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II.
Ein Souper

Hinter den Palmen lag das Meer wie ein gewaltiger, blauer Krönungsteppich ausgebreitet. Die Sonne schien. Die Tauben flatterten, unter dem blauen Himmel lag Terrasse über Terrasse von gelbweißen Palästen, barockverschnörkelt und getürmt, als wären es lauter Lustschlösser für ein hohes Pläsier. Auf einer Bank unter einer grünen Palme, die kaum vor der funkelnden Oktobersonne beschattete, saß ein einzelner Herr von mittlerem Alter und rollte eine Banknote in seiner Hosentasche hin und her.

Die Banknote war nicht groß. Die Handelskammer in Nizza verbürgte sich dafür, daß sie einen Franken wert war. Ein Frank ist nicht viel, aber es war alles, was dieser Herr sein nennen konnte und Aussicht hatte, sein zu nennen. Im Gegensatz zu den Schülern des Aristoteles, die, während sie über die unumstößlichen Wahrheiten nachdachten, auf und ab wanderten, hatte der einsame Herr, über eine Stunde lang sitzend, die erwähnte Wahrheit überdacht.

Der einsame Herr war schwarzhaarig, schwarzäugig und hatte einen kurzen schwarzen Schnurrbart. Er war gut gekleidet; sein Kragen rein, seine Lackschuhe glänzten und seine Beinkleider waren vor höchstens drei Tagen gebügelt. Aber Lackschuhe glänzen auch, wenn ein verdrossenes Hotelpersonal sie nicht am selben Morgen geputzt hat, und was nützt es dem Menschen, daß seine Hosen frisch gebügelt sind, wenn alle Hosentaschen zusammen nicht mehr als einen Einfrankschein aufweisen können?

Ja, möglicherweise kann es ihm nützen, insofern er gute Ideen hat. Aber der einsame Herr hatte nach einer Stunde des Grübelns festgestellt, daß die einzige Idee, die er hatte, die war, daß er nicht mehr Einfrankscheine als diesen im Leben besaß und vermutlich auch nicht besitzen würde.

Wie hatte es so kommen können?

Die Antwort war einfach: Fünfzehn, eine Zahl, unerbittlicher als die des Pythagoras, hatte ihn vernichtet. Und der Name der Zahl war fünfzehn.

Monte Carlo ist das Mekka der Hoffnungsvollen und das Lourdes der Halbruinierten. Diese zwei Menschenkategorien machen die Aktien der Eisenbahnen der Riviera rentabel. Die Bank, die den grübelnden Herrn trug, stand auf dem Kasinoplatz in Monte Carlo.

