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Das Gäßchen, das Doktor Zimmertür hinunterging, nahm ein unerwartetes Ende, es führte zu einem Klostergarten. Monsieur Combes hatte das Kloster vor zwanzig Jahren aufgehoben, aber der Garten blühte trotz seines Edikts weiter, und die angrenzende Kirche stand noch jenen offen, die mühselig und beladen waren. Der Klostergarten strömte über von Sonnenschein und all den Farben, die der Sonnenstrahl, durch Tränen gesehen, enthält. Rosen, Jasmin und Glyzinien glühten gegen die weißen Mauern. Aus einem Seitenschiff kam Gesang, und der Doktor trat näher. Schwere klagende, gleichsam florumhüllte Rhythmen stiegen und sanken, bis sie sich plötzlich in träufelnde Tränen und verklärten Frieden lösten. Wie seine ganze Rasse liebte der Doktor die Musik beinahe fanatisch, und er blieb mit gesenktem Kopf stehen, bis der Gesang verstummte, und eine Schar von Knaben aus der Kirche strömte. Ein freundlicher grauhaariger Geistlicher geleitete sie bis zur Kirchentür. Als er zurückkehrte und den Doktor in das Studium der gemalten Heiligenlegenden der Kirchenmauer versunken sah, kam er bereitwillig auf ihn zu, um sie ihm zu erklären. Der heilige Stephan von Castellar, nach dem Kloster und Kirche benannt waren, schien in der Heiligenwelt ungefähr dieselbe Rolle zu spielen wie der heilige Antonius von Padua; er beschützte vor Unglücksfällen und sorgte dafür, daß verlorene Dinge wieder zum Vorschein kamen. Die Wandmalereien gaben Beispiele für beide Formen seiner Hilfe. Man sah kleine Kinder aus dem Fenster fallen, ohne zerschmettert zu werden, man sah eine Truhe, die geöffnet wurde und zum sichtlichen Staunen der Beschauer ein Kleinod enthielt, das man offenbar lange vermißt hatte. Die Anatomieschilderung war die primitivste; und der Anblick all dieser Gestalten, die mit starren Augen und Gliedern in der Luft standen oder im Begriff waren, von Droschken und Autos überfahren zu werden, war von einer unbezahlbaren Komik. Aber gleichzeitig war er unendlich rührend – ebenso rührend wie die vielen Votivtafeln, die in mangelhafter Orthographie verkündeten: Danke, heiliger Stephan!
Der Doktor lauschte den Erklärungen des alten Geistlichen ernsthaft. So allmählich wurde das Gespräch persönlich. Der Doktor nannte seinen Namen und erwähnte auch seinen Beruf.
Als der alte Geistliche den letzteren hörte, huschte ein unbeschreibliches Lächeln über sein Gesicht. Der Doktor bemerkte es sofort.
»Die Psychoanalyse hat nicht Ihren Beifall, Monsieur le curé?«
»Mein Freund,« antwortete sein Begleiter, »darf ich Sie etwas fragen: Kennen Sie einen Theaterregisseur namens Reinhardt?«
»Ja.«
»Was halten Sie von seiner Regiekunst?«
»Ich finde sie imponierend.«
»Sie ist sicherlich imponierend. Ich habe sie nicht gesehen. Aber was ist eigentlich das, was er getan hat? Er hat alle Wirkungsmittel unserer Kirche genommen und etwas ganz anderes daraus gemacht als das, wozu sie bestimmt waren. Er hat die Farben genommen, die Musik, den Weihrauch und hat Theatereffekte daraus gemacht. Was bei uns Brot für die Hungernden ist, wird bei ihm zum Schauspiel. Wenn ich sagte, daß er alle Wirkungsmittel der Kirche genommen hat, so habe ich übertrieben! Eines blieb noch! Es blieb die Beichte. Was ist die Psychoanalyse anderes als eine Beichte – ohne Absolution? Reinhardt und sein Landsmann Freud haben wie zwei Räuber um den Mantel und den Rock meiner Kirche gelost.«
»Sie sind nicht Landsleute,« wandte der Doktor hierauf ein. »Reinhardt ist Ungar und Professor Freud ...«
»Sie sind aber doch Landsleute,« erwiderte der alte Geistliche. »Ich weiß nicht, welcher Nation Sie angehören, aber ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich sage, daß Sie alle drei Landsleute sind!«
Doktor Zimmertür war nicht verletzt. Es war so liebenswürdig gesagt, daß man unmöglich verletzt sein konnte.
»Monsieur le curé,« erwiderte er, »ich merke, daß mein galiläisches Profil mich verrät. Und ich verstehe schon, was Sie meinen. Wenn Sie das Werk meiner beiden ›Landsleute‹ sehen, ist Ihnen zumute wie den Jesuiten, als sie nach Tibet kamen und dort eine Kirche mit Kloster, Rosenkranz und anderm vorfanden, das sie der alleinseligmachenden Kirche vorbehalten glaubten. Sie zogen den einzigen Schluß, der ihnen möglich schien, nämlich, daß der Teufel sich den Spaß gemacht hatte, die katholische Kirche zu parodieren, um die Gläubigen zu verhöhnen und irrezuführen. Paßt das Bild auf Sie, Monsieur le curé?«
»Sie übertreiben,« protestierte der Geistliche, »Sie übertreiben!«
»Aber übertreiben Sie nicht selbst? Läßt es sich nicht denken, daß Professor Freud, indem er die Beichte sozusagen in ein System bringt, der Kirche einen Dienst erweist? Läßt es sich nicht denken, daß er, anstatt wie Sie behaupten zu stehlen, nur eine Anleihe macht, die mit Zinsen und Zinseszinsen zurückbezahlt werden wird?«
Der alte Geistliche schüttelte den Kopf.
»Eine Beichte ohne Absolution,« sagte er, »ist keine Beichte. Ich möchte sagen, sie ist schlimmer als keine Beichte. Sie fesselt den Sinn des Beichtenden an die Erde, anstatt ihn emporzuheben.«
Das Gespräch glitt zu andern Gebieten.
