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Fünfter Teil

Das Jahr 1914 war zur besten Hälfte durchlebt. Martin Füeßli, »das Silberkind«, jetzt junger Student, hübsch, elastisch, kam im Tennisanzug, mit dem Schläger in der Hand, im Schmuck seiner braunen Locken barhaupt, wie es die Jünglingsmode des Jahres heischte, aus seiner »Bude« am Metzergießen zu Straßburg. Er ging auf der Sonnenseite. Absichtlich. Ihm war es ein Genuß, sich von der Julihitze dieses Spätnachmittages durchbrennen zu lassen, so stark, daß er die Sonne zuletzt wie ein fließendes Feuer in seinen Adern fühlte, ein glühender Strom, der tanzen macht. Die ganze Ungeduld einer Generation war in ihm, die, kurz vor der verheißungsvollen Jahrhundertwende geboren, sich nun, erwachsen, in die Ereignislosigkeit versetzt fand. Bei Martin Füeßli, dem Spätling seiner Familie, kam noch anderes hinzu. Ihm steckten die Erregungen der Kriegszeit noch lebendiger im Blute als seinen Altersgenossen, Sprößlingen von Leuten, die »l'année terrible« nicht oder höchstens als Kinder mit erlebten, die längst Beruhigte, Resignierte oder gar Zufriedene geworden waren. Viele dieser jungen Leute freilich ließen sich, wenn sie nach Straßburg kamen, um da zu studieren, in den Cercle Alsacien aufnehmen, sie spazierten auch getreulich jedes Semester einmal um das Kleber-Denkmal herum, und sangen herausfordernd die Marseillaise, sie schnitten Gesichter, wenn Offiziere in das Kaffee eintraten, in dem sie saßen; sie belustigten sich damit, jedesmal, wenn sie eine Briefmarke aufklebten, verächtlich auf den preußischen Adler zu tippen und zu singen: »Mir wolle d'r deutsch Ganser net! übers Bachle mit denne Hergeloffene.«

Bei den meisten aber bedeutete das nicht mehr als jeder andere studentische Ulk. Und es geschah viel weniger aus Liebe zu Frankreich, das sie nicht kannten, und mit dem sie prahlten, wie arme Verwandte mit einem reichen Onkel prahlen, der nichts für sie tut –, es geschah allein in der Hoffnung, einmal ein kleines Skandälchen, vielleicht sogar eine Sensation zu erleben. Und ihre kleinen politischen Demonstrationen vertrugen sich ebenso gut mit dem Streben nach einem einträglichen Philisterposten im Ländle oder im Reich wie mit einem ausgiebigen Lebensgenuß im Rahmen der reichsländischen Verhältnisse. Daneben trieb diese allzu ausgeruhte Jugend systematisch ihren Sport, machte Wettläufe, Turnfeste und Ruderfahrten und übte jede Art von wissenschaftlich geregelter Leibesübung.

Dem jungen Martin Füeßli genügten alle diese studentischen Zeitvertreibe nicht. Auch er gehörte, in einer gewissen Reaktion gegen seine deutschfreundliche Schulbubenvergangenheit, dem Cercle Alsacien an. Auch er sang mit am Kleber-Denkmal. Aber mitten zwischen diesen patriotischen Spielereien kam ihn manchmal ein Zittern der Tatkraft an, ähnlich dem wartenden Rennpferde vor dem Lauf. Eine Tatkraft, die noch ihr Ziel nicht kennt, kaum weiß, kaum sucht, die nur gierig umherwittert. Namentlich seitdem er in Straßburg war, schien ihm die Luft wie mit Ereignis geladen.

Wirklich fiel auch seine Ankunft dort in eine erregte Zeit hinein. In der kleinen unterelsässischen Stadt Zabern, unweit Straßburg, war die Bürgerschaft durch den Übermut eines jungen Leutnants beleidigt worden. Und diesmal waren es nicht die Elsässer allein, die sich entrüsteten, auch unter den Altdeutschen machte sich Widerspruch laut. Die Schlagworte »Militärherrschaft«, »junkerliche Anmaßung« flogen umher. Man warf der Regierung vor, parteiisch für die Armee zu sein, verlangte deutlichere Bestrafung des jungen Offiziers, der den Mißgriff getan. Ihnen gegenüber standen dann die Regierungsfreundlichen, deren Fühlen sich in ein paar Substantiven wie »Armee, Disziplin, Unterordnung« befriedigte. Auch ihnen wurde das Ereignis zum Anlaß, ihre gewohnte Tradition lebendiger und bis zu wirklicher Erhebung umzugestalten. Mit Eifer verfolgten sie den unlängst vom Kaiser bei einem Frühstück in Straßburg geäußerten Gedanken, das Elsaß in eine preußische Provinz zu verwandeln. Sie trugen dadurch ihrerseits dazu bei, das Sonderbewußtsein der Elsässer bis zur Wut zu schärfen und sie in die heißeste Opposition hineinzudrängen.

Auf dem Broglieplatz, wo die Stühle des nebeneinanderliegenden deutschen und französischen Kaffeehauses sich fast berührten, wurde leidenschaftlich diskutiert. Hier französisch, dort deutsch. Martin Füeßli, sonst meist zuschaulich und langsam das Gehörte nachprüfend, tat plötzlich den jungen roten Mund auf und redete Dinge, über die er bisher nie eine Meinung gehabt hatte. Irgendein Stoß trieb ihn vorwärts, daß er sagen mußte:

»Was die da drüben und die im Lande, und auch die drüben überm Rhein jetzt reden, das ist zu uns hin gesagt, zu uns Jungen. Darum müssen wir unsere Ohren auftun und hören, ob da irgend etwas ist, das uns wirklich angeht.

Da hören wir von der einen Seite nichts als Verordnungen und Befehle auf uns zuschreien, von der anderen flüstert man Schmeicheleien und Versprechungen für uns. Einen wirklichen Ruf aber, der zu unseren Herzen spricht, den haben wir noch nicht gehört. Nicht wahr? Darum stehen wir noch und warten. Wir haben keinen culte du passé getrieben, wir Jungen, und keine Zukunftsmusik. Wir haben gewartet darauf, daß man uns ruft, so ruft, daß wir kommen müssen. Von welcher Seite es auch sei. Wir warten.«

Dann ist der Wirt gekommen und hat gebeten, man möge vorsichtig sein, und Martin Füeßli ist sich einen Augenblick wie ein Held vorgekommen. Die anderen haben sich halb herausfordernd, halb ängstlich umgesehen. Als aber, wie gewöhnlich, nichts geschah, ist man ernüchtert voneinander gegangen ...

Und nun spaziert Martin Füeßli da mit dem Tennisschläger an der alten Rabenbrücke umher, unentschieden, ob er rechts gehen soll, den Schiffsleutstaden entlang und durch das deutsche Universitätsviertel mit seinen breiten, regelmäßigen Straßen, die Martin nicht liebt, nach der Rupprechtsauer Allee bummeln, bis zu seinem Tennisplatz in der Orangerie, oder ob er nicht vorher schnell einmal nach dem Thomasplatz hinüberspringen soll zu seinen Verwandten, den Blancs, und versuchen, Kusine Jeannette mitzukriegen zum Spielen.

Einen Augenblick sieht er unentschlossen den Weibern zu, die, sich weit über den Rand der längs der Ill festgeankerten Waschkähne hinüberbeugend, ihre Wäsche am Kanalrande reiben und spülen. Heißer seifiger Brodem mischt sich mit dem goldbraunen Wasser, das im Sonnenlichte Blasen zu werfen scheint. Sie wird ja nicht mitkommen, die Mutter erlaubt es nicht. Aber schon ist er nach links eingeschwenkt und marschiert nun eilig an all den traulich engbrüstigen Giebelhäusern des Stadens mit ihren grünen Holzjalousien vorbei, blickt gewohnheitsmäßig erfreut über den Fluß hinüber zum Münster, das sich heiter und ziervoll gegen den blauen Himmel abhebt, und überschreitet dann die Thomasbrücke.

Er wandte sich rechts zum alten Thomasstift, hinter dem der ehrwürdig-plumpe Turm der Thomaskirche hervorschaute. Orgeltöne kamen herüber, vereinzelte Akkorde, dann Kadenzen, die sich zu einem kunstvoll umschnörkelten Bachchoral zusammenschlossen. Das spielte Albert Blanc, der Vater von Jeannette, der Sohn des alten Pfarrers Eusèbe Blanc. Und wahrscheinlich standen wieder ein paar seiner jungen Schülerinnen und Anbeterinnen neben ihm auf der Orgel. Albert Blanc war der vergötterte Prediger der protestantischen Frauenwelt in Straßburg. Dabei ein talentvoller Musiker, überdies umkleidete es ihn mit einer Art mystischen Gloriole, daß er als blutjunger Mensch als Missionar nach Französisch-Afrika gegangen war. Man fand das sowohl mutig wie poetisch. In Wahrheit hatte ihm diesen Entschluß die Vernunft diktiert. Er gewann auf solche Weise in Kirchenkreisen Protektion und konnte abwarten, zu wessen Gunsten die Verhältnisse daheim sich entscheiden würden. Sein Vater Eusèbe Blanc lebte inzwischen im Exil in der Schweiz, von der französischen Partei der Spionage für Deutschland beschuldigt, wie alle protestantischen Pfarrer damals im Elsaß. Albert kehrte zurück, als die Straßburger Universität seinen Vater zum Lektor der französischen Sprache berief. Jetzt trieb er hier Vermittlerethik zwischen deutscher und französischer Kultur. Sein Buch über Kirchenmusik, in französischer Sprache verfaßt, schrieb er rasch ins Deutsche um. Hin und wieder fuhr er nach Paris, um im dortigen Bach-Verein Orgel zu spielen. Seine Frau war, gerade wie seine Mutter es gewesen, eine kleinbürgerliche Straßburgerin. Dem jungen Martin schien der deutlich betonte Idealismus dieses Mannes, der so praktisch handelte und nirgend anstieß, ein wenig komisch. Recht klar aber hatte er sich das alles noch nicht gemacht. Er dachte mehr in das hinaus, was kommen würde, als über das Gewordene, das fertig vor ihm stand. Und er hätte sich manchmal gern Scheuklappen angelegt, nur um ungestörter vorwärts stürmen zu können. So lief er denn auch jetzt, ohne sich weiter umzusehen, in dem ehrwürdigen, mit Altertümern vollgepfropften Stiftshause wie ein Sturmwind die breite, ausgetretene Treppe hinauf. Oben im Besuchszimmer schien großes Putzfest zu sein. Martin erwischte noch rasch den Anblick seiner Kusine Jeannette, die ein Staubtuch über dem Haar, mit einem kleinen Schrei davonflog. Seine Tante, gleichfalls den Kopf verhüllt, eine große weiße Ärmelschürze über dem Kleide, hielt einen langen Besen in der Hand und starrte mit weit zurückgelegtem Kopf wie gebannt nach oben. Sie begrüßte den Neffen, indem sie ihm nicht ohne Zierlichkeit die Wange zum Kuß bot. »Ich bin auf der Jagd nach Spinnweben,« sagte sie; »mein Sohn Maurice kommt morgen an. Er hat zum Oktober eine Stelle bekommen als Volontär in dem Hygienischen Institut des Geheimrats Hummel. Wir machen ihm sein Zimmer in Ordnung. Aber dieses alte Haus bringt mich noch um. Überall sammelt sich Staub an, und mein Mann erlaubt ja nicht, daß man aufräumt. In seinem Zimmer unten schon gar nicht. Monsieur Bach hat eine ganz schwarze Nase, und unter dem Glas von Berlioz' Porträt hängt eine vertrocknete Motte. Er ist so genial, dieser liebe Albert.« Sie seufzte. »Sie kommen vom Tennis?« fing sie wieder an und zog ihre langen Schutzhandschuhe aus.

»Ich gehe erst, meine Tante, und ich wollte fragen, ob meine Kusine vielleicht –«

Sie unterbrach ihn. »Gehen Sie einen Augenblick hinunter, Martin. Mein Schwiegervater wird sich freuen, Sie zu sehen. Wir kommen gleich.«

Unten fand er den alten Eusèbe Blanc, der in einem Hefte las, das elfenbeinfarbene, zarte Profil sanft geneigt über der breiten weißen Halsbinde. Wenige lange weiße Haare fielen auf seinen dunklen Predigerrock. Er sah aus wie ein französischer Abbé aus dem achtzehnten Jahrhundert. »Mein Kollegienheft,« sagte er zu Martin. »Aber es ist alles nur Verschwendung für die heutige Jugend. Sie hat keinen Sinn mehr für Grazie, und sie hat, noch schlimmer, keinen Sinn mehr für den Geist. Man hat heute nur noch Respekt vor seinem Körper und dessen Bedürfnissen.«

»Aber diese Bedürfnisse, scheint mir, man befriedigt sie durch Erfindungen, die der Verstand gemacht hat?«

»Der Verstand. Aber es gibt keine zwecklose Feinheit oder Tiefe mehr. Weder bei den Elsässern noch bei den Deutschen.«

»Nicht bei den Deutschen? Diesen offiziell beglaubigten Philosophen?«

»Nenne sie nur einmal so, mein Kind. Dann wirst du sehen! Für einen Schimpfnamen halten sie das, diese Deutschen von heute! Wie wäre das auch anders möglich in einer Zeit, in der man die Technik anbetet. Eure Naturforscher haben die Meßbarkeit und Zählbarkeit des Universums entdeckt und so alle Welt zu Materialisten gemacht.« Der fast Neunzigjährige hüstelte.

»Seine alten Klagen,« sagte Madame Blanc, die mit Jeannette hereintrat.

Das junge Mädchen, ein brünettes, mageres Ding mit großen schwarzen Augen unter seinen Brauen, begrüßte den Vetter heiter. »Sie kommen vom Tennis?« fragte auch sie.

»Ich wollte fragen, ob Sie Lust haben mitzukommen?«

Madame Blanc hob beide Hände hoch. »Auf keinen Fall. Ich selbst habe heute nicht Zeit mitzugehen, und ein junges Mädchen ohne dame d'honneur –«

»O, du erlaubst es, nicht wahr?« Jeannette umarmte ihre Mutter, den Kopf lachend zu ihrem Vetter zurückgebogen. Ihr dünnes Musselinkleidchen war so modisch eng, daß man jede Muskelbewegung ihrer Beine und Schenkel sah. Martin blickte sie entzückt an. »Tennis ist so eine gesunde Bewegung für junge Mädchen!«

Der greise Gelehrte lächelte. »Sie sprechen wie ein alter Professor, junger Mann. Aber so ist es jetzt! Nicht einmal die Natur wird noch einfach als Genuß genossen. Man schwimmt und rudert nicht. Man treibt Wassersport, und wenn sich zwei junge Leute in Gesellschaft begegnen, sagen sie zueinander: ›Fühlen Sie einmal meinen Bizeps, wie hart er ist.‹« Er lachte. Seine leise gewordene, etwas stockende Stimme hatte den Klang eines alten, ausgespielten Spinetts.

Madame Blanc hatte respektvoll zu der kleinen Rede des alten Herrn geschwiegen. »Ah, hören Sie Monsieur, der mir recht gibt,« sagte sie jetzt. »Junge Mädchen, die Sport treiben, bekommen einen schlechten Teint und braune breite Hände. Und sie bekommen einen enormen Appetit. Sie werden dick. Und kurz und gut,« sie wehrte majestätisch die bittende Liebkosung ihres Töchterchens ab, »ich finde es für ein junges Mädchen durchaus unschicklich, mit lauter jungen Leuten umherzuspringen, noch dazu ohne Aufsicht. Es knüpfen sich dabei Beziehungen an –«

»Aber gar nicht, meine Tante. Sie irren vollkommen. Gerade der Sport befördert den harmlosen Verkehr zwischen den jungen Menschen beiderlei Geschlechts. Man fühlt sich als Kameraden.«

»Das ist ja eben das Empörende!« Tante Blanc war das Blut zu Kopf gestiegen. »Kameradschaft! Schließlich wird überhaupt nicht mehr geheiratet.« Sie schrie so laut, daß der Kanarienvogel anfing zu schmettern.

»Also gehen wir?« fragte Martin, die Erörterung keck abschneidend.

»Wer spielt denn mit?« fragte Jeannette.

»Da sind zwei Plätze, ein elsässischer und ein deutscher. Aber von meiner elsässischen Partei sind schon einige verreist, und da werde ich wohl heute mit den Deutschen spielen. Die Hummels haben mich aufgefordert.«

»Ah?«

»Ihre Schulkameradinnen, meine Kusine, wie ich glaube.«

»Ja. Ich war erst mit Hanna, der Ältesten, und dann mit der Dora in einer Klasse. Dora ist ja ganz angenehm. Aber die Hanna –! Wir nannten sie bas-bleu, wir Elsässerinnen.«

»Sie spielt schneidig. Am besten von allen.«

»Alles was sie tut, tut sie am besten,« sagte Jeannette mokant.

»Das macht ein junges Mädchen nicht gerade liebenswürdig, denke ich,« äußerte Madame Blanc. »Und übrigens wäre es für Jeannette wenig amüsant, mit Ihnen zu gehen, Monsieur, da Sie ja bereits als Kavalier engagiert sind.«

Auch die Kleine hatte nun keine Lust mehr. Sie schmollte sichtlich. »Beeilen Sie sich nur. Sie kommen sonst zu spät zum Rendezvous.«

Verstimmt lief er davon, schwang sich in eine vorüberfahrende elektrische Bahn und hatte mit diesem Sprunge seine Gedanken von den Blancs weg und zu den jungen Mädchen hingeschickt, die ihn erwarteten. Er sah nach der Uhr. Die Hummels waren so pünktlich!

