Wilhelm Heinse
Ardinghello und die glückseligen Inseln
Wilhelm Heinse

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Die Sonne hatte sich geneigt, und wir stiegen vom Gewölbe der Rotunda wieder hinab.

Ich beschloß auf der Treppe:

»Jeder versteht sich selbst am besten; und so mag auch Aristoteles am besten verstanden haben, was Wahres und Erträumtes in seiner gestirnten Nacht von Worten liegt. Über Wesen, dessen Begierde und Scheu, Ruhe und Bewegung und Entstehen des Einzelnen werden wir uns noch lange vergebens die Köpfe zerbrechen und die erhabensten Männer Schwachheiten vorbringen. Wenn alles in der Welt so begreiflich wäre, wie wir verlangen, so würden wir nicht halb so glücklich leben und vor Langerweile über aller der Klarheit und Deutlichkeit vergehen. Es müssen Wunderdinge für uns sein! Wir müssen Rätsel haben, wie die Kinder, um das, was in uns denkt, damit zu beschäftigen.«

Wir traten wieder in das Pantheon. Und um diese Zeit muß man es sehen, wann die stille Dämmerung sich einsenkt! Da fühlt man unaussprechlich die Schönheit des Ganzen; die Masse wird noch einfacher für das Auge und erquickt es lieblich und heilig. Dann ist es so recht der weite hohe schönheitsvolle Zauberkreis, worin man von dem Erdgetümmel in die blauen heitern Lüfte oben wegverzückt wird, und schwebt, und in dem unermeßlichen Umfange des Himmels atmet, befreit von allen Banden.

Wir setzten uns in den süßesten Punkt und genossen.

Nach langer Stille umschlang mich Demetri zärtlich und sagte einige Worte über die ehemalige Minerva des Phidias (Tochter aus dem Haupte des Zeus, Verstand aus dem Wesen) und die griechische Venus hier (Lust der Sinnen, Wonne des Daseins) – und fuhr gerührt dann weiter fort:

»Gott ist entweder die ganze Natur oder ein Teil der Natur, oder die Natur besteht für sich aus ewiger notwendiger Bindung und Lösung verschiedner Wesen, und es ist kein Gott, sondern lauter Schicksal.

Daß Gott die ganze Natur selbst sei, ist der älteste Glaube.

Daß er ein Teil der Natur sei, der jüngere; das edelste beste Leben darin, wie Aristoteles sagt; ein Wesen, das sich von selbst in sich, seinen Einheiten, wenn ich mich so ausdrücken darf, immerfort bewegt, ganz aus Tätigkeit besteht. Dessen Charakter gerad es ist, nie gebunden zu werden, es sei von was es wolle; das lieber das Böse freiwillig täte als das Gute gezwungen, wenn es ein Böses für dasselbe geben könnte. Das vermöge dieses Charakters alles andre löst, was sich seiner minder regsamen Natur nach bindet; kurz, eine unendliche Unruhe in der unendlichen Uhr der Zeit.

Anaxagoras führte zuerst diesen Glauben ein, Plato verschönerte ihn mit Dichtungen, Aristoteles plagt sich, denselben in ein vernünftig System zu bringen, scheint aber mit sich selbst darüber noch nicht einig.

Verstand dünkt ihm das Göttlichste unter allem, was wir kennen; und dies zwar wegen des Denkens, welches keine zufällige Eigenschaft, sondern immer rege Wirksamkeit, selbständig Leben sei, indem es dem Verstande sonst beschwerlich werden müsse.

Wenn aber der Verstand das Göttlichste und selbständige Wirksamkeit sein solle, so könn er, dünkt ihm ferner, nichts anders als sich selbst denken; denn er würde, wenn er etwas anders dächte, zu einer bloß zufälligen Eigenschaft, und könnte denken und nicht denken, außer dem, daß er sich erniedrigte.

Ich sehe nicht ein, was uns ein solcher Gott hilft, auf was für Art er alles bewegt, wie er sich den Geschöpfen mitteilt. Und was ist dann Materie, was sind Elemente? Wo kommen sie her? und wie sind sie mit ihm in Zusammenhang, Ordnung und Schönheit? Wenn die Natur selbst lebt und wirkt und ihre notwendige Art zu sein hat und alles Einzelne aus sich hervorgeht und sich selbst forthilft: wozu brauch ich einen Gott? und welch ein Greuel, im andern Fall, das höchste Lebendige, das sich mit dem Tode gattet? Lauter Lücken und Mängel, die nach seinem System nicht auszufüllen sind und wobei wir wieder von vorn anfangen müssen.

