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Eines Morgens erwacht man, man hat ohne einen Centime in der Tasche ein Festsouper gegessen und ist von einer sich verbeugenden Dienerschaft zur Türe geleitet worden. Dies hat dem Gehirn Kopfzerbrechen gemacht, aber dem Herzen Mut; man ist in sein Hotel heimgegangen und hat seiner finanziellen Lage zum Trotz seinen Kopf in die Kissen des Wirtes gebettet.
Am Morgen ist der Mut des Herzens verflogen; das gestrige Souper, bei Tageslicht gesehen, ist ein unwahrscheinlicher Traum. Wo in der ganzen Welt ißt man, ohne zu bezahlen? Und wird noch mit Segenswünschen zur Tür geleitet? Ja, möglicherweise bei der Heilsarmee; aber soviel man weiß, hat sie noch nicht das Café de Paris in Monte Carlo übernommen. Was ist also die Erklärung? – Man lauscht ängstlich nach Schritten im Korridor, den Schritten des Wirtes, wenn er kommt, um zu zeigen, wo der Ausgang für nicht bezahlende Gäste sich befindet. Es klopft; das ist ein letzter Rest von Höflichkeit, daß man die Türe nicht öffnet, ohne zu klopfen. Die Türe geht auf; der Augenblick ist gekommen. Aber anstatt des Wirtes ist es ein Hotelboy, ein Chasseur, dessen Skelett mit Goldtressen auf seinen schmalen Brustkorb gezeichnet ist. Sein Gesicht drückt nur gelangweilte Gleichgültigkeit aus; in der Hand hält er ein Kuvert. Schicken sie dieses Kind mit einer schriftlichen Ausweisungsorder? Aber als das Kuvert geöffnet wird, enthält es einen Brief.
Monsieur Lavertisse
Hotel Beau-Rivage
Monte Carlo.
Monsieur!
Verzeihen Sie einer Person, die sich für Ihre Zukunft interessiert, eine Indiskretion.
Ich kam gestern ins klare darüber, daß Sie sich in einer Geldverlegenheit befinden. Das schmerzte mich. Ich nahm mir folglich die Freiheit, Sie so diskret wie möglich, ohne Ihr Wissen, zu einem Souper einzuladen.
Da ich fürchte, daß Ihre Geldverlegenheit andauert, stelle ich Ihnen hiermit einen kleinen Betrag zur Verfügung. Ohne Ihre Handlungsfreiheit beeinflussen zu wollen, gebe ich Ihnen gleichzeitig einen guten und uneigennützigen Rat:
Begeben Sie sich nach Rom.
Piazza di Spagna 97 werden Sie in Signor Carlo Carletti einen Menschen finden, der sich in ebenso hohem Grade wie ich für Ihre Zukunft interessiert.
Um Ihnen eine Andeutung zu geben, wer ich bin, schreibe ich einige Worte, deren Sinn Sie verstehen werden: das Antiquitätengeschäft Lavertisse & Cie., Southampton Row, London, 1908. Aber im übrigen zwingen mich die Umstände, bis auf weiteres zu verbleiben
Herr Lavertisse starrte von diesem Brief, den er in der rechten Hand hielt, auf das Kuvert, das er in der linken Hand hielt. In dem Kuvert wurde ein holder Anblick sichtbar. Ein blauer, knisternder Tausendfrankenschein.
Schlief er? Träumte er eine Fortsetzung des abendlichen Traumes?
Er sah auf.
Ein Gesicht war ihm zugewandt, gefüllt von all der Frechheit, Stumpfheit und List, die zu allen Zeiten die Gesichter einer bestimmten Menschenklasse charakterisieren werden: die des Chasseurs. Gewöhnlich gehört noch eine Ingredienz zu dem Ausdruck: Geldgier. Die fehlte in diesem Falle. Herr Lavertisse hatte schon seit fünf Tagen kein Trinkgeld gegeben.
»Verschwinden!«
Der Chasseur trippelte hinaus, mit der Miene eines gekränkten Zwerghahns. Herr Lavertisse griff sich an den Kopf.
»Ein Freund!«
Das sollte also die Erklärung sein!
Ein unbekannter Freund hatte ihn gesehen, hatte seine Situation erkannt, war ihm in das Café de Paris gefolgt, hatte ungesehen und ungebeten seine niedliche, kleine Rechnung bezahlt, ungesehen und ungebeten Trinkgelder gegeben, die sicherlich nicht ohne gewesen waren. Daher die ausgebliebenen Tränen der Dienerschaft. Ein Freund hatte eingegriffen, ein exzentrischer, ein diskreter, ein fast allzu diskreter Freund!
Ein Freund, der das Antiquitätengeschäft in Southampton Row kannte, der sich für Herrn Lavertisses Zukunft interessierte – – –
Hm, – und wenn es vielleicht Herrn Lavertisses Vergangenheit wäre, um die sein Interesse kreiste? –
Das Antiquitätengeschäft in Southampton Row war ein gutes Geschäft gewesen. Das war keine Frage. Es hatte vortreffliche Waren verkauft, das war auch sicher. Aber es hatte sie in einer Weise verkauft, die – – –
Es unterlag keinem Zweifel, daß man die Verkaufsmethoden des Geschäftes von sehr verschiedenen Gesichtspunkten ansehen konnte.
Es ließ sich denken, daß ein Kunde aus dieser Zeit seine Waren nach den Buchhaltungsmethoden von Lavertisse & Cie. bezahlt hatte, und jetzt die Differenz regeln wollte. Das ließ sich denken.
Aber warum sollte es so sein? Wollte dieser Herrn Lavertisse schaden, dann wäre es unleugbar leichter, um nicht zu sagen normaler gewesen, ihn im Café de Paris sitzen zu lassen, bis die Polizei, sein natürlicher Feind, sich Lavertisses nächster Zukunft annahm. Anstatt dessen hatte er Herrn Lavertisse ohne sein Wissen zum Souper eingeladen und ihm tausend Franken ins Bett geschickt. Feinde, die sich solcher Methoden bedienten, um sich zu rächen, waren unbedingt den meisten Freunden vorzuziehen – – –
Nein, es verhielt sich nicht so! Um wieviel einfacher wurde nicht das Ganze, wenn er es mit alten Freunden zu tun hatte, alten Freunden, die sicherlich ihre schwerwiegenden Gründe hatten, diskret aufzutreten! Lavertisse schlug sich an die Stirn und rief einige Worte, zu denen er keine Erklärung gab.
