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Ehrenmänner

Die Insel Capri besteht aus zwei Gemeinden, Capri und Anacapri. Schon der Name Anacapri scheint eine gewisse Gegnerschaft anzudeuten und eine Untersuchung der Sachlage bekräftigt das phonetische Zeugnis. Capreser und Anacapreser hegen keinerlei Achtung voreinander. Die Capreser verachten Anacapri als den Sitz der Unwissenheit und der bäurischen Rückständigkeit; die Anacapreser sehen von ihrer Höhe schaudernd auf Capri hinab, dessen Großstadtallüren es in ihren Augen so ziemlich auf eine Stufe mit Neapel stellen. Capri hat 3500, Anacapri 1200 Einwohner.

Aber der Gegensatz erstreckt sich auch auf das religiöse Gebiet. Capris Schutzheiliger heißt San Constanzo, und die Anacapreser sagen mitleidig von diesem Heiligen: Constanzo? Non è buon santo, er ist kein guter Heiliger! Anacapris Schutzheiliger heißt Sant Antonio; und die Capreser sagen mit verächtlichem Achselzucken: Antonio? è un santo cattivo, das ist ein schlechter Heiliger! Jahrhunderte hindurch ist der Kampf zwischen den beiden Heiligen unentschieden geblieben; Capri hat zu Constanzo gehalten, wie Anacapri zu Antonio. Da ereignete sich im Februar 1933 der Fall Scipione Taranzella und entschied mit einem Schlage den Streit zu Sant Antonios Gunsten.

Scipione Taranzella war ein Bauer in Anacapri. Er hatte ein Haus an der Peripherie der Stadt, ein großes Haus; die eine Hälfte Stall für die Kühe und Ziegen, die andere Wohnung der Familie. Er hatte auch ein paar tausend Quadratmeter Grund, die herabgerutscht wären, wenn man sie nicht mit Hilfe vieler Steinterrassen in horizontaler Lage erhalten hätte. Die Erde war in Quadrate eingeteilt; auf diesen Quadraten wuchsen verschiedene Gemüse; dazwischen standen Pfirsich- und Pflaumenbäume, und von Baum zu Baum schlängelten sich Weinranken. Im Frühling, wenn die Pfirsichbäume rosa leuchteten und die Pflaumenbäume weiß, während die Ranken grüne Bänder dazwischen knüpften, war Scipione Taranzellas kleiner Besitz eine Symphonie in den italienischen Nationalfarben.

Scipione Taranzella hatte vier Söhne, die sich beständig in den Haaren lagen und nur in einem Punkte einig waren: in der Hoffnung, daß Scipione Taranzella bald das Zeitliche segnen und ihnen alles hinterlassen würde. Diese Hoffnung enttäuschte Scipione Taranzella Jahr für Jahr; er ging fleißig in die Messe und opferte Sant Antonio, Anacapris Schutzheiligem. Dank dieser Vorsichtsmaßregeln hatte er ein Alter von 69 Jahren erreicht, als er eines Tages von dem Unerbittlichen ereilt wurde. Ein Arzt konstatierte den Todesfall und die Leiche wurde zur einstweiligen Ruhe in einen Schuppen gebracht. Die Erben eilten zu einem Advokaten und ließen sich das Testament vorlesen und stempeln. Es stellte sich heraus, daß Scipione Taranzellas irdische Habe zu vier gleichen Teilen seinen vier Söhnen zufiel.

*

So weit war alles gut und schön, als sich das Unerhörte, das Unglaubliche begab. Scipione Taranzella, der tot war, der ein ärztliches Zeugnis darüber hatte, daß er tot war, stand in frechem Trotz gegen die medizinische Fakultät von den Toten wieder auf! Er war nur scheintot gewesen; plötzlich erwachte er in seinem Schuppen zum Leben, klopfte an die Tür, wurde herausgelassen und stand aufs neue im Kreise einer schreckgelähmten Familie.