Es ging ihm sonderbar mit diesen Leuten. Er mußte eigentlich immer wieder aufs neue Bekanntschaft machen mit ihnen. Für seine erste Kinderzeit hatte der Mann mit der goldenen Brille und dem grauen Bart, der ihm den verbrannten Fuß verband, immer die Rolle einer Art von Heiland gespielt, vermischt mit der Vorstellung vom Pelzmärten, dem Spender guter Sachen, der aber auch die Rute tragt, und vor dem man Verschen und Gebete hersagen muß.

Dann hatten ihn die Eltern mit nach Straßburg genommen. Sie wollten dem Geheimrat einen Besuch machen. Dieser Besuch enttäuschte den kleinen Martin jämmerlich. Er fand einen alten zerstreuten Herrn, der »ach so« zu ihm sagte, ihn mit großen blauen Augen hinter seiner Brille betrachtete und dann mit den Eltern weitersprach. Die saßen steif und, wie das Kind wohl merkte, gleichfalls unbefriedigt zwischen dem alten Herrn und einer Dame mit ganz hellblondem Haar, die furchtbar gerade saß und eine hohe, laute Stimme hatte.

Martin konnte ihr Deutsch nicht verstehen. Man führte ihn denn auch bald in die Kinderstube, wo drei Kinder Schularbeiten machten: Helmut, Hanna und Dora. Die beiden älteren ließen sich nicht stören, nur Dora kam auf ihn zu und fragte: »Hast du mir was mitgebracht?« Sie gab ihm dann Bonbons, die sie vom Apotheker geschenkt bekommen hatte, und die zwischen den Zähnen klebten. »Ich leihe sie dir,« sagte sie dabei, worauf Helmut laut lachte und überlegen sagte: »Sprich nicht solchen Unsinn, Dora!« Hanna, die die Haare in einem steifgeflochtenen dicken Zopfe trug, während Dora Locken mit einer roten Schleife hatte, sagte belehrend: »Leihen ist Wiedergeben, Schenken ist Für-immer-behalten.« Doras Haar war rötlichbraun und gefiel Martin sehr. Zuletzt hatte er angefangen zu weinen, und man brachte ihn weg. Bei der Rückfahrt hörte er die Eltern sagen: »Man paßt nicht mehr zueinander. Er ist so beschäftigt. Man hat die ganze Zeit über das Gefühl, ihn zu stören.«

Sie sind nie wieder hingegangen.

Im Jahre 1908 dann, er war schon ein großer Junge, machte sein Vater mit ihm eine Fußwanderung durch den Schwarzwald und führte ihn auch nach Donaueschingen. Martin war entzückt von dem Schloß mit seinem Park und Teichen, besah sich auf Wunsch des Vaters zerstreut die reinlich gefaßte Donauquelle und geriet in Rausch vor den sacht auf dem Wasser dahingleitenden schwarzen Schwänen mit roten Krönchen und roten Halsringen. Wie verzaubert starrte er hinunter. Neben ihm stand ein Mädchen mit festgeflochtenem blondem Haar in hellem Sommerkleid, das gleichfalls hinabblickte. Eine hohe, laute Stimme rief sie ein paarmal bei Namen: »Hanna.« Dann kam die Dame heran: Frau Hauptmann Hummel mit ihren beiden anderen Kindern. Sie erkannte Pierre, man begrüßte sich und blieb beisammen. Dora und Martin, die Gleichaltrigen, wurden ausgeschickt, Pilze zu suchen. Dora gab ihm Schokolade aus ihrem Täschchen. Er fand sie reizend mit ihrem üppigen herbstroten Haar, das ihr, von einem runden Kamm gehalten, bis zu der Taille fiel. Sie schüttelte es beständig. Wie eine kleine vollständige Dame war sie schon, zog ein Puderbüchschen aus der Tasche und puderte sich, indem sie in ein Taschenspiegelchen guckte. »Es ist schick, seine Toilettenkünste nicht zu verbergen,« sagte sie dabei altklug. »Wir Elsässerinnen tun das nie. Jawohl, ich halte mich für eine Elsässerin. Ich war ja erst ein Jahr, als wir nach Straßburg zogen.«

Es verdroß Martin, daß sie sich bei dieser Rede ängstlich nach der Mutter und den Geschwistern umsah, ob sie auch nichts hörten.

Dora aß wieder Schokolade. »Ich habe immer solchen Appetit,« sagte sie kummervoll, »aber dann massiere ich mich, um nicht zu dick zu werden. Und wenn es niemand sieht, trinke ich Essig, das macht blaß.«

Bis jetzt sah sie noch recht rundlich und blühend aus, wie Martin wohlgefällig bemerkte. Die ernste Hanna dagegen, mit dem herb geschlossenen Mund und den geradeblickenden grauen Augen, machte ihm fast Furcht. Helmut nun gar – jetzt schon Student in höheren Semestern – war unausstehlich. Alles wußte er besser, und wenn er in seinem von der Mutter ererbten Ostpreußisch zu ihm sprach, sah er mit harten, herrischen Augen über den zierlichen Elsässerbuben hinweg, wie über etwas Verachtetes. Sein schmales, bartloses Gesicht erschien unangenehm nackt. Er trug einen schwarz gefaßten Klemmer und ein goldenes Uhrarmband.

Und dann ist vor Martin ein Wunder aufgegangen. Ein Brausen ist gekommen, ein Rauschen, als schwelle das Meer heran von seinen fernen Küsten. Und dann schwamm etwas über ihn hinweg, ruhig, schimmernd und unbegreiflich. Zum erstenmal sah Martin ein Luftschiff. Der Knabe fühlte einen Schwindel der Lust. Ohne daß er es wußte, stürzten ihm die Tränen aus den Augen. Als er aufsah, war Hanna neben ihm. Ihre starken, gesunden Zähne blitzten. Sie nahm Martin bei der Hand und zog ihn weg. »Die anderen sollen nicht über dich lachen.« Dann ließ sie ihn stehen.

Ein paar Tage später hörte man, der neue Zeppelin sei in Echterdingen verbrannt. An der Wirtstafel, an der die Füeßlis mit den Hummels saßen, wurde gesammelt. Norddeutsche, Süddeutsche und Elsässer, jeder gab, plötzlich und einmütig. Auch Pierre. »Das Lebenswerk eines bedeutenden Mannes soll nicht so nutzlos untergehen.«

Martin legte sein ganzes Spartum auf den Teller, zwei Goldstückchen, die er auf die Reise mitgenommen hatte, um sich irgendwo etwas unerhört Schönes dafür zu kaufen, etwas Lebendiges vielleicht, oder auch eine schöne Schlipsnadel, oder seine Zigarren. Aber nun gab er es weg. Er dachte an den schmalen, silbernschimmernden Seidenballon dabei und an Hanna, die ihn von den andern wegführte, damit sie nicht über ihn lachen sollten.

Später manchmal tat es ihm leid, sein schönes Geld so fortgegeben zu haben. Aber er brauchte nur den Atem anzuhalten, so daß er Herzklopfen bekam, und gleich war das merkwürdig wundervolle Gefühl von jenem Tag in Donaueschingen wieder da.

Dann hatte er die Schule durchlaufen und war nach Straßburg gekommen, Chemie zu studieren. Sein Vater wollte ihn später bei der Fabrik anstellen. Inzwischen hörte er auch Vorlesungen, die nicht in sein Fach gehörten: Kunstgeschichte und Biologie. Auch bei Hummel belegte er ein Kolleg, ging aber selten hin. In dessen Hause in der Goethe-Straße hatte er eine Karte abgegeben mit Grüßen von seinen Eltern. Kurze Zeit nach diesem Besuch, bei dem er niemand zu Hause getroffen, wurde er zum Abendessen dorthin geladen. Es war ein Studentenabend. Lauter Zuhörer des Geheimrats, darunter eine Dame, ein Elsässerin. Der alte Geheimrat war sehr liebenswürdig, sprach mit jedem, zeigte nach Tische schöne Photographien von interessanten Reisen. Man rauchte und trank Wein. Die jungen Leute sprachen wenig, eigentlich nur, wenn sie gefragt wurden. Es kam Martin vor wie in der Schule.

Die Damen waren wahrend des Essens zugegen gewesen, hatten alle drei nebeneinander am Kopf des Tisches gesessen. Dora schien ihm sehr schön und üppig mit dem blendenden Teint der Rothaarigen, Hanna ernst, unzugänglich, beinahe unliebenswürdig. Die Mädchen trugen weiße Kleider. Frau Hauptmann sah vornehm und altmodisch aus, in einer weißseidenen Bluse und schwarzseidenem unmodernem Rock. Sie saß in der Mitte zwischen den Töchtern, unterhielt sich nicht, sondern leitete mit einer Kopfbewegung oder einem Deuten ihrer gutgeformten großen Hand das aufwartende Mädchen, eine ländliche Ostpreußin, die erst angelernt werden mußte. Nach Tisch zogen sich die Damen geräuschlos zurück. Helmut war nicht mehr in Straßburg. Er war Referendar in Berlin.

Der Sommer gab keine Gelegenheit zu neuen Einladungen. Martin war das recht. Er sei nicht nach Straßburg gekommen, um »Familie zu simpeln«, sagten seine Kommilitonen. Noch dazu bei Deutschen!

Nun, kurz vor den Universitätsferien, war es das Tennisspiel, das ihn wieder mit den Hummelschen Mädchen zusammenführte. –

Jetzt war er an die Orangerie gekommen, stieg aus und ging hinüber zu den Tennisplätzen, auf denen bereits weiße Gestalten hin und her sprangen. Um das Drahtgitter des Platzes herum übten junge Leute sich im Wettlaufen. Das Trikot ihrer Oberkörper war durchnäßt, ihre Augen wie herausgequollen vor Anstrengung. Man hörte ihren Atem schon von weitem. Es lag etwas Fanatisches in diesem Laufen. Und auf diese Jugend schilt der alte Eusèbe, dachte Martin. Er verachtete in diesem Augenblick die geistvolle Zierlichkeit des alten Herrn, die ihm müßig schien und unnütz, genau so wie die »Genialität« seines Sohnes Albert. Diese hier, die ihren Körper stählten für das Kommende, das dräuend wie Pulvergeruch in der Luft lag, sie schienen ihm bewundernswert in ihrer Stärke.

Auf dem deutschen Tennisplatze lagen bereits schräge, lange Schatten. Dort spielte man. Martin erkannte die Schwestern Hummel, die Schlanke, Rasche und die Rundliche in ihrem sehr engen Kleide, die beim Laufen aussah, als kämpfe sie verzweifelt um Bewegungsfreiheit. Ihnen gegenüber hielt ein hochbeiniger Herr in elegantem Tennisanzug allein seine beiden Plätze. Es war Helmut. Er sprang geschickt hin und her und warf jeden Ball, kaum zentimeterhoch über dem Netz, kunstvoll und sicher zurück. Hanna, ihm ebenbürtig, sah sich ein paarmal zornig nach der langsamen Dora um, die eben vorn stand und von ihr bedient wurde. Dora schickte jedem Ball, den sie nicht fing, einen kleinen Schrei nach.

Als Martin kam, ließ Dora den Käscher sinken. » Le voilà, ich dachte schon –,« aber Hanna stampfte ungeduldig mit dem Fuße auf, weil Dora ihr wieder einen Ball verdorben hatte und das Spiel nun verloren war.

Die drei gingen nach der Mitte an das Netz, um abzurechnen. Man hörte englische Zahlen und Benennungen.

Martin setzte sich auf eine leere Bank am elsässischen Platz und wartete. Zwei junge Straßburgerinnen saßen da in kleidsamen weißen Tennismänteln, die ihre weißen Schuhchen sichtbar machten, und warteten auf das Verschwinden der Sonne. Ihre Männer standen hinter ihnen, partie carrée, und machten ihnen den Hof. Man sprach vom Prozeß Caillaux und verabredete eine Autopartie für kommenden Sonntag. In diesem Augenblick kam ein lautes Surren aus der Luft. Die silbern schimmelnde Zigarrenform eines Zeppelins fuhr langsam über den Platz hin. Alle blickten, auf. Hanna hatte den Kopf zu Martin herüber gewendet, er zu ihr. Sie lächelten sich zu. »Weißt du noch?« Aber das dauerte nur einen Augenblick.

Jetzt endlich kam auch Martin an die Reihe zum Spielen. Es gestaltete sich so, daß die beiden Mädchen die Adjutanten der Männer wurden. Martin glühte und strömte über von Energie, der junge Hummel spielte gelassen, »todsicher und todschick«, wie er sich selber rühmte. Martin sah, wenn der Gegner sich neigte, seinen geraden weißen Scheitel in der Mitte des Kopfes. Das erfüllte ihn mit rätselhafter Abneigung. Auch die breiten Schultern, die aussahen, als ob Epauletten unter ihnen steckten, die schmale Taille, der scharfe helle Junkerblick, alles war ihm zuwider. Er spielte mit Haß, als gelte es eine körperliche Niederwerfung des anderen. Dora, seine Partnerin, rief ihm beim Hin- und Hergehen hinter ihm beständig ein paar Worte zu, die ihn neugierig machen sollten. Ob er ein guter Schauspieler sei? Ob er singen könne? Malen? Hanna drüben sprach nichts Überflüssiges. Zuletzt setzte man sich zum Abkühlen auf die Bank. Dora in einen blauen Schal gehüllt, Hanna in ihrer einfachen durchsichtigen Bluse, die mädchenhafte Arme durchschimmern ließ. Sie saß ein wenig vorgebeugt, das Racket wie ein Junge zwischen den Knien hin und her bewegend.

»Können Sie rasch auswendig lernen?« fragte Dora wieder zu Martin hinüber.

Helmut nahm nun das Wort und berichtete, man feiere in wenigen Tagen den siebzigsten Geburtstag des Geheimrats Hummel. Die Fakultät und die Studenten hatten große Vorbereitungen getroffen, aus allen Ländern und Weltteilen hatten sich Abgeordnete der Universitäten und gelehrten Gesellschaften, deren Ehrenmitglied er war, angemeldet. Man rechnete auf mindestens fünfzig Personen zum Diner. Um nun auch von der Familie aus etwas beizusteuern, hatte Hanna ein Festspiel gedichtet: Bilder, Musik, Tänze, ein großer feierlicher Zug mit einzelnen Sprechern. Das Ganze sollte eine Huldigung der Länder sein, die durch die Forschungen des Geheimrats von ihren Seuchen und Gesundheitsgefahren befreit waren. »Meine Schwester hat die schwierige Aufgabe wirklich glänzend gelöst,« sagte er halb ritterlich, halb anmaßend.

»Wir hatten einen Japaner,« fuhr Dora dazwischen, »für Asien, und denken Sie nur, heute nachmittag sollte die erste Besprechung sein bei uns. Alle andern kamen, der Japaner bleibt aus. Wir schickten hin. Er ist abgereist. Abgereist ganz lautlos, ohne von irgend jemandem Abschied zu nehmen.«

»Ja, sogar ohne seine Rechnungen zu bezahlen,« ergänzte Helmut lachend.

Man forderte nun Martin Füeßli auf, die Rolle des Verschwundenen zu übernehmen. »Sie haben nicht viel zu sprechen,« sagte Hanna. Dora erzählte, sie selber würde die Gesundheit darstellen, Helmut die Wissenschaft, Hanna die Pest. »Sie hat sich eine abscheuliche Maske dazu gemalt, ganz grün, mit Schlangen darum herum. Und dann geht sie auf Stelzen. Ganz groß.«

»Ein Erinnyenkostüm,« sagte Hanna sachlich.

Und nun kam die Hauptbitte. Der russische Maler, der angefangen hatte, die exotischen Kulissen für das Spiel zu malen, war vor der Zeit in die Ferien gereist. Irgendeine Familienbotschaft, wie er sagte. Hanna hatte in der »Revue alsacienne« ein paar kleine Zeichnungen von Martin Füeßli gesehen, die ihr sehr gefielen und sie auf den Gedanken brachten, ihn zu bitten, die Kulissenmalerei zu vollenden.

Martin sagte zu.

Was für ein Kostüm es sein müsse? fragte er dann.

Dora sprang auf. »Oi, ich habe wundervolle schwarze Angorafransen, die können Sie sich als Haare umtun.«

Aber Hanna bewies ihr, daß man sie höchstens für Zigeuner oder Italiener benutzen könne oder für Hottentotten, die der afrikanischen Rasse angehörten; nicht aber bei der mongolischen, die zwar grobes und glänzend schwarzes, aber schlichtes Haar hätte.

»Sie macht ihr Lehrerinnenexamen,« sagte Dora achselzuckend zu Martin und wölbte die rote Unterlippe, um zu zeigen, wieviel hübscher man sei, wenn man sich nicht mit Gelehrsamkeiten befasse.

Martin schwankte einen Augenblick. Sollte er wirklich bei den Deutschen mitspielen?

Sein Onkel Albert Blanc habe gleichfalls zugesagt, fügte Hanna hinzu, als könne sie in irgendeiner rätselhaften Klarsicht seine Zweifel lesen. Er würde die Einleitung und Zwischenmusik spielen.

So fand er sich denn ein paar Minuten später mit den Geschwistern auf dem Wege nach der Goethe-Straße, um sich seine Rolle abzuholen; fast ehe sein Entschluß zu spielen feststand.