»Der Professor! Das ist der Professor!«
Dann drückte er wie rasend auf die Klingel.
Das goldbetreßte Kinderskelett fand sich abermals ein. Es war ein geometrisches Paradoxon, daß eine so kleine Fläche wie dieses Gesicht soviel verdrossene Frechheit enthalten konnte.
»Hör' mal, junger Parasit! Wenn du nicht sofort diese Miene ablegst und so vergnügt aussiehst, als wenn du mich soeben um fünf Franken beschwindelt hättest, fange ich in der nächsten Sekunde an, die Taubstummensprache mit dir zu sprechen. Hast du verstanden?«
Der Chasseur antwortete mürrisch:
»Ich beschwindle niemanden um fünf Franken!«
»So? Ich habe spaßeshalber ein Protokoll über dich geführt. Was deine älteren Kollegen aufschlagen, sind im Verhältnis Kleinigkeiten. Vor einer Woche schickte ich dich Kragen kaufen. Die Kragen kosten im Geschäft fünfzehn Franken. Durch dich kosteten sie zwanzig. Tags darauf holtest du meine Uhr beim Uhrmacher. Die Reparatur kostete zwölf Franken. Bei dir kostete sie achtzehn. Am nächsten Tag sprangst du hinüber und holtest eine Flasche Haarwasser. Das Haarwasser kostet im Geschäft elf Franken. Bei dir kostete es – – – mir scheint, du wirst schon besserer Laune?«
Die Züge des Chasseurs hatten sich wirklich ein wenig erhellt. Er sah Lavertisse stumm an, wie um zu sagen: na, und?
»Ich will dir einen guten Rat geben, junger Mann: Lebe ehrlich! Es ist die Frucht der Erfahrung eines Lebens, die ich da verschenke. Lebe ehrlich! Das Gegenteil rächt sich immer. Merke dir: Man muß ehrlich leben. Manchmal sieht es düster aus, aber alles ordnet sich, wenn man nur Zeit gewinnt.«
Das Gesicht des Chasseurs verdüsterte sich wieder.
»Hör' mal! Vorhin brachtest du mir einen Brief.«
»Hat der auch zuviel gekostet?«
»Nimm dich in acht, du Schlingel! Wer hat dir den Brief übergeben?«
»Ein Herr.«
»Kanntest du ihn?«
»Nein.«
»Wie sah er aus?«
»Wie ein Freund von Monsieur!«
»Was meinst du damit?«
»Freigebig und ehrlich.«
»Deine Frechheit ist für einen erwachsenen Kellner hinreichend. Beschreibe ihn näher!«
»Er hatte einen Bart. – Er trug eine – eine Redingote. Er nahm fünf Franken aus der Tasche und sagte: Gehe mit diesem Brief zu Monsieur Lavertisse. Ich warte hier, bis du wiederkommst. Hier hast du fünf Franken. Bu – u – uh!«
»Warum weinst du denn?«
»Ich hätte seine fünf Franken nicht annehmen sollen! Das war nicht recht.«
»Ich habe deine Frechheit unterschätzt. Du bist reif für einen Oberkellnerposten, wenn es darauf ankommt. Kannst du ihn nicht näher beschreiben?«
»Nein, Monsieur. Ich stand da und sah immerzu seine fünf Franken an, Monsieur. Es ist so lange her, seit ich fünf Franken gesehen habe, Monsieur.«
»Kerl, du bist würdig Direktor zu werden! Aber, ich habe jetzt keine Zeit, dich zu ohrfeigen. War er noch da, als du hinunterkamst?«
»Ja, aber als er gehört hatte, daß Monsieur den Brief bekommen haben, stieg er in eine Straßenbahn, die zum Bahnhof ging.«
»Zum Bahnhof!«
Herr Lavertisse hatte sich, während er sprach, angekleidet. Jetzt brüllte er:
»Rasch! Verschaffe mir einen Fahrplan und verlange meine Rechnung. Ich fahre nach Rom. Hast du kapiert? Alles muß wie der Blitz gehen!«
Das Gesicht des Chasseurs strahlte plötzlich auf. Ein Herr, der abreist, ist für jeden Hotelmenschen Gegenstand des lebhaftesten Interesses; denn ein solcher Herr muß Geld haben und kann nicht umhin, Trinkgeld zu geben. Ein solcher Herr hat das Recht, Moral zu predigen; das ist nur eine Ausdrucksform für eine gute Laune.
Er flog die Treppen hinunter wie ein Pfeil.
*
Was bringt bessere Laune, größeres Selbstvertrauen, als fünf Banknoten mit zwei Nullen durch einen Schalter zu reichen und sieben Banknoten mit ebenso vielen Nullen zurückzubekommen.
Lavertisse hatte den Expreß nach Rom erreicht; und an einer Wechselkasse in Ventimiglia hatte er fünfhundert Franken gegen siebenhundert Lire eingetauscht. Sein Herz klopfte vor Zuversicht, als er durch die schwankenden Korridore des Expreß ging und aufmerksam in jedes Coupé blickte, nach einem bestimmten Gesicht ausspähend.
Der Freund, der ihn zum Souper geladen und ihm tausend Franken für Rechnung und Reisekasse geschickt hatte, war mit im Expreß. Davon war er überzeugt. Er würde ihn finden. Die Umstände, die den Freund in Monte Carlo zur Diskretion zwangen, hatten sicherlich auf der anderen Seite der französischen Grenze ihre Macht verloren. Von dem Chasseur hatte er ein Signalement bekommen. Allerdings glich dieses keinem seiner Freunde besonders, aber es war fünf Jahre her, seit er sie gesehen, und was für Jahre! Seine Freunde konnten sich in diesen fünf Jahren sehr verändert haben; sie konnten geradezu gezwungen gewesen sein, sich sehr zu verändern – – –
Hier machte Herr Lavertisse einen plötzlichen Sprung im Gedankengang und murmelte für sich selbst:
»Aber auf jeden Fall werde ich auch weiter ehrlich leben!«
Seine Untersuchungen erwiesen sich als fruchtlos. Korridore und Coupés waren voll besetzt, aber vergebens musterte er Coupé für Coupé; vergebens starrte er in Gesicht um Gesicht. Er sah viele Herren, auf die das Signalement des Chasseurs paßte. Aber die Züge, mit denen er das Signalement ergänzte, fand er bei keinem wieder. Und vergeblich spähte er nach einem Erkennungszeichen, einem geheimen Signal.
