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Mit milden Hirschaugen, die sich nach dem Jordan zu sehnen schienen, sah Nathan Sinigaglia seine Bankbücher durch. Mehrziffrige Zahlen strömten in ununterbrochenem Flüstern über seine Lippen und erfüllten ihn mit Freude. Von der Piazza di San Silvestro drangen die melodischen Schreie der Zeitungsverkäufer in das Kontor, aber er hörte sie nicht. Seine Gedanken wanderten über Straßen aus Gold.
Plötzlich wurde die Türe des Kontors aufgerissen. Ein violettes Gesicht und eine zerraufte Haarmähne erschien in der Türöffnung. Nathan Sinigaglia sah auf und grüßte mit einem sonnigen Lächeln.
Maurice Lebrun trat an die Schranke. Nathan Sinigaglia erhob sich.
»Guten Tag, Signor Lebrun!«
»Guten Tag, Signor! –«
»Was wünschen Sie, Signor Lebrun! –«
»Geld!«
Nathan Sinigaglia lächelte sonnig.
»Ja, Sie haben doch Samstag siebentausendfünfhundert Lire für meine Rechnung von der Revue Lévy bekommen?«
»Ja, Signor Lebrun.«
»Nun, schön, zahlen Sie sie mir aus.«
»Das geht nicht, Signor Lebrun.«
»Was meinen Sie? Warum geht das nicht?«
Nathan Sinigaglia lächelte strahlender denn je.
»Weil Sie sie schon bekommen haben, Signor Lebrun.«
Maurice Lebruns Augen wurden weit aufgerissen.
»Was sagten Sie? Ich hätte sie schon bekommen?«
»Ja, Signor Lebrun, Sie haben sie schon bekommen.«
»Was habe ich bekommen?«
»Das Geld von der Revue Lévy.«
»Siebentausendfünfhundert Lire?«
»Siebentausendfünfhundert Lire.«
»Die letzten, die gekommen sind? Die vierte Anweisung?«
»Die letzten, die gekommen sind, die vierte Anweisung. Die, die Samstag gekommen ist. Ganz wie Sie sagen.«
Maurice Lebrun umklammerte mit einer violetten Hand den Tischrand.
»Sie wollen behaupten, daß ich diese siebentausendfünfhundert Lire bekommen habe?«
»Ja.«
»Machen Sie sich einen Spaß mit mir?«
»Nein.«
»Wollen Sie mich betrügen?«
»Nein.«
»Nein.«
»Wollen Sie mir also erklären, was Sie meinen? Wann habe ich dieses Geld bekommen? Wie habe ich dieses Geld bekommen?«
Nathan Sinigaglia sagte unerschütterlich lächelnd:
»Signor, Sie haben das Ganze vergessen, Sie beheben soviel Geld, Sie vergessen leicht. Das letzte Geld von der Revue Lévy kam Samstag, ganz wie gewöhnlich, und ich erwartete Sie, denn ich dachte mir, Signor Lebrun kommt immer gleich und holt sich sein Geld. Signor Lebrun braucht viel Geld. Signor Lebrun amüsiert sich. Aber Sie kamen nicht. Anstatt dessen – aber jetzt erinnern Sie sich doch, nicht wahr, Signor?«
»Erinnern? Woran sollte ich mich erinnern?«
»Anstatt Ihrer selbst kam dieser Brief, Signor!«
Maurice Lebrun starrte einen Brief an, der ihm unter die Augen geschoben wurde.
Illustrissimo signore,
signor Nathan Sinigaglia.
Signore!
Wenn das Geld von der Revue Lévy gekommen ist, so seien Sie so gütig und schicken Sie es mir durch den Boten, Quittung folgt anbei.
In ausgezeichneter Hochachtung
Ihr immer gleich ergebener
Maurice Lebrun.
Der Bote, Signor, hatte die Kappe des Hotels Milano, wo Sie, wie ich weiß, wohnen. Es war ein schwarzbärtiger Mann in mittlerem Alter, seine Kleider waren etwas abgetragen, aber er sah ehrlich und zuverlässig aus. Und da der Brief wie die Quittung mit Ihrer Unterschrift, die ich kenne, unterzeichnet waren, gab ich dem Boten das Geld. Das war Samstag. Wie können Sie das bis heute, Mittwoch, vergessen haben? Signor Lebrun, Sie sind ausgewesen und haben sich soviel amüsiert, daß Ihr Gedächtnis darunter gelitten hat.«
Nathan Sinigaglia lächelte noch immer, aber sein Lächeln war nicht mehr sicher. Etwas in Maurice Lebruns violettem Gesicht sagte ihm, daß nicht alles so war, wie es sein sollte.
Maurice Lebrun schleuderte den Brief und die Quittung quer durch das Zimmer und schlug mit der Hand auf das Bankpult, so daß es dröhnte.
»Bote! Brief! Quittung! Meinen Sie, was Sie sagen? Oder versuchen Sie mich zu betrügen?«
Nathan Sinigaglia hob gekränkt den Brief und die Quittung auf.
»Signor, seit dreißig Jahren habe ich diese Bank, und noch nie hat jemand so zu mir gesprochen wie Sie. Fragen Sie in Rom, wen Sie wollen, und alle werden Ihnen sagen: Sie können beim Credito Italiano Geld verlieren, Sie können in der Banca Commerciale Geld verlieren, aber bei Nathan Sinigaglia hat noch nie jemand einen Soldo verloren. Ist das nicht Ihre Handschrift und Ihr Namenszug, Signor?«
Maurice Lebrun starrte den Brief und die Quittung mit blutunterlaufenen Augen an.
