Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII.
Eine Spekulation innerhalb der Grenzen der Ehrlichkeit

Mr. Graham sah Monsieur Lavertisse aus zwei runden Porzellanaugen an. Seine ersten Worte waren:

»Haben Sie Geld, Lavertisse?«

»Nein,« sagte Lavertisse. »Wo ist der Professor?«

»Das weiß ich nicht. Sie haben kein Geld?«

»Nicht einen Sou! Aber Sie werden doch eine Ahnung haben, wo der Professor ist?«

»Ich habe ihn seit drei Jahren nicht gesehen.«

»Und ich seit fünf.«

»Und Sie haben nicht einen Sou?«

»Nicht einen Sou. Und Sie?«

»Nicht einen Penny!«

Die beiden Freunde sahen sich an.

»Wo kommen Sie her, Lavertisse?«

»Ich wurde von einem Schwindler hergelockt. Das ist eine lange Geschichte. Und wo kommen Sie her?«

»Aus Saloniki. Zuletzt war ich in Aegypten.«

»Aha, die ganze Zeit Soldat?«

»Ich war in der Intendantur. Haben Sie auch mit ihr zu tun gehabt?«

»Erst nach dem Krieg. Ich habe in Frankreich Armeelager liquidiert.«

»Donnerwetter! Und Sie wollen behaupten, daß Sie kein Geld haben?«

»Nein! Ich war dem Metier nicht gewachsen. Ich will Ihnen etwas sagen. Ich habe mich entschlossen, ehrlich zu leben.«

»Das wäre des Teufels! Wie sind Sie auf solche Ideen gekommen?«

»Ich weiß nicht – Der Krieg, glaube ich.«

»Aber das ist wohl keine Goldgrube? Nicht allzuviel Sous? Was?«

»Na und Sie? Sagten Sie nicht, Sie hätten nicht einen Penny?«

»Das ist wahr. Aber ich konnte auch kein einziges Geschäft machen. Ja, früher einmal, das waren andere Zeiten!«

»Das schon. Erinnern Sie sich noch an die Affäre mit der Goldsendung?«

»Ach ja, und erinnern Sie sich an die chinesische Affäre in Kopenhagen?«

»Das will ich meinen!« Lavertisse seufzte. »Das war zur Zeit des Professors, ja.«

Mr. Graham seufzte gleichfalls.

»Ja, ja, das war zur Zeit des Professors.«

»Wo mag er sein?«

»Ja, wo mag er sein?«

Der Corso wimmelte von Fußgängern, Offizieren in blauen Togas, Kokotten, Zeitungsverkäufern. Am anderen Ende der Piazza Venezia leuchtete das Viktor-Emanuel-Denkmal bläulichweiß im Lampenschein. Die Straßenbahnen knirschten. Und fünfhundert Meter entfernt lag eine Welt von toter Majestät, das Forum Romanum. Die beiden Freunde starrten einander an. Lavertisse trug seine Armee-Ausverkaufseleganz, Lackschuhe mit Sämischledereinsätzen und einen dunklen Anzug. Mr. Grahams Aussehen, abgesehen von seinem Bauch, sprach vom Ernst der Zeiten. Seine Wangen waren schlaff und eingefallen, seine Kleider wirkten durch ihre Farblosigkeit wie Camouflage. Ein Gedanke kam Mr. Graham.

»Wohnen Sie?«

»Ja, und Sie?«

»Ich wurde heute morgen hinausgeschmissen.«

»Gut, daß Sie mich getroffen haben. Ich habe zwei Wochen im voraus bezahlt.«

Mr. Graham strahlte.

»Dann arrangiert sich alles. Dann kommt uns inzwischen eine Idee, und wir machen ein Geschäft.«

»Ja,« sagte Lavertisse, »aber ein ehrliches. Ich habe beschlossen, ehrlich zu sein.«

»Gut, so machen wir ein ehrliches Geschäft. Bis auf weiteres wohne ich also bei Ihnen?«

»Natürlich!«

Es ist schön zu wohnen, aber vom Wohnen allein kann man nicht leben. Das lernten die beiden Freunde in den folgenden Tagen einsehen. Rom ist auf sieben Hügeln erbaut und einem Berge, dem Monte di Pietà, dem Berge der Barmherzigkeit. Durch Besuche des letzteren gelang es ihnen notdürftig, das Leben zu fristen. Zwei Uhren verließen die Wohnung in der Via Viminale und nahmen auf dem Berge der Barmherzigkeit Aufenthalt. Aber das waren Notauswege; und während Mr. Graham die Luft in der Via Viminale mit den furchtbarsten Marken des italienischen Monopols vergiftete, wälzten sie in ihrem Kopf Pläne für ein Geschäft, das ihnen auf die Beine helfen konnte. Nach Lavertisses Ansicht sollte dieses Geschäft ehrlich sein; nach Mr. Grahams war dieses Moment von geringerer Bedeutung. Eines Tages erwähnte Lavertisse zufällig Carlo Carletti und die Kongregationskasse. Mr. Graham war Feuer und Flamme.

»Das wäre gerade das Richtige für uns!«

»Nicht für mich! Ich will ehrlich leben. Man soll ehrlich leben.«

»Warum ausgerechnet Sie? Ich bin bei der Intendantur gewesen. Ich weiß, wie es in der Welt zugeht. Diese Kasse wäre etwas für uns. Wie heißt der Kerl, der die Adresse kennt?«

»Carlo Carletti.«

»Woher kennen Sie ihn?«

Lavertisse erzählte von seiner Anstellung in Signor Carlettis Bar und Cesare Pallanzas Laden. Mr. Graham wollte durchaus Carlo Carletti aufsuchen, aber Lavertisse sagte nein.