Nachdem er zweimal von einem Ende bis zum andern durch den Zug gegangen war, gab er die Sache auf. Entweder war sein Freund nicht mit im Zuge, oder auch hatte er noch immer Gründe, diskret aufzutreten.
Hätte er gewußt, daß der Chasseur im Beaurivage seine fünf Franken dadurch verdient hatte, daß er seinen unbekannten Freund mit Bart und Redingote ausstattete, hätte er vermutlich bereut, ihm nicht selbst ebensoviel gegeben zu haben, anstatt ihm Moral zu predigen. In diesem Falle hätte er alle Aussichten gehabt, seinen unbekannten Wohltäter trotz dessen Diskretion zu finden.
Die italienische Riviera sauste an den Wagenfenstern vorbei; kleine, gelbe Städte lösten einander ab; zwischen ihnen lagen kilometerlange Beete von Nelken, Tulpen und Rosen; zehn Meter von der Bahnlinie zerstäubte das Mittelmeer seine rauschenden Wogen an den Kieselsteinen zu Schaum. Der Himmel war voll Wolken, und alle hatten Silberränder. Gestern saß Herr Lavertisse noch arm und hungrig in Monte Carlo. Nun trugen ihn die Räder mit jeder Minute näher zu Rom. In Rom wartete sein unbekannter Freund oder wenigstens – das hatte er schwarz auf weiß – Signor Carlo Carletti, das Herz voller Interesse für Herrn Lavertisses Zukunft. In der Tasche hatte er siebenhundert Lire, die er für lumpige fünfhundert Franken bekommen hatte. Wie manche auch ehrliche Zukunft ist mit viel weniger begründet worden!
Herr Lavertisse ahnte nicht, was schon die nächste Zukunft für ihn im Schoße barg.
Das Coupé, in dem er saß, hatte fünf andere Passagiere. Ihm gegenüber saßen zwei junge Franzosen von jenem Typus, den man in Frankreich fils de famille nennt; zwei Brüder oder Cousins mit flaumigem Schnurrbart, klarem Teint und blanken Augen, die voll Selbstvertrauen waren. Ihre Kleider waren beinahe feminin korrekt, aber im Knopfloch trugen sie beide die Symbole, daß sie am Weltkrieg teilgenommen hatten. – Neben ihnen saß ein Herr von fünfundvierzig Jahren mit gebogener Nase, blutvollen Lippen und einem überwältigenden schwarzen Bart. Der war beinahe ein viertel Meter lang, unglaublich schwarz und fein gekämmt. Was machte der Mann bei Nacht damit? Schlief er damit in einem Säckchen? Seine Augen waren schwarze Vulkane, die einen Augenblick erloschen schienen, um im nächsten Augenblick in voller Aktivität zu flammen. Neben sich hatte Lavertisse schließlich zwei katholische Schwestern, die ununterbrochen und unhörbar Gebete murmelten. Ihre Blicke waren abgewandt, mit sehenden Augen sahen sie nichts; jede Bewegung der einen löste bei der anderen eine ähnliche aus.
»Wie sind die Wohnungsverhältnisse in Frankreich, Monsieur?«
Es war der Mann mit dem schwarzen Bart, der das Schweigen brach. Seine Frage war an Lavertisse gerichtet. Er sprach Französisch, jene Art Französisch, wie man sie in Italien spricht, wo man zoli für joli sagt und vendo für vendu.
»Ah, was wollen Sie?« sagte Herr Lavertisse höflich, »die Wohnungsverhältnisse in Frankreich? Miserabel! Miserabel!«
»Dann sind Sie so dran wie wir, Monsieur, unsere Wohnungsverhältnisse sind disperatissime, im allerhöchsten Grad verzweifelt.«
Der eine der jungen Männer, Lavertisse gegenüber, sagte:
»Der Weltkrieg hat zehn Millionen Männer erschlagen.«
Der andere junge Mann fügte hinzu:
»Man sollte rein glauben, alle Männer wären Maurer gewesen.«
Der Mann mit dem schwarzen Bart zog ein Paket Broschüren aus der Tasche seines Pelzes.
»Sehen Sie her, meine Herren!« rief er, »die Wahrheit über die Wohnungsverhältnisse in Italien! ›Laßt unsere Helden in den Schützengräben verbleiben! Das Vaterland hat doch kein Obdach für sie! – Bauet Häuser, wenn Ihr nicht Gefängnisse bauen wollt!‹ Das ist die Wahrheit über die Wohnungsfrage in Italien, und sie wird dadurch nicht verringert, daß ich sie im Druck vorlege. Ich habe sie auch öffentlich vorgelegt, und was hat man mir erwidert? Man war taub für meine furchtbaren Anklagen. Man hat Tintenfässer nach mir geworfen, weil ich Marquis bin!«
»Es ist unglaublich,« sagte Lavertisse.
»Es ist mehr als unglaublich, es ist abscheulich,« sagte der jüngere der zwei Brüder.
»Es ist mehr als abscheulich, es ist furchtbar,« sagte der ältere.
Die beiden Nonnen murmelten Gebete. Der Mann mit dem schwarzen Bart teilte diesen mit der Hand in zwei Teile und breitete eine Hälfte nach jeder Seite aus.
»Ja, meine Herren, ich bin Marquis, aber ich bin ein Mann des Volkes! Meine Geburt stellt mich hierher« – er führte die rechte Barthälfte so weit nach rechts als möglich – »mein Herz stellt mich hierher« – er führte die linke Hälfte ebenso weit nach links. »Diese beiden Seiten meines Wesens sind die beiden Seiten von Italiens Wesen. Wenn ich sie vereinigen will, verachtet man mich von rechts« – er machte eine hohnvolle Geste mit der rechten Barthälfte – »und man attackiert mich von links.« Er gab der linken einen wütenden Ruck. »Ah, es ist nicht leicht, Politiker zu sein. Was ist ein Politiker? Zu einem Drittel unehrlich, zu einem Drittel Schauspieler, zu einem Drittel Hasardspieler. Seien Sie ehrlich, seien Sie aufrichtig, seien Sie vorsichtig – keine Partei will etwas von Ihnen wissen.«
Seine Augen brannten vor Empörung. Lavertisse lauschte und fühlte starke Sympathie. Hier war ein Mann, der gegen dieselben Schwierigkeiten anzukämpfen hatte, wie er selbst. Der Marquis öffnete eine Brieftasche mit vielen Fächern.