»Es gleicht meiner Handschrift und meinem Namenszug bis ins kleinste Detail,« rief er, »aber ich habe das nicht geschrieben! Und ein Bote ist also gekommen? Mit diesem Brief und dieser Quittung? Und hat das Geld bekommen? Und ist mit dem Geld wieder fort? Das ist er! Der Elende!«
»Wer, Signor?«
»Ein elender Erpresser, der mich schon seit vier Wochen verfolgt und versucht hat, aus meiner literarischen Produktion Geld herauszuschlagen. Das ist er! Weil ihm seine Erpressungen nicht gelungen sind, schreckt er nicht davor zurück, mich zu bestehlen.«
»Es war also nicht Ihr Bote?«
»Keine Spur! Das Ganze ist eine Fälschung, ein Diebstahl, ein Attentat! Und er hat es getan! Und ich weiß nicht einmal, wer er ist!«
»Sie wissen nicht, wer er ist, Signor Lebrun?«
»Nein. Aber, ich werde es in Erfahrung bringen. Ich habe Mittel, den Elenden aufzuspüren. Er hat ein Werkzeug hier in der Stadt, einen ebenso großen Schurken, wie er selbst. Einen Verbrecher, namens Brüggemeyer. Ihn kann ich doch auf jeden Fall finden, und wenn ich ihn gefunden habe –«
Das violette Gesicht verschwand, von Raserei verzerrt, zur Tür hinaus. Nathan Sinigaglia breitete die Hände zum Himmel aus, wie um zu zeigen, daß kein unrechtmäßiges Geld daran klebte, und nahm das Studium seiner Bücher wieder auf.
Tagaus, tagein suchte Maurice Lebrun mittellos, wutschäumend und in seinem Hotel auf Kredit lebend, nach dem Unbekannten oder seinem Werkzeug, Brüggemeyer. Jeden Samstag kaufte er die Revue Lévy, aber sie enthielt keine Erzählungen mehr, die mit seinem Namen signiert waren. Hingegen bekam er von dieser Zeitschrift einen Brief nach dem anderen, mit dem Ersuchen um Aufklärung, warum keine weiteren Beiträge kamen. Und hingegen enthielt die Revue du Globe einen neuen Angriff auf ihn, Brüggemeyer signiert, und das trieb ihn fast an den Rand des Wahnsinns. Daß er Brüggemeyer nicht fand, kam daher, daß man das nie in der Nähe sucht, was man in der Ferne vermutet. Tatsächlich waren er und Brüggemeyer so gut wie Nachbarn.
Zwei Wochen nach dem Ereignis, am 12. Februar, bekam er einen Brief mit der Post, dessen Inhalt ihn hätte erbleichen lasten, wenn dies möglich gewesen wäre.
An der Piazza di Montecitorio liegt eine bescheidene Pension, die ihre Gäste schrägüber dem Platz, im italienischen Parlament sucht. Da erwartete sie Kunden zu finden, die nicht allzu genau mit der Reinlichkeit oder allzu heikel mit dem Essen sind. Die Speisekarte der Pension hat so gut wie ausschließlich ein Gericht zu bieten, Fettucini, die grobe Sorte Makkaroni, in der Suppe, mit Tomatensauce, ohne Sauce. Die feinen Makkaroni, die Spaghetti, findet man nicht auf der Speisekarte der Pension Demostene (diesem politischen Redner, der seinen Mund nicht einmal mit Fettucini, sondern mit Kieselsteinen füllte, hat die Pension ihren Namen entlehnt). Ab und zu einmal bereitet sie ihren Gästen eine Abwechslung, indem sie ihnen Gnocchi, Kartoffelklößchen, serviert. Die Nachspeise besteht aus einem Apfel oder einer der uneßbaren Birnen Italiens.
Die Pension Demostene wird nur von Abgeordneten der Opposition besucht. Im selben Augenblick, in dem sie auf die richtige Seite hinüberkommen, beeilen sie sich, die Pension zu verlassen, und ziehen zu Marini oder in die Minerva hinüber, wo sie sich mit Spaghetti vollstopfen. Aber für einen mageren Beutel bietet die Pension Demostene wenigstens eine Möglichkeit. Und unter ihrem Dach findet man nicht ausschließlich Kammermitglieder der Opposition, sondern auch andere Personen mit geringen Mitteln.
Im Januar des Jahres 1920 erregte es in der Pension Aufsehen, daß ihr ältester Gast ausziehen wollte. Es handelte sich um kein Parlamentsmitglied, das die Partei gewechselt hatte. Der Fortziehende war ein Französisch sprechender Gelehrter in mittlerem Alter. Er war schon 1918 im Frühling in die Pension eingezogen. Niemand war damals im Zweifel über die Ursache, weshalb er die Pension Demostene aufsuchte. Seine Kleider, die verrieten, daß er bessere Tage gesehen hatte, waren abgetragen. Sein Gepäck bestand nur aus dem Allernotwendigsten und einigen Büchern. Das Interesse schließlich, das er den Fettucini der Pension und ihrem verdünnten Landwein entgegenbrachte, war beredter, als viele Worte. Der Professor war einer der vielen, die der Krieg ruiniert hatte. Er war einer von jenen, für die er plötzlich den Gewohnheiten eines ganzen Lebens ein Ende gemacht, die er aus der Studierstube gerissen und Angesicht gen Angesicht der brutalen Wirklichkeit gegenübergestellt hatte. In der Pension Demostene sah man ihn mitleidig an. Wie schlecht gestellt die oppositionellen Kammermitglieder auch waren, hatten sie doch auf jeden Fall größere Möglichkeiten zu Extraverdiensten als er. Die Serviermädchen Annina und Giulietta servierten ihm den größten Teller Fettucini, und wenn es ein seltenes Mahl Risotto gab, dann war in der Portion des Professors die meiste Hühnerleber. Begab es sich, daß einer der Abgeordneten durch die Zurücknahme einer Interpellation ein paar Groschen verdient hatte, dann war es sicher, daß der Professor Teil an dem Frascatiwein bekam, den der Volkserwählte in diesem Falle holen ließ. Durch derlei Freundlichkeiten suchte man dem armen Gelehrten, den die Zeiten so unsanft behandelt hatten, das Leben erträglich zu machen. Der Professor war schwarzbärtig, wahrscheinlich, weil er nicht die Mittel hatte, sich rasieren zu lassen, und hatte lächelnde, schwarze Augen. Seine äußeren Mißerfolge schienen ihn nicht weiter zu bedrücken. Er war heiter und liebenswürdig, und immer gleich dankbar für die kleinen Freundlichkeiten, die man ihm erwies. In seinem Zimmer beschäftigte er sich mit Schreiben und Studien. Fragte man ihn, was er studiere, sagte er:
»Ich studiere Ciceros Leben und Werke.«
Wenn er nicht gerade Ciceros Leben und Werke studierte, machte er lange Spaziergänge durch die Campagna, die er sowohl nach Frascati wie nach Tivoli ausdehnte.