Der grübelnde Herr hieß Lavertisse. Es hatte eine Epoche in der Geschichte der Menschheit gegeben, wo dieser Name nur unbekannt war, weil sein Träger es nicht liebte, ihn zur Zeit und Unzeit genannt zu sehen. Herr Lavertisse war durch mehrere Jahre das Mitglied einer Londoner Firma gewesen, die seinen Geschmack für Diskretion teilte. Der Krieg kam und zerstreute die Firma in alle Winde. Selbst hatte Lavertisse als Franzose sich beeilt, sich seinem Vaterlande zur Verfügung zu stellen. Sein Vaterland hatte lange aus anderen Gründen gewünscht, ihn zu seiner Verfügung zu haben, aber diesen Wunsch hatte er nicht geteilt. Als er sich im Jahre 1914 freiwillig stellte, vergaß er hochsinnig alle alten Differenzen. Vier Jahre hatte Herr Lavertisse an verschiedenen Fronten gekämpft; und nur die angedeuteten Differenzen hinderten ihn, etwas anderes zu werden, als gemeiner Soldat. Der Friede kam; er wurde entlassen, mit der Ermahnung, in Zukunft Meinungsverschiedenheiten zum mindesten mit den Behörden seines eigenen Landes zu vermeiden. Dieser Wink war überflüssig. Der Krieg hatte ihn zu einem anderen Mann gemacht. Er hatte während des Krieges zu viel von den großen, edlen Zielen gehört, für die er kämpfte, von der neuen Welt, die er mit aufbauen half, um nicht selbst den festen Entschluß gefaßt zu haben, in Zukunft ehrlich und immer nur ehrlich in dieser Welt zu leben. Ein Besuch in London zeigte ihm, daß seine früheren Kompagnons spurlos verschwunden waren, weggefegt von dem großen Weltorkan. Er kehrte nach Frankreich zurück und beschloß, als Geschäftsmann seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Aber, wie Geschäfte machen, wenn man keine Firma, keinen Kredit und kein Bargeld hat? Kurzes Nachdenken sagte ihm dies. Um Geschäfte mit dem Staat zu machen, brauchte man weder Firma, noch Kredit, noch Bargeld. Ein Taufschein ist genug, und der Inhaber eines solchen war er, dank dem Kriege, wieder. Er begann folglich amerikanische Armeelager auf Kredit vom Staate zu kaufen und an Private zu verkaufen. Er sagte sich, daß er auf diese Art unmöglich umhin konnte, sich ein Vermögen zu machen. Nach menschlichem Ermessen hätte es auch so kommen müssen. Dutzende anderer Menschen taten es. Aber er fand, daß eine Sache ihm entgegenstand: sein Entschluß ehrlich zu sein. Er kämpfte einen hoffnungslosen Kampf, nicht nur gegen polnische und russische Juden – das hatte er vorausgesehen – sondern auch gegen jene Geschäftsleute seines eigenen Landes, die im Krieg entstanden waren. Sie hatten vier Jahre lang etwas anderes zu tun, als den Berichten über die Ziele zuzuhören, für die man an der Front kämpfte. Sie boten hunderttausend Franken für einen Autopark (auf Kredit) und verschleuderten ihn für eine Million. Er war zu schüchtern in seinen Angeboten. Als er gegen alles Erwarten zehntausend Franken verdient hatte, faßte er seinen Entschluß. Er wollte sich nicht länger um die Angebote mit diesen neuen Geschäftsleuten herumschlagen. Er kannte einen Ort, wo man in der besten Gesellschaft Geld verdienen konnte, und auf eine Art, die das allgemeine Ansehen genoß. Dieser Ort war Monte Carlo. Er fuhr nach Monte Carlo. Vor zwei Wochen kam er hin, und nun saß er auf dieser grün gestrichenen Bank. Ihm gegenüber schlummerte das Kasino in der Oktobersonne; seine Türen standen offen wie ein zufriedener Raubtierrachen. Dort drinnen … Herr Lavertisse rollte wütend die Note in seiner Tasche zusammen. Ein Frank! Wenn ihr all das andere genommen habt, warum nahmt ihr nicht auch den?

Die Fenster des Kasinos blinzelten bedeutungsvoll zur Antwort: es gibt einen Grund. Das Kasino in Monte Carlo nimmt keine geringeren Beträge als fünf Franken entgegen. Ein Betrag von einem Franken ist ihm gleichgültig.

Ein Frank! Und im Hotel lag seine Hotelrechnung. Hotelrechnungen in Monte Carlo werden im Hinblick auf die guten Zugverbindungen der Stadt jeden dritten Tag bezahlt. Es war eine Woche her, seit Herr Lavertisse die seine bezahlt hatte. Vor drei Tagen war er einen kurzen Augenblick imstande gewesen, zu zahlen, aber hatte es aufgeschoben, um sein Spielkapital nicht anzurühren. Er bedauerte es tief, so feinfühlig gegen das Kapital gewesen zu sein. Es war dies eine Feinfühligkeit, die ihm von anderer Seite durchaus nicht bewiesen wurde. Vorgestern und gestern hatte die Bank es in seiner Gesamtheit übernommen. Vorgestern und gestern hatte er den Augen der Kellner getrotzt und gegessen. Gestern war es ihm, obgleich im Weltkrieg gestählt, unmöglich, den Mut aufzutreiben, diesen Augen zu begegnen, und heute morgen hatte er eine Aufforderung in Kursivschrift erhalten, binnen vierundzwanzig Stunden … da sonst …