»Außerdem hat es keinen Zweck. Ich wurde von seinem Cousin Pallanza zur Türe hinausgeworfen; und bevor ich ging, habe ich ihm noch gesagt, wie alt seine alten Meister sind.«

»Sind sie nicht alt?«

»Ein halbes Jahr – höchstens.«

»Da sehen Sie. War er so genau? War Carletti es? Warum müssen Sie so bockig sein?«

»Das ist mir gleich. Ich will nicht. Denken Sie ein respektables Geschäft aus, dann tue ich gleich mit.«

Ein paar Tage vergingen. Die Dezembersonne schien auf die sieben Hügel und den Berg der Barmherzigkeit, wo nunmehr ein Zigarettenetui um die Wette mit zwei Uhren im Sonnenschein funkelte. Der Tiber rollte seinen heiligen Schlamm; das Forum Romanum wurde von Barbaren besichtigt; die Scala Santa hinauf krochen Büßer auf ihren wunden Knien; und im Castello dei Cesari aß Roms Aristokratie bei einem ohrenbetäubenden Spektakel ihren Lunch. Der Marquis di Bracciano, im Wahlkampf besiegt, erkannte den Bankrott des Parlamentarismus und bekannte sich in öffentlichen Versammlungen unverhohlen zum Bolschewismus.

Da Lavertisse keine Zeitungen las, konnte er sich an diesem Resultat seines Eingreifens in den Wahlkampf nicht erfreuen.

Am Morgen des fünften Tages waren alle Schiffe verbrannt. Nichts war übrig, das man zum Berg der Barmherzigkeit bringen konnte, und seit drei Tagen hatten die beiden Freunde keine andere Nahrung gekostet, als Makkaroni – Makkaroni in der Suppe, Makkaroni mit Tomatensauce, Makkaroni ohne Sauce. Es wurde klarer und klarer, daß sofort etwas geschehen mußte.

»Mir ist so, als wenn ich eine Telegraphenleitung aufgegessen hätte,« klagte Mr. Graham, »und wenn man doch wenigstens satt wäre! Nein, ein Beefsteak mit Sellerie, ein Porter, ein Stiltonkäse, ein Welsh Rabbit! Und Whisky!«

»Fangen Sie schon wieder mit Ihren verbrecherischen Phantasien an?«

»Etwas muß geschehen,« beharrte Mr. Graham.

»Ja, etwas Respektables!«

»Sie sind nicht immer so genau gewesen!«

Lavertisse richtete sich mit leuchtenden Augen auf. »Da haben Sie etwas gesagt!«

»Sind Sie beleidigt? Ich bitte um Entschuldigung.«

»Beleidigt? Nein, Sie haben recht. Ich bin nicht immer so genau gewesen.«

Mr. Graham sah zustimmend, aber verständnislos aus.

»Man könnte sich auch schärfer ausdrücken,« sagte Lavertisse. »Man könnte sagen, daß ich Geschäfte gemacht habe, die in den meisten Ländern Europas nicht die allgemeine Billigung gefunden haben.«

Mr. Graham nickte bekräftigend.

»In den meisten Ländern Europas, auch in Italien. Die Folge ist, daß man in den meisten öffentlichen Archiven Europas mein Bildnis verwahrt. Was mein Heimatland betrifft, so habe ich mit ihm die Rechnung während des Krieges geordnet. Aber in Italien –«

»In Italien kann man Ihnen noch immer unbezahlte Rechnungen präsentieren,« ergänzte Mr. Graham.

»Allerdings. Wenn ich nicht irre, schätzt man meine Adresse auf ein paar tausend Lire. Sie verstehen, was das bedeutet?«

Mr. Graham schüttelte den Kopf.

»Nein, ich verstehe nicht, was das bedeutet.«

»Für Sie bedeutet es Beefsteak mit Sellerie, Porter, Stiltonkäse, Welsh Rabbit und Whisky. Für mich ein Chateaubriand mit Trüffeln, Rocquefort und Burgunder!«

»Ich glaube, Sie sind geistesgestört. Was für ein Zusammenhang ist zwischen diesen Dingen?«

»Die Makkaroni haben Sie etwas begriffsstützig gemacht. Sie gehen auf die Piazza del Collegio Romano. Die heißt so nach einem Jesuiteninstitut, das da liegt.«

»Ich gehe auf die Piazza del Collegio Romano.«

»An der Piazza del Collegio Romano liegt la questura

»Da liegt la questura? Was ist das, la questura?«

»Das ist soviel wie die Polizei. Sie gehen in die Quästur, fragen nach dem Kontor für steckbrieflich verfolgte Personen und sagen: ›Meine Herren! Ich weiß eine Adresse. Sie ist zu verkaufen. Sie ist fünftausend Lire wert. (Ich glaube, es sind fünftausend.) Seien Sie so gütig, und geben Sie mir fünftausend Lire, so bekommen Sie die Adresse.‹«