In Roms Museen war man seit langer Zeit an seine Besuche gewöhnt. Im Vatikan kannten ihn sogar die Führer und unterließen es, ihm ihre Dienste anzubieten. In den Thermen des Diokletian ging er wie das Kind im Haus aus und ein.
Wenn man den Professor fragte, wo er vor dem Krieg gelebt hatte, sagte er:
»In England.«
»Nein, ich bin Schwede. Mein Vater war Schwede. Meine Mutter war Französin.«
»Und Sie sprechen Italienisch wie ein Italiener!«
»Das freut mich,« sagte der Professor mit einem sonnigen Lächeln. »Ich liebe Italien. Italien ist die Vereinigung einer verschwenderischen Natur und einer ungeheuren Kultur. In Italien hat jede Stadt, jedes kleine Oertchen, ja beinahe jedes Haus seine Seele. Italien hat alles. Italien hat sogar Herz. Ich bin bereit, für Italien alles zu tun!«
»Sogar Fettucini in der Pension Demostene zu essen,« sagte man, und der Professor lachte so, daß seine Zähne in dem Bart leuchteten.
Aber eines schönen Tages, im Januar 1920, sollte also der Professor die Pension Demostene verlassen. Man fragte sich allgemein, woher er die Mittel dazu haben mochte. Seine Kleider waren fadenscheiniger denn je. Er aß noch immer mit Appetit Fettucini und trank ohne Widerwillen den Landwein der Pension.
Einer der oppositionellen Abgeordneten, ein Vertreter Neapels, fragte ohne weiteres:
» Caro Professore, Sie ziehen aus der Pension Demostene aus? – Haben Sie Geld bekommen?«
Der Professor antwortete mit seiner gewöhnlichen Liebenswürdigkeit:
»Ich habe eine Forderung eingetrieben. Eine reine Bagatelle, aber genug, um es mir zu gestatten, aufs Land zu ziehen.«
Der neapolitanische Abgeordnete rief, an seine Kollegen gewendet:
»Er hat eine Forderung eingetrieben! Er zieht aufs Land! Und wohin ziehen Sie, caro Professore?«
»Nach Frascati,« sagte der Professor mit unerschütterlicher Liebenswürdigkeit. »Ich liebe Rom, aber ich habe das Gefühl, daß ich Luftveränderung brauche.«
»Er zieht nach Frascati,« rief der neapolitanische Abgeordnete. »Um diese Jahreszeit! Und was wollen Sie in Frascati machen, caro Professore?«
Der Professor lächelte dem Abgeordneten, der nicht aus Neapel war, zu und sagte:
»Ich werde Ciceros Leben und Werke studieren.«
*
Oben auf dem Monte Palatino war der alte Professor Boni mit der Ausgrabung des Hauses des Augustus beschäftigt. Der Januartag war warm, und er stand da, den weißen Kopf unbedeckt, während er den Arbeitern seine Weisungen gab. Es war die Partie zunächst der Villa Mills, an der jetzt gegraben wurde. Bei dem Geräusch herannahender Schritte sah er auf und breitete lächelnd die Arme aus. –
» Caro Professore – Sie machen mir einen Besuch!«
Der schwarzbärtige französische Professor schüttelte ihm die Hand.
»Abschiedsbesuch, lieber Meister!«
»Sie reisen?«
»Ich reise, aber nicht weit.«
»Wohin, wenn ich fragen darf?«
»Nach Frascati! Zu dieser Zeit des Jahres hinauf in die Berge!«
»Ja, Rom ist mir lieb, und nicht minder lieb ist es mir, den Ausgrabungen auf dem Palatin in Ihrer Gesellschaft beiwohnen zu dürfen. Aber ich sehne mich nach dem Lande, nach der kühlen Winterfrische der Olivenhaine und der blauen Dämmerung der Campagna. Und, wer weiß, vielleicht kann ich mich als ein guter Schüler zeigen und in Frascati auf eigene Faust Ausgrabungen machen.«
Professor Boni lächelte sein gütiges, italienisches Lächeln.
»Ah, Sie wollen mit eigenen Ausgrabungen anfangen! Sie wollen mich überflügeln!«
»Lieber Meister! Der Mann ist noch nicht geboren, der Ihren Mantel übernehmen kann.«
Professor Boni schüttelte ihm sichtlich befriedigt die Hand.
» A rivederci! Alles Gute für Ihren Besuch in Frascati, und lassen Sie mir Nachrichten über Ihre Ausgrabungen zukommen!«
Die Thermen des Diocletian sind das erste, das dem Blick des Fremden begegnet, wenn er den Bahnhof Rom verläßt. Gewaltige, rötlichgraue Gewölbe, die der Zeit Trotz bieten. Dort ist eine Kirche, ein Museum und ein Kino untergebracht, drei Stadien auf dem Wege der Menschheit durch die Jahrhunderte.
Der Direktor des Museums, Signor Parabeni, hielt seine tägliche Andacht vor seinem größten Schatz, dem Venusthron, als er bei dem Geräusch herannahender Schritte aufsah. Er drehte sich um. Als er sah, wer es war, lächelte er.
» Caro Professore, Sie hier!«
Er schüttelte dem schwarzbärtigen französischen Professor die Hand und versuchte seinen fadenscheinigen Anzug nicht zu bemerken.
»Ja, und zum letztenmal für einige Zeit.«
»Sie reisen?«
»Ach, nicht besonders weit. Ich glaube, ich kann eine anspruchslose Villa in Frascati übernehmen, und ich fahre dort hinaus, um die Arbeit abzuschließen, mit der ich mich hier in Rom beschäftigt habe.«
»Ihren lieben Cicero?«
»Meinen lieben Cicero!«
Der französische Professor lächelte.
»Ich weiß, daß Sie mein Interesse für ihn nicht teilen, aber wir haben ein anderes Interesse gemeinsam. Lassen Sie mich einen Abschiedsblick auf meinen verkannten Schatz draußen im Säulengang werfen.«
Sie verließen den Ludovisisaal und gingen in den Hof des Museums hinaus. In dem Säulengang standen Statuen und Statuetten aufgereiht, ganze und verstümmelte, unbedeutende Dinge und Meisterwerke. Der französische Professor blieb vor einem Frauenkopf aus Marmor stehen. Das Gesicht war faszinierend, eine leicht gebogene Nase, ein feiner, sinnlicher Mund und zwei blinde Marmoraugen, die ausdrucksvoller waren, als die meisten lebenden Augen. Zu unterst auf dem Marmor stand mit roten Ziffern 272 und auf dem Sockel: Clodia.