Ueber den Kasinoplatz rollten Automobile auf lautlosen Gummirädern; schöne Frauen lächelten reichen, wohlbekleideten Männern zu; aus dem Café de Paris kamen die Töne einer Kapelle, die seit zwölf Uhr mittags spielte. Auf der Veranda blinkte es von Silbergabeln und Schüsseln mit silbernen Deckeln; Menschen aßen, aßen Speisen zu hundert Franken, aßen sich satt, beobachtet von Kellnern mit den wohlwollendsten, ehrfurchtsvollsten Pupillen …

Herr Lavertisse erhob sich heftig. Ohne daran zu denken, wie sinnlos dies gerade jetzt war, ging er in das Kasino. Er deponierte seinen Hut in der Garderobe. Das kostete ihn fünfzig Centimes, fünfzig Prozent seines Vermögens.

Die Säle waren so gut wie leer. Welcher Zufall ihn zu dem Mitteltisch des inneren Saales trieb, ist unbekannt, aber plötzlich stand er da. Acht oder neun Spieler saßen da, zumeist Systemspieler.

Herr Lavertisse sah von einem zum andern und ließ seinen Blick auf einem Ausländer verweilen, der auf einem Sessel gerade unter ihm saß. Dieser Ausländer hatte drei Nacken und hellblaue Ferkelaugen; stoppeliges Haar wuchs wie dicht geschorenes Gras auf den fetten Abhängen seines Hinterkopfes. Er hatte ein Protokoll mit Strichen durch die Nummern, er setzte jedesmal auf sechs Nummern mit steigendem Einsatz und verlor mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks. Hie und da setzte er auch auf Schwarz oder Rot, das erste oder zweite Dutzend. Hie und da fluchte er auch in einer Sprache, die Herr Lavertisse für Deutsch hielt, die aber tatsächlich Holländisch war. Plötzlich wandte sich das Glück des Holländers. Eine seiner Nummern kam; er hatte einen Louisdor gesetzt und bekam nun siebenhundertzwanzig Franken ausbezahlt. Die Freude überwältigte ihn; er entsandte gutturale Laute nach allen Richtungen. Plötzlich bemerkte Herr Lavertisse eine Sache: Auf das dritte Dutzend, gerade unter ihm, hatte der Holländer eine Fünffranken-Spielmarke geworfen. Der Croupier hatte sie mit zehn Franken bezahlt, aber der Holländer machte keine Miene, den Gewinn einzustreichen. Hatte er ihn vergessen? Oder ließ er das Ganze stehen? Das war unmöglich zu sagen. Der Croupier ließ die Kugel wieder rollen, indem er rief:

» Messieurs faites votre jeu.«

Herr Lavertisse starrte wie verhext die fünfzehn Franken gerade unter ihm an. Ob der Holländer sie vergessen hatte oder nicht, eines war sicher: er sah sie nicht an. Sah irgendein anderer sie an? Nein. Die Croupiers starrten auf die große Saaluhr oder auf den Holländer, der übermütig vom Erfolg über dem Tisch schwebte, wie eine berauschte Hummel, setzend, setzend und setzend. Ein Strom von erregten ch – ch – ch – umgab ihn mit einem Summen, ähnlich dem, das die Insekten dadurch hervorrufen, daß sie die Flügeldecken gegen die Flügel reiben. Nach menschlichem Ermessen verbarg er die drei Fünffranken vor allen anderen Augen, als denen des Herrn Lavertisse. Aber natürlich dachte Herr Lavertisse nicht daran, sie zu nehmen. Das wäre ja unehrlich; es wäre ein direkter Frevel gegen seine neuen Prinzipien.

» Messieurs faites votre jeu.«

Plötzlich sah Herr Lavertisse wie in einem Traum seine Finger handeln. Die fünfzehn Franken verschwanden blitzschnell vom dritten Dutzend. Einen Augenblick darauf hatte er sie dem Croupier mit dem Rufe hingeworfen:

»Auf Fünfzehn! Das Ganze!