»Das werde ich nie tun.«

»Das werden Sie wohl tun. Man wird sagen: ›Wir geben Ihnen das Geld, wenn wir uns überzeugt haben, daß die Adresse richtig ist.‹ Sie antworten: ›Die Adresse ist richtig. Aber wenn Sie sich nicht auf mich verlassen, verlasse ich mich nicht auf Sie. Adieu!‹ Man wird rufen: ›Signor, es ist ja möglich, daß die Adresse richtig ist, aber Sie begreifen, daß wir nicht im vornhinein bezahlen können.‹ Sie antworten: ›Gut! Sie begreifen, daß ich nicht auf Kredit verkaufe. Ein Wort für das andere. Bezahlen Sie mir die Hälfte auf die Hand, kommen Sie mit mir und geben Sie mir den Rest später, wenn Sie sich überzeugt haben, wie richtig die Adresse ist.‹ Man wird überlegen. Wenn man eine Weile überlegt hat, wird man sagen: ›Gut, zeigen Sie den Weg.‹«

»Und Ihre Adresse sollte ich verkaufen? Und Sie sollten sich arretieren lassen, um mir Beefsteak und Porter zu verschaffen? Niemals!«

»Ihr Gedankengang machte Sprünge, wie ein zuschanden geschossener Hase, lieber Graham. Es ist meine Adresse, die Sie verkaufen sollen, insoweit haben Sie recht. Aber Sie sprachen von Beefsteak und Porter für Sie. Vergessen Sie den Chateaubriand und den Burgunder für mich?«

»Glauben Sie, daß Sie im Arrest viel Freude daran haben werden?«

»Sie springen schon wieder. Ich gedenke mich nicht arretieren zu lassen. Ich gedenke durch Sie bei der Polizei eine Summe zu beheben, voilà tout.«

»Nun, und ich? Wie soll ich mit Ihrer Summe von der Polizei loskommen?«

Lavertisse unterbrach sich plötzlich in seinen Erörterungen.

»Sie haben recht. Daran habe ich nicht gedacht. Sie haben recht.«

Er sah Grahams kugelrunden Bauch an.

»Das geht nicht. Wie sollten Sie von der Polizei loskommen? Nein, das geht nicht.«

Graham stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

»Da sehen Sie!«

Lavertisse sah nachdenklich zum Fenster hinaus.

»Nein, das heißt nichts. Sie würden das ganze Risiko haben. Das taugt nicht. Es gibt nur einen Ausweg. Das ist der einzige Ausweg, den ich sehen kann.«

»Was denn?« fragte Graham.

»Ich muß selbst auf die Quästur gehen,« sagte Lavertisse.

Mr. Graham erhob sich und spie eine Rauchwolke aus.

»Sie – Sie sollten zur Polizei gehen und Ihre eigene Adresse verkaufen?«

»Vorschuß darauf nehmen, ja!«

»Und – und sich von ihnen arretie – –«

»In keiner Weise! Ihnen auf dem Weg hierher durchbrennen!«

»Die werden schon auf Sie aufpassen!«

»Ich werde auf sie aufpassen.«

»Und Ihr Aussehen! Die erkennen Sie ja gleich!«

»Gewiß nicht! Ich habe mich verändert. Man ist doch nicht umsonst Poilu gewesen. Die erkennen mich nicht!«

»Das geht absolut nicht!«

»Das geht. Und was mehr ist, ich fühle, daß ich nach dem einförmigen Leben dieser letzten Zeit eine Abwechslung brauche. Zweitausendfünfhundert Lire ist nicht viel, aber wir müssen bescheiden sein. Einigen wir uns jetzt über einen Platz, wo wir uns nachher treffen können.«

»Das geht absolut nicht!«

»Das geht!«

»Sie sind verrückt! Sie werden die Polizei hinter sich her haben!«

»Das ist mir schon öfter passiert!«

Mr. Graham sah sich mit hilflosen Porzellanaugen um. Nach dem Strohhalm greifend, wie ein Ertrinkender stammelte er:

»Sie nehmen es doch so genau, betrachten Sie das als ein ehrliches Geschäft?«

»Vollkommen ehrlich,« sagte Lavertisse. »Ich verkaufe meine Adresse, und sie ist richtig, aber ich verkaufe sie mit Vorbehalt, dazu hat man das Recht. Ich habe diese Adresse, aber ich garantiere nicht, daß ich dort solange wohne, daß die Polizei mich dort holen kann.«

Er sah zum Fenster hinaus.

»Wenn mich die Polizei nicht nur schon aufs Korn genommen hat! Das wäre das Schlimmste! Haben Sie diesen Drehorgelmann dort unten auf der Straße bemerkt? In letzter Zeit hielt er sich jeden Tag stundenlang da unten auf, und ich glaube nicht, daß er je einen Sou bekommt. Ferner ist da ein Hausierer, der mit ihm abwechselt und fast nie etwas verkauft. Sollten sie ohne meine Hilfe ausgekundschaftet haben? Ich möchte es nicht glauben, aber es ist jedenfalls am besten, sich zu beeilen.«

»Sie gehen?«

»Ja. Und ich komme nicht wieder. Wir treffen uns um halb sechs Uhr beim Triumphbogen des Konstantin. Das ist gerade zur rechten Zeit für das Mittagessen. Keine Einwände! Au revoir!«