»Clodia,« murmelte der Professor, »Clodius Pulchers Schwester, Catulls vergötterte und geschmähte Lesbia, die Geliebte von hundert Männern! Welches Feuer hat nicht einst in diesen Adern gebrannt! Welche Küsse sind nicht von diesen Lippen geregnet! Welche Worte sind ihnen nicht entströmt, undeutlich von Leidenschaft! Und einen solchen Schatz verwahren Sie hier draußen im Säulengang, anstatt ihn in einer Cellula aufzustellen, einem Tempel würdig seiner Schönheit!«
Direktor Parabeni zuckte die Achseln.
»Wir haben so vieles! Wir können nicht allen unseren Göttinnen Tempel schaffen!«
Der französische Professor schüttelte den Kopf.
»Das mag sein, aber warum stellen Sie Clodia in die Winterluft hinaus? Ist es, um den Brand zu kühlen, den sie im Leben nicht löschen konnte? Oder, um sie den Versuchungen auszusetzen, die sie im Leben liebte?«
»Sie meinen?«
»Ich meine, daß, wenn diese Lippen bei Lebzeiten den Männern Wahnsinn einflößen konnten, man sich auch denken kann, daß sie es jetzt vermöchten. Haben Sie, rein herausgesagt, keine Angst vor Dieben?«
Direktor Parabeni lachte.
» Caro Professore, Ihre Leidenschaft für Clodia führt Sie zu weit. Hier ist sie besser bewacht, als einstmals in ihrer Villa auf dem Palatin. Durch unsere Türen trägt kein Mann sie fort. Dafür garantiere ich Ihnen.«
Der französische Professor nickte ernsthaft.
»Wir wollen es hoffen. Aber ich bin nichts weniger als ruhig. Sie haben, wie Sie selber sagen, so viele Dinge hier, daß ich glaube, man könnte Ihnen eines davon stehlen, ohne daß Sie es überhaupt merken würden.«
Direktor Parabeni lachte abermals.
»Sie sind zu gelungen mit Ihren Befürchtungen. Hören Sie, was ich sage:
Hier ist Lesbia so gut überwacht, als ob dieses Haus noch ein Kloster wäre. Von hier raubt sie niemand. Da wette ich mit Ihnen hundert Lire gegen eine.«
Der Professor sah an seinem fadenscheinigen Anzug herab.
»Als ich noch in den Tagen meines Wohlstandes war,« sagte er, »pflegte ich auch zu wetten, aber nie hundert gegen eins. Die Erfahrung hat mich gelehrt, daß das Risiko zu groß ist. Gerade diese Wetten verlor ich.«
Der Direktor lachte so, daß die Zähne in seinem Empirebart leuchteten.
»So, wirklich? Seien Sie mir nicht böse, aber ich wage das Risiko hundert gegen eins!«
Der Professor streckte seine Hand aus ohne zu antworten.
» A rivederci, caro direttore!«
» A rivederci, caro professore!«
Der Professor ging. Der Direktor sah seinen schleißigen Ueberrock mitleidig durch die Türen zur Piazza del Cinquecento verschwinden.
Im Hotel Bel Sito betrachtete man mit ausgesprochenem Widerwillen einen Drehorgelspieler, der sich in die Halle zu drängen suchte:
»Hier wird nichts gegeben! Fuori! Hinaus mit dir!«
Aber der Drehorgelspieler zog grinsend eine Visitenkarte hervor.
»Der englische Herr will mit mir sprechen. Das ist seine Visitenkarte!«
Die Visitenkarte tat ihre Wirkung. Der Drehorgelspieler wurde die Treppe hinaufgeführt, und der Portier des Bel Sito erging sich vor dem Personal über die Liebe der Engländer zur Musik und die seltsamen Formen, die sie annahm.
Im Zimmer 41 fuhr ein rothaariger Herr mit blauen Augengläsern aus einem Lehnstuhl in die Höhe und legte die Pfeife weg.
»Nun, was hast du für Neuigkeiten?«
»Gar keine, Eure Exzellenz!«
»Warum kommst du dann?«
»Ich brauche Geld. In der Via Viminale gibt mir niemand mehr einen Soldo. Dio mio! Nein, im Gegenteil! Sie haben mir gedroht, mich zu ermorden, wenn ich Biondo Fantasma noch eine Woche in der Straße spiele. Ich spiele es auch schon vierzehn Tage ununterbrochen.«
»Du willst Geld haben und hast keine Neuigkeiten? Na, und Luigi, der Hausierer, hast du ihn getroffen?«
»Ja, er kommt auch bald herauf, um sich Geld zu holen.«
»Hat er Neuigkeiten?«
»Nicht eine einzige, Eure Exzellenz.«
Der Engländer fluchte.
»Aber, Exzellenz, warum fluchen? Wir sind ehrlich, Luigi und ich, wir sagen nicht, daß wir Neuigkeiten haben, wenn wir keine haben. Bedenken Sie, wie leicht es für uns wäre, Neuigkeiten zu finden, die nicht richtig wären, und sie Eurer Exzellenz zu verkaufen.«
Der Engländer fluchte noch immer, ohne von dem Vorwurf des Drehorgelspielers Notiz zu nehmen.
»Was soll ich tun? Wie soll ich ihnen auf die Spur kommen? Sie sind in der Nähe, das spüre ich, und nicht genug damit, wenn die zwei hier sind, ist sicher der dritte nicht weit weg! Sie sind hier in der Nähe, alle drei, und es ist mir unmöglich, auch nur einen einzigen von ihnen aufzuspüren! Es ist um rasend zu werden! Und dies gerade, wo ich die zwei in der Falle hatte! Was soll ich tun? Wie soll ich ihrer habhaft werden?«
Der Drehorgelspieler verstand all dies Englisch nicht, aber immerhin einen Teil. Bei der letzten Frage des Engländers grinste er vorsichtig und sagte:
»Eure Exzellenz müssen zur Quästur gehen.«
Der Engländer machte einen Schritt, so daß der Boden dröhnte, und starrte den Drehorgelspieler durch seine blauen Augengläser an. Der Drehorgelspieler prallte zur Tür zurück.