»Gestatten Sie, meine Herren.«
Er reichte Lavertisse und den zwei jungen Franzosen Karten. Unter einer Krone las Lavertisse.
Ugo Marchese di Bracciano
Roma
Er öffnete seine eigene Brieftasche und nahm seine eigene Karte heraus, ein Andenken aus der Zeit, als er noch auf Kredit in den Armeelagern des Staates spekulierte. Darauf stand bescheiden:
M. Adolphe Lavertisse,
Grand Industriel
Paris
Die beiden jungen Männer öffneten ihre Brieftaschen. Ihre Karten waren in Format und Druck identisch. Auf der einen stand:
Auf der andern stand:
M. Pierre-Marie le Hainaut
Paris
Man lüftete die Hüte. Der Marquis suchte weiter in seiner Brieftasche und zog eine Photographie heraus. Er nahm sie zwischen zwei Finger, küßte sie zärtlich und übergab sie Lavertisse.
»Dies, mein Herr, ist meine erste Gattin, geborene Baronesse Vagheri. Sehen Sie nur! Bellissima! Und welches Herz! Enorm!«
Die Photographie stellte eine volle, dunkle Dame dar, mit einem feinen Schnurrbärtchen auf der Oberlippe. Lavertisse reichte sie den beiden Familiensöhnen.
Der Marquis ging weiter und zeigte seine Kinder aus erster Ehe, seine Frau in zweiter Ehe, geborene Komtesse Cavallini. Die Kinder, die sie ihm geschenkt hatte; seine Onkel, seine Tanten, seine Neffen, seine Nichten, seine Pferde, seine Jagdhunde. Seine Augen waren feucht, sein Gesicht strahlte von Familienglück. Lavertisse dachte: Welch guter Mann, welch zärtlicher Vater! Plötzlich steckte der Marquis alle seine Photographien ein; sein Gesicht wurde drohend, wie eine Gewitterwolke. Aus dem untersten Fach der Brieftasche zog er die Photographie eines jungen Mädchens, schleuderte sie auf Armeslänge von sich und durchbohrte sie mit den Blicken. Er glich einem jener schönen, grausamen Kaiserköpfe, die man in den Museen Italiens sieht. Die beiden Nonnen bekreuzigten sich und beteten.
»Da, meine Freunde, seht! Das ist die Frau, für die mein Sohn Eusebio alles opfern will, der er, der Unschuldige, zum Opfer gefallen ist! Er will sie heiraten, eine Namenlose, ein Geschöpf ohne Mitgift! Er ist neunzehn Jahre alt, und sie, die Berechnende, sechzehn! Aber, ich sage Ihnen, meine Herren, nie! Ich habe in drei Kriegen gekämpft, ich war viermal verwundet, ich bin Edelmann, ich bin Italiener, ich bin bereit, alles für mein Land zu opfern, meinen König, meine Familie, meine Söhne, meine Nichten – aber ich gebe es nicht zu, daß mein Sohn ein intrigierendes Geschöpf heiratet, ohne Namen, ohne Mitgift. Nie! Wenn Sie die Seele Italiens kennen würden, Sie würden mich verstehen!«
Er schleuderte die Photographie in das unterste Fach der Brieftasche mit einer Miene, als schleudere er eine Seele in den Abgrund. Dann strich er sich über die Stirn, lächelte seinen Reisegenossen entschuldigend zu und versank bald darauf in Schlummer. Die beiden Familiensöhne nahmen Karten heraus und begannen zu zweien zu spielen. Sie murmelten eintönig: »Kupiere selbst, Gustave! – Karo ist Atout, Pierre-Marie. – Vier Damen, Gustave. – Vier Aß, Pierre-Marie. – Sequenz, Gustave. – Der letzte Stich gehört mir, Pierre-Marie.«
Die Points markierten sie auf einer kleinen Tafel. Nach jedem Spiel schlossen sie sorgfältig ab. Es war der Jüngere, Herr Pierre-Marie le Hainaut, der gewann.
In Genua erwachte der Marquis, und er, die beiden jungen Franzosen und Lavertisse nahmen auf dem Perron ein einfaches Mittagessen ein. In einiger Entfernung von ihnen verzehrte ein rothaariger Herr in englischem Anzug sein Mittagessen. Er hatte blaue Augengläser, die seinem Gesicht einen undurchdringlichen Ausdruck gaben. Als man zur Abfahrt signalisierte, verabschiedeten sich die beiden Familiensöhne voneinander. Der Aeltere fuhr nach Venedig, der Jüngere weiter nach Rom.
Herr Pierre-Marie mischte immer wieder die Kartenspiele, mit deren Hilfe er soeben seinem älteren Bruder fünfzig Lire abgewonnen hatte. Es war klar, daß er mit seinen Gedanken nicht von diesem glücklichen Spiel loskommen konnte. Der Marquis betrachtete mit halbgesenkten Augenlidern eine neue Photographie, die er aus seiner Brieftasche genommen hatte. Sie stellte eine junge Dame dar, in so leichter Gewandung, wie sie auch eine noch so nahe Verwandtschaft kaum berechtigte. Dazwischen warf er von Zeit zu Zeit unter den Augenlidern einen Blick auf Herrn Pierre-Maries Kartenspiel. Plötzlich nahm Herr Pierre-Marie seinen Mut zusammen:
»Spielen Sie Karten, Herr Marquis?«
Der Marquis lächelte väterlich.
»Ab und zu einmal, im Schoße meiner Familie.«
»Dann kennen Sie gewiß das Spiel, das ich mit meinem Bruder spielte.«
»Was war das?«
»Bézigue.«
»Bézigue!« Der Blick des Marquis wurde verachtungsvoll, wie der Jupiters.
»Aber das ist ja nicht einmal ein Familienspiel, das ist ein Spiel für Nonnen!«
Die Nonnen bekreuzigten sich entsetzt. Herr Pierre-Marie, der gerade fünfzig Lire im Bézigue gewonnen hatte, wurde rot.
»Bézigue ist ein Familienspiel,« sagte er. »Aber spielt man das Point genügend hoch, dann ist es ein Spiel für Erwachsene!«
»Und was nennen Sie das Point genügend hoch?« sagte der Marquis mit einer Stimme, in der man die Ironie mehr ahnte als hörte.