» Quinze ça va,« antwortete der Croupier. » Rien ne va plus.« Einen Augenblick später verkündete er:

» Quinze noir, impair et manque.«

Herr Lavertisse strich sich über die Stirn. Die Gefahr war vorüber. Erinnerte sich der Holländer jetzt an seinen Einsatz auf dem dritten, so schadete das nichts: Nummer Fünfzehn gehört zum zweiten Dutzend. Hätte man die drei Fünffranken stehen lassen, so wäre die einzige Folge gewesen, daß das Kasino sie eingestrichen hätte. Seine rasche Eingebung hatte das Kasino gehindert, noch weiter zu gewinnen. Konnte man das unehrlich nennen? Er schob die Debatte darüber auf. Er hatte an andere Dinge zu denken. Er konnte nun fünfhundertvierzig Franken sein nennen. Er winkte dem Croupier:

»Fünfzehn und les chevaux, hundert Franken auf jedes.«

Dies ließ ihm einhundertvierzig Franken übrig, wenn Fünfzehn versagte, aber Vierzehn kam und brachte für die »Pferde« Vierzehn-Fünfzehn eine Dividende von eintausendachthundert Franken. Er hatte nun fast zweitausend. Sollte er aufhören? Nein. Ein Spiel, das unter solchen Auspizien begonnen hat, beendet man nicht so ohne weiteres. Seine Schläfen brannten in einem dumpfen Feuer; hier war die Revanche für die letzten Wochen. Er setzte wieder in derselben Weise; achtzehn kam und erhöhte sein Kapital auf fast viertausend. Sein Spiel begann Aufmerksamkeit zu erregen. Ein rothaariger Herr in offenbar englischer Kleidung sah ihn ununterbrochen durch zwei blaue Augengläser an. Das Käfersummen des Holländers sank und wurde dumpfer. Er verlor nunmehr jedesmal. Herr Lavertisse erhöhte seinen Einsatz auf Nummer Fünfzehn zum Maximum und auf jedes der Pferde auf zweihundert Franken – siebenhundertachtzig Franken im ganzen. Sechsunddreißig kam; er verlor alles. Er setzte noch einmal das Maximum auf Fünfzehn und erhöhte den Einsatz für die Pferde auf dreihundert – eintausendachtzig Franken im ganzen. Einunddreißig kam. Er wiederholte seinen Einsatz und starrte erregt die kleine suchende Kugel an. Fünfunddreißig … Von Raserei gepackt, suchte er aus seinen Taschen alles, was er hatte, zusammen; er sah nicht, wieviel es war, er warf das Ganze dem Croupier hin:

»Fünfzehn!«

Was hatte der Croupier gesagt?

»Dreiunddreißig.«

Alles war futsch. Er steckte die Hand in die Hosentasche. Sie zog eine Fünfzigcentimennote hervor, nichts anderes. Er hatte für Nummer Fünfzehn nichts mehr zu opfern. Er hatte schon alles geopfert, sogar einen Teil seiner Prinzipien, daran erinnerte er sich jetzt, und Nummer Fünfzehn war stumm geblieben wie Baal. Sechsunddreißig, einunddreißig, fünfunddreißig und dreiunddreißig waren gekommen – immer das dritte Dutzend. Das dritte Dutzend, dem er sein Betriebskapital entnommen, hatte sich wiedergeholt, was es gegeben. War das eine Lektion in konfessionsloser Moral?

Ch! Ch! Ch!

Der Holländer hatte gewonnen, und die Welt durfte nicht in Unwissenheit darüber schweben. Herr Lavertisse verließ wütend den Tisch, bekam in der Garderobe seinen Hut und stand wieder auf dem Kasinoplatz. Die Sonne schien, die Tauben flatterten, der blaue Krönungsteppich des Meeres lag aufgerollt hinter den Palmen. Aus den gelblichweißen Lustschlössern strömten lächelnde Menschen dem Kasino zu.

Die Hand um seine Fünfzigcentimennote geballt, nahm Herr Lavertisse auf seiner alten Bank Platz. Was nun? Er hatte einen Jakobskampf mit dem Schicksal gekämpft und verloren. Das Schicksal hatte ihm den halben Schild, den er ihm entgegenhielt, aus der Hand gerissen. Und nicht genug damit. Er hatte an seinen Prinzipien gerüttelt und sofort seine Strafe erhalten. Die Roulette, sonst selten ein Werkzeug im Dienste der Moral, hatte ihm eingeschärft, was die Militärbehörde gesagt hatte, als er entlassen wurde: Man muß ehrlich leben.