»Und die Melodie, die ich singen hörte?« fragte der Doktor. »Die Hymne von Palestrina?«
»Ah, Sie wissen, daß sie von Palestrina ist?« sagte der Alte angenehm überrascht. Er begann zu erklären. Der Gesang war eine Art Generalprobe. In einigen wenigen Tagen war der St. Stephanstag, an dem die jährliche Prozession zu Ehren des Heiligen stattfinden sollte. Sie ging von der Kirche aus rings um die innere Stadt und wieder zurück. Nach uralter Sitte sang der Chor dabei jene Hymne von Palestrina, von der der Doktor eben einen Teil einstudieren gehört hatte. Der Zulauf zu der Prozession pflegte sehr groß zu sein. Manchmal war der ganze Verkehr in der inneren Stadt für ein paar Stunden lahmgelegt.
»Was wollen Sie?« sagte der alte Geistliche lächelnd, »die Karnevalszeit ist ja vorbei, das Volk will Schauspiele haben, und für manche von ihnen hat das Schauspiel einen tieferen Sinn. Die französischen Behörden sehen die Prozession gerade nicht mit besonders wohlwollenden Augen an – aber hier sind wir ja beinahe in Italien!«
Als der Doktor sich verabschiedete, legte er eine Banknote in die Sammelbüchse des heiligen Stephan.
»Wie ist es, mein Freund? Fühlen Sie sich nicht wie ein Chemiker, der einer Gesellschaft rückständiger Alchimisten ein Almosen gibt?«
Der Doktor lachte schuldbewußt, aber als der Alte zum Abschied das Kreuzeszeichen über ihm machte, entblößte er ehrerbietig das Haupt.
Der Doktor blieb auf dem Platze vor dem Kasino Municipal stehen. Ohne dem, was er sah, irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken, starrte er eine Statue an, die sich zwischen den Blumenbeeten erhob. Sie stellte eine Tochter dar, die sich in die Arme ihrer Mutter stürzt, während ein heroischer Hahn einen Triumphschrei ausstößt, und sie sollte die Vereinigung Mentones mit Frankreich im Jahre 1860 symbolisieren. Der Doktor sah sie, ohne sie zu sehen. Seine Gedanken waren weit weg.
»Eine Beichte ohne Absolution! Er hat recht! Und doch – doch –«
Er starrte noch immer die Statue an. Wie immer, wenn sein Hirn an einem Problem arbeitete, schnitt er die fürchterlichsten Grimassen, warf die Lippen auf, fletschte die Zähne und rollte die Augen. Vier kleine Gassenjungen blieben stehen und beobachteten ihn mit schlecht verhehltem Interesse. Ein beleibter älterer Herr mit Monokel tat dasselbe und nahm überdies noch an seiner Seite Platz. Der Doktor zuckte zusammen, als er jemanden murmeln hörte:
»Nicht wahr? Das ist ein Kunstwerk, das zu beseitigen höchste Zeit wäre! Oder sagten Sie das nicht, mein Herr?«
»Wie beliebt?« rief der Doktor und erwachte aus seinen Gedanken. »Ich sagte nichts! Doch, ich sagte, vermutlich, daß ich mir Beichten denken kann, die jede Absolution unmöglich machen!«
Der andere starrte ihn mißtrauisch an.
»Verstehe ich Sie recht?« fragte er. »Es gibt Beichten, die ...«
»Die jede Absolution ausschließen,« ergänzte der Doktor. »Jawohl! Ja! Aber übrigens gibt es Statuen, die auch keine verdienen. Ja, viele, für die es besser wäre, man senkte sie mit einem Mühlstein um den Hals in das Meer. Diese hier ist eine davon. Je früher sie fortkommt, desto besser!«
»Aber wenn man sie entfernte,« antwortete sein Nachbar mit gesenkten Augenlidern. »Was sollte man dann dafür aufstellen?«
»Von mir aus was immer,« erwiderte der Doktor gleichgültig.
Sein Nachbar schien enttäuscht.
»Sie haben keine andere Statue anstatt dieser vorzuschlagen?« erkundigte er sich.
Der Doktor musterte ihn mißtrauisch. Er sah nicht aus wie ein Kunstfanatiker – nein, absolut nicht. Was meinte er mit seinen dummen Fragen? Na, das ging niemand andern an als ihn selbst! Jetzt handelte es sich darum, ihn loszuwerden, und es gibt eine sichere Art, zudringliche Personen zum Verschwinden zu bringen, nämlich, ihnen ausführliche Erklärungen über Dinge mitzuteilen, die sie nicht interessieren können. Er beschloß, sie zur Anwendung zu bringen.
»Sie müssen schon entschuldigen, wenn ich Ihnen eine Enttäuschung bereite,« sagte er, »aber ich habe im Augenblick wirklich keine andere Statue vorzuschlagen. Ich komme direkt aus der St. Stephanskirche hier in der Stadt, und mein Kopf ist ganz erfüllt von etwas, das ich dort hörte. Sie verstehen mich vielleicht nicht, aber ...«
Es war eigentümlich, aber wahr; das Interesse des zudringlichen Herrn erkaltete angesichts dieser Mitteilungen nicht im geringsten.
»Aus der St. Stephanskirche?« wiederholte er mit leiser intensiver Stimme. »Was haben Sie dort gehört?«
Das unfehlbare Mittel war offensichtlich nicht unfehlbar. Aber es gab ein anderes, das darin bestand, die Flucht zu ergreifen.
»Da Sie es durchaus wissen wollen,« rief der Doktor, »es war eine Melodie von Palestrina! Adieu!«
Er rettete sich auf einen Straßenbahnwagen. Auf der Plattform stehend, sah er auf den seltsamen Fragesteller zurück. Sollte man nach seiner Haltung schließen, hatte er die größte Lust zu einer Sache, nämlich auf die Straßenbahn aufzuspringen und das Gespräch fortzusetzen. Aber andere Gefühle kämpften offenbar mit diesem Trieb, und während dieser Kampf sich noch abspielte, löste sich das Problem von selbst: die Straßenbahn fuhr ab. Das letzte, was der Doktor von seinem neuen Bekannten sah, war, daß er dem Omnibus des Hotel Excelsior zuwinkte und einstieg. Also wohnte er wohl in diesem Hotel.