»Exzellenz!«
»Die Quästur hast du gesagt!« brüllte der Engländer. »Weißt du, was ich von eurer Quästur denke? Daß das eine Gesellschaft von unheilbaren Idioten ist! Daß sie samt und sonders blind sind, wie die Hennen. Wenn ein ehrlicher Kerl und ein Schwindler zu ihnen kommt, so arretieren sie den ehrlichen Kerl und lassen den Schwindler laufen. Hast du verstanden? Und du rätst mir noch zur Quästur zu gehen?«
Der Drehorgelspieler wiederholte seinen Rat nicht. Er streckte scheu eine offene Hand aus. Der Engländer warf ein paar Banknoten hinein. Der Drehorgelspieler zog sich mit Verbeugungen aus dem Zimmer zurück. Glücklich draußen, placierte er die Finger der rechten Hand an der Nasenspitze und murmelte:
»Nein, du wirst sicher nicht öfter auf die Quästur gehen! Dein erster Besuch hat zu lange gedauert, als daß du Lust haben solltest, wieder hinzugehen.«
Der Engländer verbrachte eine Stunde in einsamen Grübeleien. Dann setzte er sich eine Sportmütze auf und ging durch die Via Ludovisi auf den Spanischen Platz. Er ging in die einzige Bar des Platzes und bestellte bei dem Mann hinter dem Schanktisch einen Whisky.
»Nun, Carletti?«
Signor Carletti schüttelte den Kopf.
» Niente! Nichts!«
Der Engländer fluchte.
»Sie sind hier in der Nähe, und ich kann sie nicht aufspüren. Es ist zum Verrücktwerden! Sie sind hier, wenigstens die zwei. Aber ich könnte darauf schwören, daß der dritte hier ist, der wichtigste. Und dank der verfluchten Quästur schlüpfen sie aus dem Netz, und ich stehe hier, wie ein Hund, der die Spur verloren hat. Carletti, das ist eine verfluchte Geschichte.«
Signor Carletti nickte.
»Sie haben sich schlecht bewährt, Carletti, Sie haben ihn nicht genügend in Versuchung geführt!«
Signor Carletti sah mit einem Blick zum Himmel auf, der sagte: Ich habe ihn nicht genügend in Versuchung geführt! Ich rufe den Höchsten zum Zeugen an, ob ich ihn nicht genügend in Versuchung geführt habe!
»Nein, Sie haben ihn nicht genügend in Versuchung geführt!«
»Signor, ich ließ die Kasse jeden Tag offenstehen, und er konnte nicht ahnen, daß das eine Falle war. Ich wiegte ihn schon am ersten Tag ganz in Sicherheit ein, indem ich in Abrede stellte, daß ich etwas von Ihrem Briefe weiß. Er konnte nicht ahnen, daß ich ihm Fallen stellte. Und ebensowenig, daß dies bei meinem Cousin Pallanza der Fall war. Aber er war ehrlich.«
»Er! Ein Schwindler von reinstem Wasser! Man hat ja gesehen, wie er dann später die Quästur drangekriegt hat. Nennen Sie das vielleicht ein ehrliches Vorgehen!«
Signor Carletti breitete die Hände aus, um anzudeuten, daß er jedem die volle Freiheit ließ, dieses Vorgehen je nach seinem Geschmack ehrlich oder unehrlich zu nennen.
»Und Ihr Cousin Pallanza, hat er ihn auch nicht mehr gesehen?«
»Nein, Signor, es ist ja auch übrigens nicht sehr wahrscheinlich, daß er sich in diesen Gegenden sehen lassen wird, Signor.«
»Und trotz alledem ist er hier in der Nähe. Ich habe das Gefühl. Ich weiß es! Ich brauche nur einen Leitfaden, einen einzigen kleinen, kleinen Leitfaden! Jahrelang bin ich hinter diesen zweien und dem dritten her gewesen, jetzt hatte ich die beiden in der Hand, und nur, weil ich auch den dritten kriegen will, werde ich alle drei verlieren. Das ist hart, Carletti, das ist verwünscht hart!«
Das Gespräch schien Signor Carletti offenbar zu langweilen. Er legte das Gesicht in ausdrucksvolle Falten, kniff das Auge ein und streckte dem Engländer die Hand unter die Nase, mit ausgespreiztem Daumen und Zeigefinger – Italiens überzeugende Geste:
»Signor, die Mühen so vieler Jahre werden schon belohnt werden. Es kann nicht anders sein. Binnen kurzem werden Sie dem Schwindler Angesicht gen Angesicht gegenüberstehen. Ich fühle es. Sprechen Sie ein andermal wieder vor, Signor, dann habe ich sicherlich Neuigkeiten. Leben Sie einstweilen wohl, Signor!«
Der Engländer zog die Sportmütze in die Stirn und ging.
Eine Woche darauf, am zwölften Februar, bekam er mit der Post einen Brief, dessen Inhalt ihn erbleichen ließ.
In seiner blühenden Villa oberhalb von Frascati wälzte ein italienischer Marquis Pläne für den Untergang der kapitalistischen Gesellschaft in seinem Kopfe.
Die Villa des Marquis – Villa Bracciano – lag rechts von dem Weg, der von Frascati nach Camaldoli hinaufführt. Von seinen Fenstern hatte der Marquis die Aussicht auf dieses Kloster, wo die klugen Barfüßermönche für eigene Rechnung einen der besten Weine Italiens bauen. Die Villa des Marquis war groß, aber nicht besonders gut gehalten, pompös, aber nicht gerade reich ausgestattet. Es war ein öffentliches Geheimnis, daß die Familie di Bracciano den Glanz, den der Name erforderte, nur mit großer Schwierigkeit aufrechterhalten konnte. Von den drei Familiengütern war der Palazzo in Rom an einen Engländer vermietet; in dem dürftigen Schlosse in Arezzo wohnte die Familie, und im Dezember 1919 zog der Marquis in die Villa in Frascati. Die Villa war eigentlich ein Sommersitz, aber ein besiegter Politiker, von dem alle wissen, daß er arm ist, kann aufs Land ziehen, ohne daß es Aufsehen erregt. Die Villa war von einem der Vorväter des Marquis vor hundertfünfzig Jahren erbaut; nach der Sitte der Zeit hatte dieser nicht nur ein Hauptgebäude gebaut, sondern auch ein Kasino, ein kleines Gartenhaus. Dieses, das einige hundert Meter vom Hauptgebäude entfernt lag, war dazu bestimmt, die Erotik des Stammvaters zu umhegen. Das prosaische neunzehnte Jahrhundert hatte das Gartenhaus überflüssig gemacht. Halb verfallen, halb von Olivenhainen und Rosengestrüpp verborgen, träumte es seit hundert Jahren von Seidenmöbeln, leichten Schritten und halb erstickten Seufzern. Ein spätgeborener, bigotter Marquis von Bracciano hatte es und einen Teil des Parkes, in dem es gelegen war, mit einer Steinmauer umgürtet; vielleicht fand er es notwendig, eine Schutzmauer vor den Versuchungen entschwundener Zeiten zu erbauen. Jahrelang hatte niemand an das Kasino gedacht, es hatte wie ein Dornröschenschloß und ein totes Kapital dagelegen. Aber ein Januartag 1920 brachte eine Ueberraschung. Der Marquis bekam den Besuch eines Ausländers, der fragte, ob il Casino zu vermieten sei.