*

Es wurde halb fünf, es wurde fünf, es wurde halb sechs. Die Sonne war schon längst fort. Die Glocken in Rom begruben den Dezember. Der Triumphbogen des Konstantin erhob sich zu dem dunkelblauen Nachthimmel und kündete die Triumphe dieses Cäsars. Hingegen schien es ihm nicht beschieden, irgendwelche Triumphe Herrn Lavertisses mitzuerleben. Mr. Graham stand in dem Schatten des Steinkolosses verborgen und starrte auf den Triumphbogen des Titus, durch den bei dem zukünftigen Triumphzug zu marschieren, die jüdischen Offiziere der italienischen Armee sich im vorhinein geweigert hatten, im Hinblick auf die Zerstörung Jerusalems im Jahre siebzig. Es wurde sechs Uhr. Lavertisse kam nicht. Mr. Graham wurde nachdenklich. Er hätte Lavertisse nicht gehen lassen sollen, er hätte ihn hindern müssen. Lavertisse war bei seinem tollkühnen Versuch gefaßt worden, und nicht genug damit, jetzt wußte man, daß Graham bei ihm gewohnt hatte, mit anderen Worten, man hatte Lavertisse in der Falle und war auf der Suche nach Graham. Angenehm! Still! Was war das? War man Graham schon auf der Spur? Dunkle Gestalten tauchten in den Bogengängen des Kolosseums auf, sie schlichen auf den Zehen, sie schienen geheime Wege zu wandeln, er konnte ihre Gesichter nicht sehen, aber die Silhouette ihrer Rücken sprach von Eifer, List und Vorsicht. Sie verschwanden in das Kolosseum. Wieder war alles still. Eine Fledermaus brachte sein Nervensystem aus dem Gleichgewicht, indem sie lautlos aus dem Dunkel ihm gerade ins Gesicht gesaust kam. Während er noch Verwünschungen über das Tier ausstieß, fühlte er eine Hand auf seiner Schulter und zuckte zusammen.

Aber es war Lavertisse.

Er war etwas außer Atem, aber sah im übrigen vollkommen zufrieden aus. Grahams Ueberraschung bereitete ihm ein sichtliches Vergnügen.

»Sie haben nicht erwartet, mich zu sehen?«

Graham sagte:

»Sie sind dort gewesen?«

»In der Quästur? Ja, ich bin in der Quästur gewesen, ich habe der Quästur meine Adresse verkauft, und ich habe die Quästur aufsitzen lassen.«

»Sie sind tüchtiger, als ich glaubte.«

»Wissen Sie, was am schwersten war? Das war, ihnen begreiflich zu machen, daß meine Adresse so wertvoll ist. Es schmerzt mich, aber es ist nichtsdestoweniger wahr, sie hatten nicht die leiseste Ahnung von meiner Existenz.«

»Das ist der Krieg,« sagte Graham entschuldigend.

»Wir wollen es hoffen. Auf jeden Fall hatte ich mir einen anderen Empfang erwartet – ›Sie wünschen?‹ – ›Ich habe Ihnen eine Adresse zu verkaufen.‹ – ›Eine Adresse? Von wem?‹ – ›Von einem bekannten französischen Hochstapler, der sich augenblicklich in Rom aufhält.‹ – ›Wie heißt er?‹ – ›Lavertisse.‹ – ›Wer ist er? Was hat er getan?‹ – ›Wer er ist? Sie kennen Lavertisse nicht! Meine Herren!‹ – ›Mein Herr! Wir kennen ihn nicht. Was hat er getan?‹ – ›Was er getan hat? Was hat er nicht getan? Lavertisse! Lavertisse ist ein Hochstapler ersten Ranges, er wird seit Jahren gesucht, er ist nicht nur Frankreichs, er ist vielleicht auch Englands berühmtester Abenteurer.‹«

Mr. Graham unterbrach ihn griesgrämig:

»Sie haben mit den Worten nicht gespart.«

Lavertisse sagte mit der Miene eines Kirchenvaters, der in der Jugend ein stürmisches Leben geführt hat:

»Warum sollte ich ihnen nicht die Wahrheit sagen? Nunmehr lebe ich ja ehrlich. ›Meine Herren, mit einem Wort, ganz Frankreich, England und Italien kennt Lavertisses Taten.‹ – ›Italien, er sollte hier bekannt sein? Wir bedauren Ihren Irrtum. Mein Herr, Sie irren sich!‹ – ›Meine Herren, ich irre mich nicht! Nicht genug damit, daß Lavertisse in Italien bekannt ist, Sie selbst, meine Herren, haben eine Prämie für Auskünfte ausgesetzt, die zu seiner Ergreifung führen können.‹ – ›Wir sollten?‹ – ›Ja, es ist schon einige Jahre her, aber Sie haben ja Ihre Bücher. Schlagen Sie nach, dann werden Sie finden, daß ich die Wahrheit spreche.‹ Sie schlugen in ihren Büchern nach, und es dauerte nicht lange, so hatten sie meinen Namen samt Bildnis und Biographie gefunden. Aber, obgleich sie das Bild unter ihren Augen hatten, fiel es ihnen keine Sekunde ein, eine Aehnlichkeit zu sehen. Das ist der Krieg und mein ehrliches Leben … Nun begannen sie Interesse zu zeigen – ›Sie haben recht! Hier ist sein Porträt und seine Verdienstliste. Fünftausend Lire Belohnung! Das scheint ein netter Junge zu sein! Wo wohnt er?‹ – ›Ich weiß, wo er wohnt,‹ antwortete ich, ›und ich kann es Ihnen sagen, aber Sie vergessen eine Sache, meine Herren, nämlich die Belohnung.‹ – ›Die können Sie beheben, wenn er gefaßt ist.‹ – ›Danke! das kenne ich schon! Das ist, wie mit den Belohnungen für den ehrlichen Finder. Man gibt eine Platinuhr zurück, und man bekommt zehn Franken zum Dank.‹ – ›Sie können ganz sicher sein, daß Sie das, was Ihnen zukommt, später erhalten.‹ – ›Ich bin einer Sache nicht sicherer, nämlich, daß ich kein Wort sage, bis ich nicht das Geld auf die Hand bekommen habe. Man weiß, was man hat, aber man weiß nicht, wie oft man sich hier anstellen muß, um ein Zehntel dessen zu bekommen, was einem gebührt. Sacré nom! Sapristi! Es gibt auch drüben in Frankreich Belohnungen.‹ (Das war teilweise unwahr; sie stehen in den Büchern, aber sie sind eingezogen, seit ich anfing, ein ehrliches Leben zu führen, aber das interessierte sie.) Sie schlugen nach und fanden die Belohnung gedruckt. Und sie dachten, daß das französische Geld guten Kurs hat. – ›Also, Sie wollen das Geld auf die Hand haben?‹ – ›Ja, sonst ist es nichts.‹ – ›Sie sind also nicht nur ein Freund der Gerechtigkeit!‹ – ›Ich habe alle Tugenden, die Sie auf einem Grabstein finden können, aber ich bin arm.‹ – ›Nun, und wenn Sie die italienische Belohnung bekommen, verzichten Sie dann auf die französische?‹ (Dagegen hatte ich nichts, aber zur größeren Sicherheit sträubte ich mich.) ›Die französische Belohnung! Sind Sie verrückt!‹ Nach einer Weile gab ich nach; wenn ich die italienische Belohnung sofort bekomme, konnten sie die französische haben. – ›Die ganze italienische jetzt, sind Sie wahnsinnig? Die Hälfte jetzt, die Hälfte, wenn er festgenommen ist. Wo wohnt er?‹ – ›Geben Sie das Geld her, so führe ich Sie hin und komme dann zurück und hole mir den Rest.‹ Sie lachten: ›Ah, ah, er ist seiner Sache sicher! Nun, gesagt ist gesagt!‹ Sie holten die zweitausendfünfhundert und sahen mich erwartungsvoll an. Ich fühlte, daß es meine Pflicht war, ihnen Valuta für ihr Geld zu geben. Ich sagte:

›Sie haben mir das Geld auf die Hand gegeben, ich sehe, daß ich mich auf Sie verlassen kann. Nun wohl, Lavertisse wohnt in der Via Viminale hundertsechzig. Diese Straße müßte Via Criminale umgetauft werden. Da wohnt er, aber ich weiß, wo er jeden Nachmittag um diese Zeit zu treffen ist.‹

›Vermutlich in einem Café?‹

›Nein, in einer Kirche. Er ist ein frommer Katholik und versäumt es nie, seine Andacht in Santa Maria Aracoeli zu verrichten. Das ist sein Lieblingstempel. Möglicherweise steht das im Zusammenhang mit dem Gesù Bambino, der sich dort befindet. Sie wissen, daß dieses Bild seine Post von Bittstellern in ganz Italien bekommt und daß es total mit Schmucksachen aller Art behangen ist, von Brillantringen bis zu Uhrarmbändern.‹

›Ah, und dort verrichtet er seine Andacht?‹

›Um diese Zeit des Tages dort.‹

›Sie scheinen seine Gewohnheiten gut zu kennen!‹ –

›Ich habe sie studiert. Es sind persönliche Gründe vorhanden, weshalb ich an seiner Festnahme interessiert bin. Brauche ich noch mehr zu sagen? Sind Sie bereit, meine Herren? So lassen Sie uns gehen. Spätestens in einer Stunde, hoffe ich, können wir uns zu einem guten Fang gratulieren.‹

Wir fuhren im Auto durch die Via della Gatta, über die Via Plebiscito in die Via Astalli. Ich hatte drei Detektive mit, kleine, handfeste Italiener, die vor Eifer glühten, mich zu fangen. Auf der Piazza Aracoeli stiegen wir aus dem Auto und wollten eben die Treppe zur berühmten Kirche emporklettern, als – haben Sie die schöne Helena gesehen, Graham?«

»Nein.«

»Das sollten Sie aber, es ist ein erbauliches Stück. Da kommt eine Szene vor, wo der Oberpriester Kalchas dabei ertappt wird, falsch zu spielen. Er wird verfolgt, aber gerade, als man ihn fassen will, weist er zum Himmel und ruft: Seht, ein Omen! Und während man nach dem Omen ausblickt – na, schön, Kalchas lebte zwar vor dreitausend Jahren, aber seine Kniffe gehen heute noch ebensogut. Sie wissen, an der Stelle, wo ich und die drei Detektive standen, gabelt sich der Weg. Eine Treppe führt hinauf nach Santa Maria Aracoeli und eine zum Kapitol. Von Santa Maria Aracoeli kann man nicht weiterkommen, das ist eine Sackgasse, aber vom Kapitol geht es ausgezeichnet. Ich schlug mich plötzlich an die Stirn, wies zum Kapitol hinauf und rief aus allen Kräften, wie Kalchas: ›Seht, ein Omen! Da geht er!‹ Dann begann ich die Treppe hinaufzulaufen, nicht rasch, ganz mäßig, um zu sehen, wie geschwind die kleinen Italiener laufen können. Sie liefen mir nach. Sie hielten das Tempo, aber sie schnappten schon nach zehn Stufen. Ich deutete wiederum und rief: ›Seht, das ist er! Der mit dem Bart!‹ Wir sprangen die Treppen hinauf, daß es nur so dröhnte. Die Italiener blieben mehr und mehr zurück, und je weiter sie hinter mir waren, desto eifriger deutete ich. Als ich oben auf dem Platz vor dem Kapitol war, hatten sie noch ein Drittel der Treppe vor sich. Als ich die Via della Rocca Tarpea hinauflief (ich habe gehört, daß früher einmal Betrüger unfreiwillig da hinuntergeworfen wurden), waren sie mit Müh und Not beim Kapitol. Und wissen Sie, wohin ich mich dann wendete?