Vielleicht war es ihm mißlungen, weil seine Unehrlichkeit zu klein gewesen war? Vielleicht wäre es besser gegangen, wenn er hundertfünfzig Franken genommen hätte, anstatt fünfzehn.

Fort mit diesem Gedanken! In Zukunft wollte er ehrlich sein, aber hatte er denn noch eine Zukunft? Was sollte er zunächst unternehmen, um seinen Willen zu Ehrlichkeit zu zeigen?

Wenn man ihm gesagt hätte, daß diese Frage noch einen andern als ihn selbst interessiere, er würde hohngelacht haben. Die Welt dünkte ihn kalt wie Eis. Es verging eine Periode, während der er regungslos zusah, wie der Zeiger der Kasinouhr zu fünf und sechs sank und sich wieder zu sieben erhob. Ein Sonnenzeiger hätte diese Glockenschläge nicht markieren können; die Sonne war fort. Die Luft war kühl. Niemand saß mehr draußen als Herr Lavertisse. Gegen sechs Uhr machte Herr Lavertisse eine leise Bewegung auf seiner Bank und murmelte einige Worte, die für Außenstehende unverständlich waren und unbeantwortet blieben.

»Wenn der Professor hier wäre! Wenn ich wüßte, wo er ist!«

Er fixierte die Vorübergehenden, ohne es zu wissen. Einer von ihnen, ein rothaariger Herr in unverkennbar englischer Kleidung, der selbst in augenscheinlich tiefem Grübeln auf und ab ging, erwiderte seine Blicke durch zwei blaue Augengläser. Er merkte es nicht. Einer der Kasinowächter kam auf ihn zu und deutete ein Interesse für seine Gesundheit mit den Worten an:

»Frieren Sie nicht, Monsieur?«

Herr Lavertisse zuckte zusammen. Er erregte also Aufsehen! Nun ja, er war auch mit einer kurzen Unterbrechung sieben Stunden dagesessen. Er erhob sich, ohne zu antworten, und begann um das Palmenrondell herumzugehen. Der Wächter folgte ihm in diskreter Entfernung. Der rothaarige Engländer, der sich von Lavertisse fixiert gesehen hatte, tat dasselbe. Plötzlich packte Lavertisse die Raserei, die rote Hungerraserei, die die Augen brennend und glühend macht. Sein Brot ehrlich verdienen! Meinungsverschiedenheiten mit der Justiz vermeiden! Er wünschte sich nichts Besseres, aber welchen Dank hatte man für seinen guten Willen?

Hier stand er, ohne Geld und ohne einen Bissen seit dreißig Stunden …

Er blieb vor der erleuchteten Fensterscheibe des Café de Paris stehen. Dort drinnen saßen Menschen und aßen und tranken. Menschen, von denen sich sicherlich nur eine Minderzahl an Rechtschaffenheit mit Aristides vergleichen konnte. Dort drinnen gab es Speisen, Getränke, alle Ideen, die aus einer Weinflasche geboren werden. Hier draußen ging man in der Tretmühle seiner Ideen herum, wie ein Ochse, der drischt. Man wurde dumm! Die Fensterreihe blinkte hypnotisierend. – Sagte jemand, daß es unehrlich sei, mit fünfzig Centimes in der Tasche dort hineinzugehen! Unsinn! Blague! Merde! Wenn schon nichts sonst, so traf man vielleicht Bekannte!

Er brauchte die Türe zum Café nicht zu öffnen; ein Neger riß sie ihm auf. Das Licht, die Wärme und das kolossale Lächeln des Negers betäubten ihn beinahe. Er nahm seinen Hut ab und reichte ihn einem Pikkolo. Mechanisch griff seine Hand in die Hosentasche. Im nächsten Augenblick sah er in ein kleines, aber indigniertes Gesicht. Der Pikkolo hatte die einzige Note in Empfang genommen, die Herrn Lavertisse vom totalen Bankerott trennte, aber schien ihren historischen Wert nicht zu ahnen.

Ein dicker rotblonder Oberkellner mit gestutztem Schnurrbart eskortierte ihn zu einem kleinen Tischchen im Schatten einer Palme.