Die beiden Familiensöhne hatten früher das Point zu fünf Centimen gespielt. Bei der Frage des Marquis errötete der junge Pierre-Marie noch tiefer und antwortete herausfordernd:
»Fünfzig Centimen das Point!«
Der Marquis breitete seine Hände aus.
»Na ja –«
»Oder eine Lira!« rief Pierre-Marie. »Ich habe keine Angst. Nun, also, Herr Marquis, und Sie, Monsieur, spielen Sie eine Partie oder nicht?«
Der Marquis lächelte wie ein Vater, der sich in den Einfall eines Kindes fügt.
»Wenn Sie wollen,« sagte er. »Es ist weit nach Rom.«
»Und Sie, Monsieur?«
Eigentlich hatte Lavertisse Lust. Er hatte nie etwas gegen eine Chance, seine Kasse zu verstärken. Aber eine Chance gegen einen reinen Jungen, wie diesen? Kaum zwanzig Jahre! Er schüttelte ablehnend den Kopf.
»Nein, danke,« sagte er, »Sie entschuldigen.«
Pierre-Marie mischte die Karten. Der Marquis hob ab.
»Gehen wir bis zu tausend?« sagte er.
»Wie Sie wollen,« lächelte der Marquis.
»Sprachen Sie nicht von einer Lira?«
»Ja.«
Pierre-Marie gab, und das Spiel begann.
Bézigue ist ein Familienspiel, man spielt es um Nüsse und Mandeln; Lavertisse hatte nie erwartet, es im vollsten Ernst spielen zu sehen. Man mischt zwei Kartenspiele. Man gibt acht Karten per Person und schlägt dann die nächste Karte als Atout auf. Der Rest der zwei Kartenspiele bleibt als Talon liegen, aus dem man sich nach jedem Stich bedient. Wenn es notwendig ist, werden die Spiele noch einmal gemischt. Es gilt, so rasch als möglich eine Pointssumme von tausend zu erreichen. König und Dame Atout – königliche Ehe – gilt vierzig Points; vier Damen gleichzeitig aufgeschlagen, sechzig, vier Könige achtzig, vier Aß hundert. Sequenz – Aß, Zehn, König, Dame, Bub Atout – gilt zweihundertfünfzig. Zwei Karobuben und zwei Piquedamen heißen großes Bézigue und zählen – gleichgültig was Atout ist – fünfhundert Points.
Während Lavertisse durch halbgeschlossene Augenlider das Spiel beobachtete, begann er zu merken, daß Bézigue, dieses Familienspiel, sehr wohl das werden konnte, als was Herr Pierre-Marie es bezeichnet hatte, ein Spiel für Erwachsene – wenn man es zu einer Lira das Point spielte. Pierre-Marie gewann die erste Partie mit sechzig Points Vorsprung und bekam sechzig Lire. Der Marquis gewann die zweite mit hundert Points Vorsprung und bekam hundert. Die dritte Partie verlor er mit zwanzig Points. Die vierte Partie gewann er mit hundertzehn Points. Der junge Pierre-Marie bezahlte, ohne zu zaudern. In der fünften Partie gewann Pierre-Marie fünfzig Points zurück, aber in der sechsten setzte er fast zweihundert zu. Als die sechste Partie vorbei war, hatte der Marquis alles in allem ungefähr zweihundertachtzig Lire gewonnen. Er sah den jungen Mann väterlich bekümmert an.
»Sollen wir aufhören?«
Pierre-Marie, der ein wenig geblinzelt hatte, als er zweihundert Lire ausbezahlte, fragte nur kalt:
»Sie geben also keine Revanche, Herr Marquis?«
Der Marquis breitete seinen Bart wie einen Fächer aus.
»Aber was meinen Sie? Ob ich Revanche gebe! Natürlich! Soviel Sie wollen! Solange Sie wollen!«
Die siebente Partie gab Pierre-Marie einen kleinen Gewinn von vierzig Points, die achte gab Lavertisse allerlei zu denken. Der Marquis war an der Reihe zu mischen. Er tat es mit ein paar kurzen Handbewegungen und gab. Das Spiel begann. Gleich zu Anfang hatte der Marquis königliche Ehe; etwas später deckte er die Sequenz auf, Aß, Zehn, König, Dame, Bub Atout, zweihundertfünfzig Points. An und für sich war das nichts Unmögliches, aber Lavertisse, zu dessen Wissen eine allseitige Kenntnis des Kartenspieles gehörte, hätte, wäre eine gewisse Sache nicht gewesen, auf eine gewisse Sache geschworen. Wenn der Marquis nicht Marquis gewesen wäre, hätte Lavertisse geschworen, daß der Marquis, als er mischte, falsch gemischt hatte und jetzt falsch spielte.
Es war barro! Es war wahnsinnig! Ein Marquis sollte Falschspieler sein! Ein zärtlicher Familienvater, ein Gesetzgeber, der von der Korruption in der Politik sprach, sollte beim Spiel mogeln, um einen zwanzigjährigen Jungen auszuplündern? Konnte man sich so etwas denken? Nein, das war unmöglich! Aber – – Herr Lavertisse wurde in seinen Gedanken dadurch unterbrochen, daß der Marquis mit einem Blick, der um Entschuldigung dafür bat, daß er auf der Welt war, zwei Karobuben und zwei Piquedamen hinlegte – großes Bézigue oder fünfhundert Points.
Diesmal erbleichte Pierre-Marie; man hörte, wie er Atem holte. Mit diesen fünfhundert Points, zu dem, was er schon markiert hatte, hatte der Marquis nun über achthundert, und bei tausend war das Spiel aus! Mit Pierre-Maries Revancheplänen stand es schlecht. Aber mit einer Neigung des Kopfes erkannte er die Gültigkeit der fünfhundert an und bat den Marquis, weiterzuspielen.
In Lavertisses Innern klärte es sich, so wie wenn man einen Vorhang wegzieht und die Sonne einläßt. Natürlich war es denkbar, daß man königliche Ehe, Sequenz und großes Bézigue unmittelbar nacheinander haben konnte. Aber wenn es Schlag auf Schlag nach den eigentümlichen Handbewegungen geschah, die er zu beobachten geglaubt hatte, als der Marquis mischte, dann war das Zusammentreffen allzu eigentümlich, um ein bloßes Zusammentreffen zu sein. Und wenn er nachdachte – – er ging hastig alle Partien in der Erinnerung durch. Bei jeder Partie, die dem Marquis einen größeren Gewinn gebracht hatte, hatte er selbst gemischt.