Sehr bald hatte der Doktor die ganze Episode vergessen. Aber er sollte sehr bald wieder daran erinnert werden.
An diesem Abend blühte der Frühling in Mentone auf. In den Alleen standen die schlanken Platanen wie lichtgrüne Kandelaber, der Duft ihrer Blätter erfüllte die Luft, jeder Atemzug war wie ein Schluck eines jungen, gärenden Weines. Die Straßen, die nie viel Nachtverkehr sahen, lagen so verödet da, daß das Rauschen des Meeres bis hinauf zum Kasinoplatz zu hören war. Der Doktor ging und ging, und seine Gedanken schweiften. Als er endlich zum Bewußtsein erwachte, stand er auf dem kleinen Platze vor dem Rathaus, und als er allmählich den Blick von den mattweißen Sternen hinabsenkte, sah er in der Ferne ein schwachschimmerndes Licht. Seine Lokalkenntnis war nunmehr so groß, daß er bald wußte, was für ein Licht das war. Es war die Nachtbeleuchtung in Mentones größtem Juwelengeschäft, Ballestrieri. Und in demselben Augenblick, in dem er dies konstatiert hatte, bemerkte er noch etwas anderes.
Von seinem Platz aus konnte er deutlich die Konturen zweier Köpfe sehen, die sich von dem mattschimmernden Lichtfeld abzeichneten. Er wußte, daß jede Nacht ein eiserner Rolladen vor dem Geschäft herabgelassen wurde. Durch eine Öffnung desselben drang das Licht der ewig brennenden Lampen des Geschäfts hinaus. Und von dieser Öffnung also zeichneten sich die beiden Köpfe ab.
Was waren das für zwei Köpfe? Der Doktor bekam plötzlich Lust, sich davon zu überzeugen. Die Arkade, die vom Rathaus zum Boulevard St. Michel hinabführte, bot eine unübertreffliche Deckung. Es kostete ihn keine besondere Mühe, ungesehen auf einige Schritte Entfernung an die Personen heranzukommen, die er beobachten wollte. Er konnte die Konturen ihrer Gesichter ganz klar sehen, ja, er konnte sie sogar reden hören.
Es waren zwei junge schlanke Leute von zwei- bis dreiundzwanzig Jahren, sie sprachen italienisch. Was sie sagten, konnte der Doktor nicht hören, aber etwas Eigentümliches fiel ihm auf: nur einer von ihnen redete, der andere hörte zu, und unterdessen sah er sich nach allen Seiten um. Der Doktor hatte es der Arkade und seinen Wildlederschuhen zu danken, daß er ihre Aufmerksamkeit nicht erregt hatte. Der eine der beiden, der, der sprach, blickte unverwandt durch die Öffnung des Rolladens. Sein Kamerad sah überall hin, nur nicht dorthin. Während seine Blicke umherirrten, bewegte sich seine Hand unablässig. Nach und nach ging es dem Doktor auf, was diese Hand tat: sie schrieb! Sie schrieb in ein Notizbuch, das der Mann in der andern Hand hielt. Und da sein Kamerad sprach und er schrieb, war eines so ziemlich klar: er schrieb nach Diktat. Was schrieb er? War es möglich, daß sein Begleiter ein Dichter war, ein Poet, den Ballestrieris Auslage inspirierte und der nun einem Sekretär parnassische Sonette diktierte? Möglich war es, aber war es eigentlich wahrscheinlich zu nennen? Nein! Eine andere Erklärung fiel dem Doktor ein.
Beim Zeus, dachte er, die stehen hier und machen mitten in der Nacht ein Inventarverzeichnis! Das zeigt große Fürsorge für Herrn Ballestrieris Geschäft. Aber ich weiß doch nicht recht, ob er Wert auf dieses Interesse legen würde.
Nun hörte die Hand des Auslugmanns auf zu schreiben. Offenbar war die Inspiration seines Begleiters versiegt. Aber glücklicher als die meisten Dichter wußte er dafür Rat. Einige Schritte weiter weg in derselben Straße glomm ein anderes Lichtquadrat in einem andern herabgelassenen Rolladen. Die zwei Freunde brauchten nur wenige Augenblicke, um sich dorthin zu begeben, und kaum waren sie da angelangt, als die Inspiration wieder über den Mann mit der poetischen Begabung kam. Noch immer lag die Straße öde und leer da, kein Schritt war zu hören, keine Polizistenkapuze zu sehen. Was sollte der Doktor tun? Es war mit einiger Sicherheit anzunehmen, daß die beiden jungen Leute nicht Agenten einer Wach- und Schließgesellschaft waren. Aber wenn er nach der Polizei rief, wenn ein Polizist gegen alles Erwarten kam – was dann? Sie hatten nichts Ungesetzliches getan – noch nicht. Ein vergleichendes Inventarverzeichnis der Auslagefenster der Juweliere der Stadt anzulegen – und damit verbrachten die beiden sauberen Vögel offenbar die Nacht – ist kein Verbrechen. Aber selbst wenn die Polizei gegenteiliger Meinung war, würde der Doktor doch tausendundeine Zeugenaussage ablegen müssen. Und es gab nichts, was er so verabscheute wie die Luft in den Amtslokalen der staatlichen Gerechtigkeit.
Nein, konnte er diesen beiden Jünglingen unbemerkt bis zu ihrer Wohnung folgen, die Juweliere warnen und ihnen ihr Signalement geben, so wäre das eine ganz andere Sache! Dann blieb er von all diesen unerträglichen Zeugenvernehmungen verschont – hallo!