Hypothesen? und Hypothesen? Aber es kömmt darauf an, welche die denkbarste und vernünftigste ist! Einer, der keine Lust hat, auch für sich zu glauben, was man will, oder blinde Fenster der bloßen Ordnung wegen an einem Gebäude verträgt, wo gerade das beste Licht hereinbrechen und die schönste Aussicht sein sollte, kann nicht eher Ruhe finden.«

Ardinghello (für sich). Die Müdigkeit wird's ihn schon endlich lehren!

Demetri. Daß alles ewig ist, in sich sein wird, was es war, müssen wir wohl ohne fernern Grund annehmen, denn es ist die Grenze des Nichts.

Wie es aber verschieden ist? sich bindet und scheidet? Was alles will und nicht will? Darüber hat mir das System noch keines Philosophen Genüge geleistet.

Ruhe und Bewegung! Wer davon die eigentlichen Ursachen entdeckte, würde den Kapitalschlüssel zum Palaste der Wahrheit und ihrem innersten Kabinette finden.

Bewegung ist Streben nach Genuß oder Flucht vor Leiden. Genuß ist Berührung. Ruhe deren möglichste Fülle und Werden eines neuen Ganzen, das wieder nach Berührung trachtet. So fühlt sich das Wesen und taumelt von Zone zu Zone, durch alle Himmel des Weltalls.

Nehmen wir die einfachste Substanz von Leben, die Einheit von irgendeinem Element an und denken sie uns allein und abgesondert weit außer der Welt in den leeren Raum hin.

Vorstellen kann sie sich nichts, weil sie nichts um sich hat. Innerliches Leben, Verstand in Ausübung, Gedächtnis, Einbildung findet nicht statt, weil sie ganz ohne Teile ist und sich nicht regen kann; ein Etwas wie das Nichts und der letzte Begriff von Tod; ein Punkt von Selbstbewußtsein mag in ihr stecken.

Nun gesellen wir dieser Substanz eine andre zu:

Erster Ursprung von Gefühl.

Nehmen wir nach dem Demokrit in beiden Urform an und denken sie uns zum Exempel vollkommen rund.

Und sie werden nicht satt werden, sich umeinander zu bewegen und sich zu berühren.

Platt oder eckicht:

Und sie werden aneinander festhangen, weil sie nicht herum können.

Eckicht und rund beisammen:

Vermischte Empfindung, Freude und Leid.

Denken wir nun das Weltall als himmelunendliche Menge solcher Substanzen mit ewigem Streben nach neuem Genuß, an Stoff und Feinheit und Form zentillionenfach verschieden und ähnlich und gleich, und daraus notwendigerweise von selbst die beste Ordnung zur allervollkommensten und mannigfaltigsten Berührung, und wir werden, glaub ich, uns der Erklärung des Rätsels nähern und einigermaßen obenhin begreifen lernen, warum die Gestirne in Flammen sich wälzen, die Winde rasen, die Meere toben, die Erden fest halten und daß der Strahl in einen Pulverturm glücklicher sein kann als Herkules bei allen seinen Liebeshändeln.

Man könnte auf diese Weise aber wohl doch noch die sonderbare Meinung des Xenophanes und seiner Schüler Parmenides und Melissos erklären, daß Eins Alles und Alles Eins sei. Nämlich, aller Grundstoff ist sich gleich, nur die Form seines unendlichen Wesens verschieden.

Des Exempels wegen; denn was wissen wir Bestimmtes hierüber mit unsern groben Sinnen? In den Sonnen rund, in der Luft rund und halbrund, im Meere platt und eckicht, in der Erde platt. Und Platt käme unserm Gefühle kalt und trocken vor, und Rund in heftiger Bewegung heiß und trocken, und so weiter. Das Platte werde wieder platt und eckicht, Erde Meer. Wasser durch Ausdünstung zu Wolken und Regen. Und das Runde und Halbrunde endlich ganz rund, wie auf unsrer Erde im großen sich Berg und Tal und Ebne umändert. Das Runde übrigens herrsche wegen seiner leichten Bewegung. Und so mache sich das Wesen in möglichster Lust die Ewigkeit zu kurzer Zeit.

