Betracht kamen, daß es nicht möglich war, den Verdacht auf eine bestimmte Person zu konzentrieren. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß der Schmuck nicht zum Vorschein kam, obwohl man eine halbe Stunde nach dem Diebstahl jede lebende Seele einer Leibesvisitation unterzog! Nein, diese Geschichte wird nie aufgeklärt werden.«
»Sie haben sicherlich recht,« sagte der Doktor und verabschiedete sich.
Er lenkte seine Schritte zur Achilles-Bar, wo er sich hinsetzte, um über einer Achillesferse weiter nachzugrübeln. Worüber er nachdachte, war das Wesen der Bescheidenheit. »Bescheidenheit ist eine Tugend, kann aber auch etwas anderes sein, beispielsweise eine Politik. Es gibt Leute, die so bescheiden sind, daß man sie förmlich zwingen muß, aus ihrer Zurückgezogenheit herauszutreten. Aber wie soll man sie dazu zwingen können, wenn die Zeit, die Form des Nach-einander-seins, sie mit einer schützenden Mauer von fünfzehn Jahren umgürtet hat? Wie soll man die Vergangenheit dazu bringen, ihre Geheimnisse preiszugeben, die selbst zu der Zeit, wo das, was heute ein Damals ist, ein Jetzt war, unlösbar waren? Das geht nicht! In diesem Fall ist das Vergangene stumm, stumm wie die stumme Muse, stumm wie der Bartender Theodoros ...«
Der Doktor unterbrach sich unvermittelt und fuhr mit blitzenden Augen von seinem Sitz auf.
»Theodoros!« rief er. »Theodoros! Ich habe eine Idee! Eine erstklassige Idee! Eine phantastische Idee! Kommen Sie und hören Sie!«
Der sonnverbrannte junge Grieche näherte sich so gehorsam, als ob er jedes Wort gehört hätte. Seine hellblauen Augen glitzerten erwartungsvoll.
»Theodoros!« sagte der Doktor. »Meine Idee ist die: Haben Sie morgen nachmittag frei? Das ist übrigens egal! Haben Sie nicht frei, so bekommen Sie frei. Ich kaufe Sie bei Ihrem Bruder Achilles los! Im Notfall kaufe ich die Bar! Sie müssen frei haben, denn wissen Sie, Sie müssen mit mir ins Kino gehen!«
Theodoros' Augen drückten zuerst Staunen aus, dann Mißtrauen, dann Heiterkeit. Als aber der Doktor seine Worte mit einem neuen Cocktail bekräftigte, kehrte das Vertrauen wieder in sein Gemüt ein. Er nickte ein strahlendes Ja, und ehe der Doktor ging, war die Sache geordnet: am folgenden Tage sollte Theodoros auf Kosten des Doktors von einem andern vertreten werden, denn Theodoros würde – gleichfalls auf Kosten des Doktors – das Excelsior Cinéma besuchen und dort eines der klassischen Werke der französischen Filmkunst sehen, › Das Schloß in der Touraine oder die Erbin‹.
»Sehen Sie gut, Theodoros? Hier ist Papier und Feder. Wenn Sie etwas sehen, so schreiben Sie es nieder! Der Direktor hat versprochen, daß der Film so langsam wie möglich gedreht werden wird.«
Der junge Grieche nickte stumme Zustimmung. Das Licht wurde gelöscht, und das Drama begann. Man war kaum über die Einleitungsszenen hinaus, als der Doktor neben sich ein Prusten hörte. Theodoros wand sich vor Heiterkeit.
»Was ist denn?« bedeutete ihm der Doktor mit den Lippen.
Theodoros schrieb:
»Es ist nur das, was die Heldin und der Held zueinander sagen! Ich habe nie eine solche Sprache gehört!«
Der Doktor nickte. Es war sehr wahrscheinlich, daß die geschätzten Sociétaires du Théâtre Français dem Helden und der Heldin eines Filmdramas ganz andere Repliken in den Mund legten, als in einem Drama von Racine zu hören waren.
Sie konnten ja nicht ahnen, daß die stumme Muse nicht für alle ihre Anbeter gleich stumm war. Sie konnten Theodoros nicht voraussehen!