Der erste Gedanke der Söhne, daß ein Betrüger den Platz des Vaters eingenommen hatte, mußte wieder fallen gelassen werden. Die Bahre im Schuppen war leer. Der vor ihnen stand, war Scipione Taranzella und kein anderer, nur etwas unrasierter als vor dem Todesfall. Scipione Taranzella, der tot gewesen, war wieder lebendig. Auf die vorwurfsvollen Fragen der Kinder, was er mit einem solchen Betragen eigentlich meine, antwortete er nur:

»Ich lebe, dank dem guten Sant Antonio! Ich bin hungrig. Gebt mir etwas zu essen!«

*

Das Gerücht von diesem Vorfall verbreitete sich mit Blitzesschnelle in Anacapri und von Anacapri weiter nach Capri, der Heimstätte der Großstadtallüren und der Skepsis. Capri erbleichte: Sant Antonio, den die Capreser seit Jahrhunderten verachtet und » un santo cattivo« genannt hatten, Sant Antonio hatte einen Mann von den Toten auferweckt! Hatte San Constanzo je etwas Ähnliches auf seiner Kreditseite zu verzeichnen gehabt? Nein. Vergebens trugen die Geistlichen San Constanzos Bild durch die Straßen von Capri; ein wiederauferstandener Mensch macht mehr Eindruck als ein toter Heiliger. Niemand sah San Constanzos Bildnis an; die Capreser strömten scharenweise nach Anacapri hinauf, um in Demut an Sant Antonio gutzumachen, was sie gegen ihn verbrochen hatten. Die Geistlichkeit von Capri war verzweifelt. Das Gleichgewicht im Heiligenkalender ist ebenso wichtig wie das europäische Gleichgewicht und muß um jeden Preis aufrechterhalten werden. Aber die Verzweiflung der Capresischen Geistlichkeit war überflüssig. Das Gleichgewicht im Heiligenkalender sollte bald wiederhergestellt werden. Und wer es wiederherstellte, das waren die Vertreter der italienischen Justiz.

*

Scipione Taranzellas erster Gedanke, nachdem er ins Leben zurückgekehrt war, war, Sant Antonio zu opfern; der nächste, die Arbeit auf seinem Gütchen wiederaufzunehmen. Es war Zeit, die Erde für die Frühlingssaat aufzuhacken. Scipione Taranzella nahm seine Hacke und machte sich bereit, an die Arbeit zu gehen. Daran suchte ihn niemand zu hindern. Aber als er auf das Feld hinausging, sagten seine vier Söhne zu ihm:

»Du gedenkst zu arbeiten? Das ist gut, es ist auch an der Zeit. Aber du bist dir doch über eines klar? Es ist unser Grund und Boden, den du aufhackst, nicht deiner. Capito?«

»Euer Grund und Boden?« wiederholte Scipione Taranzella. »Was meint ihr, mascalzone? Euch gehört der Grund und Boden, ihr Schlingel?«

»Ja«, sagten die Söhne wie aus einem Munde, »uns gehört er, denn du hast ihn uns in deinem Testament hinterlassen, und du bist tot.«

»Ich bin tot!« schrie Scipione Taranzella. »Seht ihr nicht, daß ich lebendig bin?«

»Du kannst nicht lebendig sein!« sagten die Söhne, »denn der Doktor hat ein Attest geschrieben, daß du tot bist. Und der Herr Advokat Pampini hat dein Testament gelesen und eine Masse tassaboli, Stempel, daraufgeklebt.«

»Ich werde euch schon zeigen, ob ich tot bin«, brüllte Scipione Taranzella, der für seine Jahre noch recht kräftig war.

Damit ging man zu Handgreiflichkeiten über. Aber von den Handgreiflichkeiten ging man zu etwas über, was schlimmer war, zu den Advokaten. Scipione Taranzella wendete sich an Herrn Advokaten Ruggieri, die Söhne an den, der das Testament gelesen hatte, Herrn Advokaten Pampini.

Es wurde ein spannender Rechtsstreit.