Das zweite Poem dieser Nacht schien fertig zu sein. Der eine der beiden Freunde steckte das Notizbuch in die Tasche, und beide entfernten sich hoch erhobenen Hauptes, wie Männer, die auf gutem Fuße mit ihrem Gewissen stehen. Der Doktor schickte sich an, ihnen zu folgen. Aber ehe er noch weit gekommen war, taten seine Opfer etwas, das ihn förmlich an den Boden festnagelte.
Mit zwei schmachtenden italienischen Tenören stimmten sie eine Melodie an. Und diese Melodie war die letzte, die man sich aus ihrem Munde erwartet hätte.
Denn es war die Hymne von Palestrina, die er am selben Morgen in der St. Stephanskirche proben gehört hatte!
Die Gefühle des Doktors angesichts dieses musikalischen Paradoxons ließen ihn völlig aus seiner Rolle als freiwilliger Detektiv fallen. Und als er um die nächste Straßenecke bog, waren die Inventarschreiber verschwunden. Er durchsuchte alle Straßen und Gäßchen der Umgebung, aber vergebens, und schließlich fügte er sich in das Unvermeidliche und ging zu Bett.
Schon der nächste Morgen sollte jedoch neue Sensationen bringen. Wie immer trank er seinen Apéritif in einem kleinen Café schräg gegenüber dem Hotel Majestic. Es hatte ein Orchester, das moderne Tanzmusik ganz passabel vortrug, und natürlich spielte es auch des Morgens, um die Rivieragäste in dem Glauben, daß das ganze Leben eine Operette ist, zu bestärken. Der Doktor trommelte geistesabwesend den Takt zu den Melodien, während er den Rotterdamschen Kurier studierte, den er sich gerade bei Hachette gekauft hatte. Hinter der Zeitung verschanzt, sah er einen Bekannten in das Café treten – den Mann, der ihn am Tage zuvor angesprochen und sich so energisch für eine neue Statue auf dem Kasinoplatz eingesetzt hatte! Der Bilderstürzer nahm in einer Ecke Platz, ohne ihn zu sehen. Durch das Kaffeehausfenster schimmerte die von ihm verachtete Marmorgruppe: die Tochter stürzte sich in die Arme der Mutter, das Haar der Mutter war wie zum Ball frisiert, und der heroische Hahn krähte triumphierend.
Der Doktor schloß seinen Gedankengang nicht ab. Die Kapelle hatte plötzlich einige Takte angestimmt, und diese Takte ließen ihn sein Visier, den Rotterdamschen, fällen, und wie verhext starrte er die Jazzvirtuosen an.
Denn anstatt › Pas sur la bouche‹ und › Phi-Phi.‹ spielten sie eine Melodie, die er tags zuvor zweimal in recht heterogener Umgebung gehört hatte – die uralte Hymne von Palestrina! Nur einige Takte – dann hörten sie auf. Ehe noch die Töne verklungen waren, geschah etwas: zwei Herren, die gerade hereingekommen waren, erhoben sich, gingen zur Kapelle hin und stellten eine Frage. Der Kapellmeister beantwortete sie mit einer Geste nach der Ecke, wo der Freund des Doktors vom gestrigen Tage Platz genommen hatte. Die zwei Herren lenkten ohne Zögern ihre Schritte nach dieser Ecke. Der Freund des Doktors erhob sich mit strahlendem Lächeln und streckte beide Hände bewillkommnend aus. Er und die beiden Neuankömmlinge wechselten einige Begrüßungsphrasen. Aber schon fünf Minuten darauf waren sie alle drei auf dem Weg ins Freie!
Der Doktor dachte so intensiv nach, daß die Rädchen seines Denkmechanismus knirschten. Was war da vorgegangen? Sollte Palestrinas Musik eine plötzliche Renaissance in profanen Kreisen erleben? Sollte sie Chancen haben, › Phi-Phi‹ in den Musikcafés und auf den Lippen der Nachtwanderer zu verdrängen? Es ließ sich denken – ja, es ließ sich genau so leicht denken, wie daß es ein Poet war, den er am gestrigen Abend vor Ballestrieris Auslagefenster Verse diktieren gesehen hatte. Aber auch nicht leichter!
Das Zusammentreffen war zu eigentümlich, um ein Zusammentreffen zu sein. Aber – und das machte die Sache wirklich sonderbar – die zwei Herren, die sich vorhin bei den Tönen von Palestrinas Cantabile erhoben hatten, und auf den redseligen Freund des Doktors zugesteuert waren, – diese beiden Herren warm keineswegs identisch mit dem Paare, das er vorige Nacht beobachtet und verfolgt hatte. Darauf konnte er einen Eid ablegen. Die beiden Inventarschreiber waren junge Leute von zwei-, dreiundzwanzig Jahren gewesen. Der eine, der vorhin erschienenen Herren war ungefähr dreißig, der andere mindestens vierzig, so wie der Doktor selbst und ungefähr ebenso beleibt. Und wenn er es noch nötig gehabt hätte, sein Gedächtnis aufzufrischen und Vergleiche anzustellen, bot sich ihm jetzt die beste Gelegenheit dazu.