Gewiß bleibt's allemal, daß Verschiedenheit und Änderung, die unsre Sinnen am Wirklichen empfinden und wir Qualität, Organismos nennen, bloß in innrer Form besteht und daß man ohne Form alles nur einerlei, ein Wesen denken muß.

Alle Form ist ferner Wirkung und kann sein und nicht sein; das Wesen allein ist notwendig und ewig.

Wie dies Eins aus seiner Formlosigkeit zu Form gekommen wäre und sich in unendliche Gestalten verwandelt? Wie gesagt, durch Streben nach Genuß, um lebendig zu sein, aus Ekel vor Tod, an sonst unendlicher Langerweile; durch Bewegung, Ausdehnung und Anziehung, bis ins Innerste uns freilich unbegreiflich, die wir jedoch durch die ganze Natur wahrnehmen und Forscher bis auf den Embryon verfolgen, wo sie Sinn und Erfahrung verläßt. Wenn wir Anfang von Zeit annehmen wollen, so ginge sie hier aus der Ewigkeit hervor, und es hätte seine Richtigkeit: Gott schuf die Welt aus Nichts.

Das Problem wäre aufgelöst, wie die Welt Eins sei und doch verschieden, und Ruhe und Bewegung in ihren ersten Lagerstätten gefunden.

Also sinnlich und jedermann faßlich gesprochen!

Im Anfange war Alles Eins, das Wesen so zart zerflossen, fein und dünn wie der Raum schier.

Und es regte sich; da ward Form.

Aus der unvollkommnen ging die vollkommnere hervor; und so entstanden die Elemente: Wasser, Luft, Erde, Feuer; Pflanzen, Tiere und Mineralien.

Alles wechselt miteinander ab und geht wieder in das Eins zurück. Vater Äther, aller Lebengeber!

Und so wird und vergeht ewig alles, was ist.

Das Holz zum Exempel brennt und wird Feuer, Rauch und Erde. Feuer und Rauch wird Luft, und Luft wird Wasser; und jedes kehrt wieder zurück, wo es herkam. Erde, Wasser, Luft und Feuer wird Pflanze, Pflanze Tier, Tier und Pflanze das Herz einer Victoria Colonna, der Kopf eines Machiavell. Form und Wesen, und Wesen und Form! das sind die zwei Pole des Weltalls, um welche sich alles herumdreht.

Die bildende Kraft liegt in dem Wesen und ist ein Streben nach Genuß.

Es bleibt wahr, was den Alten ohne Sinn so oft ist nachgesagt worden: Gott der größte Geometer.

Wenn Wesen an Wesen sich fühlt, entsteht das reinste Bewußtsein.

Wenn es sich zu den ersten Formen bildet, entsteht das abgezogenste Denken. Das Wesen berührt sich und wird verständig, indem es Verständliches zu sich nimmt; und kann nichts anders als sich selbst denken, wie Aristoteles tiefsinnig sagt. Denken überhaupt ist Verwandlung des Wesens in Formen; und Wesen muß alles selbst werden, was es denkt.

Wenn Wesen sich zu Idealen formt, entsteht Phantasie.

Wenn es die Ideale in sich und die Formen außer sich befestigt, Gedächtnis. Sonnen und Planeten und Kometen sind nichts anders in der großen Welt: Formen in Bewegung, Denkmale von Leben.

Alle Gefühle, alle Arten von Leidenschaften, Schmerzen und Vergnügen sind nur verschiedne Formen in dem Wesen.

Ohne diesen fruchtbarsten aller Grundsätze von reinem Wesen und Form, ohne Kontinuum, das alle mögliche Formen wird, scheint die ganze Welt, aller Zusammenhang, Erhalten, Wachsen, Zeugen, Vergehen, der Mensch, sein Denken und Empfinden, sein Dichten und Trachten, kurz, alle Art Verwandlung völlig unerklärlich.

Die Vollkommenheit des Weltalls besteht in allen möglichen Arten von Formen.

Alle Geschöpfe sind bloß Gedanken Gottes und des höchsten Vergnügens in ihrem Maße fähig.