»Nicht der Held und die Heldin interessieren uns!« schärfte er dem jungen Griechen ein. »Vergessen Sie das ja nicht!«
Theodoros nickte. Man war jetzt bei der Szene, wo der Held und die Heldin die Huldigungen des ›Volks‹ entgegennehmen! Von der einen Ecke der Leinwand starrten die zwei verdrießlichen Darsteller zum weiß Gott wie vielten Male die glücklichen Schloßbesitzer an. Das Bild, das in gewöhnlichen Fällen ungefähr in zwei Minuten gedreht war, brauchte an diesem Tage vier. Theodoros' Augen starrten weit offen. Plötzlich fing er zu schreiben an:
»Der Mann mit der hohen Stirn sagt: ›Was, glaubst du, kann ihr Halsband wert sein?‹ Sein Kamerad antwortet: ›Weiß der Teufel, aber für uns wird die Summe schon reichen!‹ Der erste sagt: ›Wenn man einen Coup riskierte, ich glaube, es wäre keine Gefahr.‹ Der andere antwortet: ›Von mir aus! Alles ist besser als dieser Job. Aber wie soll man es machen?‹ Das ist alles!«
»Warten Sie nur!« murmelte der Doktor eifrig. »Die Fortsetzung kommt schon noch! Passen Sie nur auf, Theodoros, passen Sie auf!«
Der Film rollte weiter. Die Festszene kam. Aus der einen Ecke der Leinwand starrten die beiden verdrossenen Mitglieder des Volks vielleicht zum tausendsten Male den Helden und die Heldin an. Die Augen des taubstummen Griechen verschlangen sie. Plötzlich flog seine Feder wieder über das Papier:
»Der Mann mit der Stirn sagt: ›Ich habe einen Plan, um die Sache mit dem Halsband zu ordnen! Er ist einfach, aber er ist gut!‹ Der Kamerad sagt: ›Laß hören!‹ Der erste antwortet: ›Übermorgen soll ein Überfall im Walde studiert werden. Die Heldin wird ausgeplündert! Was würdest du dazu sagen, wenn wir die Rolle des Banditen übernehmen würden?‹ Der andere sagt: ›Da werden wir gleich entdeckt.‹ Der erste sagt: ›Hasenfuß! Hier, wo alle verkleidet herumlaufen! Wer bemerkt da ein Kostüm mehr oder weniger? Sie zu berauben ist ganz einfach, sich mit der Beute aus dem Staube zu machen, das ist das Schwere.‹ Das ist alles!«
»Danke,« flüsterte der Doktor. »Aber passen Sie auf, Theodoros! Wie haben sie es angestellt, die Diebsbeute zu verbergen? Passen Sie gut auf!«
Szene folgte auf Szene, ohne daß der Stift des Griechen sich bewegte. Aber plötzlich begann er über das Papier zu fliegen. Man war nun bei der Szene mit der Klappjagd. Die Landleute ziehen in einer Kette über die Leinwand. Am äußersten Ende des einen Flügels befinden sich die beiden morosen Herren. Anstatt sich an der Jagd zu beteiligen, mustern sie einen Baum nach dem andern, bis sie zu einer dicken Eiche kommen.
Theodoros schreibt:
»Der erste sagt: ›Hier in der Nähe soll der Überfall geprobt werden. Und hier haben wir das Mittel, die Juwelen in Sicherheit zu bringen! Du siehst doch das Loch in der Eiche dort. Da hinein lassen wir sie verschwinden. Und wenn der Aufstand sich gelegt hat ...‹ Der andere: ›Um Gottes willen, paß nur auf, daß niemand dich hört!‹ Der erste lacht: ›Keine Gefahr! Wir filmen doch! Man muß nur offen vorgehen, dann ...‹ Das ist alles.«
»Danke! Danke, Theodoros!« flüsterte der Doktor. »Bleiben Sie da und sehen Sie sich den Film weiter an! Ich habe an anderes zu denken!«
Er eilte in das Bureau, wo der Direktor ihn in atemloser Spannung erwartete:
» All right,« sagte er. »Jetzt ist die Reihe an Ihnen.«
Als die Herren Duroy und Picou kurz darauf den Kinosalon verließen, nachdem sie zum drittenmal ›Das Schloß in der Touraine oder die Erbin‹ genossen hatten, erwartete sie ihr Freund, der Kinodirektor, und bat sie in das Bureau zu kommen. Sie gehorchten. Der Anblick Doktor Zimmertürs ließ sie stutzen.