Der Referendar fragte nachlässig, welcher Fakultät Martin angehöre? Im wievielten Semester er stehe? Und ob er in Straßburg bis zum Doktor zu bleiben gedenke? Als Martin sagte, er würde wohl ein paar Semester nach Paris gehen, meinte er, eine große Stadt sei freilich gut für jeden jungen Mann, aber er würde ihm doch Berlin raten, das wissenschaftlich wahrscheinlich höher stünde und entschieden moderner sei als Paris. Er selber möchte jetzt in keiner anderen Stadt mehr leben. Unmöglich in einer kleineren. Die Verschiedenheit der Menschen, mit denen man in Berührung komme, die weltstädtische Gleichgültigkeit, alles das sei die beste Schule für einen Mann. »Keine Verpflichtungen, keine Rücksichten. Man kann untertauchen und wieder auftauchen, verschwinden, ohne daß man vermißt wird.«

»Ich möchte das nicht,« sagte Martin.

»Nun ja, Sie sind Süddeutscher. Sie brauchen Gemütlichkeit.«

»Freude,« sagte Martin, in den gleichen knappen Ton verfallend, den Helmut Hummel anschlug.

»Freude? Glauben Sie etwa, daß wir nicht genießen wollen? Und wie! Arbeit zu ihrer Zeit, und Genuß zu seiner. Es geht alles. Man muß nur verstehen, es sich einzuteilen.«

Martin hätte gern geäußert, daß Freude und Genuß nicht dasselbe sei, und eingeteilter Genuß erst recht nicht. Auch etwas vom Unterschied zwischen Arbeiten und Arbeit fiel ihm ein. Seine langsamere Art zu denken aber kam gegen den Berliner Referendar nicht auf, der fortfuhr: »Nein, wer auch nur ein wenig modern lebt, der hat die verschlampte altmodische Gemütlichkeit gründlich abgeschafft. Man kommt nicht durch damit. Ich denke mir, daß die ganze deutsche akademische Jugend heutzutage –«

»Ich bin Elsässer,« sagte Martin und dann mildernd: »Ich selber habe über diese Fragen freilich noch nicht viel nachgedacht, nur von meinen Eltern her weiß ich, daß den Elsässern Ihr modernes Deutschland undeutscher vorkommt als das frühere, zu dem unsere gemeinsamen Vorfahren einmal gehört haben.«

Frecher Fuchs! dachte Helmut amüsiert, und er sagte laut: »Ich weiß, man spielt hierzulande das deutsche Mittelalter gegen die Neuzeit aus. Ich finde das ziemlich kurzsichtig. Die Kräfte, durch die der Mensch Herr des modernen Lebens bleiben kann mit seiner ungeheuren Fülle von Eindrücken und Ansprüchen, sind eben nur: rasches, rücksichtsloses Zugreifen, kühles Rechnen und dabei Geschmeidigkeit. Lauter Eigenschaften, die nur in der Neuzeit und am besten in der Großstadt gedeihen.« »Am allerbesten aber in Preußen?« Martin sah ihn ein wenig schalkhaft von der Seite an.

Helmut überhörte es. »Vorwärts muß der Mensch,« sagte er überzeugt, »darum leichtes Gepäck. Keine Vorurteile. Wenig Tradition. Ich zum Beispiel,« er sah mit scharfen Herrenaugen geradeaus, »ich habe mich entschlossen, zum Bankfach überzugehen. Als Regierungsbeamter ist das Avancement zu schlecht, und ich sehe nicht ein, warum man nicht versuchen soll, ein Vermögen zu erwerben?«

Es war jetzt bei allem ostpreußisch Schneidigen etwas Helles, Springendes in seiner Art, das Martin gefiel. Aufmerksam betrachtete er dieses Exemplar einer neuen Mischung von Tatkraft und Genußsucht, die modern war und in moderner Form am Ende doch den starklebigen Menschen des Mittelalters wiederholte.

Sie blieben jetzt vor einer Anschlagsäule stehen. Die Mädchen traten hinzu. Dora zeigte mit dem Sonnenschirm auf einen roten Zettel. »Ach, der Pawlowa-Abend ist abgesagt.«

»Abgesagt?« Hanna sah zu ihrem Bruder auf. »Hältst du das nicht für ein politisch schlechtes Zeichen?«

Helmut schüttelte den Kopf. »Diese Gefahr ist vorbei,« sagte er mit unumstößlicher Bestimmtheit. »Es wäre auch ein zu großer Blödsinn gewesen. Wenn ich nicht dächte, daß die Schose nun endgültig lokalisiert ist, wäre ich ja gar nicht hergereist.«

»Ach, es wird ja doch niemals etwas mit dem Kriege,« rief Martin fast ärgerlich. »Wie oft war schon die Rede davon. Es zieht sich alles immer wieder zurecht.«

Hanna sah ihn kühl an. »Hoffentlich! Wenn wirklich noch einmal ein Krieg kommen sollte, müßte man verzweifeln an allem, was man gewollt und erstrebt hat.«

Helmut hörte nicht auf sie. »Es hätte nur scheußlich in die Bude geregnet,« sagte er, »wenn wir gerade jetzt Krieg bekommen hätten. Im Oktober wollte ich gerade mit der Banksache beginnen.«

Man hatte sich jetzt in Trab gesetzt. Es sei fast acht Uhr, der Onkel verlange unbedingte Pünktlichkeit.

Er esse doch wohl ein Butterbrot mit ihnen? fragte Hanna flüchtig im Laufen und wartete die Antwort nicht ab. Martin, gewöhnt um sieben Uhr seine ausführliche elsässische Mahlzeit zu nehmen, war schrecklich hungrig. Das »Butterbrot« lockte ihn wenig. Er sei verabredet, sagte er, wolle nur rasch seine Rolle abholen und dann gehen.

Man war jetzt in der Goethe-Straße und bei der Hummelschen Villa angelangt, die, durch ein Vorgärtchen von der Straße abgeschlossen, als letzte neben ähnlichen am Straßeneck stand. Dora lief voraus, zu sehen, kam dann kichernd und wichtig zurück, der Onkel und die Mutter säßen schon beim Tee im Eßzimmer. Martin möge nur ja mit ihnen hineinkommen, »sonst kriegen wir Schelte«. Aber er bat, im Garten bleiben und warten zu dürfen.

Das tat er dann unter einem weiß und rosa blühenden Rosenbogen, mit knurrendem Magen und in Versuchung, sich wieder davonzuschleichen. Der Garten war größer, als er vermutet hatte, zog sich, wohlangelegt, mit schönen Bäumen, Rasenplätzen, Lauben und Büschen über die Parallelstraße hinaus bis in die zweite hinein. Aus den geöffneten Fenstern des Nebenhauses kam Gesang, der plötzlich verstummte; dafür begann ein Vogel zu singen, weiße große Blütendolden glänzten und dufteten im langsam beginnenden Dämmern. Martin setzte sich auf eine Korkbank. Vor sich, durch die Länge des Gartens getrennt, hatte er die große, blumenbestellte Veranda, hinter der das Eßzimmer lag. Die breite Flügeltüre stand geöffnet. Er hörte ab und zu ein Glas klirren, eine Gabel auf Porzellan klappern. Es kam ihm plötzlich angenehm abenteuerlich vor, so allein im fremden Garten zu sitzen und von ferne Menschen zu belauschen, die ihn nichts angingen. Er hielt aus irgendeiner Laune den Atem an. Ein wohlbekanntes Brausen der Erwartung, das er liebte und das nicht viel mehr war als ein leichtes Herzklopfen, trieb ihm das Blut empor. Eine helle, herbe Gestalt kam die Verandastufen herab. Kameradschaftlich gab Hanna ihm die Hand. »Kommen Sie, Onkel Heinrich ist in sein Zimmer gegangen.«

Man ließ ihn gar nicht erst in die Eßstube hinein. »Ein abgedeckter Tisch ist häßlich,« sagte Frau Hauptmann Hummel. Sie ließ auf dem Verandatisch frisch aufdecken: Tee, Brot, Butter und Aufschnitt, das typische norddeutsche Abendessen. Martin fand es puritanisch. Aber da er hungrig war, aß er zu seiner eigenen Beschämung alles auf, was auf dem Teller war. Frau Hummel wurde jetzt weit freundlicher zu ihm. »Ich sehe es so gern, wenn man ordentlich zugreift.«

Hanna war hinaufgegangen, das Manuskript zu holen. Die Mutter und Dorn sprachen inzwischen von dem bevorstehenden Geburtstagsdiner. Bisher waren keine Absagen der ausländischen Gäste gekommen. »Vielleicht befördert die Post keine Privatdepeschen mehr,« meinte Frau Hauptmann. Unter ihren Augen zeichneten sich rote Erregungsflecke ab im blonden Gesicht. Aber sie redete laut mit deutlicher, etwas scharfer Stimme wie immer.

»Sie haben Angst, Madame?« fragte Martin teilnehmend.

Sie sah ihn gerade an. »Ich bin ein Soldatenkind.« Unwillkürlich faßte aber ihre Hand dabei nach dem Sohn, als müsse sie sich versichern, daß er noch dasitze.

»Und Sie?« fragte Helmut, »müßten Sie auch mit?«

»Ich habe noch nicht gedient.«

»Sie haben Verwandte in Frankreich, gelt?« fuhr Dora dazwischen, die sich zu wenig beachtet fühlte.

»Meinen ältesten Bruder.«

Frau Hummel und ihr Sohn sahen einander an. Es lag Mißbilligung in ihrem Schweigen. So daß Martin unwillkürlich entschuldigend hinzusetzte: »Er ist so viel älter als ich, ganz kurz nach der Annexion geboren.«

Hanna kam jetzt mit der ausgeschriebenen Rolle. Sie bat Martin, in ihr Zimmer mit hinaufzukommen, die Wandschirme zu besehen, die er bemalen sollte. Zu Martins Verwunderung und fast Enttäuschung hatten weder Frau Hummel noch Helmut irgendwelche Schicklichkeitsbedenken dabei. Und so stieg er denn hinter der schmalen, leichtfüßigen Gestalt die Treppe hinauf, kam in ein sehr ordentliches helles Zimmer, mit Bücherregalen, hinter dessen hellem Kretonnevorhang ein Bett herauslugte. Der Schirm lehnte, halbfertig, an der Wand. Er war mit stark farbigen Bäumen, Berg, Wasser und fliegenden Tieren bemalt. Die zweite Seite noch leer. Hanna zog ein Fach des großen Schreibtisches auf, nahm einen Zollstab heraus und maß gewissenhaft die Seiten. »Eineinhalb Meter zu dreiviertel jeder Teil,« sagte sie trocken.

Jetzt kam auch Dora. Das Haar zierlicher in Unordnung gebracht als vorher, frisch parfümiert und gepudert. »Nun, wird er es machen?« Sie hatte die Türe aufgelassen. Offenbar war es ihr eigenes Zimmer, in das man hineinsah. Ein heller Toilettentisch mit Musselinvorhängen, ein Schaukelstuhl, Zigarettengeruch und jener staubige Fliederduft, der an Friseur erinnert. Martin hatte gar zu gern ein bißchen näher da hineingeguckt, aber die Audienz war sichtlich zu Ende. »Ich muß noch arbeiten,« sagte Hanna und ordnete die Hefte auf ihrem Tisch. »Zum Examen arbeiten.«

Unten verabredete man dann die Probe auf den Dreißigsten. »Wenn nichts dazwischen kommt.«

»Man muß seine nächste Pflicht tun,« sagte Frau Hummel, »ganz so als ob es nichts anderes gäbe. Unsere nächste Pflicht ist einfach, dem Onkel sein Fest schön zu machen.«

Helmut stimmte bei. »Lassen kann man ja immer noch alles.«

Als Martin von ihnen ging, war er sehr unzufrieden mit sich. Was hatte er sich zu befassen mit diesen unausstehlich tadellosen Menschen!

 

Am nächsten Morgen sehr früh gab man bei ihm im Auftrage von Frau Hauptmann Hummel eine große Papierrolle ab. Das abgemessene Material für sein Wandschirmgemälde. Er empfand es wie eine Vergewaltigung, setzte sich aber doch sogleich hin und begann zu entwerfen.

Gestern abend spät und noch tief in die Nacht hinein hatte er an seiner Rolle gelernt, bereit, sich über das Machwerk des »bas-bleu« zu mokieren. Aber er hatte wirkliche Poesie gefunden, und zwischen den Verszeilen lachte ein überlegener Humor. Er hätte dem schweigsamen Mädchen das nicht zugetraut.

In Hemdsärmeln setzte er sich ans offene Fenster, machte sich mit Reißbrett und Geigenpult auf dem Tisch eine Staffelei zurecht und ließ sanfte, fruchtbeladene Wunderbäume entstehen, fromm werdende Tiere, und zwischen fabelhaften Sonnenblumen zwei Liebende, deren Kleidung aus Blumenkränzen und Grasmatten bestand. Stundenlang arbeitete er so im unaufgeräumten Zimmer, ging nicht ins Chemische Institut, wo heute Semesterschluß war, und hatte ganz vergessen, daß es ein Serbien gab, ein Österreich, ein Rußland. Erst als er auf der Straße war und ein Extrablatt ausrufen hörte, durchfuhr es ihn. Aber es stand keine Kriegserklärung darin, im Gegenteil, Beruhigung. England habe vermittelt, hieß es.

Martin ging über die Brücke zum Gutenbergplatz und an den Gewerbslauben entlang. Er wußte da ein Lädchen, dunkel und luftlos hinter seiner Holzgalerie, wo es allerhand Raritäten gab. Er meinte dort einen leichten, japanisch bedruckten Stoff gesehen zu haben, der gut für sein Kostüm passen konnte. Wirklich fand er auch das Gesuchte.

»Dix cinquante,« sagte die Verkäuferin, die ihm den Stoff einwickelte.

Er legte ihr das kleine Goldstück hin und den Fünfziger. Sie schob das Geld zurück.

»Sie geben mir zwei Mark zehn Pfennig zu viel, mein Herr.«

»Ah, Sie rechnen mit Francs?«

Sie lächelte. »Immer noch. Und hoffentlich – bald wieder. Nicht wahr?« Und sie blinzelte einverständlich.

Martin lächelte zerstreut zurück.

Draußen traf er auf einen Hümpel alter Männer, echte »Steckelburger« mit unternehmenden weißen Knebelbärten, dazu Bauern der Umgegend, die von ihrem petit verre aus einem Estaminet kamen. Ein krummes altes Männchen tat sich besonders hervor mit Fuchteln seines Spazierstocks und stolzem Umherblicken seiner dunkeln, immer noch feurigen Augen. »Im Krieg,« krähte er heiser, »im Krieg, do sinn mir Elsässer allzitt voran g'si. Bei Wissembourg en Siebzig, do hab' i denne verdammte Prussiens d' clairons entgegengeblose, d'r casque isch ihne fascht vom Kopf nunter gefalle. Akkrat so –« Er wandte sich an seinen Sohn, der, die Hände in den Armlöchern seiner Weste, teilnahmlos danebenstand. »Akkrat so müesch's au mache, Jules, 's Ding isch's glieche. Ob mer fir de Napoleon oder fir Guillaume ins Feld zieht.« Aber der Sohn zuckte mißmutig die Schultern, » Fiche-moi la paix mit dinem Napoleon un Guillaume. Sel Dings do mit d'r politique, die macht m'r net heiß un net kalt. I will nix wisse drüwer und nir schwätze drüwer.« Damit ging er davon. Die Alten sahen ihm enttäuscht nach.

Martin strich nachdenklich an den alten Buden der Gewerbslauben hin, aus denen es nach Leinöl, Arnika und allerhand altmodischen Parfüms roch. Zuckermänner mit Sprüchen auf dem Magen lagen in den kleinen Schaufenstern. Dazu die Arche Noah mit Madame Sem in giftgrünem Kleide. Martin mußte sich die Menschen vorstellen, die früher da in diesen alten Häusern gewohnt hatten. Er sah sie breit und sicher vor ihren Türen sitzen, von ihren handgefertigten Werken umgeben, ihr Morgen- und ihr Abendlied singend, mit den Nachbarn die Tagesereignisse austauschend. Alles gemächlich, zuversichtlich und im ruhigen Wechselkreis der Tradition. Und dann sah er sich die Männer an, die da vorübergingen, dachte an sich selbst, an Blancs, an Helmut, und er fühlte sie alle unstet und sprunghaft, sehnsüchtig und kritisch, ewig hastend, einem Zweck, einem Erfolge nachjagend.

So kam er wieder auf den Gutenbergplatz. Er bemerkte dort eine kleine Ansammlung. Erregt schritt er darauf zu. »Gibt's do nouvelles?« Man wies auf einen Bierwagen mit beschädigtem Faß, den ein paar kräftige Männer angehalten hatten, sich vor die Räder stellten, das vorquellende Bier in ihren Mützen auffingen und tranken. Ein Schutzmann kam quer über den Platz und notierte sich den Vorgang.