Durch das Fenster hatte er noch immer freien Ausblick auf die verketzerte Statue. Vor ihr stand in diesem Augenblick sein Freund von gestern und neben ihm die beiden Herren, die er im Café getroffen hatte. Sie sprachen eifrig, aber sie hatten weder für die Mutter noch für die Tochter Augen. Doch plötzlich veränderte sich die Szene. Doktor Zimmertürs Freund flüsterte seinen Begleitern etwas zu, und im selben Augenblick kannten sie ihn nicht mehr. Sie gähnten, sie sahen auf die Uhr, und gingen ihrer Wege, ohne sich auch nur von dem Manne zu verabschieden, mit dem sie eben in einem intimen Gedankenaustausch vertieft gewesen waren. Was mochte die Ursache sein? Das schon etwas überanstrengte Gehirn des Doktors suchte es vergebens zu ergründen, als zwei neue Akteure die Bühne betraten. Es waren zwei junge, gut gekleidete Männer. Sie kamen auf den einzigen zurückgebliebenen des früheren Tableaus zu, stellten sich neben ihn und begannen demonstrativ die Statue anzustarren. Plötzlich sprang der Doktor von seinem Platz auf dem Sofa auf. So wahr er gut beobachtete und so wahr er beinahe Nyktalop war und nachts besser sah als bei Tag – das waren ja eben die zwei jungen Herren, denen er diese Nacht nachgegangen war! Kannten sie seinen Freund, den Bilderstürmer? Eines war sicher: er kannte sie weder, noch wollte er sie kennen. Er antwortete nicht auf das, was sie sagten; und bald darauf drehte er sich demonstrativ um und ging fort – in die entgegengesetzte Richtung, in der seine Freunde aus dem Café verschwunden waren. Die beiden jungen Herren sahen sich noch einmal die Statue an, wechselten einige Worte, lachten laut auf und verschwanden in das Hotel Majestic. Im selben Augenblick kamen die beiden Freunde des Bilderstürmers aus einer Seitengasse hervor. Nun erkannten sie sich wieder gegenseitig und eilten Arm in Arm der Strandpromenade zu. Der Doktor zahlte dem Kellner und blieb in tiefe Gedanken versunken stehen.
»Ich komme mir vor wie ein Archäologe, der einen Fries gefunden hat, auf dem viele Vorgänge einander im Bilde folgen,« murmelte er. »Nur der Text könnte darüber aufklären, was sie vorstellen. Hat man Glück, so findet man einen Rosettestein, der den Schlüssel zu dem Text gibt und damit auch zu dem Fries. Aber mein Fries hat keine Worte. Wie soll ich die Lösung dazu finden? Ich glaube, ich gehe frühstücken.«
Doktor Zimmertür aß eine Crevette und sagte:
»Taten sind beredter als Worte! Das ist ein anerkanntes Axiom. Aber ist es möglich, ein Problem ohne Worte zu lösen? Sehen wir einmal! Was sind die Fakten des Problems? Fünf sonderbare Herren, die sich gegenseitig nicht kennen oder nicht kennen wollen, eine Statue und eine Melodie von Palestrina! Das ist alles! Was sagen uns diese Fakten?«
Doktor Zimmertür legte sich eine Portion Omelette vor und beantwortete seine eigene Frage:
»Sie sagen uns nicht viel. Sicher ist, daß derjenige der Herren, um den das Problem sich dreht, nicht wünscht, daß die beiden, denen ich heute nacht nachging, mit den zweien bekannt werden, mit denen ich ihn selbst heute Bekanntschaft schließen sah. Ferner, daß die zwei, denen ich nachging, Pläne gegen ein oder zwei Juweliergeschäfte hier in der Stadt im Schilde führen. Aber hat mein erster Freund auch Pläne gegen diese Geschäfte? Und sind seine zwei neuen Bekannten daran beteiligt? Nichts spricht dafür und nichts dagegen. Alles über das hinaus, was ich eben feststellte, ist nur lose Kombination ohne jeden Wert.«
Doktor Zimmertür nahm sich ein Stück von einer Blanquette de veau und fuhr fort:
»Was sagt uns die Melodie von Palestrina? Was wissen wir von ihr? Wir wissen, daß sie in einigen Tagen bei einer frommen Prozession gespielt werden soll. Ferner, daß sie die Rolle eines Wiedererkennungssignals zwischen meinem ersten Freund und den beiden Herren im Café gespielt zu haben scheint. Schließlich, daß die beiden Inventarschreiber sich ihrer heute nacht bedienten, um ihrer Zufriedenheit mit dem Dasein Ausdruck zu verleihen. Kann die Melodie uns noch andere Leitfäden liefern? Möglich, aber bis jetzt unmöglich zu sagen.«
Doktor Zimmertür schnitt sich ein Stück Roquefort ab und sagte:
»Und die Statue? Was wissen wir von der Statue? Daß sie die Erinnerung an Mentones Vereinigung mit Frankreich festhält. Das ist alles. Und was sagt uns dies? Nichts! Es ist möglich, daß Taten beredter sind als Worte, aber dann muß man auch die Sprache, die sie sprechen, verstehen. Und das ist bei mir nicht der Fall.«
Er schälte in düsterer Nachdenklichkeit eine Mandarine. Plötzlich hörte er eine Stimme sagen:
»Guten Tag, Herr Doktor! Was treiben Sie denn jetzt?«
Er wandte den Kopf. Am nächsten Tisch, neben ihm auf dem wandfesten französischen Sofa, das rings um das Lokal ging, saß ein Herr, der ihm bis dahin nicht aufgefallen war, der Untersuchungsrichter, dessen Bekanntschaft er gelegentlich des Mordes auf der Promenade du Midi gemacht hatte. Er hatte seinen kahlen Kopf schräg gelegt und musterte seinen Nachbar mit neugierig blinzelnden Augen. Dabei lag nicht wenig Ironie in seinem Blick. Ein Jurist hat selten Freude daran, wenn ihm seine Anklagen von einem Laien über den Haufen geworfen werden.
Der Doktor grüßte artig.
»Was ich treibe? Ah, ich pfusche Ihnen ein wenig ins Handwerk, Herr Richter. Ich bin mit einer kleinen Untersuchung auf eigene Faust beschäftigt.«
Der Jurist lachte trocken auf.
»Wie letzthin? Ich bin überzeugt, daß Ihre Untersuchung diesmal zumindest ein ebenso epochemachendes Resultat ergeben wird.«
Der Doktor verbeugte sich. Die Ironie in der Stimme seines Sitznachbars war auch für die taubsten Ohren unverkennbar.
»Da ist ein kleiner Unterschied,« erwiderte er. »Das letztemal untersuchte ich eine Reihe von Fakten, die nach einem Verbrechen vorlagen. Jetzt studiere ich einige Symptome, die mir ein Verbrechen anzukündigen scheinen.«
»Ich hoffe, sie sind so klar und deutlich, daß das Verbrechen verhütet werden kann.«
»Leider ganz im Gegenteil. Was die Klarheit betrifft, möchte ich sie am ehesten mit den Aufschlüssen vergleichen, die man seinerzeit erhielt, indem man das Scharren der heiligen Hühner im Sande studierte.«
Der Untersuchungsrichter lächelte, nicht ohne Schadenfreude. Dem Doktor kam ein Gedanke.