Was sollte Lavertisse tun? Ein Augenblick des Nachdenkens sagte ihm, wie zwecklos es war, den Marquis jetzt irgendwie zu beschuldigen. Er konnte sich nicht auf ein handgreifliches Faktum stützen. Sollte er warten, bis der Marquis das nächste Mal an der Reihe war zu mischen, dann in der rechten Sekunde eingreifen und ihn entlarven? Auch dieser Plan sagte ihm nicht zu. Es war schwer, einen durchtriebenen Falschspieler auf frischer Tat zu ertappen. Und es konnte ganz einfach geschehen, daß der Marquis sich mit dem niedlichen Gewinst, den er in dieser Partie gemacht hatte, begnügte und die folgenden Partien seinem guten Glück überließ. Und wenn er das nicht tat, und wenn Lavertisse ihn auf frischer Tat ertappte, so war eines bombensicher: Es gab Lärm, Szenen und einen furchtbaren Skandal.
Das Beste wäre, wenn jemand unbemerkt wie die Vorsehung eingreifen und es so einrichten könnte, daß der Junge sein Geld wiederbekäme –
Zu Lavertisses Wissen gehörte eine ziemlich allseitige Kenntnis des Kartenspiels –
Aber Lavertisse hatte sich selbst gelobt, in Zukunft ein in allem bis auf das Geringste unantastbares Leben zu führen –
Nun, wohl, aber konnte man es als etwas anderes erklären, wenn er eingriff! und einen Schwindler hinderte, einen Jungen auszuplündern, einen Jungen, der überdies ein Landsmann von ihm war!
Nein, und abermals nein!
In diesem Augenblick war die achte Partie zu Ende. Pierre-Marie hatte glücklich summa summarum hundertvierzig Points gemacht. Er verlor achthundertsechzig Lire. Er bezahlte sie, ohne mit der Hand zu zittern, aber sichtlich bleich. Der Marquis war willfähriger und milder als ein Bischof, als er mehr durch eine Geste als mit Worten fragte, ob sie weiterspielen sollten.
Pierre-Marie nickte steif.
Lavertisse beugte sich vor.
»Verzeihung!« sagte er. »Vorhin haben Sie mich aufgefordert mitzuspielen. Ich sagte nein –«
Pierre-Marie zuckte zusammen, offenbar von der Unterbrechung unangenehm berührt.
»Und jetzt«, sagte er, »haben Sie Lust bekommen? Sie wollen sehen, ob – –«
Er wollte offenbar sagen: Ob Sie auch von meinem Pech profitieren können. Aber er beherrschte sich und sagte:
»Ob das Glück Ihnen hold ist?«
»Ja,« sagte Lavertisse.
»Von meiner Seite ist kein Hindernis. Und Sie, Herr Marquis?«
Der Marquis, der Lavertisse aus zwei verschleierten Augen beobachtete, winkte leicht mit der Hand.
»In diesem Falle ist es an Ihnen, zu mischen und zu geben,« sagte Pierre-Marie. »Der Einsatz ist Ihnen bekannt? Eine Lira das Point.«
Seine Stimme klang ein wenig unsicher, als er den Betrag nannte.
»Ja,« sagte Lavertisse.
»Und der Spieler, der weder direkt gewinnt noch direkt verliert?« fragte der Marquis plötzlich. »Wie ist es mit dem?«
»Er gewinnt von dem, der am wenigsten Points hat und bezahlt dem, der die meisten hat,« schlug Pierre-Marie vor. »Nicht?«
»Ausgezeichnet,« sagte der Marquis.
Lavertisse mischte die Karten. Er wußte, daß der Marquis jede Bewegung, die er machte, genau verfolgte. Trotzdem führte er das Mischen so durch, wie er wollte, und ohne daß etwas gesagt wurde. Das Spiel begann. Pierre-Marie strahlte. Gleich zu Anfang bekam er königliche Ehe, dann die Sequenz. Plötzlich sah man ihn blaß werden. Mit einer jähen Bewegung legte er dieselben Karten hin, die der Marquis vorhin gehabt hatte, zwei Karobuben und zwei Piquedamen, fünfhundert Points. Nach diesem konnte ihn nichts hindern zu gewinnen.
Sein Gewinn zog sich aber noch ein wenig hinaus. Lavertisse konnte noch hundert Points für vier Aß, achtzig für vier Könige, sechzig für vier Damen markieren, schließlich legte er noch eine Sequenz auf Aß, Zehner, König, Dame, Bub Atout. Die Stirn des Marquis umwölkte sich. Er glich einem erzürnten Penaten. Dann strich er sich über die Stirn, und das Dunkel verschwand wie eine Wolke, die von einem Windstoß vertrieben wird.
Als die Rechnung gemacht wurde, hatte Pierre-Marie über neunhundert Points vom Marquis und kaum fünfhundert von Lavertisse gewonnen. Das Resultat war also, daß Pierre-Marie vierzehnhundert Lire vom Marquis gewann, während Lavertisse weder gewann noch verlor. Pierre-Marie hatte mit einem Schlag zurückgewonnen, was er verloren hatte, und noch ein bißchen darüber.
Lavertisse hoffte, daß er vernünftig sein und aufhören würde. Damit war alles gut; er selbst stand auf plus minus Null und der Marquis hatte seinen unrechtmäßigen Gewinn verloren und eine gelinde Strafe erhalten. Aber Pierre-Marie war voll vom Uebermut der Jugend.
»Wünschen Sie eine Revanche, Herr Marquis?«
»Wenn Sie sie geben wollen.«
Die blutvollen Lippen des Marquis waren halb geöffnet; es konnte kein Zweifel über seine Abstammung sein; mehr denn je glich er einer jener grausamen Kaiserbüsten aus der Zeit der Flavier oder der Spätantike. Pierre-Marie mischte selbst und gab.
Das Spiel gestaltete sich uninteressant; Lavertisse gewann es und fügte seiner Kasse die Bagatelle von hundert Lire hinzu. Das hatte zur Folge, daß er nicht aufhören konnte, wie er beabsichtigt hatte. Und nun war der Marquis an der Reihe, zu mischen und zu geben.