Martin kehrte um, blieb aber dann wieder stehen, weil ihm zwischen dem Unterelsässisch der Johlenden ein paar Worte seines Heimatsdialektes auffielen. Auch die Stimme, die sprach, schien ihm bekannt. Er trat näher und sah einen Bekannten aus Thurweiler, den Advokaten Rufère. Er bewohnte seit einiger Zeit den einen Flügel des Baldehauses zur Miete. Martin wußte, daß Vater Pierre ihm zum nächsten Quartal gekündigt hatte, weil der Mann ihm politisch verdächtig war und er keine Unannehmlichkeiten durch ihn haben wollte. »Losse's numme laufe, 's Bier,« sagte der Rechtsanwalt zu seinen Nachbarn. »In e paar Tägle trinke mir do in Stroßburg wieder unser gueter franzeescher Win mitnander – billig, ihr Litt, sans frais de douane

Alle lachten. Jetzt hatte der Rechtsanwalt Martin entdeckt. »Pas vrai?« sagte er verschmitzt und grüßte ihn. Martin antwortete nicht. Der Mann war ihm unangenehm. Er strich sich seinen Rock glatter. Dabei knisterte etwas in seiner Brusttasche, Hannas Manuskript. Steif ging er an dem Rechtsanwalt vorbei.

Ein paar Schritte weiter begegnete er Monsieur Henri, einem seiner Kameraden im Cercle Alsacien, der in Hummels Präpariersaal arbeitete, und dem man auch die Rede übertragen hatte zu des Geheimrats Geburtstag.

»Bon jour, bon jour, ça va bien?« Sie gingen ein Stück miteinander, sprachen von den Kommilitonen, die bereits in die Ferien gereist waren, und dann beklagte sich Monsieur Henri darüber, daß man am Theater seiner kleinen Freundin, einer Soubrette, in der letzten Operette wieder keine Rolle zugewiesen habe. Minette sei eben Halbfranzösin, viel zu anmutig und nuanciert für den Geschmack des hiesigen Publikums, das im Ballett eine Weltanschauung getanzt verlange und in der Operette Bombenstimmen. Der junge hübsche Mann legte seinen Arm in Martins und zog ihn freundschaftlich mit sich. Martin ließ es sich gefallen. Henri war ihm der liebste aus dem Cercle, ein lebhafter Mensch, der freilich ein wenig Räsonneur war, aber wirklich fast so weit über dem Durchschnitt, wie er sich dünkte. Viel Staub hatte er kürzlich aufgewirbelt mit seiner Weigerung, bei einem Offiziersessen zu Kaisers Geburtstag in Uniform zu erscheinen. Ein deutscher Kollege machte ihm die Bemerkung: er müsse es doch als eine Ehre betrachten, einmal im Jahre wenigstens in des Kaisers Rock zu stecken, worauf er erwiderte: was ihn beträfe, so fühle er sich jeden Tag im Jahre Ehrenmann, nicht nur an Kaisers Geburtstag!

Die Auseinandersetzungen, die nun kamen, hatten ein Duell zur Folge, das unblutig verlief, aber Monsieur Henri im Lager der Franzosenköpfe eine Gloriole gab.

»Und Sie sind zu den Deutschen übergegangen?« sagte Henri jetzt scherzend zu Martin. »Sie werden im Hause unseres Professors Hummel Theater spielen?«

»Es ist noch unbestimmt,« sagte Martin abwehrend. Er ärgerte sich über die Neckerei und sah neue voraus im Cercle. »übrigens habe ich vor, die Rolle zurückzuschicken,« sagte er. Und meinte das in diesem Augenblicke wirklich. »Ich bin dazu gekommen, ich weiß nicht wie.«

»Der Alte ist ungeheuer beliebt bei uns allen,« sagte Henri begütigend. »Er ist zwar der gefürchtetste Examinator, aber im persönlichen Verkehr eingehend und gütig. Wenn er wirklich abginge, wie er vorhat, wäre es ein großer Verlust für seine Schüler.«

»Fest steht und treu die Wacht am Rhein,« dröhnte es jetzt neben ihm. Wagerecht geschleuderte Beine, Stampfen, Aufstäuben, Knirschen der Eisennägel auf dem Pflaster. Henri lachte. »Ich sehe das zu gern. Jedesmal freue ich mich, daß ich nicht mehr dabei bin. Und eines rate ich Ihnen, Füeßli, dienen Sie niemals in Straßburg.«

»Ist es hier strenger als in anderen Städten?«

»Das vielleicht nicht, aber die Familie! Auch Sie haben ja Verwandte hier. Die nächsten Angehörigen grüßen einen nicht, wenn man ihnen in Uniform begegnet. Sie schämen sich. Ein Rendezvous im Café oder Restaurant mit ihnen ist gleichfalls unmöglich. Die französischen, die sie allein besuchen, sind uns verboten. Man lebt wie in der Verbannung. Ich wenigstens bin jetzt frei.«

Die Art, in der er es sagte, hatte wenig von Fröhlichkeit, aber sehr viel von Selbstverspottung.

Er erwähnte dann noch, Maurice Blanc, Martins Vetter, werde ja zum Wintersemester Volontär sein in Hummels Laboratorium.

Martin brach das Gespräch ab. »Ich kenne ihn gar nicht.« Er liebte den streberhaften Vetter nicht. Die Aufforderung Henris, mit ihm im »Bäckehiesel« zu Mittag zu essen, schlug er ab. Er habe sich vorgenommen im Rhein zu baden und erst später zu essen. In Wahrheit kam ihm die Lust dazu erst jetzt; aber er schwang sich schnell auf eine elektrische Bahn und fuhr nach Haus, sein Rad zu holen. Henri hatte nichts über Kriegsbefürchtungen zu ihm geredet, aber jeder Augenblick konnte das bringen. Und da war eine uneingestandene Angst in Martin vor jedem Wort, das man hierüber von ihm verlangen könnte. Er fühlte alles in sich voll Gärung und Erwartung. Niemand aber sollte vorzeitig hineinschauen oder gar hineingreifen in dies geheimnisvolle Spiel chemischer Verbindungen und Zersetzungen, das in seiner Seele begonnen hatte. Er selber wendete in Angst und Ehrfurcht sein Bewußtsein davon weg. Und eben diese Flucht vor sich selbst machte ihn die letzten Stunden her so rastlos und so schutzsuchend.

Zu Hause stand sein Rad im Hausflur, er griff rasch danach und hielt dem Geschwätz der Wirtin nicht stand, die voll Bewunderung seiner » tableaux drowe im Stüble« war, »wo so arg scheen sin«. –

Das rasche Fahren im Sonnenbrande tat ihm wohl, vorbei an den alten Hafenanlagen und über den Kleinen Rhein hinüber. Die Eisenbahnschienen funkelten vor Hitze. Martin sah hinüber zum Grabmal des Generals Desaix, der hier vor etwa hundertzwanzig Jahren für Frankreich den Rhein gegen die Österreicher verteidigt hatte. Ein kalter, abergläubischer Schauer durchfröstelte den jungen Menschen inmitten der Glut, so als würde er bald selber an dieser gleichen Stelle den Rheinübelgang zu verteidigen haben und dabei fallen ... Für Frankreich? für Deutschland? ...« Ein wollüstiger Wunsch, sein Leben hinzugeben für etwas Forderndes, Großes, machte ihn aufschlürfen, als böte man ihm süßen, starken, berauschenden Wein. Seine Phantasie war erfüllt von Kriegsbildern, denen er keinen Rahmen zu geben vermochte. Eine große, pulsende Sehnsucht war da und quälte.

Die Badeanstalt war leer um diese Stunde, Martin der einzige Benutzer. Leichtsinnig sprang er, fast ohne sich abzukühlen, ins Wasser, tauchte und schwamm, lag lange auf dem Rücken und ließ sich treiben, sprang dann wieder von hoch hinab, schlug ins Wasser wie ein Kind und jauchzte dabei. Er war ganz fröhlich geworden.

Hannas Papier knisterte in seiner Tasche, als er, sich wieder ankleidete. Er aß drüben im Badischen in einer kleinen Wirtschaft, achtete nicht viel auf die übrigen Gäste, streute den Spatzen Brocken, sah, wie sie sich stritten, zeichnete mit einem Stöckchen Sonnen und Berge auf den Boden und fuhr dann, anstatt nach Straßburg zurückzukehren, weiter ins Badische hinein. Stundenlang. Eine Weile folgte er der Bahnlinie. Aus einem vorbeisausenden Zuge klang Männergesang heraus, kräftig, froh. Junge Leute. Sie winkten zum Fenster heraus; von den Chausseen aus winkte man ihnen zurück und rief ihnen nach. Martin war abgestiegen und führte sein Rad die Anhöhe hinauf, »'s sin Urlauber, die mer heimg'rufe hat,« sagte eine alte Frau zu Martin, der neben ihr stehengeblieben war. »Sie sage ja im Dorf, 's gibt Krieg. Mei großer Bub müßt' auch mit. Un 's Korn noch nit ei'bracht un's Obscht noch auf de Bäum'. Un Heuer hat's doch so arg viel, grad zum Abbreche sinn die Zweich.« Sie zeigte es an ihrem Arm.

»Ihr müßt halt alle hingehen zu euerm Kaiser,« sagte Martin. »Ihr müßt ihm sagen: Ihr wollt keinen Krieg!«

Die Frau sah ihn groß an. Ihr einfaches Gesicht mit seinen vielen Arbeitsrunzeln umgab braun und hart die beiden stillen, blauen Augen. »Um nix macht mer kei Krieg bei uns,« sagte sie ruhig. »Daderfür sorgt schon der Großherzog. Un wenn's sei muß, darf mer sich nit losbitte vom liewe Herrgott. Un mit der Ernt' und mitem Obscht, das wird schon alles geregelt werden vom Großherzog.« Aus Respekt vor ihrem Fürsten sprach sie die letzten Worte hochdeutsch.

Martin hatte sich wieder auf das Rad gesetzt. Auf einer Waldchaussee in Duft und Schatten eilte er dahin, einem Bächlein entlang, und genoß im Eilen dennoch Ruhe. Die Leute, an denen er vorbeikam, hatten heute alle etwas Feierliches, Erregtes. Er beobachtete, daß sie, ob auch sich fremd, einander ansprachen wie Glieder einer einzigen Familie. Ich nur bin auf der Reise, fühlte er. Dann aber glitt er wieder ins Freie hinaus, sah dankbar Obstwiesen, Felder und Hügel, spähte nach der in Duft zerflossenen Gebirgskette und grüßte die Kirchtürme der Dörfer. Er hatte die Landschaft lieb. Keine andere je würde so heimatlich zu ihm sprechen wie die im Umkreise des Rheins und seiner Flüsse. Auch im Winter, mit den verschiedenen Farben des Schnees und der strengeren Struktur der kahlen Bäume, war sie ihm herrlich.

Er fuhr nun langsamer, versuchte zu denken: Zum Winter hatte er in Paris sein wollen. Sein Bruder Paul hatte ihn erst, neulich wieder dringend eingeladen. Er wollte dort sein Studium fortsetzen. Und außerdem – Paris war doch eben: Sehnsucht, Vorbild, Quell der Anmut und der eleganten Lebensschönheit. Man mußte es erlebt haben, ehe man sich im Elsaß festsetzte.

Und wenn jetzt Krieg würde? Krieg auch zwischen Frankreich und Deutschland?

Er konnte sich keine Vorstellung davon machen, wußte nicht einmal, ob es ihm dann erlaubt sein würde, in Paris zu leben. Ihm, der ja die deutsche Staatsangehörigkeit in seinen Papieren bescheinigt hatte!

Die Sonne stand schon schräg, als Martin in einem großen Dorfe ankam, ihm von Ausflügen her wohlbekannt. Er setzte sich ins alte Gasthaus »Zu den drei Linden«, ließ sich Wein, Brot und Käse geben und unterhielt sich mit der hübschen Wirtin, jung verheiratet, eine echte Schwarzwälderin, mit Augen, die wie dunkle Herzkirschen glänzten, und einem frischen schelmischen Mund. Sie scharmierte herzhaft mit dem jungen Gaste, und es gab ein lustiges Gelächter hin und her, unter dem der Wirt herbeikam und ins Unbestimmte hinein mitlachte. Er war in Hemdsärmeln, hatte einen Militärrock über dem Arm und bat seine Frau, ihm hineinzuhelfen »zur Anprob'.« Sie schäkerten miteinander und rühmten die gute Küche der Frau, da die Uniform zu eng geworden war. Sie bastelte verliebt an ihm herum, mehr als die Anprobe verlangte. Er ließ es sich gern gefallen und sah dabei triumphierend auf den Gast, als wolle er sagen: »Bischt neidisch?«

»Wenn ich so ein Weibchen hätte,« sagte Martin dann auch. »Ich ließe mich nicht wegnehmen von da.«

Der junge Wirt zuckte gemächlich die Schultern. »Warum nit, 's isch halt e Abwechslung.« Sie lachte und drohte ihm mit der Faust. »Meinsch, ich tät' auf dich warte? Kei Red'. Ich nemm mer en andere, gell?« Sie blickte herausfordernd zu Martin hinüber. Aber ihr Mann ließ es sich nicht anfechten, »Ich hab' kei Angscht. Die Schwarzwalder Mädle bleiwe treu. Un jede Kugel trifft ja nit,« sagte er plötzlich ernst, scheinbar ohne Zusammenhang mit seiner vorigen launigen Art. Die Frau schlang unbekümmert um den Zuschauer beide Arme um ihn, dann verschämt, das Gesicht in der Schürze versteckend, lief sie davon. Der Wirt sah ihr nach. »Ich hab kei Angscht,« wiederholte er. Dann lachte er auf und setzte Martin in wohlgesetzter Rede auseinander, daß es mit dem Kriege sicherlich noch gute Weile habe. Aber Ordnung müsse sein. Und den Uniformrock wolle er morgen vom Schneider richten lassen.

Martin lag lange im Wirtshausgärtchen auf dem Rasen, riß mit den Zähnen Taubnesselblüten aus, die da standen, und sog sie aus, legte sich dann auf die Seite und blinzelte in den Pflanzenzaun hinein, der ihm Haus und Landschaft verbarg. Er legte das Ohr fest auf die Erde, und das Klopfen seines Herzens tauschte ihm Pferdegetrappel vor, das herankäme. Zuletzt aber schlief er ein.

Beim Aufwachen fühlte er sich nun doch etwas gliedermüde. So radelte er nur die kurze Strecke bis zur Bahnstation und stieg dann in den Zug, um nach Straßburg zurückzufahren.

Das Abteil war sehr gefüllt. In der Mitte standen, sich an den Gepäcknetzen festhaltend, zwei Studenten und eine Studentin mit Rucksäcken. Das Mädchen hatte einen Blumenkranz im Haar. Berliner Geschäftsreisende unterhielten sich laut durch die Lücken hindurch, die die jungen Körper der Stehenden bildeten. Sie sprachen über den abgewendeten Krieg. Allwissend. Ihr Ton schalt im voraus auf etwaige Andersgläubige. »Der Kanzler hat nach Wien geschrieben, daß er sich nicht ohne jeden Grund in einen Krieg hineinziehen lassen werde, und Grey schrieb dasselbe nach Petersburg.«

»Krieg? Ausgeschlossen! Und wenn auch, wir lassen uns nicht an die Wimpern klimpern. Und sie können ja nischt, diese Kerle von Russen. Die kriegen wir noch lange.«

Ja du, dachte Martin höhnisch zu dem fetten kurzbeinigen Mann hinüber.

In Appenweier stieg ei um. Ein Soldat saß da und zwei hübsche junge Frauen, Straßburgerinnen, sehr schick mit ganz engen Kleidern, entzückenden Schuhen und Riesenhüten. Sie plauderten französisch miteinander. Der Soldat, ein junger Mensch aus Ostpreußen, erzählte Martin in seinem harten, singenden Dialekt, kaum sei er auf Urlaub gewesen daheim, da hätte er wieder zurückgemußt. Seine Eltern waren auf dem Felde. Er hatte sie noch gar nicht gesehen, als ihm der Briefträger die Order übergab, die ihn in seine Garnison zurückberief. Mit dem nächsten Zuge sei er dann wieder abgereist. Martin betrachtete ihn aufmerksam. Nach zwei schlaflos verbrachten Nachten tief ermüdet, saß der junge blonde Mensch, dennoch sauber und gerade, aufrecht da. Ein gefälliges Lächeln in seinen blauen Augen. »Fünf Stück von uns müssen mit, wenn's losgeht,« sagte er in respektvollem Hochdeutsch. »Unser Ältester kommt eben aus China, den haben die Eltern drei Jahre nicht gesehen, nun kann er gar nicht erst nach Hause.«

Er sagte das alles ungelenk unter verlegenem Lachen.

»Diesmal kostet's viel Blut,« fing er wieder an, »ob wohl einer von uns Fünfen zurückkommt? I nein, ich glaube es nicht.« Er bürstete sich ein Stäubchen vom Ärmel.

Die hübschen Elsässerinnen hörten auf zu plaudern. Sie sahen den jungen Menschen mitleidig an, und der Berliner Geschäftsreisende, der mit umgestiegen war, sagte, sich selbstgefällig umsehend: »Uns kann keiner! Was?« Dann wurde es still im Kupee.

Und jetzt schlief der junge Ostpreuße ein. Erst artig grade, dann sich tief seitwärts senkend, und zuletzt liegt sein Kopf schwer auf der Schulter der Elsässerin. Sie sitzt ganz still. Der Geschäftsreisende ihr gegenüber macht einen anzüglichen Witz. »Oh non,« antwortet sie streng.

Der junge Bursche schläft gut und lange. Sie rührt sich nicht. Endlich wacht er auf. Er wird blutrot, ringt wie ein ratloses Kind die Hände ineinander und stottert Entschuldigungen. Die Elsässerin lächelt, » Ah bah! Vous avez bien dormi, monsieur. Sie han guet g'schlofe. Sie han's arg nöti g'hätt.«

Würdig und graziös drückt sie ihre verschobene Bluse zurecht und plaudert weiter mit ihrer Reisegefährtin. Auf französisch ...