»Was befehlen Monsieur?«

Herr Lavertisse erwachte zum Bewußtsein. Was hatte er getan? Er hatte einen allgemeinen Entschluß gefaßt, hier hineinzugehen, eine momentane Eingebung, sich Essen und Trinken zu verschaffen. Nun stand ein Mann mit einer Speisekarte da. Er sollte Speisen auswählen, in Details eingehen. Er wurde nachdenklich; Reue erfaßte ihn, aber was war zu tun? Stand er auf und ging, so machte er sich lächerlich. Er wollte sich nicht lächerlich machen. Er hatte nur eines zu tun: Etwas Billiges zu essen und die Rechnung in der einen oder anderen Weise zu ordnen. Man bezahlte doch erst später. Die selbstrechtfertigende Stimme murmelte wieder: Bekannte! Es kommen sicher Bekannte! Seine Augen blieben an dem Worte Austern hängen.

»Austern,« sagte er mechanisch.

»Ein Dutzend?«

Er bereute schon; was sollte er mit Austern? Aber es fehlte ihm die Kraft, die Bestellung zurückzunehmen.

»Ein halbes Dutzend,« feilschte er.

»Und dann?«

»Dann? … Wir werden sehen.«

»Und als Wein, Monsieur?«

Ein Weinkellner in schwarzem Schurz hatte sich an seiner Seite erhoben und ihm ein schwarzes, ledergebundenes Buch unter die Augen gelegt.

»Und als Wein, Monsieur?«

Das ledergebundene Buch, das einem mittelalterlichen Meßbuch glich, lag vorschlagsweise bei der Rubrik » Vins de Champagne« aufgeschlagen. Er blätterte hastig an dieser Rubrik vorbei. Er fand die weißen Bordeauxweine.

»Château Carbonnieux.«

»Eine Ganze?«

»Eine Halbe!«

Der Oberkellner und der Weinkellner zogen sich unter geistigem Achselzucken zurück. Was war das für ein Gast?

Von seinem Platz an der Tür betrachtete der Pikkolo ihn mit einem Gemisch von Mißtrauen und Verachtung. Fünfzig Centimes einem Garderobe-Pikkolo im Café de Paris in Monte Carlo!

Ein Kellner legte ihm mit übertriebenem Eifer Brot hin; ein anderer ordnete mit ironischer Sorgfalt ein Wein- und ein Wasserglas; ein dritter stellte mit unterstrichener Geschäftigkeit eine Karaffe Wasser hin; ein vierter placierte einen meterhohen Eiskübel neben seinem Tisch und ließ demonstrativ die kleine halbe Flasche weißen Bordeaux darin verschwinden. Ein fünfter trug eine riesenhafte silberne Schüssel herbei, auf der sechs Austern einen sehr schüchternen Archipel bildeten. Herr Lavertisse dachte düster:

»Diese Toren verachten mich, weil ich kleine Bestellungen mache. Sie tun all dies, weil sie sich Trinkgeld von mir erwarten, und sie wissen nicht, daß der Pikkolo alles bekommen hat.«

Er trank den ersten Schluck von seinem Bordeaux; er durchflutete ihn wie ein Strahl der Kraft. Mit leuchtenden Augen richtete er sich auf. Wo war er? Er saß im Café de Paris in Monte Carlo ohne einen Centime in der Tasche und soupierte. Ausgezeichnet! Warum nicht? Lasset uns essen und trinken; sicherlich ereignet sich unterdessen etwas. Immer ereignet sich etwas, wenn man nur Zeit gewinnt. Er winkte den Oberkellner herbei.

»Monsieur befehlen?«

Herr Lavertisse hatte sich schon ausgedacht, was er tun wollte, um Zeit zu gewinnen.

»Sie haben Wachteln?«

»Delikate Wachteln.«

»Bringen Sie mir eine Wachtel, gut gespickt mit Salat.«

»Und zu trinken?«

Abermals stand der Mann in dem schwarzen Schurz an seiner Seite.

Abermals leuchtete ihm die Rubrik » Vins de Champagne« entgegen.