»Ja richtig,« sagte er. »Ein zentrales Faktum habe ich, das die verschiedenen Glieder der Kette vereinigt. Sie, der Sie die Stadt besser kennen als ich, Herr Richter, könnten mir vielleicht behilflich sein, seine Bedeutung zu ergründen.«
»Gern,« antwortete sein Sitznachbar, ohne allzu überströmendes Wohlwollen in der Stimme. »Von was für einem Faktum sprechen Sie?«
»Es ist ein Faktum in Stein,« erwiderte der Doktor. »Es ist die Statue auf dem Kasinoplatz, die Mentones Vereinigung mit Frankreich verherrlicht. Irre ich, oder fiel nicht Mentone in derselben Weise wie Nizza an Frankreich, durch einen politischen Kuhhandel zwischen Cavour und Napoléon III.? In diesem Falle scheint mir die schöne Symbolik in der Umarmung der Mutter und der Tochter ein bißchen übertrieben. Und das einzige unzweideutige Faktum, das ich beobachtet habe, ist, daß es Personen gibt, die die Statue aus künstlerischem sowie aus symbolischem Gesichtspunkt für total verfehlt halten.«
Der Jurist fiel ihm ins Wort. Seine Stimme hatte ihre Trockenheit verloren. Sie war nicht ohne eine gewisse Erregung.
»Warum Sie gerade mich nach dieser Sache fragen, weiß ich nicht, obgleich – na, jeder x-beliebige könnte Ihnen übrigens die Auskünfte geben, die Sie wünschen. Mentone gehörte bis zum Jahre 1848 zum Fürstentum Monaco. Da beschlossen die Mentonesen das monegassische Joch abzuwerfen. Die Heere Monacos und Mentones trafen sich an einem Bache. Zwei volle Tage standen sie mit dem Gewehr an der Wange einander gegenüber und überschütteten sich gegenseitig mit den furchtbarsten Drohungen. Dann sahen die Monegassen ein, daß das Spiel verloren war, und fanden sich mit der Freiheitserklärung Mentones ab. Mein Großvater, der einer der Führer der Revolution war, hat mir oft davon erzählt. Im Jahre 1860, als Frankreich die Grafschaft Nizza von Cavour bekam, stand es Mentone frei, sich Frankreich oder Italien anzuschließen. Eine Volksabstimmung entschied darüber – mein Vater war es, der sie leitete! Mentone beschloß mit überwältigender Majorität, zu Frankreich überzugehen. Darum, mein Herr, ist die Symbolik der von Ihnen erwähnten Statue wahr und schön, und wer höhnisch über sie lacht, wäre auch imstande, über seine eigene Mutter und über alle gesunden und guten Gefühle hohnzulachen! Mein Herr, ich wünsche Ihnen einen guten Morgen und viel Erfolg bei Ihrer zweifelsohne epochemachenden Untersuchung.«
Seine Augen blitzten unter dem Zwicker. Er verbeugte sich gemessen vor dem Doktor und verließ das Restaurant mit hoch erhobenem Kopfe. Der Doktor raufte seinen rudimentären Haaransatz. Was hatte er da für ein Malheur angerichtet. Daß der Mann über alle Maßen erregt war, war sicher, aber warum? Recht bedacht, konnte der Anlaß nur einer sein – die Statue, die in ihm einen ebenso energischen Verteidiger hatte wie auf anderer Seite Feinde und Verleumder! Aber wie konnte eine mehrere Jahrzehnte alte Statue einen trockenen Juristen in Affekt bringen? Wieder raufte der Doktor seinen Haaransatz. Das war wirklich eine der sonderbarsten Scharaden, die er noch je zu lösen versucht hatte!
Ein diskretes Kichern unterbrach ihn in seinen Grübeleien. Der Oberkellner stand vor ihm, er lächelte vielsagend. Es war klar, daß er etwas auf dem Herzen hatte.
»Ja sehen Sie, Monsieur, ich hörte zufällig das Gespräch der Herren,« begann er flüsternd. »Ich sehe, daß Monsieur nicht begreifen, was in Monsieur Perroud gefahren ist. Vielleicht kann ich Monsieur behilflich sein, die Sache zu verstehen.«
Der Doktor winkte ihm weiterzusprechen. Was er mitzuteilen hatte, war folgendes: Es war richtig, was der Untersuchungsrichter gesagt hatte, daß sein Vater die Volksabstimmung im Jahre 1860, als Mentone zu Frankreich überging, geleitet hatte. Aber was er nicht erwähnt hatte, war, daß sonderbare Gerüchte über diese Abstimmung im Umlauf waren. Man behauptete, daß eine Reihe von Bestechungen vorgekommen waren und daß sie den Ausschlag gegeben hatten. Man behauptete sogar, daß Beweise dafür in Geheimprotokollen im alten Rathaus zu finden seien. Später war Monsieur Perrouds Vater einer der eifrigsten gewesen, als es galt, die Statue auf dem Kasinoplatz aufzustellen.
Der Doktor dachte ein wenig nach. Eine Idee begann sich in seinem Innern zu kristallisieren. Sie war kühn, aber sie war nicht unmöglich – nein, durchaus nicht.
»Sagen Sie mir eines,« sagte er, »wann findet die Prozession zu Ehren des heiligen Stephan statt?«
»Morgen abend in der Dämmerung. Warum fragen Monsieur danach?«
»Ah, es ist mir nur gerade eingefallen. Ich war gestern in der Kirche und machte die Bekanntschaft des alten Pfarrers. Ein entzückender Mann!«
Der Oberkellner kannte den Pfarrer nicht, aber glaubte es gern.