»Meinen Sie, daß Sie il Casino mieten wollen?« fragte der Marquis.
»Ja.«
»Aber es ist eigentlich nicht mehr recht zu einer menschlichen Wohnung geeignet!«
Der ausländische Herr hatte einen schwarzen Bart und etwas fadenscheinige Kleider. Er sagte lächelnd:
»Herr Marquis! Ich mache geringe Ansprüche. Man hat mir gesagt, daß Sie sich als Politiker mit der Wohnungsfrage beschäftigt haben. Sie wissen, daß sie verzweifelt ist, in Italien, wie überall. Ich bin Professor, ich brauche ein stilles Haus für meine Bücher und meine Meditationen, und ich kann es nicht finden. Ganz zufällig sah ich Ihr Kasino und frage Sie also: ist es frei?«
»Unleugbar ist es seit etwa hundert Jahren frei.«
»Nun wohl, ich wünsche es zu mieten. Was liegt mir an Komfort. Ich brauche Ruhe, ich brauche für zwei oder drei Jahre ein Dach über dem Kopfe, und ich brauche Platz für meinen lieben Cicero.«
»Ah, Sie studieren Cicero!«
»Ich studiere schon lange Ciceros Leben und Werke. Nun, also?«
Der Marquis sah seinen Besucher durch halbgeschlossene Augenlider an. Ein Gedanke war in seinem Hirn aufgeblitzt. Wenn man ihm gesagt hätte, daß er nicht von selbst gekommen sei, wäre er sehr verwundert gewesen.
»Natürlich ist il Casino zu vermieten, wenn Sie es wünschen,« sagte er. »Gedenken Sie lange da zu wohnen?«
»Zwei, drei Jahre, vielleicht länger,« sagte der französische Professor. »Es ist mein Lebenswerk, an dem ich arbeite.«
Als hätte er auf diese Antwort gewartet, rief der Marquis:
»Und wo könnten Sie es in geeigneterer Umgebung vollbringen als hier! Hier in der Gegend, wo der Gegenstand Ihrer Studien, wo Cicero selbst seine Villa, sein Tuskulanum hatte! Ich begreife Ihren Wunsch, il Casino zu mieten. Er ist gewährt, aber« – er sah den Professor an – »warum nicht weitergehen? Warum nicht il Casino kaufen?«
Der Professor griff sich an die Stirn, wie von dem Gedanken betäubt.
»Ein Haus kaufen!« murmelte er.
»Gewiß. Im allgemeinen könnte mir nichts fremder sein, als etwas, das meinen Vorvätern gehört hat, auszubieten. Aber, Sie sind ein Mann der Wissenschaft, Sie brauchen ein Dach über dem Kopfe, Sie brauchen eine kongeniale Umgebung für Ihre glänzende Arbeit – Ihnen zuliebe durchbreche ich meine Prinzipien. Ihnen biete ich ohne Zögern an, il Casino nicht nur zu mieten, sondern zu kaufen!«
Der Professor machte deutliche Versuche, zu entkommen.
»Aber ich bin nicht reich.«
»Und ich bin kein Blutsauger. Fünfundzwanzigtausend Lire, und il Casino gehört Ihnen!«
Der Professor streckte abwehrend die Hand aus.
»Fünfundzwanzigtausend Lire! Wie sollte ich so viel entbehren können!«
Der Marquis sah den Anzug seines Gastes an.
»Zwanzigtausend! Um Ihnen einen Gefallen zu tun.«
»Aber ich habe nicht so viel!«
»Sie geben mir eine Summe auf die Hand, wir schreiben einen Kontrakt, und il Casino gehört Ihnen.«
»Aber –«
»Sie geben mir eine Summe von, lassen Sie uns sagen, zehntausend.« –
»Ich habe im Augenblick nicht mehr als siebentausendfünfhundert.«
»Nun, schön, sagen wir siebentausendfünfhundert.«
»Und von diesen siebentausendfünfhundert kann ich höchstens sechstausend entbehren.«
»Nun, gut, wir sagen sechstausend! Sechstausend Lire auf die Hand, ein Kontrakt, daß Sie den Rest im Laufe eines Jahres bezahlen, il Casino gehört Ihnen, und Sie können die Arbeit über Ihren lieben Cicero ohne jeden Gedanken an die Wohnungsnot zu Ende bringen. Ecco! Spreche ich gut? Sind wir einig?«
Der Professor stellte auf einem Blatt Papier verwirrte Rechnungen auf. Diese Rechnungen erfüllten den Marquis mit Freude, denn sie zeigten ihm, daß er es mit einem ordentlichen Menschen zu tun hatte. Innerhalb eines Jahres konnte er auf vierzehntausend Lire rechnen, abgesehen von den sechstausend, die schon an und für sich eine reichliche Bezahlung für il Casino waren. Der Professor beendete seine Rechnungen.