In der Nacht hatte Martin wirre Träume. Er war in Paris und vermochte plötzlich kein Wort Französisch mehr zu reden. Immer waren es deutsche Sätze, die er sagte, Gedichte sogar. Er wachte einmal auf, als er eines, das ihm sehr herrlich vorkam, laut aufsagte und hörte:

»Und malte die Rosen des Schwarzen Adlers von Japan.« Da mußte er lachen und schlief beruhigt wieder ein.

 

Sehr spät stand er am nächsten Tage auf, wollte ins Schlußkolleg gehen, bekam aber ein Billett aus dem Hotel »Ville de Paris«, das seinen Vorsatz wieder umwarf. Pauls Schwiegermutter, die Baronin Flèche geborene de la Quine war auf der Durchreise in Straßburg und lud ihn zum Frühstück ins Hotel. Sie hatte in Bad Nauheim die Kur gebraucht, nahm in Straßburg ein paar Stunden Aufenthalt und reiste nachmittags wieder ab. Martin gab dem Boten seine Zusage. Er hatte gerade noch Zeit sich umzukleiden. Dieser Besuch aus Frankreich erschien ihm als ein Wink, eine Entscheidung für geheime Zweifel. Er würde von Paris hören, von Paul!

Der Bruder war ihm bisher eigentlich nicht viel mehr als ein fremder Herr, der alle paar Jahre einmal nach Thurweiler zu Besuch kam, sehr höflich war und sehr liebenswürdig, Photographien mitbrachte von seiner eleganten Frau und seinen beiden hübsch angezogenen Kindern, regelmäßig eins Wagenfahrt arrangierte, zu angeln verlangte, alle Leute bezauberte und dann wieder abreiste. Die spärliche Korrespondenz besorgte die junge Madame Füeßli. Sie schrieb selten, liebenswürdig und flüchtig. Meist klagte sie über ihre Gesundheit, berichtete von Pauls Erfolgen als Rechtsanwalt, fügte wohl auch einen Zeitungsausschnitt bei mit einem Zitat seiner Rede oder eine Notiz, in der die Empfänge erwähnt wurden, die die Füeßlis regelmäßig in den Wintermonaten gaben. Im Sommer reisten sie aufs Land. Die Baronin Flèche, die nach dem Tode ihres Mannes zu ihnen gezogen war, beschäftigte sich mit der Pflege und Erziehung der Kinder.

Als Martin in das Hotelzimmer eintrat, war der kleine rot tapezierte Raum gefüllt von Menschen. Albert Blanc war da mit Frau und Tochter, und neben der zierlichen weißhaarigen Baronin stand ein elegantes Herrchen von etwa zehn Jahren, der kleine Gaston, der liebenswürdig die Honneurs machte und auch Martin mit ein paar gewandten Worten empfing, ihm Grüße von Papa und Maman brachte und sich nach seinem Befinden erkundigte. Die Baronin hatte sich eine mädchenhafte Gestalt und Anmut bewahrt. Sie bot Martin eine glatte, von Essenzen duftende Wange zur Begrüßung. Ihre wunderschönen Augen standen voll Güte. Aber sie konnte mit ihm nur wenige Worte wechseln, der geniale Albert hatte bereits das Gespräch an sich gerissen, und unwillkürlich formte es sich um ihn wie ein Schülerkreis. Er sprach über lateinische und deutsche Musik, über Stradella, Nach, Berlioz, Wagner, fließend und geistreich. Sein dunkelbraunes, kräftig gelocktes Haar, die niedere Stirn und breite Nase gaben ihm etwas Imperatorenmäßiges. Er ließ seine Stimme tönen.

Der Kellner lud zum Frühstück, das man in einem besonderen Zimmer servierte. Martin saß der Baronin gegenüber, deren herbstlich milde Art ihm sehr gefiel. Sie erzählte, sie habe die Rückreise mit großer Angst angetreten, Paul hatte sie brieflich beschworen, ihre Kur, die auf noch zwei Wochen länger berechnet war, abzubrechen und so bald als möglich nach Paris zurückzukehren. Jeden Augenblick könne der Krieg erklärt werden«

Ein nachdenkliches Schweigen folgte diesem Bericht.

»Was mich betrifft,« sagte die Baronin, »ich glaube nicht mehr daran, seit ich hier bin. Alles sieht so friedlich aus.«

Der majestätische Albert schüttelte den Kopf, während er sich die Serviette am obersten Westenknopf befestigte. »Deutschlands Armee ist eine überheizte Maschine. Jeder kleinste Druck kann sie zur Explosion bringen, und« – er bewegte rednerisch die Hände – »es geht hiermit wie mit jeder anderen Vollkommenheit. Alles Vollendete verlangt nach Betätigung, nach Erfüllung seines Zwecks. Der Brief zum Beispiel, den wir geschrieben haben, gleitet in den Kastenspalt fast ohne unser Zutun; eine schöne Frau, die tugendhaft bleibt, wird niemals eine leise Melancholie überwinden können, ein Schuldgefühl der Männerwelt gegenüber. Dieses Deutschland hat so lange an seinem Heer vervollkommnet, nun ist es eine Gefahr geworden für Deutschland selbst.« Sein Blick streifte Martin, in dessen Auge die unbestimmte Ungeduld der Jugend brannte.

»Es wäre fürchterlich für unsern Sohn, für Maurice,« erklärte Madame Blanc, als wolle sie damit die Unmöglichkeit eines Krieges dartun.

Die Baronin lachte hübsch auf. Sie plauderte weiter vom Kriege, der nicht kommen würde. Und alle diese schweren und fürchterlichen Dinge bekamen zwischen ihren Lippen etwas Mildes, Wohlschmeckendes. Martin mußte sie immer ansehen. Er selbst und die übrigen Elsässer hier am Tisch kamen ihm grob vor und von plebejischer Unsicherheit gegenüber der harmonischen Gleichgültigkeit der beiden Franzosen. Denn auch der kleine Gaston zeigte bereits die Anmut und Leichtigkeit seiner Rasse.

»O, die Deutschen sind nicht so schlimm,« sagte er lebhaft. »Sie amüsieren mich.« Und er erzählte lachend, wie erstaunt er gewesen sei in Nauheim zu bemerken, daß sie weder immerfort laut brüllten, wie man ihm gesagt hatte, noch alle einen schlechten Geruch an sich hätten. Und daß die Speisen, die man in Deutschland bereitete, keineswegs so ekelhaft und ungenießbar seien, wie man ihn in Frankreich glauben machen wollte.

»Und werden Sie nun in Paris Ihren Kameraden die Augen öffnen hierüber?« fragte Martin belustigt.

Das Kind sah ihn mit großen, engelhaften Augen an. »O nein, Monsieur, ich würde mich lächerlich machen.«

Gegenüber am Tisch erkundigte sich Madame Blanc nach der Mutter der Baronin, Madame de la Quine, die gelähmt in einer frommen Anstalt nahe von Paris lebte. Die Baronin erwiderte, es gehe ihr nicht schlecht, sie sei sehr fromm geworden und fühle sich dort unter den Nonnen wohl.

Gaston erzählte Martin, was die Russen in Nauheim ihnen aus ihren Zeitungen vorgelesen hätten: Kaiser Wilhelm wahnsinnig geworden, will Krieg spielen, wer dagegen ist, wird erschossen. Alle Sozialdemokraten hat man gegen die Wand gestellt und getötet. »Wir haben uns anfangs nicht getraut, mit irgend jemandem zu reden, Mama und ich. Wir glaubten, ganz Deutschland würde sich aufheben gegen uns, wenn wir unser Französisch sprächen. Wie kleine Mäuschen sind wir nebeneinandergekauert, so,« und er machte es mit Jeannette vor, die neben ihm saß.

»Und dann hatten wir auch ein wenig Furcht, seit der Zabern-Affäre. Kein Mensch soll sicher sein vor den Gewehren der Offiziere,« fing die Baronin wieder an. Man liest so viel Aufregendes über das Elsaß, und man kann es verstehen, daß das Militär beim Volke so fürchterlich verhaßt ist.«

»Oft erlebt man das Gegenteil,« sagte Martin, und er erzählte sein Erlebnis mit dem ostpreußischen Soldaten und der Straßburgerin in der Eisenbahn. Es störte ihn, daß er nicht so ganz mit seinem Französisch zurecht kam. Es erschien ihm fadenscheinig und dabei holperig neben dem großstädtisch abgeschliffenen Rhythmus der beiden Pariser. Mitten in der Erzählung brach er ab, fühlte sich unglücklich und fing an, seinen Traum von heute nacht zu erzählen, ohne eine rechte Pointe dazu finden zu können. Worauf Albert sich von neuem der Unterhaltung bemächtigte und sich über seltsame Träume ausließ. Er redete glatt und witzig und brachte zum Lachen. Zugleich sah er sich bei jedem neuen Gange, der serviert wurde, selbstgefällig um. Er hatte das Menü mit dem Wirt verabredet und fühlte sich stolz darauf. »Straßburger Spezialität«, sagte er bei der Gänseleber, den Eiern in Gelée und beim Croquant, einem Nachgebäck, mit glasiertem Zucker überzogen, das er besonders rühmte. »Alles echt französisch.«

Die Flèche hatte noch einen besonderen Auftrag für Martin, den sie ihm beim Kaffee flüsternd mitteilte. Paul ließe ihm sagen, er solle auf keinen Fall im Elsaß bleiben und sofort mit ihnen nach Paris kommen, noch sei es Zeit, da er ja in Deutschland seiner Dienstpflicht noch nicht genügt habe. »Paul sagt, es müsse doch für Sie unerträglich sein, in einem Lande zu bleiben, in dem man Sie früher oder später zwingen könne, gegen Frankreich zu kämpfen.«

Es lag etwas in dem Tone ihrer Stimme, das Martin aufmerken ließ. So als entledige sie sich eines Auftrags, der nicht ganz ihre eigene Billigung habe.

»Und Sie, Madame,« fragte er daher, »würden auch Sie mir raten, meine Heimat für immer zu verlassen?«

Sie schwieg. Ihre Augen bekamen einen feuchten Schimmer. »O das Elsaß! Ich war nur erst ein kleines Kind, als ich es verließ, aber ich habs es dennoch nie vergessen.«

»Sie haben recht,« sagte der große Albert, der viel getrunken hatte, drüben zu Gaston. »Sie sind alle ein wenig Besserwisser, diese Deutschen; nicht nur die Kinder da in Nauheim, von denen Sie uns erzählen. Immer wollen sie regieren oder regiert werden. Sehen sie unsere Beamten hier an. Sie haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie einmal zehn Minuten später an ihre Arbeit gehen. Man kann seine Uhr nach ihnen stellen. Ihre Titel und Orden tragen sie, als gäben erst die ihnen die Berechtigung, zu existieren.«

Martin, zuhörend, bog sich vor. Dabei knisterte Hannas Manuskript in seiner Tasche, und wie dadurch aufgerufen, erinnerte er sich des Gesellschaftsabends bei Hummel. Damals hatte der alte Geheimrat seinen Zuhörern eine besonders schöne englische Ehrenmedaille zeigen wollen, und bei der Gelegenheit entdeckte man eine ganze Reihe ziemlich hoher Orden, die er niemals anlegte.

»Es gibt wohl auch Ausnahmen,« sagte er wieder und fühlte sich mutig dabei, »ich kenne einen deutschen Professor, der – – – «

»O, aber ihre Frauen!« Jeannette Blanc, die bisher wenig zu Wort gekommen war, wie von einer geheimen Wissenschaft um Martins Gedankengänge eifersüchtig gequält, unterbrach ihn hastig. »Sie reden einander mit den Titeln ihrer Männer an und setzen sich in der Reihenfolge von deren Rang zu Tisch.« Sie sah häßlich aus in diesem Augenblick. Ihr Anzug, überladen und künstlich wirkend, hatte sie in Martins Augen sowieso schon den ganzen Mittag über entstellt und ihn verstimmt, so daß er nur die allernotwendigsten Worte zu ihr sagte und das fortwährende Bedürfnis empfand, sie zu ärgern. »Nun ja,« sagte er darum auch jetzt, »bei den Deutschen sind es die Titel, denen man nachstrebt, bei uns ist es das Geld.«

Sie sah ihn böse an. »Sie meinen wohl, Vetter, Sie müssen die Deutschen verteidigen, weil Sie mit den hochnasigen Demoiselles Hummel Theater spielen?«

Mit Bestürzung fühlte er sich rot werden. Zum Glück stand man jetzt auf und ging in den Salon. Die Baronin setzte sich graziös in einen Lehnstuhl, zog eine dicke Zigarre aus ihrem Etui und begann zu rauchen. »Das Alter läßt uns so wenig Freuden, uns Frauen, dafür erlaubt es uns einige Extravaganzen.« Sie stützte den zierlichen Fuß an das Kamingitter. Die Enden ihres Schulterschals wogten sanft empor, die Fenstervorhange ließen ein weiches fließendes Rot herein, das sich wie eine Flut von Rosenblättern über alles Helle stürzte, daß es sommerlich durchglüht erschien. Gaston, mit seinen kleinen Händen und Füßen pagenhaft umhertänzelnd, sah aus wie Mozarts Chérubin. Albert, emporgewandten Hauptes am Klavier phantasierend, erschien wie ein Genie, Frau Blanc und Jeannette wie zwei etwas zu stark versonntaglichte Schwestern, die Baronin aber, in ihrer matten und bewußten Reife, wurde dem entzückten jungen Martin Füeßli immer mehr zur Verkörperung der Stadt Paris, der er sich nun entgegensehnte, und vor der er sich roh, rauh und unhold vorkam wie ein grober Zaungast. Wieder fühlte er das Entscheidende dieser gewitterdrohenden Tage über sich. Aber in diesem Augenblicke hatte er bereits den Weg gefunden, der ihn lockte. Nach Paris.

Ungern nahm er Abschied, um nach der Goethe-Straße zu einer Probe zu gehen. Er war fest entschlossen, seine Rolle dort zurückzugeben.

 

Dazu aber kam es nicht. Beim Einbiegen in die Goethe-Straße stieß er auf Helmut Hummel, der der Stadt zuging. »Ist keine Probe?« fragte Martin.

»Probe? Ach so! Aber ich komme ja erst zuletzt daran im Stück. Ich muß in die Stadt,« fügte er ungewohnt mitteilsam hinzu. »Man braucht gute bequeme Stiefel beim Militär.«

»Sie müßten also mitgehen?«

»Ich bin Reserveleutnant. Aber wenn es losginge, zöge ich natürlich sowieso mit, freiwillig!« Er sah kühl geradeaus.

»Ich glaubte, Sie lieben den Krieg nicht sehr?« fragte Martin.

»Lieben? Man tut einfach seine Pflicht!«

Pflicht und wieder Pflicht! dachte Martin ärgerlich. Ihm schien, als liege in der Art, wie der Referendar vor ihm den Hut lüpfte, etwas Geringschätziges. Er bekam einen roten Kopf davon. –

Bei Hummels schien große Geschäftigkeit. Festliche Blumenkörbe und blumengefüllte Schalen, bereits heute als Geburtstagsgeschenk gesendet, standen den Korridor entlang. Die Frau Hauptmann selber stand dort am Telephon und gab Anweisungen, wahrscheinlich das Diner betreffend, das man abgesagt hatte. Martin hörte, man solle die bestellten Braten und Gemüse für jeden Fall in Büchsen einmachen. »Man kann es dann im Kriegsfall an die Lazarette abgeben.«

Ihn schauderte vor dieser Besonnenheit, die sich jetzt schon mit den Lazaretten befaßte.

Im Eßzimmer, durch das er versehentlich hindurchging, traf er Dora. Das Mädchen sah sehr schön aus, wie knisternd vor Erregung. Das Haar röter als je. »Solche Zeit mitzuerleben,« sagte sie mit fliegendem Atem zu ihm. »Ist es nicht wundervoll?«

Martin schwieg. Er fand es taktlos, daß sie von ihm, dem Elsässer, deutsch-patriotische Begeisterung verlangte. »Es ist noch nichts entschieden,« sagte er zurückhaltend.

Sie merkte seine Verstimmung nicht. »Eben das! Man kann alles erwarten, das Ungeheuerlichste sich vorstellen. Die Männer natürlich, die haben ja gleich an Positives zu denken, aber wir – – Man hat die ganze Zeit über in solchem Einerlei gelebt. Es ist herrlich, aus allem Gewohnten herausgeworfen zu werden, eine starke Faust über sich zu spüren, die einen wegreißt.«

Eine fast verletzende Sinnlichkeit lag über ihrem flammenden Gesicht. »Hanna hält drinnen Probe,« fuhr sie fort. »Sie fühlt das alles gar nicht so wie ich. Sie ist eine Verstandesnatur. Ich aber – wissen Sie, woran ich immer denken muß? In meinem Zimmer habe ich eine Photographie von Böcklins drei Kriegsreitern Tod, Hunger, Pest. Grauenhaft schön ist das.«

»Vielleicht weniger schön, wenn man es erlebt!« Nun war er es, der aus irgendeinem Mißfallen heraus sich nüchtern gebärdete.

Sie sah ihn erstaunt an.

»Was tun Sie denn da so fleißig?« sagte er, im Gefühl, etwas Teilnehmenderes äußern zu müssen.