»Die Prozession ist ja ein großes Ereignis in der Stadt, nicht wahr?«
»Freilich! Fast die ganze Bevölkerung beteiligt sich daran. Sie pflegt anderthalb bis zwei Stunden zu dauern. Der Verkehr in der inneren Stadt ist total abgesperrt.«
»Ich glaube, etwas Derartiges gehört zu haben,« sagte der Doktor und belohnte die Mitteilungen des Oberkellners mit einer größeren Banknote.
Als er kurz darauf den Saal verließ, war sein Haupt ebenso hoch erhoben, wie das des Untersuchungsrichters vor einer kleinen Weile. Auf der Straße angelangt, nahm er eine Droschke und gab dem Kutscher die Weisung zu Ballestrieris Juwelengeschäft zu fahren. Und in der Droschke sitzend, begann er zur großen Verwunderung des Kutschers eine geistliche Melodie zu singen – eine Melodie von Palestrina.
Es war am nächsten Tag um die Dämmerstunde. Durch das Gäßchen, das zu dem altertümlichen Tempel des heiligen Stephan führte, ringelte sich die Prozession heran. Ganz vorn gingen kleine Chorknaben, die die Insignien seines Martyriums trugen, das Rad und das Beil; dann folgte sein Bildnis in Lebensgröße, von vier Fischern getragen; hierauf kam der Gesangschor. Hinter diesem ging der alte Pfarrer mit seinen Ministranten. Während der Zug weiterschritt, schlossen sich ihm beständig neue Scharen an, müde Gestalten, von Jahren und Arbeit gebeugt, alte Männer und alte Frauen, mit knochigen Händen und gefurchten Gesichtern, aber auch junge Ehepaare mit ein oder zwei Kindern auf dem Arm und drei oder vier zur Seite. Man sah, daß der alte Pfarrer recht gehabt hatte, als er sagte: Dies ist ja beinahe Italien. Und zwischen den wettergeschwärzten Mauern der Gäßchen stiegen die dumpfen, gleichsam florumhüllten Töne der mittelalterlichen Hymne an, bis sie sich in die klingenden Tränen der Schlußzeilen lösten.
Der Zug wuchs und wuchs; die Wachskerzen flackerten und die klagende Hymne stieg ununterbrochen zum Abendhimmel auf. Die ersten Reihen hatten jetzt den Wendepunkt beim neuen Rathaus erreicht, und der Zug bog zum Hafen hinunter ab. Er war jetzt so lang, daß er einen Ring um die ganze innere Stadt bildete. Überall stockte der Verkehr, aber niemand protestierte, denn dies war einer der größten Festtage des Jahres. Die Prozession war nun zum Quai Bonaparte gekommen und sollte eben zu den Kirchen der schwarzen und weißen Pönitenten abbiegen, als eine Unruhe durch die Reihen ging. Sie kam von dem Nachtrupp und verbreitete sich wie das Gekräusel, das ein Windstoß auf einer Wiese aufwühlt, nach vorn. Der alte Pfarrer bemerkte es und gab dem Chor ein Zeichen, lauter zu singen. Aber die Unruhe ließ sich nicht dämpfen. Auf dem Wege zur alten Stadt nahm der Zug mit beunruhigender Geschwindigkeit ab, und als er bei den Kirchen der Pönitenten angelangt war, war kaum mehr davon übrig als der Pfarrer, seine Ministranten, der Chor und die Träger der Insignien. Das Antlitz des alten Geistlichen war ein Bild der Bestürzung und Trauer; dies war der Ehrentag seiner Kirche, seit Jahrzehnten und Jahrhunderten das vielleicht größte kirchliche Evenement der Stadt. Und das endete in dieser Weise! Was war da geschehen?
Von seinen Begleitern bekam er nur ausweichende Erklärungen. Sie glaubten etwas von Arretierungen und Aufständen gehört zu haben, aber was wirklich geschehen war, wußten sie ebensowenig wie er. Wer ihm darüber Bescheid gab, war ein Herr, der kurz darauf in der Kirche erschien und dessen erstes Wort eine Bitte um Entschuldigung war. So allmählich dämmerte es dem Pfarrer auf, wer es war: der kleine jüdische Herr, der ihn vor ein paar Tagen besucht und gesagt hatte, er sei Psychoanalytiker.
»Es ist meine Schuld, Monsieur le curé, und ich weiß nicht, wie ich Ihre Verzeihung erbitten soll. Hören Sie meine Geschichte und sagen Sie mir dann, ob ich recht oder unrecht gehandelt habe!«
»Ich werde Ihre Geschichte anhören,« erwiderte der Geistliche, dessen Gemüt noch von Bitterkeit erfüllt war. »Aber etwas Derartiges habe ich nie in all den Jahren, die ich ...«
»Ich bin verzweifelt darüber, Monsieur le curé! Aber hören Sie, was ich zu sagen habe!«
Der Doktor begann seine Erzählung. Vor zwei Tagen, an demselben Tag, an dem er in der Kirche gewesen war, hatte er unter eigentümlichen Umständen die Bekanntschaft einiger Personen gemacht, deren gemeinsame Kennzeichen zwei waren: sie empfanden alle tiefe Verachtung, um nicht zu sagen Abscheu vor einer bestimmten Statue auf dem Kasinoplatz – und sie hegten eine so große Bewunderung für Palestrinas Musik, daß sie eine Hymne von ihm einerseits als Erkennungszeichen verwendeten, anderseits um ihren Gefühlen in gehobenen Augenblicken Luft zu machen. Ja, gerade diese Hymne, die heute abend gespielt worden war und jedesmal, wenn die Prozession des heiligen Stephan durch die Straßen Mentones zog, gespielt wurde! Es gab fünf Personen, auf die diese gemeinsame Charakteristik paßte; eine von ihnen war offenbar die Zentralgestalt, um die das Ganze kreiste, denn er kannte all die andern, während diese sich gegenseitig nicht kannten. Dieses Problem hatte dem Doktor Kopfzerbrechen gemacht, bis ihm am Tage vorher die Bedeutung zweier Punkte aufgegangen war. Erstens, daß die Statue, die sie alle miteinander so verachteten, die Vereinigung Mentones mit Frankreich symbolisierte. Es war ja nicht unbekannt, daß es ein Land gab, das Frankreichs Recht auf die ganze Azurküste und namentlich auf Mentone auf das tiefste bezweifelte – nämlich Frankreichs östlicher Nachbar am Mittelmeer. Ließ es sich beweisen, daß diese Vereinigung überdies noch unter ungesetzlichen Formen vor sich gegangen war, so konnte das Problem mit Vorteil unter ganz legalen Formen wieder aufgerollt werden. Ein altes Gerücht wollte wissen, daß solche Beweise existierten – dem Doktor war dieses Gerücht tags zuvor zu Ohren gekommen. Wenn diese Beweise den Beteiligten im Osten von Mentone in die Hände gespielt werden könnten, waren sie sicherlich ihr Gewicht in Gold wert, wenn nicht mehr. Das war der erste Punkt. Der zweite war eben jene Melodie von Palestrina, die sie als Signal benützten. Was konnte dies bedeuten? Vermutlich nicht, daß die fünf suspekten Herren Palestrinas Musik um ihrer selbst willen liebten. Eher, daß sie wußten, daß sie gerade an diesem Abend bei der St. Stephansprozession gesungen werden sollte!