»Und ich kann gleich einziehen?«
»Natürlich, caro Signore, natürlich! Und bedenken Sie eine Sache: Il Casino ist von meinem glanzvollen Vorvater, dem Marquis Sisto di Bracciano, mit einer Steinmauer umgürtet. Wir sparen die Ausgaben für einen Landmesser! Was innerhalb der Mauer liegt, gehört Ihnen, was außerhalb liegt, ist mein. Alles ist klar. Sind wir einig?«
Der Professor neigte den Kopf. Es war leicht zu sehen, daß er sich noch nicht von seiner Ueberraschung erholt hatte. Der Marquis schob mit schlecht verhehlter Schadenfreude den Arm unter den seinen. Arm in Arm gingen die zwei Herren zu einem Notar an der Piazza Romana in Frascati. Bei diesem wurde der Kaufkontrakt mit den Namen Marquis di Bracciano und Professor Pelotard unterschrieben. Der Professor bezahlte dem Marquis sechstausend Lire kontant. Den Triumphmarsch aus der Aïda trällernd, kehrte der Marquis in die Villa Bracciano zurück.
*
In der Villa Bracciano empfing der Marquis allerlei Besuche, obgleich die Villa so abgelegen war. Männer mit leuchtenden Augen kamen hin, in der Regel kamen sie in der Dämmerung und verließen die Villa im Schutze der Nacht. Zuweilen hatten sie Gepäck mit – Handtaschen, die Drucksachen enthielten. Alle waren sie langhaarig und scharfäugig, und fast alle hatten sie Nasen, deren Bogen mehr als römisch war. Sie wurden von den zwei Dienern des Marquis eingelassen, und der Marquis unterhielt sich eifrig mit ihnen.
In der ersten Hälfte Februar wurden die Augen der Besucher immer glänzender und glänzender, ihre Taschen immer schwerer und schwerer. War ihr Inhalt noch immer Drucksachen? Ringsum in Italien gärte es, jeden Tag brachten die Zeitungen neue Berichte über Unruhen. In Bologna baute man Barrikaden, und in der Stadt der roten Lilie schoß man mit Revolvern. Eisenbahnzüge wurden mitten auf der Strecke angehalten. Rom war seit zwei Wochen von der Post- und Telegraphenverbindung mit der Außenwelt abgeschnitten. Die krummnasigen Besucher des Marquis di Bracciano wurden immer aufrechter in ihrer Haltung. Der Marquis di Bracciano strich seinen schwarzen Seidenbart und lächelte blutig hinein.
An einem Tage, der ohne Besuch verlaufen war, erinnerte sich der Marquis an etwas und lächelte. Vor einiger Zeit, als alles noch unsicher aussah, hatte er ein Geschäft gemacht. Er hatte einen Teil seiner Villa verkauft. Wie stand es mit dem Käufer?
Er setzte sich den Hut auf und ging aus. Der Februarabend war kühl. Die Campagna lag nebligblau wie ein Meer unter den Abhängen von Frascati. Einige Meilen weiter weg funkelten die Kuppeln, Turmspitzen, Kreuze und Tempelfenster von Rom. In dem Kloster Camaldoli läutete dünn und zart eine einsame Glocke.
Il Casino lag, wie es seit hundert Jahren gelegen, von Oliven- und Dornengestrüpp verborgen. Eines der Fenster war beleuchtet. Der Marquis klopfte an.
Der neue Besitzer des Kasinos, der schwarzbärtige Professor, öffnete selbst.
»Sie, Herr Marquis?«
»Ich komme, um zu sehen, wie es Ihnen in dem Haus meiner Vorväter ergeht.«
»Ausgezeichnet. Ich arbeite hier großartig.«
»Sie haben also kein schlechtes Geschäft gemacht, caro Professore?« sagte der Marquis und warf einen Blick auf den geborstenen Steinboden und die geschwärzten Wände. Von Möbeln war nunmehr ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett und ein kleines Bücherregal vorhanden. Eine Petroleumlampe verbreitete ein unsicheres Licht.
»Ich habe, was ich mir gewünscht habe,« sagte der Professor und lächelte, »Arbeitsruhe.«
»Welchen Teil von Ciceros Leben und Werken studieren Sie gerade jetzt, wenn man fragen darf?«
»Den vielleicht interessantesten, seine Wiederkehr aus der Verbannung.«
»Ah, seine Wiederkehr aus der Verbannung!«
»Ja, Sie erinnern sich sicherlich, daß Clodius Pulcher, der um das Jahr sechzig Volkstribun wurde, ihn in die Landesflucht trieb. Clodius war der Bruder Clodias, Katulls geliebter Lesbia. Er haßte Cicero auf den Tod und verfolgte ihn in jeder erdenklichen Weise. Nicht genug damit, daß er Cicero in die Verbannung getrieben, er stahl auch noch seine Villa in Formiae, und er ließ seinen Palast auf dem Palatin niederreißen. Und um Cicero sogar den Baugrund zu entziehen, schenkte er ihn der Freiheitsgöttin Libertas! Eine religiöse Schenkung war unverletzlich.«
Der Marquis lachte.
»Aber nichtsdestoweniger bekam Cicero ihn nach seiner Rückkehr wieder!« sagte er. »Und als kurz darauf ein Erdbeben stattfand, behaupteten die Anhänger Clodius', das Erdbeben sei ein Zeichen des Zornes der Göttin, weil ihre Schenkung geschändet worden war.«
»Ich sehe, daß Sie Ihren Cicero kennen,« sagte der Professor.
»Ob ich Cicero kenne!« sagte der Marquis. »Ich bin Italiener, ich bin der Erbe Roms!«
»Und Clodius' Schwester Clodia? Interessiert sie Sie?«
Der Marquis murmelte: »Lesbia – – Ille mi par esse deo videtur … Manchmal will es mir scheinen, daß die Liebe, die man zu Frauen aus Fleisch und Blut hegt, sinnlos ist und nur die Liebe zu den Marmorfrauen echt. Schon seit ich ein Knabe war, habe ich für Lesbia geschwärmt.«
»Und Sie sind Politiker!«
Der Marquis zuckte die Achseln.
»Ich bin Italiener, ich bin der Erbe Roms. Wie könnte ich etwas anderes sein, als Politiker.«
Als der Marquis etwas später ging, warf er zufällig einen Blick auf die Hände des Professors. Sie setzten ihn in Erstaunen. Bei einem stillen Gelehrten und Bücherwurm hätte man blasse, weiße Schreibtischhände erwartet, aber die Hände des Professors waren braun von Sonne und schwarz von Erde – so, als hätten sie sich mit Graben und Gartenarbeit beschäftigt.
Als der Marquis vor dem Tor des Kasinos stand, warf er einen Blick zurück.
Oben unter den Pinien, in deren Kronen jetzt Italiens Nacht brütete, schimmerte es undeutlich.