»O, ich leere die Silberkasten. Man muß die Wertsachen zur Bank bringen; für alle Fälle.«

Jetzt rief Hanna nach Martin. Er ging in den Salon, wo ihn ein sonderbarer Anblick überraschte. Inmitten des von grünen Jalousien verdunkelten Zimmers, mit seinen phantasielosen Nußbaummöbeln der siebziger Jahre, stand ein Negerpaar in grellbunten Kattunröckchen, pechschwarzen Locken und Flormasken, Hummels Erster Assistent mit seiner Braut. Die andern Beteiligten wurden noch erwartet oder hatten abgesagt, nur eine Elsässerin in großer Schlupfenhaube stand noch in der Fensternische. Martin kannte sie von der Hummelschen Sommergesellschaft her. Sie war die Tochter des Bürgermeisters von Thann, eine eifrige Zuhörerin und unbedingte Verehrerin des Geheimrats. Sonst immer strahlend von Jugend und Lebenslust, schien das bildhübsche Ding heute ganz verwandelt. Sie lerne ihre Rolle, gab sie Martin abwehrend zur Antwort, als er sie ansprach. Hanna dankte ihm für die Malerei, die sie hatte abholen und auf den Schirm spannen lassen. Sie sah angestrengt aus, und ihre Stimme war spröde. Sie klatschte in die Hände zum Zeichen, daß man anfangen müsse zu proben.

»Aber – pardon, gnädiges Fräulein, ist es nicht eigentlich frivol, so ruhig weiterzuwurschteln?« fragte der Neger-Assistent und warf die Maske auf das Klavier, wobei sich plötzlich sein blasses Sorgengesicht zeigte. Seine Braut aber, eine lebenslustige Straßburgerin mit unruhigen Augen, meinte, man müsse noch rasch mitnehmen, was sich an Festlichkeiten biete. Man wisse nicht, ob es nicht bald für eine Weile mit Spiel und Tanz vorbei sei. Sie begann denn auch gleich, ihrer Rolle gemäß, einen burlesken Tanz, dem die andern ernsthaft zusahen. Als sie fertig war, noch außer Atem, fragte sie Hanna, ob sie sich auch mit Butter versehen hätten? Die Preise seien plötzlich enorm in die Höhe geschnellt. Worauf ihr Bräutigam erinnerte, man müsse sich Gold eintauschen auf der Bank, Münze gelte nicht mehr. Man sprach von einigen Personen, die ihre geplante Ferienreise bereits jetzt angetreten hätten, da man nicht wisse, wie lange die Bahnen noch Zivilpersonen beförderten.

Das junge Mädchen aus Thann, als verlange es sie, diese Gespräche abzubrechen, trat mit einem sonderbar gespannten Ausdruck in ihrem jungen Gesichtchen in Deklamierstellung auf den Fensterteppich und begann unvermittelt ihre Rolle herzusagen. Sie, die Vertreterin der Studentinnen, sollte dabei eine silberne Schale überreichen, die bereits jetzt mit eigentümlich hellroten Rosen gefüllt war.

Sie begann:

»Das Elsaß, unser Ländle,
das isch meineidi scheen,
wir halten's fescht am Bändle
und lassen's nimmer gehn.«

Plötzlich brach sie in Schluchzen aus und rannte zum Zimmer hinaus. Hanna folgte ihr besorgt. Ein landsmännisches Gefühl trieb auch Martin der Weinenden nach.

Sie saß unter Hüten und Sonnenschirmen in der Garderobe, Hanna hielt ihre Hand. »Was wird aus unserm Ländle werden?« schluchzte die Verstörte. »Wir sind verloren, alle miteinander, so oder so. Der Vater sagt, die Deutschen trauen keinem geborenen Elsässer Gutes zu. Und wenn etwa die Franzosen nach Thann hineinkommen, schleppen sie ihn als Geisel fort, weil er bislang den Deutschen gut war.«

»Die Franzosen nach dem Elsaß?« Hanna schrie beinahe. Sie hatte die Hand der Fremden losgelassen wie etwas Giftiges. Und da die Mutter jetzt nach ihr schickte, ihr bei irgendeiner häuslichen Anordnung zu helfen, ging sie eilig davon. »Wir geben nun doch die Aufführung auf,« sagte sie im Weggehen. »Alles Zusammennehmen nützt nichts. Man muß sich ergeben.«

In diesem Augenblick schloß jemand von außen die Haustür auf. Helmut. Das Gesicht der Elsässerin veränderte sich jäh, und in Helmuts Wangen stieg eine brennende Röte auf.

Sie lieben sich ja, dachte Martin überrascht.

Die beiden jungen Leute sahen sich einen Augenblick an. »Sie wollen schon fort?« fragte Helmut.

Martin drängte zur Türe. Er wollte die zwei allein lassen. Aber in ihrer selbstvergessenen Starrheit versperrten sie ihm den Weg. Das Mädchen hatte ihre Schlupfenhaube abgelegt und stand nun kraftvoll da in ihrem dicken, dunkeln Scheitelhaar. »Sie ziehen sich nun wahrscheinlich Ihren deutschen Soldatenrock an?« fragte sie zornig zu Helmut hinüber.

»Selbstverständlich!«

Sie pochte ungeduldig mit den Fingern am Holzgetäfel der Wand. »Wie ich das Wort hasse! ›Selbstverständlich.‹ Seit gestern hört man kein anderes mehr bei den deutschen Herren hier in Straßburg.«

An Helmuts Stirn sprang eine Zickzackader auf, dick von Blut. »Weil es gar nichts anderes zu antworten gibt,« sagte er böse.

»Auch nicht für Sie? Wie oft haben Sie sich gerühmt, keins der alten abgelegten Ideale mehr anzuerkennen, und nun – –«

»Es sind keine abgelegten!« Seine Stimme war schnarrend vor Aufregung.

»Nein? Ich höre nur die alten deutschen Schlagworte ›Deutschland über alles‹, ›Hurra, Hurra‹ und Säbelrasseln. Ist es nicht so?« Sie sah jetzt zu Martin hinüber wie zu einem Mitstreiter.

»Ich beneide den Herrn Referendar aufrichtig um sein ›Selbstverständlich‹,« sagte der.

Die beiden hörten nichts davon. Glut und Feindlichkeit mischten sich in ihren Blicken, die sich trafen wie blitzende Klingen.

»Dressur!« spottete das Mädchen wieder, »nichts als preußische Dressur. Der Herr befiehlt, der Hund springt ins Wasser, Tout simplement.« Sie nestelte dabei an ihrem Silberschmuck und knüpfte sich ihr Schultertuch fester, wie um fortzugehen. Er trat zurück, sie vorbeizulassen. Sein blondes, glattrasiertes Gesicht erschien metallisch bleich.

Sie wandte sich noch einmal heftig um. »Sie sehen also Ihr Glück darin, einer zu sein von den Hunderttausenden, die die große Maschine bedienen?«

»Ja, ja,,« schrie er ihr entgegen. Das Wort hallte, als habe man an einen Schild geschlagen. »Man hat es selber nicht gewußt, daß man einmal so fühlen könnte,« sagte er dann ruhiger, sich an Martin mitwendend. »Man folgt Gesetzen, die längst nicht mehr die unsern schienen. Man muß,« etwas Brüchiges kam in seine Stimme, »man muß alles hinter sich lassen, das einem bisher lieb war, geht hinaus ins Ungewisse, Fremde, man weiß das alles ganz genau, und dabei hat man ein Glücksgefühl, das unverständlich ist.«

Ein kurzes schweres Schweigen folgte. Die Elsässerin zog ihr Schultertuch fester zusammen. »Ich gehe jetzt.« Sie reichte Helmut die Hand.

»Aber wollen Sie so auf die Straße?« fragte Hanna, die mit einem Stapel Wäsche die Küchentreppe heraufkam, »so im Kostüm?«

»O, wir Elsässer schämen uns nicht unserer Tracht. Gelt?« Wieder sprach sie zu Martin hinüber. Dann, schneller als er ihr folgen konnte, war sie zur Tür hinaus.

Helmut war in der Garderobe stehengeblieben. Sein Fuß klopfte wie in wütenden Schmerzen den Boden.

Im Begriff endlich wirklich zu gehen, wurde Martin noch einmal durch Unvermutetes zurückgehalten. Denn in der Türe, die die Elsässerin offen gelassen hatte, erschien jetzt Albert Blanc mit seiner Gattin, sich an die Fersen von Geheimrat Hummel heftend, den sie im Vorgarten erwischt hatten. Unwillkürlich zog sich Martin zurück und war nun Zeuge einer Szene, die ihn peinigte.

Madame führte das Wort. Im Hausflur stehend, da der Geheimrat nicht Miene machte ins Haus einzutreten, begann sie geläufig von ihrem Sohne Maurice zu reden, der ja bei dem Herrn Geheimrat Volontär werden solle, und dessen ganze zukünftige Karriere verdorben sei, wenn er jetzt zur Armee berufen würde. Sie hob die Hände wie zu einem Andachtsbilde, unerschreckt durch den geraden, unbewegten Blick des alten Herrn, der nichts erwiderte.

»Ein Mann wie Sie,« sagte sie enthusiastisch, »der nur ein Wort zu sagen braucht, um zu erlangen, was er will. O, Herr Geheimrat, sagen Sie es, dieses Wort! Dieses Wort, das eine arme Mutter glücklich macht. Ich wäre so überaus dankbar, so unaussprechlich dankbar. Ich möchte Ihnen jetzt gleich einen Kuß dafür geben, daß Sie sich für uns bemühen werden, n'est-ce pas, Albert?«

Hummel hatte seinen Fuß auf die erste Stufe der Flurtreppe gesetzt, es sah aus, als habe er Angst vor der angedrohten Belohnung. Jetzt sagte er trocken: »Ich habe keinerlei Einfluß auf die Verordnungen der Militärbehörde. Und ich würde diesen Einfluß auch nicht suchen. Selbst nicht für meinen eigenen Sohn. Ich würde mich schämen.« Er grüßte und ging ruhig die Treppe hinauf und weiter nach oben in sein Zimmer.

Martin war rot geworden da in seinem Versteck. Sorgfältig wartete er, bis er seine Verwandten leidlich entfernt glaubte, dann schlich er sich davon wie ein Bestrafter.

Dies hier war also nun zu Ende für ihn.

Abschiednehmend strich er über die herabhängenden Ranken des Rosenbogens, die ihn streiften. – – –

Draußen erreichte er dann, wider Willen, noch die Blancs. Sie standen am Ausgang der Goethe-Straße und redeten erregt aufeinander ein. Als sie Martin bemerkten, hielten sie ihn an.

»Es ist entschieden,« sagte Madame kurzatmig vor Zorn. »Wir schicken unsern Maurice nach Frankreich.«

»Wird er sich denn schicken lassen?«

»Eh, qu'est-ce vous me chantez là? Man kann doch nicht abwarten, ob Krieg wird. Als Elsässer auf Franzosen schießen müssen, impossible!«

»Impossible!« wiederholte Albert, so laut, daß die Vorübergehenden stehen blieben. »Und wir selbst werden auch fortziehen.« Er sprach jetzt Französisch. »Eine Weile wird man sich noch stillhalten müssen, dann aber kann man endlich einmal Farbe bekennen.«

»O ja, wir ziehen alle zusammen nach Paris,« lachte Madame Blanc, schon wieder ganz erheitert, und legte ihre Hand auf Martins Arm. Der machte sich unauffällig los. »Ich komme wohl noch einmal zu Ihnen,« sagte er hastig, grüßte und lief der elektrischen Bahn nach, die ihn nach seinem Metzgergießen führen sollte. – –

Zu Hause trat ihm seine Wirtin aufgeregt entgegen, der Babbe und die Mamme seien angekommen aus Vichy.

In zwei Sätzen sprang er die Treppe hinauf. Da waren sie. In seinem Zimmer. Pierre, die Hände auf dem Rücken, betrachtete die Bilder an den Wänden, Françoise, noch im Reisemantel, saß auf dem großen schwarzen Ledersofa. Ihr grauer Schleier fiel ihr gelöst und weich zu beiden Seiten herab, daß es aussah wie eine Fortsetzung ihres Haars. Sie erhob sich hastig, als sie Martin sah, und fiel ihm mit einem kleinen Schrei in die Arme, »Te voilà enfin.«

»Habt ihr schon lange gewartet?« fragte Martin, bestürzt von ihrer ungewohnten Leidenschaftlichkeit, denn sie begann jetzt fassungslos zu weinen.

» Maman ist übermüdet,« erklärte Pierre, der sich um sie mühte. »Wir haben eine abscheuliche Reise gehabt von Vichy. Namentlich die Abfahrt war erschreckend und unwürdig.« Er sah finster aus, und der Händedruck, mit dem er den Sohn begrüßte, lang und überfest, hatte etwas Feierliches.

Françoise schien jetzt wie nach einem Krampfanfall matt und dankbar. Man hatte ihr Mantel und Schleier abgenommen, ein großes weißes Kissen aus Martins Bett unter den Kopf gelegt. Nun lag sie ganz still in ihrer weißen Bluse und dem schlanken Rock von matter chinesischer Seide. Sie streichelte beständig Martins Hand. »Dich wenigstens habe ich bei mir.«

»Nun und Papa doch auch,« sagte Martin tröstend.

»Ja, Papa auch, mais Paul!« Ihre Lippen zuckten. »Warum fragt man nicht uns Frauen, ob Krieg werden soll? Wir würden es nie erlauben.«

»Noch ist ja Frieden,« sagte Martin, fröhlicher als ihm zumute war. »Niemand hier glaubt so recht an Krieg.«

»Wirklich nicht? Aber du hast recht. Hier scheint noch alles seine alte Ordnung behalten zu haben, da drüben hatte man den Eindruck, niemand stehe mehr auf seinen Füßen, alles ging auf den Köpfen. Man wurde selber schwindlig davon.«

»Die Deutschen sind eben sachlich. Sie haben keine Leidenschaft in sich.«

Pierre lächelte über das rasche Urteilen seines Jungen, aus dem irgendeine Verletztheit hervorklang, die er nicht verstand. Dann, wieder sehr ernst, erzählte er die Vorgänge in Vichy. Sie hatten noch den letzten Zug erjagt, der für die Fremden abgelassen wurde. Unbeschreibliche Szenen auf dem Bahnhof. Zusammengepfercht in luftlosen Warteräumchen, beschimpft von der Bevölkerung, am schändlichsten hatten sich die eleganten Weiber gebärdet, mit ihren Sonnenschirmen stachen sie auf die deutschen Geschlechtsgenossinnen ein, ihnen unter wüsten Beleidigungen Hut und Frisur zerraufend. Eine hatte ein blondes Lockentoupet auf ihren Schirm gespießt. Sie trug es mit einer so grausamen Miene umher, daß man meinte, sie habe einen abgeschlagenen Kopf zu präsentieren.

»Wenigstens hat Papa wieder seinen Humor zurückgefunden,« sagte Françoise und reichte ihrem Manne zärtlich die Hand. Dann richtete sie sich auf. Sie sei beschämt über sich selbst und ihre Schwäche. Aber der Eindruck wäre zu fürchterlich gewesen. »Dieser Haß auf einmal von allen Seiten. Man warf uns unser Geld vor die Füße. Man wollte uns nichts zu essen geben. Man glaubte uns Deutsche.«

»Und sie hatten recht damit,« sagte Pierre. »In diesem Augenblick, den ekelhaften Megären gegenüber, inmitten all dieser Ungerechtigkeit und blinden Torheit schämte man sich der berühmten französischen Kultur, die man so sehr geliebt hat. Man fühlte sich als Deutscher.«

Die Wirtin brachte den Kaffee. Ein hausväterisch bürgerlicher Duft begann im Zimmer aufzusteigen. Unwiderstehlich behaglich. Françoises Klagen und Pierres Worte von eben verschwebten darin und verflüchtigten sich, ganz dünn und friedsam.

Die Wirtin rühmte, während sie die buntgeringelten »Kaffeeschüssele« aufstellte und vollgoß, die bereits zum Abend frisch gebackenen Hörnchen, die »croissants«. Der Bäcker gegenüber habe in Paris gelernt. Seine Brioches seien genau wie die, die man in Notre-Dame an Stiftungstagen den Armen verteilt. Nun brachte sie auch ein Paket herauf, das für Madame Füeßli mit der Post gekommen war. Françoise wurde ganz froh im Gesicht, als sie es sah. »Ah, da ist es. Unser Geburtstagsgeschenk für den Geheimrat Hummel. Er liebte ihn so, den alten kolorierten Kupferstich von Thurwiller. Wir wollen ihn hübsch rahmen lassen für ihn.«

Sie begann die Schnüre aufzuknüpfen. Es kam eine bunte Schachtel zum Vorschein. Martin kannte sie. Sie hatte immer hinter dem Nähtisch der Mutter gestanden, und das festverschlossene kleine Gehäuse hatte für ihn immer etwas angenehm Geheimnisvolles gehabt. Mamas Erinnerungskästchen. Die Mutter öffnete es nur, um kanonisierte Denkwürdigkeiten hineinzulegen. Dann war jedesmal, ganz zart, ein Duft herausgeströmt. Nach Herbstblättern roch es, nach Blumen und süßem Staub. So wie gar keine anderen Dinge in der Welt jemals rochen. Ganz selten auch zeigte ihm die Mutter von ihren Schätzen. Da war ein uraltes, ganz versteintes Kuchenstück von Pauls Hochzeit. Martins erste Schühchen und eine seiner braunen Kinderlocken, sorgfältig mit Goldschnur umbunden, Briefe knisterten, und Zettel lagen da, deren Tinte blaßgelb aussah. Und einmal hatte er sich mit einem Knopfe seines Kittelchens in eine vergilbte lange Seidenfranse verwickelt, die zu einem Schal gehörte, der dann, mit hinausgezerrt, alle Herrlichkeiten zu Boden streute, daß die Mutter eilig, rot vom Bücken, sie wieder auflesen mußte. Es hatte auf Martin einen befremdlichen Eindruck gemacht, daß er nicht helfen durfte, und daß maman so ernsthaft aussah beim Einsammeln.