»Was –« begann Monsieur Picou.
Der Doktor lächelte strahlend und sperrte die Tür ab.
»Nur fünf Minuten!« bat er. »Ich habe den Herrn Direktor gebeten, mich zwei Mitwirkenden in dem Film vorzustellen, der mich mit dem tiefsten Interesse erfüllt hat.«
»Mitwirkende! Halten Sie uns für Filmschauspieler?«
»Ja,« sagte der Doktor, »allerdings. Und ich weiß, daß man berühmte Filmschauspieler um ihr Autogramm zu bitten pflegt. Ich bin so kühn, Sie um das Ihre zu bitten.«
Die Herren Picou und Duroy starrten einander mit einem Ausdruck zwischen Unruhe und Heiterkeit an. Der Doktor fügte erklärend hinzu:
»Ich meine ein Autogramm – mit Hilfe dieses kleinen Dinges da.«
Er deutete auf eines der Druckkissen, mit deren Hilfe man einen Abdruck des wichtigsten der Finger abnimmt, und begleitete dies mit einer illustrierenden Geste. Die beiden Freunde wollten schon in erregte Worte ausbrechen, als der Doktor ihnen mit einer Gebärde zuvorkam: er legte einen zerrissenen Filmstreifen vor sie hin – einen jener, die am Tage vorher im Apparatzimmer gefunden worden waren.
»Ich weiß, was Sie mir eben sagen wollten, Monsieur Picou. Sie wollten sagen, daß ich ein solches Autogramm wie das, von dem ich eben sprach, gar nicht brauche, weil es sich schon auf diesem Film vorfindet. Sie haben recht, es findet sich da vor, und ebenso ist auch das Autogramm Ihres Freundes Duroy darauf zu finden. Das ist höchst natürlich, denn wie sollte irgend jemand auf die Idee verfallen, zwei geachtete Bürger Mentones des Einbruchs in ein Kinotheater zu verdächtigen? Das war es, was Sie sich selbst sagten, und darum zogen Sie keine Handschuhe an, als Sie Ihre kleine nächtliche Visite machten. Ein Daumenabdruck verrät ja nichts, wenn er sich nicht im Polizeialbum vorfindet. Und da, Messieurs, findet man Ihre Daumenabdrücke nicht – trotzdem Sie es waren, die vor fünfzehn Jahren Mademoiselle Gaby d'Orsays Juwelen gestohlen haben!«
Die Herren Picou und Duroy hatten mit kaleidoskopisch wechselndem Gesichtsausdruck zugehört. In einem Augenblick sah es aus, als wollten sie in rasende Proteste ausbrechen, im nächsten Augenblick, als wollten sie die Achseln zucken und sagen: – » Bon dieu, ja, Sie haben recht! Wir waren es, es war ein dummer Streich von uns gegen unsern Freund, den Direktor, und wir bedauern es.« – Aber bei den letzten Worten des Doktors verloren sie plötzlich ihre ganze Ruhe. Sie stürzten mit geballten Fäusten auf den Doktor los, indem sie schrien: – »Wie können Sie sich unterstehen? Wer sind Sie? Was sind das für Beschuldigungen?«
Der Doktor wendete sich an den Direktor:
»Lassen Sie den Zeugen hereinkommen!«
Wie durch einen Zauberschlag wurde es plötzlich still. Die Herren Picou und Duroy starrten wie verhext auf die Tür, die der Direktor öffnete. Aber als sie keinen andern sahen als den griechischen Bartender Theodoros, brachen sie wieder in ein wütendes Geschrei aus. Sie verstummten erst, als der Doktor einen Block aus der Hand des Griechen nahm und las:
»Erinnern Sie sich noch, Monsieur Duroy, was Sie vor fünfzehn Jahren zu Ihrem Freunde sagten, als die erste Volksszene studiert wurde? Sie haben es vergessen? Schön! Was Sie zu Monsieur Picou sagten, war folgendes: ›Was, glaubst du, kann ihr Halsband wert sein?‹ Monsieur Picou antwortete: ›Weiß der Teufel, aber für uns wird die Summe schon reichen.‹ Sie sagten: ›Wenn man einen Coup riskierte? Ich glaube, es wäre nicht sehr gewagt.‹ Monsieur Picou antwortete: ›Von mir aus! Alles ist besser als dieser Job!‹«
Er machte eine kurze Pause. Die beiden Angeklagten waren stumm. Dieses verspätete Echo von Worten, die vor fünfzehn langen Jahren gewechselt wurden – Worte, die kein anderer je gehört – dieses Echo, das sie über Zeit und Raum hinweg erreichte, schien sie überwältigt zu haben. Der Doktor fuhr fort:
»Wir gehen zur nächsten Szene über, in der Sie beide aufzutreten hatten. Sie, Monsieur Duroy, sagten: ›Nun glaube ich, habe ich einen Plan, die Sache mit dem Halsband zu ordnen! Er ist einfach, aber er ist gut.‹ Sie, Monsieur Picou, antworteten: ›Laß hören!‹ Monsieur Duroy antwortete: ›Übermorgen soll ein Überfall im Walde geprobt werden ...‹«
Er fuhr fort zu lesen, eintönig wie ein Protokollführer bei Gericht. Er war nun zu der Szene am Fuße der hohlen Eiche gekommen, als die beiden Freunde zusammenknickten. Monsieur Duroy brüllte auf: »Genug! Sie haben recht! Machen Sie mit mir, was Sie wollen!« Monsieur Picou stöhnte: »Nach all diesen Jahren! Und wegen ein paar Perlen, die nicht einmal echt waren! Aber so geht es! Machen Sie, was Sie wollen!«
Der Doktor unterbrach sich in seiner Vorlesung und sah ihn lange an.
»Die Perlen waren nicht echt? Aber Mademoiselle d'Orsay bekam sie doch von der Versicherungsgesellschaft ersetzt? Sie lügen, Picou!«
»Ich lüge nicht!« schrie der Autoreparateur. »So wahr ich lebe, ich lüge nicht. Die Primadonna hatte das echte Perlenkollier mit dem imitierten vertauscht und dieses haben wir gestohlen! Sie bekam es ersetzt, aber wir bekamen gar nichts. Und jetzt hat man sich zu einem ehrlichen Manne heraufgearbeitet und dann kommt die Strafe, nach all diesen Jahren!«
Der Doktor sah den Kinodirektor an, und von ihm fiel sein Blick auf Theodoros. Monsieur Picou jammerte weiter:
»Wären wir nur nicht ins Kino gegangen, um uns dieses elende Stück anzusehen! Aber wir konnten nicht widerstehen. Es war so merkwürdig, das Ganze noch einmal zu erleben! Und dann beschlossen wir, den Film zur größeren Sicherheit zu entwenden, und jetzt sind wir geliefert! Was werden meine Kinder sagen? Was wird meine Frau sagen?«
Die Augen des Direktors wurden feucht. Welcher Franzose kann widerstehen, wenn ein anderer Franzose an sein Familiengefühl appelliert?
Der Doktor räusperte sich:
»Ja, Ihr Einbruch, meine Herren, war eine ernste Sache. Und die müssen Sie mit ihrem Freunde, dem Direktor, in der Weise ordnen, die er bestimmt. Aber was die andere Affäre betrifft, so bin ich kein Zensor. Weder von Filmen noch von Moral! Lassen wir das Vergangene das Vergangene begraben! Lassen wir die Kinodramen im Kinotheater verbleiben! Und lassen wir die stumme Muse so stumm sein, als wäre Theodoros nie gewesen! Leben Sie wohl, meine Herren! Und nun zurück in die Bar, Theodoros, auf flinker Achillesferse!«