Diesmal blätterte er aus epikureischen, nicht aus ökonomischen Gründen daran vorbei.

»Haut Brion!«

»Ist nur in ganzen Flaschen da.«

»Nun gut, eine ganze Flasche.«

Der Oberkellner und der Weinkellner zogen sich mit Reverenzen zurück. Die anderen Kellner begannen ihre Auffassung von Herrn Lavertisse zu revidieren. Einer schenkte ehrfurchtsvoll den Rest seines weißen Bordeaux ein; ein anderer kehrte seine Brotkrumen mit einem Silberbürstchen weg; ein dritter stellte eine silberne Aschenschale hin, für den Fall, daß er Lust haben sollte, zu rauchen; ein vierter überwachte die Operation der anderen. Herr Lavertisse sah an allem mit der ruhigen Gleichgültigkeit eines Kaisers vorbei. Er war so befriedigt, wie man es ist, wenn man sich für einen Standpunkt entschieden hat. Im Café tanzten dekolletierte Weltdamen mit professionellen Tänzern, die für jeden Tanz zwanzig Franken Honorar bekamen; Herren im Frack und weißer Hemdbrust nickten den Takt zu Melodien aus Dahomey.

Ein fünfter Kellner brachte seinen Haut Brion; der lag umgestülpt in einem Weidenkorb, den Hals durch ein Loch des Korbes gesteckt, wie ein zum Tode Verurteilter in einer Guillotine zurechtgelegt. Ein sechster Kellner kam mit seiner Wachtel. Die prasselte auf einer Silberschüssel, unter der eine gelbe Flamme brannte. Der Oberkellner tranchierte sie selbst und legte Herrn Lavertisse vor. Wieder dachte Herr Lavertisse:

Früher waren die Parasiten unhöflich, jetzt sind sie höflich. Das ist, weil sie Trinkgeld von mir erwarten. Das werden sie auch bekommen, wenn nur etwas eingetroffen ist. Immer trifft etwas ein, wenn man es nur versteht, Zeit zu gewinnen. Und es liegt nichts Unehrliches darin, Zeit zu gewinnen.

Um Zeit zu gewinnen, bestellte er nach der Wachtel Straßburger Leberpastete und Clos de Vougeot, Jahrgang 1911. Der Umstand, daß Clos de Vougeot dieses Jahrgangs nur in ganzen Flaschen vorrätig war, wirkte nicht auf seine Bestellung ein. Er sagte zum Weinkellner:

»Von dem, was übrigbleibt, können Sie auf mein Wohl trinken!«

Es traf jedoch noch immer absolut nichts ein; um wieder Zeit zu gewinnen, aß er Käse und Dessert und bestellte Kaffee mit einem Glas Armagnac. Die Dienerschaft umflatterte nun seinen Tisch eifriger als Bienen einen Honigtopf. Auch weiter traf nichts ein. Der Tanz wirbelte über das Parkett, die Kapelle spielte Melodien aus Aschanti; die schönen Frauen lächelten mit karmesinroten Lippen. An einem Tisch bewirtete ein Systemspieler sein Opfer mit einem Souper, während dessen er erklärte, warum das System an diesem Tage versagt hatte. Das Opfer trank melancholisch und sah den Kronleuchter an, wie um zu beurteilen, ob er eine Schlinge tragen könnte. Der Zeiger rückte näher und näher zu zwölf. Die selbstrechtfertigende Stimme, die von Bekannten gemurmelt hatte, die kommen müßten, verstummte. Herr Lavertisse spähte im Saale herum. Er sah nicht ein Gesicht, das er kannte, nicht einen Menschen, der bereit schien, seine Rechnung zu zahlen, die vermutlich auf vierhundert Franken losging. Alle Gesichter waren kalt, kalt und reserviert, wie das des rothaarigen Engländers, der unerschütterlich durch seine blauen Augengläser auf den Tanz starrte. Es wurde dreiviertel zwölf, es wurde fünf Minuten vor zwölf; noch immer traf nichts ein. Sollte jetzt etwas eintreffen, mußte es rasch geschehen. An den anderen Tischen raschelte es von Banknoten; demütige Worte erklangen: »Danke, danke, ich danke Ihnen, wir danken Ihnen, danke, Monsieur!« Würde er diese Worte heute abend noch hören? Das erschien zweifelhaft. Nun stand der rötliche Kellner lächelnd und sich verbeugend an seinem Tisch.