Pierre Füeßli machte sich zum Gehen zurecht. Er mußte wegen der Pässe zur Polizei und hatte Geschäftliches zu besprechen mit hiesigen Abnehmern seiner Fabrikation. Françoise wollte inzwischen den Rahmen für den Kupferstich besorgen. Bei Hummel wollte man sich dann treffen. »Und weißt du was,« sagte Françoise, »laß uns Père Anselmes Zettel daraufkleben. Eigentlich gehört er ja mehr ihm als mir.« Sie kramte einen schmalen zartblauen Umschlag hervor und gab das alte, stark vergilbte Papier ihrem Sohn zu lesen. In französischer Sprache stand darauf:

»Und so gleicht denn unser armes Elsaß so recht eigentlich jenen alten Pergamenten, die man Palimpseste nennt, und auf denen die alte gotische Schrift mit lateinischer übermalt wurde, bis es endlich einer kundigen Hand gelang, die verborgene Schrift wieder zu Licht zu fördern.

Damit dieses Wunder auch bei uns geschehe, müßte aber schon der liebe Herrgott selber herunterkommen und ein großes Wecken blasen.«

Darunter stand: »Gespräch beim Besuch des jungen Deutschen, am 10. Juli 1870.«

Martin hielt das Papierchen pietätvoll in der Hand. »Also gerade vor dem großen Kriege war der Geheimrat in Thurweiler?«

»Ja, gerade vorher,« sagte Pierre aus der Schlafstube heraus, wo er sich die Hände wusch. Martin sah wohlgefällig zu, wie sein schöner alter Vater, dem der schneeweiße Bart etwas Bedeutendes gab, sich so frisch und tatkräftig umherbewegte. Von drinnen herausredend, befragte er den Sohn jetzt über allerhand Einzelheiten seines Lebens, wollte von seinen Studien wissen, seinem Umgang, und sagte dann, sich die Hände trocknend, auf der Türschwelle wie beiläufig: »Nachts fahren wir dann. Am besten, du packst gleich nachher deine Sachen, damit du mit uns nach Hause reisen kannst.«

Nach Hause! Wie das klang, so sicher und gerettet. Der heutige Tag mit seinem seelischen Hin und Her: die Blancs, die Flèche, dann Dora, Hanna, Helmut, die Elsässerin, nun hier die Eltern mit ihren widerwärtigen Eindrücken aus Frankreich, alles das wich weg von ihm, verstummte. »Ja, ich will mit,« sagte er laut, »mit euch nach Hause.«

Als er aufblickte, erwischte er einen zufriedenen Blick, den die Eltern miteinander tauschten. Hatten sie also Widerstand von ihm erwartet? Fast schämte er sich nun des raschen Zugebens.

Françoise umarmte ihn mit Heftigkeit. »Je älter ich werde, eine desto närrischere Mutter mache ich aus mir,« sagte sie lächelnd, aber ihre Lippen zuckten. »Heirate nie eine Französin oder eine Deutsche, Martin. Kommt dann ein Krieg, so ist dies ein Zerreißen in dir selbst und hinweg von den Deinen.«

Pierre war gegangen. Françoise hatte es sich wieder auf dem Sofa bequem gemacht. Sie wollte ein wenig schlafen, während Martin im Nebenzimmer seine Sachen zusammenlegte für die Reise.

Aber er saß vorerst da drinnen ganz still. Er hörte auf das Brausen in seiner Brust und suchte es sich zu deuten. Er faltete die Hände, wie er es als Kind getan, wenn es galt besser aufzupassen in der Schule. Und es wurde eine Art von Gebet, in dem sich seine Wünsche zu gedachten Worten formten: »Möge mir etwas geschehen. Etwas Starkes! Alles in mir bebt nach Leben, nach Gerufenwerden. Irgendwohin. Rufe mich!« Und er hörte einen Gesang und ein Geläute über den Häuptern der Stadttürme. Ihn aber rief es nicht.

Er erhob sich und begann seine Kleider aus dem Schrank zu nehmen. Die Worte Père Anselmes kamen ihm in den Sinn: »ein großes Wecken«. Aber an ihm würde es vorbeitönen. Ihm fehlte beides: die Selbstverständlichkeit des Deutschen dem Kriege gegenüber und ebenso die Revanche-Aufregung des Franzosen. Nein, es war schon am besten, er ging nach Haus!

Durch die offene Tür hindurch sah er die Mutter schlafen. Er ging hinein, um ihr die Decke, die herabgerutscht war, wieder über die Knie zu legen. Dabei warf er ungeschickt die bunte Schachtel um, die noch geöffnet stand. Ein paar der alten Briefe fielen heraus. Er bückte sich, sie aufzuheben. Dabei las er zufällig ein Wort: »Mein Lieb« von einer fremden Hand geschrieben. An wen war das? Er sah die Adresse »Mademoiselle Françoise Balde«. Dann las er den Bleistiftzettel Hummels aus Bollweiler vom vierzehnten Juli Siebzig. »Leb' wohl, bewahr' Dich mir,« rätselte mit der Hand weiter, indem er die Blätter nun einzeln in den Kasten zurücklegte, und fand den Sedanbrief mit den jubelnden Schlußzeilen:

»Wir haben jetzt ein gemeinsames Vaterland, wir zwei. Der Krieg ist aus, bald komme ich. Dich mir zu holen.«

Nun sah er auch zum erstenmal die Unterschrift. Aber begreifen konnte er immer noch nicht ganz. Rücksichtslos und keck faltete er jetzt ein anderes Blatt auseinander, noch eines, und sah seine schlafende Mutter an, die schön und würdig dalag, den silbergrauen Schleier schützend um das Haar gelegt. Mit beiden Händen hielt er sich den Kopf wie ein Entsetzter. Diese Entdeckung nach allen Erlebnissen des Tages überwältigte ihn. Er kam sich verraten vor und betrogen, nichts, an dem er sich noch halten konnte.

Er ging ins Schlafzimmer zurück. Er wollte seine Mutter nicht sehen, während er über sie nachdachte. Von einer Verlobung vor ihrer Heirat mit Füeßli wußte er. Der Vater hatte einmal flüchtig davon gesprochen. Aber daß es der alte Geheimrat Hummel war! Er versuchte sich ihn vorzustellen, wie er einmal jung war, aber seine Phantasie vermochte es nicht. Und doch hatte er plötzlich das sonderbare Gefühl, er habe längst von solchem Zusammenhange zwischen sich und dem alten Herrn gewußt. Eine mysteriöse Gemeinsamkeit empfand er nun mit ihm, die aus einem ihm verborgenen Grunde süß war. Ganz verwandelt schien er sich. Als sei auf eine geheimnisvolle Weise etwas vom Blute des Hummelschen Geschlechts in seine Adern, geraten und mache ihn verwandt mit ihnen. Er sprang auf. Er wollte hin, gleich jetzt, Dora und Hanna sehen und mit ihnen davon sprechen. Der Krieg und alles Weltgeschehen war für einen Augenblick vergessen über dem Erlebnis an sich selbst.

Einzelne Rufe und immer lauter werdendes Gerede vieler Erregter brachte ihn zur Gegenwart zurück. Jetzt stürzte die Wirtin ins Wohnzimmer, die Schürze vor dem Mund, und schrie es hinein: nun sei es richtig mit dem Krieg, es stünde gedruckt an allen Straßenecken.

Françoise, grell erweckt, sprang sogleich auf bis Füße, begriff alles, ordnete ihren Anzug und trieb Martin an, mit ihr hinunter auf die Straße zu gehen. Dann kehrte sie noch einmal um, den Kupferstich vorholend, den sie mitnehmen wollte. Wacher war sie als er, der sie forschend wie ein Fremder von der Seite ansah, und dem die ihm neu gewordene Vergangenheit Fragen und Forderungen der Stunde verdeckte.

Kaum aber waren sie draußen, als ihm, eingereiht in die dunkelziehenden Menschenmassen, jedes Eigengefühl verlorenging. Nur wie eine weitgeöffnete Schale fühlte er sich, durch die Ströme ein- und ausflossen.

An den Straßenecken staute sich die Flut. Deutschlands Ultimatum an Rußland war da angeschlagen; aber die herandrängten, wußten schon darum, die Extrablätter waren in jedermanns Händen. Was man aufmerksam da las, waren die Nachrichten über die Mobilisierung der russischen Armee. Dazu die Depeschen von den letzten Tagen, in denen der Zar Nikolaus dem Deutschen Kaiser seine Ergebenheit und unverbrüchliche Friedenshaltung versichert. In Empörung standen die Leute davor. »Man hat ihn betrogen, den Kaiser!«

Neben Françoise, die in der Menge stand und sich wider ihre Gewohnheit drängeln und pressen ließ, nahm ein Mann die Mütze ab. Er wischte sich mit seinem bunten Tuch den Kopf. »E' Viecherei isch's g'wese,« sagte er langsam. »D'r Kaiser isch zu ehrlich. Den kann mer dumm mache. Unsereinem hätt' des grad so passiere könne.«

Françoise nickte ihm zu. Immer mehr wuchs eine begeisterte Wut an, die in Hochrufe auf den Kaiser umschlug. Der Mann neben Françoise stand unbeweglich. Man sah förmlich, wie er nachdachte. »Morge kauf' ich mir's Kaisers Bild,« sagte er endlich entschlossen. »Möge se sage, was se wolle, die von d'r Partei! Es soll in die Mitt' komme zwischen Liebknecht und Bebel.«

Eingeengt unter den Begeisterten standen einige schweigende, höhnische Gestalten. Elsässer. Man sah verbissenen Groll, Unruhe und Angst. Martin fühlte mit ihnen. Wie Andersgläubige bei einer großen, heiligen Feier kamen sis ihm vor.

Gesang klang auf: »Die Wacht am Rhein«. Soldaten! Die Leute schrien ihr »Kannst ruhig sein« laut in die Menschenmasse hinein, herausfordernd, prahlend. Eine Schar Schulbuben, deutsche und elsässische, zog in soldatischer Haltung hinten nach, gleichfalls singend, die Gesichter glühend vom Rausch der Stunde, ohne nach deren Bedeutung zu forschen. Alte Mütterchen humpelten aus den Häusern, schlugen die Hände zusammen und lachten, wie sie immer lachten, wenn die Jugend etwas vorhatte, von dem sie nichts verstanden. Zwei junge Mädchen küßten sich in der Menge, eine schwangere Frau lief weinend mit hochgehobenen Armen von einem zum anderen und beschwor sie, ihr zu sagen, was das bedeute? Ob man ihr erklären könne? Serbien? Unsinn, was geht uns Serbien an! Ein ihr Unbekannter antwortete darauf ernst: »Es mußte einmal sein, liebe Frau. So ging's nicht weiter. Die Menschen waren zu genußsüchtig geworden.« Und er zündete sich eine neue Zigarre an.

Die beiden Füeßli trieben jetzt im Strom der Deutschen gegen den Kleberplatz zu. Dort wohnte der Kunsthändler, zu dem Martin seine Mutter hatte führen wollen. Keiner von ihnen dachte noch daran. Aber ihre Füße führten mechanisch den einmal erhaltenen Auftrag aus.

Sie kamen langsam vorwärts, fortwährend angesprochen von Mitströmenden und Begegnenden. Die Stadt hatte sich in zwei Familien geordnet. Eine finstere mit geballten Fäusten, die schwieg, die andere heiß entzündet und laut. Begrüßungsrufe flogen über die Straße, winkende Arme riefen heran. Und überall Lieder; plötzlich waren sie aufgesprungen wie Frühlingsblumen nach dem Regen. Die ganze Stadt war davon gefüllt. Nie war ein solches Singen gewesen in Straßburg. Der tiefliegende, hitzgraue Himmel schien alle Töne zurückzudrücken, sie, wie aus einer umgekehrten Herdpfanne, kochend wieder herabzugießen auf die Köpfe der Leute. Eine unbestimmte glühende Erregung floß umher in der Menge, wurde hier und da aufgenommen, geformt, gehärtet und zu Wurfgeschossen gegeneinander benutzt. Man hörte Schimpfworte der Deutschen, Flüche der Elsässer, Prahlen und Drohen, aber zu einer Rauferei kam es nicht. Zur rechten Zeit wurde die Menge auseinandergeschoben durch eine Reihe Landwagen, die dicht bepackt durch die Straße fuhren. Eine spontane Scheidung der feindlichen Elemente erfolgte. Fester schlossen sich die Zusammengehörigen aneinander.

Martin bemerkte, daß er mit seiner Mutter unter die Altdeutschen geraten war. Er wollte Françoise darauf aufmerksam machen, unterließ es aber.

»Sie verproviantieren die Festung,« sagte ein bureaukratischer Herr zu ihm. »Bei uns geht alles am Schnürchen. Organisation! Ja, ja.«

»Jetzt geht's also endlich los!« hörte er hinter sich jubeln, ein Halbwüchsiger mit unreinem Teint, »endlich einmal, es war höchste Zeit!«

Ein paar deutsche Kollegen, die Martin kaum kannte, stießen ihn an, ihm mitzuteilen, sie gingen auch »mit«. Das Wort hatte einen religiösen Klang, wie sie es aussprachen.

Auf dem Platze bewegte man sich freier. Ernst stand der bronzene General Kleber da auf seinem Postamente, der Elsässer, der in deutscher Tapferkeit und Treue seinem französischen Herrn die Schlachten gewann.

»Da sind die Blancs,« sagte Françoise und ging ihnen entgegen.

Madame Blanc hatte verweinte Augen, sie kamen vom Bahnhof. »Maurice ist fort,« sagte sie, »nach Paris.« Dann erst begrüßte sie die »chère cousine«. »Sie sind nicht mehr in Vichy? und wir dachten gerade daran. Sie dort zu besuchen. Nicht wahr, Jeannette? Die Kleine hat sich bereits eine reizende Toilette bestellt dafür.«

Jeannette nickte. Sie kannte Françoise wenig und machte sich überdies nichts aus älteren Damen. Mit Martin indessen fing sie hurtig an zu plaudern. Man müsse vorerst reisen, abwarten und erst zurückkommen, wenn alles entschieden sei. Was er darüber denke? er als Mann? Würden die Franzosen wirklich gezwungen sein mitzutun, wenn Rußland gegen Deutschland vorrücke? Und ob sie durch die Vogesen kämen?

Ein kleiner Schauer der Neugierde, den sie absichtlich verstärkte, schüttelte sie zierlich.

Martin antwortete kaum. Das Wörtchen »Mann«, mit dem sie ihm hatte schmeicheln wollen, brannte ihn. Alle diese Worte und Gebärden ringsum verstörten ihn. Sich selbst fühlte er noch immer nicht. Seine Nerven warteten.

Madame Blanc erzählte inzwischen ausführlich, wie schwer es gewesen sei, den Koffer nach der Bahn zu befördern. Alls Autos beschlagnahmt, alle Pferde. Endlich gelang es, einen Bretterwagen zu finden, der sie mitnahm. Der Straßburger Bahnhof war überfüllt. Sie mußte nach dem Kehler hinüberfahren. An der Brücke standen Wachen und untersuchten den Koffer. »Der arme Maurice hat Höllenqual gelitten. Man hielt ihn für einen Spion. Aber der eine der Brückenwächter war ein Schüler von Monsieur Blanc. Da ließ man ihn durch.«

»Wie das schön ist,« sagte Albert salbungsvoll zu Françoise. »Wie das schön ist, einem Volke zuzusehen, das sich von einer einzigen mächtigen Empfindung ergriffen fühlt. Mag man sie übrigens teilen, diese Empfindung, oder nicht. Und der Deutsche ist dann plötzlich lebendig wie niemand. Die Erlösung von seiner eigenen Schwere steht ihm auf dem Gesicht. Ich kann das verstehen. Wir alle waren viel zu tief hineingeraten in eine frivole Sicherheit des Lebens. Nun tritt der Meister Tod heran und will uns erziehen. Alle müssen tanzen gehen, wenn er winkt.«

Er lächelte, weil ihm poetisch schien und freisinnig, was er geäußert.

»Ich finde es furchtbar,« sagte Françoise einfach. Aber der Ästhet fuhr fort: »Furchtbar, das ist wahr. Aber sehen Sie die Frauen an. Die Plumpsten auch sind schön geworden; alle kleinlichen Züge sind untergegangen; sie sehen kühn aus, fast bedeutend, und alle schreiten wie auf Wolken.«

»Aber unser Maurice ist fort!« jammerte Frau Blanc.

Der majestätische Albert legte ihr mahnend die große, weiße Hand auf den Arm. »Sehen Sie die beiden jungen Mädchen dort,« fing er dann wieder an. Aber zwei Herren in Strohhüten, Deutsche, denen die Französisch redende Gruppe da sichtlich ein Ärgernis war, zischten jetzt ungezogen hinüber: »Man spricht Deutsch im Elsaß!«

Albert lächelte höflich. »O, ich glaubte, es würde Deutschland nicht schaden, wenn man sein Lob auch auf französisch verkündet. Ich habe mich geirrt. Verzeihen Sie.«

Gerade standen sie vor dem Laden des Kunsthändlers. Martin machte darauf aufmerksam. Albert, der gern seinen Kunstgeschmack bewies, trat mit Françoise in das Geschäft ein. Die Damen verabschiedeten sich.