Gott dachte: »Es werde Licht!« und es ward Licht.

Daß Gott demnach als Griechen gegen sich, die Trojaner, streitet; als Paris sich, die schöne Helena, verführt; Stier, und Hund und Zwiefel, und das Verächtlichste, nach unsern Begriffen, wird, sich selbst ißt und verdaut, darf uns wenig kümmern; denn dieses folgt wohl aus den meisten eingeführten Systemen. Die alten Ägyptier verehrten vielleicht Gott erhabner, als der heutigen Menschen Verstand reicht; und wir sind gegen sie, was unsre Häuslein gegen ihre Obelisken und Pyramiden. Gott ist unendlich Eins, und in jedem Punkt Eins, und Eins in jedem angenommnen Maße, das dann Verhältnis in Bewegung und Verbindung nach seiner Realität und Form zueinander hat.

Wie er unendlich wirkt und ist, allgegenwärtig, erhaltend und über seine Schöpfung erhaben, was weiß der Mensch! das geht nicht in uns, wie er ein Ganzes sei nichts außer ihm; solche Gewalt und Schönheit ist der verschwindenden Kleinheit allzu unermeßlich. Wir erliegen und können nur anbeten, bewundern und erstaunen.

Aber den Grund und die Wahrheit von allem andern Lebendigen haben wir in uns, wovon die Sinnen nur die Oberflächen oder einzelne Äußerungen empfinden; oder das Wesen hat die Regeln von allem in sich, wie es Verschiednes wird und ist.

Wesen, als das erste, ohne Form, und Form in Bewegung, gedacht, ist weder Verstand noch Körper; beide können nicht ohne Form bestehen, handeln nicht, sondern sind Handlung, Wesen in Form, und Wesen an und für sich in beiden gleich. Jedes kann die Folge von dem andern in dem Wesen sein, wie ein Gedanke von dem andern; denn beides, Gedanke und Körper, samt dessen Bewegung ist von demselben Wesen Tat. Wesen vollendet ein zusammengesetztes Ganzes in Folgen von Handlungen, eine Salaminische Schlacht, einen Olympischen Jupiter, wie Geschöpfe. Sein Bewußtsein, das auf einmal alle Folgen faßt, gibt die Einheit.

Daß Gott unendlichen Verstand habe und unendliche Welten ausmache, scheint ein Widerspruch; denn alle Form ist Schranke. Gewiß dünkt mir schon, daß ich, und so jeder andre Mensch, und jedes andre lebendige Geschöpf nicht immer lauter Wesen in Form sei. Die Freiheit, etwas anzufangen, Ursache von einer Wirkung zu sein und nicht zu sein, sich von der Stelle zu bewegen oder nicht zu bewegen, Form anzunehmen und nicht anzunehmen, welche nicht kann geleugnet werden, wenn nicht alles von einem grundlosen Schicksale gepeitscht handeln soll, erfordert ein reines Wesen ohne Form, einen Mittelpunkt der Sammlung.

Und dies ist das Heilige (welches einige Alten für Feuer, Ursprung der Lebenswärme hielten, weil Feuer wäre: Wesen in seine größte Freiheit verbreitet), wovon alles in jedem lebendigen Eins ausgeht, sinnlich wird und erscheint und in dessen Liebesschoß sich alles wieder einsenkt; vor dessen Sein und wunderbarer Allmacht, Despotismus und allertiefstem Gehorsam jede Philosophie verstummt, nur erkennt: es ist, und ihm seine Art zu handeln ablauert.

Manches in der erhabnen Beschreibung des Aristoteles von Gott scheint hierauf zu passen.

Dies ist das unbegreiflich Göttliche, was in allem lebendigen Einzeln verdaut und Körper wieder zu reinem Wesen auflöst, sich selbst und dieses wieder nach Form seines gegenwärtigen Eins verwandelt, neue derselben Art erzeugt und auf deren immer größere Vollkommenheit und mehrere Freuden denkt.

Wenn Eins Alles ist, so ist jede Form desselben ursprünglich freie Handlung; denn es läßt sich kein Grund denken als seine Lust, warum es aus sich so mancherlei wird. Und Allgenuß seiner Kraft ist die höchste Freiheit.


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