Ich ging ins Gefängnis, freiwillig ins Gefängnis, in ein sehr altes Gefängnis, in das Mamertinische Gefängnis unterhalb des Kapitols, das ebenso alt ist, wie Rom! Petrus saß seinerzeit dort. Während die Detektive ringsum in der Stadt nach mir suchten, ließ ich mir von einem kleinen Jungen das Gefängnis zeigen und gab ihm zwei Lire. Er war entzückt über sein Geld, und ich über meins. Nach einer Weile ging ich meiner Wege und habe seither keine Spur von den Detektiven gesehen.«

Graham räusperte sich und sah zum Nachthimmel auf.

»Aber, da war es halb vier, sagten Sie, und jetzt ist es doch fast halb sieben.«

»Warten Sie, Sie werden schon hören. Ich will Ihnen das Ganze erzählen, bevor wir essen gehen. Es hat keinen Zweck, in einem Gasthaus laut darüber zu sprechen. Vor allem einmal: Wissen Sie, wen ich sah, als ich in die Polizeidirektion ging?«

»Nein.«

»Den Drehorgelspieler aus der Via Viminale, ihn, der sich abwechselnd mit dem Hausierer dort aufhielt! Er war mir zur Piazza del Collegio Romano gefolgt, und ich lüge nicht, wenn ich behaupte, daß er wie ein lebendes Fragezeichen aussah. Als ich mit den drei Detektiven herauskam, stand zur Abwechslung der Hausierer da. Als ich ihn sah, ging mir ein Licht auf. Der konnte nicht zufällig da sein. Er und der andere mußten angestellt sein, um mich zu beobachten, oder Sie und mich. Aber die Polizei konnte sie nicht angestellt haben, sonst wäre ich ja nie wieder mit den drei Detektiven herausgekommen. Nein, es war jemand, der mich oder uns privat im Auge hatte. Wer konnte das sein? Ich weiß nicht, warum mir plötzlich ein rothaariger Herr mit blauen Augengläsern einfiel, den ich ein Mal ums andere in der Nähe von Pallanzas Antiquitätengeschäft gesehen hatte. Es war ein Engländer, und wenn man ihm die Brille abnähme, wissen Sie, wem er da ähnlich sehen würde, Graham?«

»Nein.«

»Niemand anderem, als dem Detektiv Kenyon, unserem alten Freund aus London.«

»Kenyon! Hier! Unmöglich!«

»Ich weiß nicht, ich glaube, er hat uns hierher nachgespürt. – Wie, weiß ich nicht – und hat uns bewachen lassen.«

»Hm, das wäre eine schöne Geschichte! Aber ich glaube es nicht.«

»Nun ja, wir werden ja sehen. Aber das ist noch gar nicht das Interessanteste, was ich Ihnen zu erzählen habe. Wissen Sie, wen ich traf, als ich das Mamertinische Gefängnis verließ?«

»Nein.«

»Den Marquis, meinen Freund, den Marquis. Sie wissen –, der mir im Expreßzug mein Geld abgeknöpft hat, und den es mir gelang, aus dem italienischen Parlament fernzuhalten. Wissen Sie, was er jetzt ist? Er ist Bolschewik. Ich fand ihn mitten in einer großen Volksversammlung zu Ende der Via Cavour, auf dem Wege hierher. Er stand auf einem Stuhl und hielt einen bolschewistischen Vortrag. Als ich kam, sprach er gerade von der auswärtigen Politik.

›Proletarier,‹ rief er, ›ihr seid alle so wie ich im Krieg gegen eure Brüder in Deutschland und Oesterreich gewesen. Erkennt ihr jetzt euren Wahnsinn? Im Krieg kämpftet ihr mit Frankreich und England zusammen, ihr habt ihnen den Sieg gerettet, und was habt ihr nun davon? Daß Englands und Frankreichs Bourgeoisie euch jetzt als Sklaven ausbeuten will. Eure einzigen Freunde findet ihr in dem glorreichen Rußland, dem ersten Lande, das sich gegen das Kapital erhoben hat, und in Deutschland, wo der Bolschewismus sich allerdings verzögert, aber das doch auf jeden Fall Revolution gemacht hat.‹

Ich konnte den Mund nicht halten. Ich rief:

›Signor, haben Sie bemerkt, daß in Deutschland alles auf den Glockenschlag eintrifft … sogar Revolutionen und Eisenbahnunfälle?‹

Er warf mir einen verachtungsvollen Blick zu. Er erkannte mich nicht. Ich wußte, daß Sie warteten, Graham, aber ich konnte nicht gehen, bevor ich noch mehr gehört hatte, was dieser Falschspieler zu den Proletariern sagte. Er ging zu seinem eigentlichen Programm über. ›Proletarier!‹ rief er, ›ist euch noch nicht aufgedämmert, was der Bolschewismus ist? Der Bolschewismus ist die Befreiung von eurem tausendjährigen Joch! Wenn alle Bürger ausgerottet sind, kann kein Bürger mehr euren Schweiß und euer Blut ausnützen.