Er tat es mit unnachahmlichen Gesten, rasch und sicher, wie die Bewegungen einer Katze, wenn sie mit einem Ball spielt. Lavertisse durchbohrte ihn mit den Augen, um ihn auf einer verdächtigen Handbewegung zu ertappen. Vergebens. Er sah nichts. Wenn der Marquis falsch spielte, tat er es als ein Meister.
War es der Fall?
Anfangs wußte Lavertisse nicht, was er denken sollte. Pierre-Marie bekam eine Konstellation nach der andern. Selbst hatte der Marquis nur einige kleinere und Lavertisse gar keine. – Plötzlich verstand Lavertisse, was der Marquis getan hatte.
Und was er getan hatte, bewies eine Sache. Der Marquis war nicht nur Virtuose im Mischen eines Kartenspiels, er verstand auch die Kunst, auf Umwegen eine Replik zu sagen. Er hatte auf Lavertisses Mischen geantwortet, indem er selbst in der gleichen Weise mischte.
Pierre-Marie sollte gewinnen; Lavertisse sollte den Verlust übernehmen, und er selbst würde dieselbe unschuldige Rolle spielen, wie Lavertisse vorhin. Die Mittelsperson, die weder gewinnt noch verliert. Hörte Lavertisse auf, dann war es ihm ein leichtes, später das Ganze von Pierre-Marie zurückzugewinnen. Und spielte Lavertisse weiter, konnte er das nächste Mal die Replik verschärfen. – – Lavertisse konnte sich einer gewissen Bewegung nicht erwehren. Und dem Marquis wäre sein Vorhaben über Erwarten geglückt, wenn nicht eine Sache dazwischengekommen wäre: Pierre-Marie, eifrig, wie man es mit zwanzig Jahren ist, ließ plötzlich den ganzen Talon auf den Boden fallen.
Pierre-Marie fluchte laut, der Marquis hätte einem Nero Modell sitzen können, der den Sklaven dem Löwen entgehen sieht. Lavertisse stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Er wollte es sich gesagt sein lassen und aufhören. Aber das war leichter gesagt als getan. Pierre-Marie rief hitzig:
»Sie hören auf, Monsieur? Sie geben keine Revanche? Das will ich nicht glauben. Der Nächste gibt. Sie sind an der Reihe.«
Was war da zu tun? Er mußte noch ein Spiel spielen und dafür sorgen, daß niemand zu viel gewann. Dann konnte er versuchen, den Jungen zu verhindern, weiterzuspielen.
»Gut,« sagte er. »Noch ein Spiel, aber dann halte ich mich für berechtigt, mich zurückzuziehen. Ich bin schläfrig.«
Er begann zu mischen. Pierre-Marie betrachtete ihn entrüstet und überlegen. Die Augen des Marquis waren unter den Lidern kaum zu sehen, aber Lavertisse spürte nichtsdestoweniger seine Blicke bis in die Fingerspitzen. Er mischte, so rasch und vorsichtig er konnte. Und plötzlich ereignete sich etwas.
Pierre-Marie hatte kupiert, und Lavertisse wollte gerade geben, als ein kurzer Ruf ihn zurückhielt. Er kam von Pierre-Marie – nicht vom Marquis.
»Wollen Sie nicht so freundlich sein und noch einmal mischen!«
»Was meinen Sie?«
»Wollen Sie die Freundlichkeit haben, noch einmal zu mischen!«
»Warum sollte ich noch einmal mischen?«
»Weil ich glaube, daß die Karten nicht genügend gemischt sind.«
Lavertisse wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte.
»Ich habe gemischt,« sagte er. »Sie haben selbst abgehoben. Wie wollen Sie, daß ich Ihre Worte auffasse?«
»In der Weise,« sagte Pierre-Marie, »daß ich glaube, daß die Karten es nötig haben, noch gemischt zu werden.«
»Welchen Anlaß haben Sie zu einer solchen eigentümlichen Vermutung?«
Pierre-Marie zögerte einen Augenblick.
»Als ich kupierte –«
»Nun, also, als Sie kupierten?«
»Als ich kupierte, glaubte ich zu sehen, daß Sie die Karten so zurücklegten, wie sie lagen, bevor ich kupierte.«
Lavertisse fluchte innerlich. Armer minderjähriger Narr! Ich habe dir dein Geld wieder in deine Tasche gezaubert, obwohl ich es in meine eigene hätte legen können; ich versuchte zu verhindern, daß du noch mehr verlierst, und nun überfällst du mich, deinen einzigen Freund, und beschuldigst mich des Falschspiels.
Laut sagte er, langsam, wie man zu einem Kinde spricht:
»Ich mache Sie aufmerksam, Monsieur le Hainaut, daß man solche Behauptungen nicht aufstellt, wenn man nicht vollkommen sicher ist, daß sie richtig sind.«
»Ich bin – beinahe sicher.«
»Ihre Jugend läßt mich Ihr ›beinahe‹ als eine Entschuldigung auffassen.«
Pierre-Marie brauste auf, wie eine Champagnerflasche, die man vom Stahldraht befreit.
»Monsieur, zuerst weigerten Sie sich mitzuspielen. Als Sie sahen, daß es mir schlecht ging, taten Sie plötzlich mit. Als es mir gut zu gehen anfing, überraschte ich Sie dabei –«
Jetzt erhob sich Lavertisse.
»Wobei?«
Pierre-Marie wurde unsicher.
»Ich habe gute Augen; mich wird beim Kartenspielen niemand rupfen, ohne daß ich merke, ob es nicht mit rechten Dingen zugeht und –«
»Und?«
»Und ich glaubte bestimmt zu sehen, daß Sie – –«
Seine Stimme war zugleich verlegen und erregt. Die Nonnen in der Ecke beteten, so daß der Rosenkranz rasselte; mit blinden Augen sahen sie alles. Der Marquis hob seine weiße ringgeschmückte Hand. Seine Augen funkelten um die Wette mit dem Brillanten an seinem kleinen Finger.
»Meine Herren,« sagte er, »diese Debatte ist detestabilissima, unendlich peinlich. Sie darf nicht fortgesetzt werden. Ich habe ebenso gute Augen wie Sie, Monsieur le Hainaut. Ich habe Monsieur Lavertisse beobachtet, als er mischte und abhob. Ich versichere Ihnen« – seine Augen glitten samtweich über Lavertisse – »ich versichere Ihnen, Monsieur le Hainaut, daß Sie sich irren. Monsieur mischte und kupierte genau – genau, wie ich es selbst getan hätte.«
Er machte eine kurze Pause.