*

Herr Advokat Ruggieri sagte: »Es ist klar, daß mein Klient, Scipione Taranzella, in seine Rechte wiedereingesetzt werden muß. Wie könnte man sie ihm rauben? Nur zufolge seines Testamentes. Aber damit ein Testament in Kraft tritt, ist erforderlich, daß derjenige, der es abgefaßt hat, wirklich tot ist.«

Herr Advokat Pampini sagte:

»Dieser Forderung ist in allen Teilen Genüge getan. Hier in meinen Händen habe ich ein › fede di morte‹, einen Totenschein, ausgestellt von Doktor Nespoli und lautend auf den Kläger Scipione Taranzella, Bauer in Anacapri. Herr Doktor Nespoli war bei dem Tode des Klägers anwesend. Herrn Dr. Nespolis Zeugnis ist mit der gesetzlichen Anzahl Tassaboli versehen. Herrn Dr. Nespolis Zeugnis ist in der Sache entscheidend.«

Herr Advokat Ruggieri sagte:

»Das Zeugnis Herrn Dr. Nespolis, den ich im höchsten Grade verehre, ist sub petitione principii ausgestellt, unter falschen Voraussetzungen: Vivere est facultatibus omnibus usufruire. Juridisch lebendig ist derjenige, der im Besitz seiner Körper- und Geisteskräfte ist. Muß ich meinen lieben, illustren Kollegen auf diese Definition aufmerksam machen? Und will mein verehrter Herr Kollege bestreiten, daß mein Klient kraft derselben juridisch lebendig ist?«

Herr Advokat Pampini sagte:

»Brauche ich meinen teuren, illustren Kollegen auf eine andere Definition aufmerksam zu machen? › Mortuus est qui praesentia testorum animam reddidit.‹ Tot ist, wer in Anwesenheit von Zeugen den Geist aufgegeben hat. Und will mein Herr Kollege bestreiten, daß sein Klient kraft derselben juridisch tot ist?«

Advokat Ruggieri sagte, nachdem er ein neuerliches Honorar von seinem Klienten entgegengenommen hatte:

»Ich gebe dies zu, aber ich bitte meinen illustren, hochgeschätzten Kollegen, einzuräumen, daß es theoretisch wie praktisch denkbar ist, daß ein Mensch, nachdem er in Gegenwart von Zeugen den Geist aufgegeben hat, wieder zum Leben erwacht.«

Herr Advokat Pampini sagte, nachdem er ein neuerliches Honorar von seinen Klienten erhalten hatte:

»Nein! Nego principium. Ich leugne das Prinzip. Es widerstreitet direkt dem, was von jener Macht gelehrt wird, die in Dingen, die den Tod betreffen, den Ausschlag gibt: der katholischen Kirche. Die Kirche sagt ausdrücklich: einmal sterben, und dann das Gericht. Ich lenke die Aufmerksamkeit meines hervorragenden Kollegen auf das Wort einmal sterben. Es ist nicht von zwei- oder dreimal die Rede, sondern nur von einmal. Will mein hochverehrter, illustrer Kollege das in Abrede stellen?«

Herr Advokat Ruggieri sagte, nachdem er neuerlich Verstärkung von seinem Klienten empfangen hatte:

»Ich greife mit Vergnügen das Argument meines illustren Kollegen auf. Es ist wahr, daß die Lehre der katholischen Kirche die Worte enthält, die mein Herr Kollege anführte. Aber mein edler, illustrer Kollege wird wohl zugeben, daß gerade die Schriften der Kirche, auf die er sich beruft, Fälle erwähnen, ja wiederholte Fälle, daß Tote ins Leben zurückgekehrt sind!«

Herr Advokat Pampini rief, nachdem er ein neuerliches Honorar von seinen Klienten empfangen hatte, mit allen Zeichen des Entsetzens:

»Wie? Was höre ich? Mein verehrter, illustrer Kollege sucht die dreisten, ja empörenden Anspruche seines Klienten durch Zitate aus der heiligsten aller Schriften zu unterstützen und will zwischen den Fällen der Wiederauferstehung, die in der Heiligen Schrift berichtet werden, und diesem Falle, der einen verstorbenen Bauer in Anacapri betrifft, eine Parallele ziehen? Ich warne meinen teuren illustren Kollegen, auf diesem Wege weiterzuschreiten. Ich beeile mich, die Aufmerksamkeit meines hochgeschätzten Herrn Kollegen auf Paragraph 12, Punkt 1 des Strafgesetzes zu lenken, sowie auf Paragraph 29, Punkt 3 desselben Gesetzes über Religionslästerung.«

Herr Advokat Ruggieri rief, nachdem er das letzte Geld seines Klienten eingesteckt hatte:

»Auf Anregung meines edlen, illustren Kollegen lasse ich diese gefährliche Form der Beweisführung fallen. Da mir weder das bürgerliche noch das kanonische Recht eine Stütze gibt, will ich mich ganz einfach an die gesunde Vernunft halten. Die gesunde Vernunft sagt, daß, wenn ein Mensch tot war und der Tod dieses Menschen noch so beglaubigt wurde, alle diese Zeugnisse damit, daß er ins Leben zurückkehrt, eo ipso ihre Beweiskraft verlieren. Die gesunde Vernunft muß mit einem Wort den Ausschlag geben und mein Klient in seine Rechte wiedereingesetzt werden!«

Herr Advokat Pampini rief, nachdem er das letzte Geld seiner Klienten in Empfang genommen hatte, mit einer Stimme, die vor Empörung bebte:

»Im eigensten Interesse meines teuren, illustren Kollegen beeile ich mich, ihn in der unerhört gefährlichen Beweisführung, in die er sich eingelassen hat, zu unterbrechen. Wie? Den unerhörten, im Gesetz nicht vorgesehenen Fall angenommen, daß ein Mensch, der tot war, wirklich zum Leben zurückkehrt – darum sollten die Zeugnisse, die staatlich geprüfte Beamte über seinen Tod ausgestellt haben, vor den Gerichtshöfen dieses Staates ihre Beweiskraft verlieren? Diese Zeugnisse sollten bei der Urteilsfällung nicht den Ausschlag geben? Das ist eine dermaßen gesetzwidrige Beweisführung, daß ich zittere, wenn ich sie anhöre. Muß ich die Aufmerksamkeit meines illustren Kollegen auf Paragraph 1, Punkt 1 des Gesetzes des Königreichs Italien lenken, das feststellt, daß auf Stempelpapier ausgestellte Zeugnisse vor allen anderen Dokumenten Beweiskraft vor den Gerichtshöfen des Staates haben? Muß ich die Aufmerksamkeit meines Herrn Kollegen darauf lenken, daß die Entscheidungen dieser Gerichtshöfe nach solchen Zeugnissen gefällt werden und nicht nach irgendeiner sogenannten gesunden Vernunft? Muß ich die Aufmerksamkeit meines teuren, illustren Kollegen auf die Konsequenzen lenken, die es für unseren Stand zur Folge hätte, wenn das Gegenteil der Fall wäre? Muß ich –«

Nein, er mußte nicht. Herr Advokat Ruggieri, der wußte, daß er das letzte Geld seines Klienten in Empfang genommen hatte, rief:

»Es ist genug! Concedo! Ich gebe nach.«

Fünf Minuten später war Scipione Taranzella für juridisch tot, sein Testament für juridisch gültig erklärt und seine Söhne als rechtmäßige Inhaber seiner Habe eingesetzt. Eine Stunde später nahm Scipione Taranzella einen starken Strick, ging in einen ehemals ihm gehörigen Olivenhain, suchte einen soliden Baum an dessen äußerstem Rande aus und erhängte sich daran, nachdem er sich vergewissert hatte, daß niemand in der Nähe war. Er wollte es vermeiden, daß man ihn abschneide und ins Leben zurückrufe. Es war ja doch auf jeden Fall zwecklos. Wenn man es schwarz auf weiß hat, daß man tot ist, dann kann einen keine Macht der Welt wieder lebendig machen.

*

Scipione Taranzellas zweiter Tod tat dem Vormarsch Sant Antonios in der Gemeinde Capri Einhalt, denn die Capreser sagten nicht mit Unrecht:

»Was hat man schon von einem Heiligen, der einen wieder zum Leben erweckt, wenn man sich nachher aufhängen muß? San Constanzo wirkt keine solchen Wunder, aber er richtet auch kein Unheil an.«

Und sie konstatierten achselzuckend:

»Sant Antonio – è un santo cattivo!«

Aber von ihren Felsen sahen die Anacapreser schaudernd auf Capri, die Heimstatt der Großstadtallüren und der Skepsis, herab und sagten:

»Sant Antonio ist ein wunderbarer Heiliger – aber gegen gli avvocati kommt er nicht auf!«


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