Aber mit dem Blut der Bürger an euren Händen werdet ihr die Schmach abgewaschen haben, daß ihr euch solange von ihnen unterdrücken ließet! Ihr armen Proletarier werdet in den Palästen wohnen, die sie euch vorenthalten haben, und das Geld teilen, das sie euch gestohlen haben. Und damit ist die Welt frei, und alle Menschen werden ganz gleich sein!‹

›Signor!‹ rief ich. ›In Dahomey, in New York und in Moskau – an den Orten, wo die Menschen einander nach den Geboten der Religion auffressen, wo sie es nach den Geboten des Kapitalismus tun und wo es nach dem Rezept des Antikapitalismus geschieht – ist eine Sache sicher: Eine Anzahl von Frauen wird sich mehr Armbänder zulegen als andere, und eine Anzahl Männer größere Schmerbäuche als andere! Das ist unvermeidlich.‹

Jetzt erkannte er mich. Er rief, und die Proletarier knurrten so zornig, daß ich über die Via del Colosseo verschwand und die Treppen hier hinaufeilte. Jetzt bin ich fertig. Wo, glauben Sie, sollen wir zu Mittag essen …« Lavertisses Worte konnten seinen Mund nicht verlassen, und Grahams Ohren konnten sie nicht auffangen. Etwas geschah. Aus dem Dunkel des Konstantinbogens kam etwas gesaust, lautlos wie die Fledermäuse, die Graham früher am Abend erschreckt hatten. Aber diesmal waren keine Fledermäuse im Spiele, sondern zwei Säcke, die sich rasch und effektiv über die Köpfe der beiden Herren senkten. Bevor sie sich noch von ihnen befreien konnten, hatten dunkle Schatten rasch und geschickt die Säcke befestigt, und die langfingrigen Hände der Herren Lavertisse und Graham gebunden. Lavertisse und Graham wurden unsanft zu einem Wagen bugsiert, der auf der dunklen Via San Giorgio wartete.

Undeutliche Flüche drangen durch die Sackleinwand, vermischt damit hörte man in regelmäßigen Zwischenräumen aus dem einen Sack die Worte:

»Was hatten Sie auch bei der Polizei zu tun? Ich wußte ja, daß es so kommen würde!«

Aus dem anderen Sack kam ein Seufzer zur Antwort:

»Wenn wenigstens der Professor hier wäre!«

*

»Ja, mein Herr, das sind wir. Sehen Sie uns nur an! Das sind wir! Haha! Das sind wir!«

Lavertisse sah. Es war kein Zweifel, daß er recht sah. Die Stimme sprach die Wahrheit.

»Sie glaubten, mit uns fertig zu sein, nicht wahr? Haha! Sie hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Wer ist der dicke Herr in Ihrer Gesellschaft?«

Lavertisse schwieg. Er hatte sich noch nicht von seiner Ueberraschung erholt.

»Sie wollen es nicht sagen? Das bleibt sich gleich. Wenn er ebenso wertvoll ist, wie Sie, soll er mit Vergnügen hier freie Kost und Quartier haben, solange es auch sein mag.«

Lavertisse räusperte sich.

»In welcher Weise bin ich für Sie wertvoll?«

»Und das fragen Sie noch? Sie sind uns nicht nur aus persönlichen Gründen wertvoll, obgleich das genug wäre. Wir haben Ihren Wert schwarz auf weiß. Kennen Sie das?«

Lavertisse sah auf. Es war die Mittagsausgabe der Skandalzeitung Piccolo.

»Seien Sie nicht so erstaunt, Ihren Namen zu hören, als wir es waren, ihn zu lesen! Ein mystischer Franzose und ein mystifizierter Engländer. Gestern nachmittags gegen vier Uhr fand sich ein englischer Herr in der Quästur auf der Piazza del Collegio Romano ein. Auf seinen Wunsch führte man ihn in die Detektivabteilung. Hier konnte er nur eine einzige Frage stellen, als er schon arretiert und mit Handschellen gefesselt wurde.

Die Frage, die er stellte, war:

›Kennen Sie einen Franzosen namens Lavertisse?‹

Sowie die Detektivpolizei diese Worte hörte, sprangen sämtliche anwesenden Mitglieder von ihren Plätzen auf, arretierten den Engländer und legten ihm Handschellen an. Warum? Es dürfte zu den Seltenheiten gehören, daß eine Frage von acht Worten die Arretierung zur Folge hat. Die Sache war folgende:

Kaum zwei Stunden früher hatte man in der Quästur den Besuch eines Franzosen gehabt. Dieser Herr hatte dieselbe Frage gestellt, die sich für den Engländer so verhängnisvoll erwies: ›Kennen Sie einen Franzosen namens Lavertisse?‹ Diesmal führte sie jedoch nicht zu denselben Konsequenzen. Die Polizei antwortete wahrheitsgemäß, daß sie Herrn Lavertisse nicht kenne. Der Franzose beeilte sich, sein Staunen darüber auszudrücken. Er machte darauf aufmerksam, was auch stimmte, daß Herr Lavertisse die Ehre genießt, als einer der energischsten Hochstapler Frankreichs zu gelten, und daß er auch Italien mit seinen Geschäftsbesuchen beehrt hat. Die Polizei kontrollierte die Angaben des Franzosen, indem sie ihre Bücher untersuchte. Herr Lavertisse wurde von der französischen, der englischen und auch der italienischen Polizei steckbrieflich verfolgt. Die letztere allein hatte eine Prämie von fünftausend Lire für Auskünfte ausgesetzt, die zu seiner Festnahme führen können. Der Fremde erklärte nun den Anlaß seines Besuches: Er wollte Herrn Lavertisses Adresse verkaufen. Die Polizei war bereit, sie zu kaufen und zu bezahlen, nachdem der Fang gemacht war. Der Franzose sagte nein. Er verlasse sich nicht auf die Polizei. Aber bekäme er die Hälfte der italienischen Belohnung auf die Hand, wollte er der Polizei den Ort zeigen, wo sich Herr Lavertisse befand. Man ging auf seine Forderungen ein. Aber auf dem Weg zu dem bezeichneten Orte gelang es dem Franzosen, aus der Gesellschaft der drei Detektive zu verschwinden. Sie kehrten in die Quästur zurück, ohne Herrn Lavertisse, ohne den Franzosen und ohne die zweitausendfünfhundert Lire des Franzosen. Es unterlag keinem Zweifel, daß ein ungewöhnlich frecher Betrüger der Polizei einen ungewöhnlich kühnen Streich gespielt hatte.

Der Engländer, der sich fast unmittelbar darauf einfand, um die Polizei zu fragen, ob sie Herrn Lavertisse kenne, hatte also keinen Grund, sich über die Behandlung, die ihm zuteil wurde, zu verwundern. Er tat es aber doch. Er protestierte mit allen Kräften, sogar mit allen Leibeskräften; es entstand eine Schlägerei, bei der seine blauen Augengläser zerbrochen und seine Toilette im übrigen derangiert wurden. Dann wurde er über Nacht in eine Zelle placiert, um sich zu beruhigen.

Erst heute stellte es sich heraus, daß die Angaben des Engländers richtig waren, und daß die Polizei sich leider eine bedauerliche Uebereilung hatte zuschulden kommen lassen. Der Engländer, dessen Name Kenyon ist, ist ein bekannter Privatdetektiv aus London, der ganz zufällig Herrn Lavertisse erkannt hat und ihn beobachten ließ, um ihn im richtigen Augenblick zu arretieren. Gestern nachmittag erfuhr er von seinen Untergebenen, daß Lavertisse sich selbst zur Quästur begeben hatte. Er wollte seinen Ohren nicht trauen, aber um ganz sicher zu gehen, eilte er auf die Piazza del Collegio Romano, um sich persönlich zu erkundigen, ob diese Angabe wahr sein konnte. Da unterwarf man ihn der erwähnten unsanften Behandlung, wegen der man ihn heute in amplissima forma um Entschuldigung gebeten hat.

Aber wo ist Herr Lavertisse? Ein Betrüger, der es versteht, mit seiner eigenen Adresse Geld bei der Polizei herauszuschlagen, ein solcher Betrüger sorgt schon dafür, daß der Wert dieser Adresse nicht am Markt sinkt.

Wie wir aus einer Kundmachung entnehmen, hat die italienische Polizei die Belohnung für Mitteilungen über diese Adresse auf siebentausend Lire erhöht.

Die zweitausendfünfhundert, die sie gestern als Vorschuß ausbezahlte, gehen nur dann davon ab, wenn Herr Lavertisse sich selbst einfindet, um die neue Belohnung zu beheben.

Wo ist Herr Lavertisse?«

Der schwarze, assyrische, wohlgepflegte Bart vor Lavertisse wurde von einem herzlichen Lachen gespalten. Der Marquis von Bracciano – denn er war es – hatte seine Vorlesung beendet.

»Wo ist Herr Lavertisse? Herr Lavertisse ist hier als unser Gast. (Er sprach im pluralis majestatis.) Herr Lavertisse hat sich vor sechs Wochen in unser Kartenspiel eingemischt, vor einer Woche, wie zu unserer Kenntnis gelangt ist, in unsere Wahl in das bürgerliche Parlament, und gestern abend suchte sich Herr Lavertisse in unsere neue Politik zu mischen. (Er ging zum singularis über.) Ich ließ ein paar arme Genossen Herrn Lavertisse von der Via Cavour zum Triumphbogen Konstantins folgen. Ich habe allen Anlaß, mir dazu zu gratulieren. Ich schätze Herrn Lavertisses Adresse nach ihrem richtigen Wert, und ich werde schon dafür sorgen, daß er sie nicht ändert, bis es mir paßt.«

Zwei Herren, die gebunden auf dem Rücken auf zwei Strohsäcken lagen, lauschten dieser Rede, mit denselben Gefühlen, obwohl nur einer von ihnen sie verstand. Für Mr. Graham war Italienisch dasselbe wie Hebräisch.

Mr. Graham spuckte mit bemerkenswerter Kraft und Geschicklichkeit auf den Plafond und brüllte:

»Gefaßt! Das ist die Folge Ihrer ehrlichen Geschäfte, Lavertisse!«


 << zurück weiter >>