»Monsieur, Verzeihung, wir schließen in zwei Minuten. Was wollen Sie? Es ist das Gesetz.«

Das Gesetz … das Gesetz … was für einen Wink hatte man ihm gegeben? Meinungsverschiedenheiten mit dem Gesetz zu vermeiden.

»Eine Minute, Oberkellner!« murmelte er.

Der Rötliche verbeugte sich reserviert. Was sollte er tun, wenn noch immer nichts eintraf? Sollte er in die Toilette gehen? Auf diesem Wege zu verschwinden suchen? Es gab nur einen Weg zur Toilette, und der führte am Oberkellner vorbei. Diese großen Cafés wurden mit einem Mangel an gesunder architektonischer Vernunft gebaut, der aufreizend war. Nun kam der Oberkellner wieder. Hinter ihm kam der Kellner mit dem schwarzen Schurz. Hinter ihm kam der Kellner, der die Aschenschale hingestellt hatte. Hinter ihm kam der Kellner, der die Brotkrumen weggekehrt hatte. Hinter ihm kam der Kellner, der den Eiskühler aufgestellt hatte. Hinter ihm stand der Pikkolo aus der Garderobe. Hinter ihm stand der Neger von der Türe, grinsend wie ein Hai.

Er war allein im Lokal. Allein mußte er den schweren Weg gehen, allein, wie man den Weg in das Reich der Schatten wandelt. Sollte er sie selbst ersuchen, die Polizei anzurufen? Das wäre eine Geste. Aber eine andere Geste fiel ihm ein.

Er winkte dem Pikkolo, der seine letzte Note bekommen hatte.

»Meinen Hut!«

Er bekam ihn und stand auf. Der Oberkellner machte einen Schritt näher heran. Der Weinkellner machte einen Schritt näher heran. Die ganze große Schar machte einen Schritt näher heran. Er schob den Hut zurecht. Es gibt Gäste, die erst mit dem Hut auf dem Kopf ihre Rechnung verlangen. Alle diese Menschen schienen ihn für einen solchen Gast zu halten. Die Toren. Nun – – –.

Er umhüllte sie mit dem Blick, den Oberkellner, den Weinkellner, den Kellner mit der Serviette, den Kellner mit dem Eiskühler, den Kellner mit der Aschenschale, den Kellner mit den Brotkrumen, wie ein General, der seine Truppen mustert. Dann grüßte er leicht:

»Guten Abend!«

Er wandte sich und ging langsam der Türe zu. Wann kam die Stimme an seiner Seite? Wann kam das erstaunte, das entsetzte, das empörte, das dutzendzüngige:

»Monsieur, Sie vergessen die Rechnung!«

Es kam nicht. Der Neger öffnete ihm die Türe, und gleichzeitig seinen zahnreichen Mund. Er schritt durch die Türe hinaus. Hinter ihm erklang ein vielstimmiges, ein eifriges, ein einschmeichelndes:

»Monsieur, danke! Danke, Monsieur, ich danke Ihnen, wir danken Ihnen, danke, Monsieur!«

Er konnte sich nicht länger beherrschen. Er drehte den Kopf und sah sich um. Er sah lauter sich verbeugende Köpfe, den Kopf des Oberkellners, den Kopf des Weinkellners, die Köpfe der ganzen großen Herrscher.

»Danke, Monsieur! Monsieur, danke und guten Abend!«

Ja, er war wach und auch so einigermaßen nüchtern. Die Uhr an der Fassade des Kasinos leuchtete mondähnlich. Er konstatierte, daß es zehn Minuten über zwölf war, und daß er nicht mehr als zwei Zeiger sah. Auf dem Kasinoplatz brannte eine Bogenlampe über der Bank, auf der er sieben Stunden über die Probleme der Armut nachgegrübelt hatte.

Er starrte sie beleidigt an. Es war klar, daß diese Probleme gar nicht soviel Aufmerksamkeit verdienten.


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