»Monsieur le Hainaut, Sie müssen Monsieur Lavertisse um Entschuldigung bitten. Ich sage das, ich, der ich Ihr Vater sein könnte. Ich sage das, ich, der ich italienischer Edelmann bin, der ich an drei Kriegen teilgenommen habe. Strecken Sie Ihre Hand aus und sagen Sie: Ich habe einen Irrtum begangen; ich bitte Sie um Entschuldigung, mein Herr, und ich bin vollkommen bereit, mit den Karten zu spielen, so wie sie da liegen.«
Pierre-Marie, der sein Auftreten schon bereut hatte, hätte sich keine bessere Lösung der Angelegenheit wünschen können. Er streckte eifrig die Hand aus.
»Der Marquis hat recht! Ich bitte Sie um Entschuldigung, Monsieur. Seien Sie so gut und geben Sie!«
Lavertisse nahm seine Hand. Was hätte er auch sonst tun sollen? Tat er es nicht, müßte er sich mit dem Jungen duellieren. Der Marquis wendete sich ihm zu:
»Monsieur le Hainaut hat einen unerhörten Verdacht gegen Sie ausgesprochen. Jetzt, nachdem Monsieur le Hainaut seine Pflicht getan und Sie um Entschuldigung gebeten hat, erübrigt eine Pflicht für Sie.«
»Und die wäre?«
»Mindestens drei Spiele zu spielen, um zu zeigen, daß Sie ebensowenig irgendeinen von uns verdächtigen, als wir Sie verdächtigen. Dann beenden wir das Spiel.«
Lavertisse sah den Politiker und Familienvater mit einem Blick an, der beredter war als viele Worte. Noch drei Spiele – das bedeutete, daß der Marquis die Karten als letzter in die Hand bekam. Die Karten, wie sie jetzt lagen, brachten niemandem einen Gewinn. Wenn Pierre-Marie sie zu einer neuen Partie gemischt hatte, würden sie vermutlich etwas Aehnliches ergeben. Aber wenn der Marquis sie zu einem letzten Spiel gemischt hatte – – doch, was ließ sich da tun? Sagte er nein, so machte er sich verdächtig. Nicht umsonst war Machiavelli Italiener. Der Marquis hatte ihm keine Wahl gelassen; das war die Folge, wenn man junge Grünschnäbel, die vielleicht Ministergehalte als Taschengeld hatten, davor retten wollte, im Spiel zu verlieren. Das war die Folge davon, mit Gesetzgebern zu verkehren und sich in den höheren Gesellschaftskreisen zu bewegen.
Er gab. Pierre-Marie nahm die Karten mit einer Miene in Empfang, chevaleresker als die Bayards. Das Spiel verlief so, wie Lavertisse es vorausgesehen hatte. Pierre-Marie gewann dreißig Lire vom Marquis und Lavertisse zwanzig. Dann gab Pierre-Marie. Lavertisse gewann die Partie und sechzig Lire.
Und nun war es an dem Marquis, zu geben.
Das Licht der Lampen der italienischen Staatsbahnen ist nicht blendend. Lavertisse spannte die Augen an, spannte sie an, bis sie schmerzten, um den Marquis auf einer einzigen verdächtigen Bewegung zu ertappen. Nichts, nichts war zu sehen. Der Marquis mischte mit halbgeschlossenen Augen; es war, als wären seine Gedanken weit, weit weg. Pierre-Marie kupierte. Das Spiel begann. Pique war Atout. Sofort legte der Marquis königliche Ehe auf. Dann präsentierte er vier Damen; dann vier Könige; dann vier Aß. Er legte die Sequenz auf, ohne auch nur mit einem Blick um Entschuldigung zu bitten. Schließlich deckte er gleichsam geistesabwesend das große Bézigue auf und gewann die Partie, bevor noch einer seiner Partner zweihundert Points gemacht hatte.
Er hatte achthundertachtzig Lire bei Lavertisse zugute und ungefähr ebensoviel bei Pierre-Marie.
Lavertisse mußte alle seine Taschen durchsuchen, bis er genug fand, um zu bezahlen. Der Marquis nahm sein Geld, ohne ein Wort zu sagen. Sein Gesicht war regungslos wie eine Maske. Mehr denn je glich er einem Domitianus oder Commodus, der sich gerächt hat.
Lavertisse stand auf und ging in den Korridor hinaus. Er wollte nicht im selben Coupé mit diesem Ungeheuer sein. In der einen Hosentasche hatte er noch zwei Lire. Gestern saß er auf dem Kasinoplatz in Monte Carlo mit einem Franken in derselben Tasche. Im Hinblick auf die Kursdifferenz war das kein erheblicher Fortschritt zu nennen.
Kinder und Säuglinge retten! Mit Gesetzgebern verkehren! Ich danke. Der Mann dort drinnen führte einen Feldzug gegen die Wohnungsnot. Eines war sicher, es sollte für wenigstens eine Person mehr in Italien Freiquartier geben, als es jetzt gab.
Wenn nun der Brief in Monte Carlo ein Bluff war und Signor Carlo Carletti Piazza di Spagna sich weigerte, Lavertisse über den Verlust der siebenhundert Lire zu trösten? Dann sah es heiter aus. Er blieb im Korridor stehen; er wollte nicht hineingehen. Der Marquis schlief dort drinnen, die Arme majestätisch über dem Bart gekreuzt. Monstre! Infâme! Und alles war eine Folge dessen, daß er wieder einmal in der besten Absicht die Grenzen der Ehrlichkeit überschritten hatte. Es sollte aber das letzte Mal sein.
Gegen drei Uhr flog Pisa vorbei. Sein berühmter Turm zeichnete sich gegen den Herbstmond ab, wie in Trauer über Lavertisses Erlebnis geneigt. Lavertisse schlummerte halb stehend, wie ein Watvogel. Einmal mußte er Platz machen. Ein rothaariger Herr in englischem Anzug kam durch den Korridor. Er fixierte Lavertisse neugierig durch zwei blaue Augengläser.
Als der Zug im Bahnhof Rom hielt, war Lavertisse der erste, der ihn verließ.