Er konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen, aber es sah aus, als sei ein Stück der Erde mit einer Plache oder etwas Aehnlichem bedeckt. Und es machte den Eindruck, als wäre sie hingelegt, um etwas zu verbergen. Möglicherweise eine Grabung.
Abdullah, Sohn des Abdullah, Lift im Hotel Cavour, war verstimmt, soweit ein Neger das sein kann.
Seit mehreren Wochen hatte er sich daran gewöhnt, täglich mit dem Kritiker Brüggemeyer die verschiedenen Fragen der Zeit zu debattieren. Eines schönen Tages hörten diese Gespräche plötzlich auf. Der Kritiker Brüggemeyer fuhr nur mehr selten mit dem Lift, und wenn er es tat, blieb er stumm. Nicht ein Wort über die Zukunft der Literatur oder die Aufgaben der Kritik kam über seine Lippen. Seine Augen waren in sich gekehrt, das Voltairelächeln um seine Lippen war verschwunden. Abdullah sah ihn mit einem erwartungsvollen Kannibalengrinsen und den demütigen Augen eines Hundes an. Aber der Kritiker Brüggemeyer war blind für seine Blicke. Wenn Abdullah zu ihm sprach, antwortete er nicht. Hie und da schlich sich Abdullah zu seiner versperrten Türe hin und lauschte. Von drinnen hörte man das Rasseln von Spielkarten, die gemischt, abgehoben und aufgeschlagen wurden. Hie und da hörte man auch ein Murmeln, hie und da ein Ratsch, ein Prasseln, so, wie wenn Papiere auf den Boden gestreut werden, und wütende Flüche. Abdullah lauschte mit rollenden Augen. Was trieb der weiße Mann? Gab er sich Zauberkünsten hin? Es konnten auch Stunden vergehen, ohne daß man einen Laut hörte. Was bedeutete dieses Schweigen? Abdullah suchte es sich schaudernd auszudenken.
Eines schönen Tages nahm er seinen ganzen Mut zusammen und berührte im Lift Brüggemeyers Arm.
»Signor!«
Brüggemeyer antwortete nicht.
»Signor!«
Brüggemeyer richtete zwei ungeduldige Augen auf ihn.
»Signor! Ich wissen, warum Signor sein traurig!«
»So? Ich bin traurig? Und du weißt den Grund?«
»Ja. Signor haben ein Feind, der hat Signor verhext!«
Brüggemeyer lächelte hart.
»Du hast recht. Nun, was soll ich gegen meinen Feind tun?«
Abdullah grinste listig und vergnügt.
»Das sein sehr einfach! Signor gehen zu Zauberer und schicken stärkeres Zauber auf Feind zurück.«
»Abdullah, Sohn des Abdullah, ich kenne keinen Zauberer. Kannst du mir vielleicht die Adresse von einem geben? Und kannst du mir auch die Adresse meines Feindes geben? Dann ist alles in Ordnung.«
»Signor nicht wissen, wo sein Feind wohnen?«
»Nein, o Abdullah, ich weiß nicht, wo er wohnt. Ich weiß nicht, wer er ist. Ich weiß nur, daß er mir unter der Maske, mir ein Geschenk zu machen, das Gleichgewicht meiner Seele und den Rest meiner Arbeitskraft gestohlen hat. Das ist ein Vorgehen, das frappant an die alte Fabel von dem Trojanischen Pferd erinnert.«
Abdullah rollte die Augen in dem Bemühen, dies zu erfassen.
»Ich sagte, daß er mich unter der Maske eines Geschenkes bestohlen hat. Das ist nicht ganz richtig. Ich selbst habe mich in dem Glauben, daß ich meinen Feind bestehlen könnte, um die erwähnten Dinge bestohlen. Aber er hatte vorausgesehen, daß ich in dieser Weise handeln würde! Er wußte es, er hatte es berechnet, der Elende!«
Abdullah knirschte erregt mit seinen starken Zähnen und sagte:
»Das sein ein Teufel, Signor, ein böser Geist!«
»Du hast recht, ich fange an, es zu glauben. Es ist ein böser Geist, der sich vorgenommen hat, mein Leben zu zerstören, der in dieser Absicht zwei Artikel an die Revue du Globe geschickt hat und der jetzt stumm wie das Grab ist. Ich sehe ein, daß es so sein muß. Ich werde also als Mystiker enden, wie Huysmans und Sar Peladan! Es ist entsetzlich!«
Abdullah tanzte im Korridor herum (sie hatten den Lift verlassen) und rief:
»Signor müssen ihn fangen! Signor müssen sich rächen!«
»Ja, o Abdullah, mit Vergnügen, aber verschaffe mir zuerst seine Adresse. In der Zeitung Mezzo Giorno, die er selbst als Adresse angab, weiß man nichts von ihm, nicht einmal, wie er aussieht. Abdullah, Sohn des Abdullah, weißt du, was er in seinem letzten Artikel geschrieben hat? Daß der lächelnde Zweifel, mein eigener Standpunkt, auf die Länge ebenso verknöchert dogmatisch ist, wie jeder andere Standpunkt, daß dies, allen unrecht und keinem recht zu geben, ebenso parteiisch ist, wie einer bestimmten Partei recht zu geben! Abdullah, Sohn des Abdullah, hast du je so etwas gehört?«
Abdullah schwang ein unsichtbares Assagai in seinen sehnigen Armen und rief wütend:
»Signor, das sein ein Teufel! Signor müssen seine Adresse wissen! Signor müssen ihn töten, skalpieren und verstümmeln!«
»Seine Adresse, das ist es eben,« sagte der Kritiker Brüggemeyer und ging in sein Zimmer – das Zimmer, wo er seit zwei Wochen Patiencen gelegt hatte, in dem Bemühen, einen Artikel zu schreiben, der elegant und tändelnd die Ansichten fortjonglieren könnte, die sein unbekannter Feind in seinem Namen verkündigt hatte. Dieser Artikel war noch nicht einmal begonnen. Die schwachen Reste von Arbeitsfähigkeit, die er noch vor einiger Zeit besessen, hatte ihm der Unbekannte gestohlen. Er mußte, aber er konnte nicht mehr.
Mit einem Seufzer griff er nach den Kartenspielen und mischte.
Eine Woche später, am zwölften Februar, bekam er mit der Post einen Brief, dessen Inhalt ihn erbleichen ließ.