»Denn, wie sagten Sie mir doch selbst, Monsieur le curé, und was habe ich nicht heute abend mit meinen eigenen Augen gesehen? Die Prozession ist so gewaltig, daß ein großer Teil der inneren Stadt so gut wie abgesperrt daliegt! Leute, die Böses im Schilde führen, und ihre Arbeit innerhalb des Weges der Prozession verrichten wollen, befinden sich wie in einem Zauberkreis. Das Polizeikommissariat und die Kasernen liegen weit draußen; sollten sie entdeckt werden, kann man keine Hilfe herbeirufen – und überdies ist es höchst unwahrscheinlich, daß sie entdeckt werden! Einerseits findet die Prozession in der Dämmerung statt, anderseits hat innerhalb ihres Bannkreises niemand für etwas anderes Augen und Ohren. Darum habe ich sowohl die Behörden gewarnt, damit sie eine Wache beim alten Rathaus aufstellen, wie auch die Inhaber von Ballestrieris und einem andern Juwelenladen gebeten, Schutzmannschaft bereitzuhalten. Ich wußte ja nicht mit Bestimmtheit, daß das Attentat gegen eines dieser Häuser erfolgen würde, aber wenn ich das Scharren der heiligen Hühner im Sande richtig gedeutet hatte, mußte es so kommen. Und es zeigte sich, daß ich recht hatte, und darum entstand ein Auflauf, als die Polizei Jagd auf die Verbrecher machte, und Ihre Prozession, Monsieur le curé, wurde in einer Weise gestört, die mich vor Betrübnis außer mir macht.«
Der alte Geistliche schüttelte den Kopf.
»Mein Freund, ich verstehe nicht einmal die Hälfte. Eben noch sprachen Sie von Mentones Vereinigung mit Frankreich, und jetzt reden Sie von zwei Juweliergeschäften. Nein, da weiß ich weder ein noch aus!«
»So ging es mir anfangs auch, aber jetzt glaube ich das Problem gelöst zu haben. Der Mann, um den das Ganze sich drehte, der erste, den ich kennenlernte, hatte nur eines im Sinne, nämlich, die Beweise gegen Mentones rechtmäßige Vereinigung mit Frankreich – ob sie nun in Wirklichkeit vorhanden sind oder nicht! Darum ist er mit zwei Hilfskräften hergekommen, um am Prozessionstag einen Coup in Szene zu setzen. Ob er das aus eigener Initiative getan hat oder im Auftrag von – hm – höherer Stelle, wird wohl nie aufgeklärt werden! Aber als er herkam, fanden seine zwei Genossen, daß es lockendere Beute in Reichweite gab, als alte Dokumente, nämlich die Juweliergeschäfte, die ich schon erwähnte. Sie sagten ihrem Arbeitgeber ohne weiteres Treue und Gefolgschaft auf und beschlossen seinen Plan für ihre eigenen Zwecke zu verwerten. Was tut der Arbeitgeber? Er telegraphiert nach Italien um neue Hilfskräfte, denn allein kann er die Sache nicht bewältigen. Die Hilfskräfte kommen, und als Erkennungszeichen haben er und sie Palestrinas Hymne gewählt. Ich bin zufällig Zeuge ihrer Begegnung, so wie ich schon früher zufällig mit dem Leiter und seinen zwei ersten renitenten Helfern Bekanntschaft gemacht hatte. Tatsächlich ist es auch nur der Zufall, der die beiden Attentate vereitelt hat, nicht ich.«
»Hm!« sagte der alte Geistliche. »Hm! Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Aber eines wundert mich. Ich glaubte, Sie ließen sich in Ihrem Metier von den Menschen in Worten beichten. Aber soweit ich Ihre Geschichte verstehe, hat Ihnen keiner von Ihren fünf Verbrechern in Worten gebeichtet?«
»Aber sagt man nicht, daß Taten beredter sind als Worte?« fragte der Doktor. »Ich habe viel über das, was Sie sagten, nachgedacht, Monsieur le curé, daß meine Wissenschaft nur eine Beichte ohne Absolution sei. Aber gibt es nicht Beichten, die jede Absolution ausschließen?«
»Doch,« sagte der alte Priester, und sein Antlitz wurde ernst und streng, »es gibt solche, und ihrer sind viele. Aber« – sein Gesicht erhellte sich – »wenn es Ihnen Freude macht, so hören Sie, daß ich Ihnen Absolution dafür erteile, daß Sie die St. Stephansprozession gestört haben!«
Der Doktor neigte dankbar den Kopf. Dann verfiel er in seine eingewurzelte Angewohnheit und kicherte:
»Das freut mich sehr, Monsieur le curé! Ich hätte es mir nie verzeihen können, wenn Palästina Palestrina den Tag verdorben hätte.«