»Fahren Sie mit uns?« fragte das Jeannettle heiß zu Martin hinauf.

Er schüttelte die Locken. Sie wartete, aber er setzte nichts hinzu.

Drinnen entwickelte Blanc einen großen Eifer, machte sich mit Vorschlägen und Kritisieren wichtig und riß Françoise, die zuerst das Vorgelegte betrachtet hatte, in Eifer hinein. Sie entdeckte ein über Erwarten passendes altes Rähmchen, in dem ein übles französisches Bild steckte, und entschied sich ohne weiteres dafür. Der Mann nannte einen unerhört hohen Preis. Albert, von Natur sparsam und nur in Gedanken zu allem Schönen schweifend, war ganz erschrocken, wollte vermitteln; Françoise aber, die schwarzen Augen feurig emporgewendet, ein wundervolles Lächeln auf den Lippen, meinte, man müsse auch einmal verschwenden dürfen, wenn es einer Jugenderinnerung gälte.

Martin betrachtete sie forschend.

»Ich achte jede Pietät,« sagte Albert. »Aber da Sie selber Thurwiller in diesem Zustand gekannt haben, kann man kaum noch von Erinnerung sprechen.«

»Vielleicht habe ich es dennoch damals gekannt.«

Albert, von seiner Frau durch Klopfen an das Schaufenster gemahnt, küßte ihr den Handschuh. »Man muß Ihnen auch das glauben, Madame Füeßli. Sie sind die ewige Jugend!«

»In der Heimat, in der Heimat, da gibt's ein Wiedersehn,« sangen sie draußen.

Martin hatte aufgehört zu denken. Ihm war, als sei er weit, weit fortgegangen von allem Gewohnten, in eine fremde Welt hinein, in der er sich nicht zurechtfand.

»Ah, le voilà.« Monsieur Henri trat eilig zur Tür herein. »Ich sah Sie von draußen.« Der junge Mann sah aufgeregt aus. Seine Stimme schwang wie zu Liedern. »Ich war bei Ihnen, Füeßli. Ich wollte Sie bitten, an meiner Stelle die Ansprache an den Geheimrat Hummel zu halten. Sie können ja reden. Damals im Café Broglie haben Sie uns alle erstaunt. Nun wohl. Sie können auch mein Manuskript haben, wenn Sie das wollen. Ich? Nein, ich kann nicht bleiben, ich muß fort.«

»Mit ins Feld?«

»Hoffentlich!«

Martin sah ihn überrascht an, wollte etwas fragen, brachte aber nur einen lauten Seufzer hervor.

Monsieur Henri atmete tief. »Was heute hier um einen herum vorgeht, das reißt mit. Das ist denn doch etwas anderes als Kaisers Geburtstag und Festessen. Die Uniform bekommt heute zum erstenmal einen Sinn für mich.«

»Wollen Sie damit sagen, daß Sie sich mit einem Male als Deutscher fühlen?« Martin versuchte skeptisch auszusehen, aber seine Stimme zitterte verräterisch. »Gibt es das? Kann man das? Und Frankreich, das wir alle so geliebt haben!«

Monsieur Henri errötete. Er senkte den Kopf wie um nachzudenken. Dann sagte er: »Ich glaube, es ist so: Frankreich war für uns die Erlaubnis zur Sehnsucht. Verwirklichte es sich jetzt für uns, wären wir beraubt. Und dann – man hat sie nicht ungestraft ein Jahr lang getragen, die deutsche Uniform! Sie klebt einem immer noch ein wenig an, selbst wenn man sie verleugnet. Und jedenfalls hat sie einen verdorben zum Franzosen.«

Es klang sonderbar, daß er das alles auf französisch sagte.

Martin legte plötzlich die Hand auf den Arm des Kommilitonen. Er hatte das Gefühl, er müsse eine Verbindung herstellen zwischen dessen Herzen, das überfloß, und dem seinen, das sich nutzlos hin und her bewegte.

In diesem Augenblicke trat Pierre ein. Die Blancs hatten ihn auf der Straße getroffen und ihm berichtet, wo die Seinen zu finden wären. Der Fabrikant sah sehr ernst aus. Françoise ging ihm entgegen. »Und was sagst du dazu?«

Er nahm ihre Hände. »Straßburg ist mir ganz neu, ein Marschieren und Singen überall. Und alle diese leuchtenden Augen, wie ein Nüchterner steht man da unter lauter herrlich Berauschten!«

»Fühlst du das so?« Sie sah ihn besorgt an.

»Nicht ganz. Denn wenn ich sincère bin, da drinnen« – er legte die Hand auf die Brust, »da drinnen regt sich's gradso närrisch. Mitgehen möcht' man fast.«

»Und das wünschst du dir? Du, Pierre?« Ihre Stimme zitterte angstvoll, und doch klang Stolz auf ihn hindurch.

»Monsieur würde es schwer finden, glaube ich,« sagte der Geschäftsinhaber, der mit dem gerahmten Bilde herbeikam. »Da ist die berühmte preußische Disziplin und die preußischen Leutnants, vous savez

»Sie haben recht, Monsieur. Und dennoch – uns Elsässern ist doch wohl noch etwas von der mittelalterlichen Lehnstreue in den Gliedern sitzengeblieben. Das zuckt auf, wenn der Landesherr in Not gerät. Warum siehst du mich so an, Françoise?«

»Alles das war schon einmal,« sagte sie sinnend, »genau so. Im Traum.« Aber sie irrte sich. Es war kein Traumerlebnis, was sich wiederholte; in ihrer Erinnerung wurden, ohne daß sie es wußte, ihres Vaters Worte lebendig, die er im Juli 1870 seinem Schwager Blanc entgegenrief: »Man hat nicht gewußt, daß man ein gut Stück Wildheit in seinem Blute mit sich herumträgt.«

»Was wird mit der Rede?« fragte Monsieur Henri, im Begriff zu gehen. »Wollen Sie sie halten?«

Martin bejahte. Er erklärte seinen Eltern, um was es sich handelte, und machte sich denn auf den Weg, bei Monsieur Henri das Konzept der Rede abzuholen. Es wurde beschlossen, Pierre und Françoise sollten vorausgehen zu Hummel, Martin dann mit der Deputation nachkommen, die schon für heute abend angekündigt war. Man konnte, der Zeitlage wegen, den Geburtstag nicht abwarten.

Als Martin verschwunden war, sahen die beiden Füeßli sich an. Aber keiner von ihnen wagte es, seine Gedanken auszusprechen.

Auf der Straße nahm Françoise ihres Mannes Arm. Und so schritt sie dahin, zwischen verhüllter Zukunft und verblaßter Vergangenheit. Wie mit verbundenen Augen geführt. – –

Ganz still war's im Villenviertel. Die Straßen hatten alle ihre Menschen in die Stadt hineingeschickt und lagen nun matt wie blutlose Arme eines Kranken, dem das Herz übermäßig klopft. Françoise trug einen mächtigen Feldblumenstrauß. Sie hatte alle Blumengeschäfte Straßburgs durchsucht nach den hohen weißen Sternblumen, wie sie auf den Wiesen von Thurweiler wachsen. Über diesem Suchen war es schon fast Abend geworden, sie mußten sich beeilen, wollten sie noch vor den Studenten in der Goethe-Straße sein.

Nun sie jetzt da einbogen, hörten sie eine aufgeregte Knabenstimme überlaut, fast brüllend mit vielen falschen hohen Tönen patriotische Lieder singen. »Lieb Vaterland« und »Ich hatt' einen Kameraden«.

Jetzt sahen sie ihn, einen kleinen Dreikäsehoch mit Papierhelm auf dem Kopf, einen Stock geschultert, in wütender Begeisterung hin und her marschierend. Neben Hummels Villa lief er Schildwacht. Als er die Fremden sah, die ihn betrachteten, salutierte er ernsthaft. Françoise redete ihn an: »Nun, kleiner Soldat?« Er nannte unaufgefordert seinen Namen. »Otto von Reitzenstein. Papa geht in den Krieg. Papa ist Hauptmann. Wir wohnen hier.«

Und dann begann er wieder, heiser schon: »Daß er unsre alte Kraft erprobt, wenn der Schlachtruf uns entgegentobt.« Dann ging er über in das Weihnachtslied: »Morgen, Kinder, wird's was geben.« Alles Feierliche floß dem Kinde wohl zu Einem zusammen in dieser Stunde.

Im Salon, in dem sie einen Augenblick warten mußten, lagen allerlei halb ausgewickelte Geschenke umher: Kunstwerke, Medaillen. Pierre las die Siegel von mehreren ausländischen Ehrenschreiben und -Verleihungen. Ein bronzener Äskulap blickte kritisch auf das Umhergestreute. Und wirklich schien in diesem achtlosen Nebeneinander etwas Klägliches zu liegen. So als habe ein Zufallswind allerhand Flüchte von den Bäumen gebrochen und hierher geweht, sie ihres Lebens, ihres Sinns beraubt und zu Gerümpel gemacht.

Jetzt ging die Tür vom Nebenzimmer, und Hummel trat ein. Als lägen nicht Jahrzehnte zwischen Abschied und Wiedersehen, ging er, ohne ein Wort zu sprechen, auf die beiden zu und drückte ihnen die Hand. Sein Gesicht war ernst. Wundervoll glänzte sein schneeweißer Bart und sein dichtes weißes Haar.

»Nun erleben wir auch dieses wieder zusammen,« sagte er. »Wieder im Juli!« Und zu Füeßli sagte er: »Wir dürfen nicht alt sein heute, nicht wahr?«

Françoise gab ihm ihren Strauß. »Blumen, wie sie in Thurweiler wachsen.« Er nahm sie, lächelte darauf hin, hielt sie hilflos in der Hand und war froh, als Pierre sie in eine der Vasen steckte, die, schon wassergefüllt, auf der Spiegelkonsole standen. Den Kupferstich betrachtete er lange sinnend und sagte mit leiser Lippenbewegung die Worte des alten Anselme nach. Seine Augen, größer und blauer als je, dankten kinderhaft der Freundlichkeit der Freunde.

»Lassen Sie uns in den Garten gehen,« sagte er dann konventioneller. »Es ist kühler draußen.«

Im Eßzimmer, das sie durchschritten, ordnete die Frau Hauptmann Hummel mit dem Mädchen den Tisch. »Der Geburtstag ist freilich erst in einigen Tagen,« sagte sie zu Françoise, »aber es kommen bereits heute Gratulanten. Sie können nicht warten, die jungen Leute, sie haben alle ihre Stellungsorder schon in der Tasche. Mein Sohn Helmut geht nachher auch fort. Er hat in Königsberg gedient.«

Sie wischte sorgfältig an einem Glase, das ein wenig blind schien.

Auf dem Tisch bemerkte Françoise eine anmutige Schale mit sonderbar hellroten Rosen. Das Geschenk der Elsässerin.

Auf der Veranda, die sie jetzt betraten, saß Hanna, die Feder in der Hand, vor einem Briefbogen in offiziellem Reichsformat, der bereits halb beschrieben war. »Meine Nichte spielt manchmal meinen Sekretär,« sagte Hummel und strich dem jungen Mädchen freundlich über das Haar.

»Wir haben Sie gestört, Herr Geheimrat?«

»Ein Brief an das Kultusministerium. Ich ziehe meine Abdankung zurück. Gern freilich wäre ich nach meinem siebzigsten Geburtstage nach Jena in mein altes Elternhaus gezogen und hätte dort meine Tage, so viele es noch werden wollen, mit eigenen wissenschaftlichen Arbeiten verbracht. Jetzt aber muß man abwarten, ob die Allgemeinheit einen nicht noch braucht. Wird Krieg, muß man ungeheure Mengen von meinem Serum ins Feld schicken. Ich bitte den Minister um Vollmachten, mein Mittel in großem Maßstabe herstellen zu lassen. Das gibt genug zu tun für einen alten Mann.«

Es klang frisch zugleich und ernst. Er blickte durch seine Brillengläser gerade vor sich hin, schien niemanden zu sehen und dennoch tief hineinzuschauen in alle.

Die Frau Hauptmann hatte inzwischen Wein und Kuchen in der Laube hinter dem Rosenbogen aufstellen lassen. Und die Füeßli gingen dorthin. Der Geheimrat müsse durchaus erst sein Schreiben beenden, sagten sie, ehe er sich ihnen widme. Auf dem Wege nach der Laube blieben sie einen Augenblick stehen, Dora anzusehen, die eben unter dem Rosenbogen auftauchte, einen großen Korb mit abgeschnittenen Blumen in der Hand, die sie zum Tafelschmuck verwenden wollte. Man begrüßte sich. Das junge Mädchen blieb einen Augenblick mit emporgereckten Armen unterm Blütenbogen stehen, nach den Hängerosen zu greifen, von denen sie freilich wußte, daß sie ihr zu hoch seien. Pierre trat hinzu und half ihr. Bacchantisch faßte sie die von ihr niedergebogenen Rosenzweige und drückte sie an ihr farbiges Haar. »Ein Rausch, ein Rausch diese Tage,« sagte sie zu Pierre, dessen festes Alter ihr gefiel. »Ist es nicht ein Rausch? Ich möchte mich hineinstürzen in die Gefahr, mir Hosen anziehen, den Tornister auf den Rücken nehmen und Mann spielen!«

»Sieh da, eine Patriotin,« sagte Pierre amüsiert. Françoise machte ein abweisendes Gesicht. Dieses genießerisch in das Verhängnis hineinjubelnde junge Ding war ihr nicht lieb in diesem Augenblicke, da sie litt.

»Mein Patriotismus ist noch sehr neu,« sagte Dora zu Pierre. »Ich habe mich eigentlich bis jetzt mehr Elsässerin gefühlt.«

»Und wer weiß, wenn Sie diese Tage in Moskau oder Paris erlebten, würden Sie vielleicht glühende Russin oder Französin sein!«

Sie lachte.

Man setzte sich in die Laube. Das Gespräch wurde mühsam. Man bemerkte, daß man sich nicht kannte und in ganz verschiedenen Gefühlszonen lebte. Pierre sagte in seiner freien süddeutschen Art, die immer herzlich klang, ein paar Galanterien an Dora. Dann kam Hummel mit Hanna. Man stieß auf des Geheimrats Wohl an, aber der Trinkspruch, den Füeßli formen wollte, würde von Hummel verscheucht, der fast befehlend sagte: »Heute gibt es keinen Einzelnen.«

Françoise betrachtete Hanna mit Anteil. Sie war ihr als ein reizloses und unliebenswürdiges Kind im Gedächtnis. Jetzt sah sie in ein herb gesammeltes Gesicht, in dem ein Kummer lag, der zitternd war und fragend. Ihr ewig horchendes Mutterherz argwöhnte einen Zusammenhang mit Martin. Er hatte ihr fast nur von Dora gesprochen, aber sein Schweigen über Hanna war ihr beredter erschienen.

Indessen war zwischen den Männern ein Kriegsgesprach in Gang gekommen, dessen beherrschte Gelassenheit Françoise beben machte vor Leidenschaft.

»Wir müssen mit ungeheuren Menschenopfern rechnen,« sagte jetzt Füeßli.

Françoises Gesicht rötete sich beängstigend. »Und das hören wir ruhig an, wir Frauen? Warum dulden wir das, warum tun wir uns nicht zusammen, die Frauen aller Nationen zusammen, zerren den Männern die Waffen aus den Händen, lassen sie nicht ziehen? Uns gehören sie. Aus unseren Schmerzen sind sie entstanden!«

Pierre war hinter ihren Stuhl getreten, Hummel sah sie überrascht an, sie merkte es nicht. »Euch jungen Mädchen gehören sie,« fuhr sie fort, die Hände hebend in selbstvergessener Gebärde, »euch hätten sie geliebt, euch hatten sie zu Frauen und Müttern gemacht. Aber wir sind ja alle feige. Unser Blut ist es, das sie vergießen wollen, das Blut unseres Leibes und unserer Herzen. Wir aber schweigen.«

»Und lieben sie dafür,« sagte Hanna leise. Aber Françoise hatte es doch gehört. Es heilte ihren Sturm und machte sie dankbar. Sie nahm Hannas Hand und hielt sie in der ihren. Dora ließ ihre roten Lippen zwischen den Zähnen vorschnellen. Sie sah unzufrieden aus.

In das Schweigen hinein, das nun folgte, kam Frau Hauptmann Hummel den Geheimrat holen. Die Deputation der Studenten sei bereits vor der Gartentür.

Im Salon, der durch die breiten Kronen der nahen Straßenbäume ohnedies verdunkelt war, schloß Dora die Vorhänge und machte Licht. »Es ist feierlicher.« So gab es ein buntes, fast theaterhaftes Blinken, als die Abgeordneten der Korps in ihrem »Wichs« hereintraten. Hutfedern, Stulphandschuhe und farbige Pekeschen glänzten, die Schläger klirrten. Auch die nichtfarbentragenden Studenten bekamen goldene Strahlen auf ihre weiße Hemdbrust und die jungen, frisch emporgerichteten Gesichter. Es war hübsch, als alle diese lebendige Jugend mit achtungsvollem Neigen vor dem weißhaarigen Gelehrten stand und ihn grüßte.

Françoise hatte im Vorzimmer gezögert. Sie wollte ihre Nerven erst beruhigen. Inzwischen lief sie mit den Augen durch die Reihe der Studenten, die da standen. Martin war nicht darunter. Wo blieb er nur? Hatte er denn nicht sogar die Ansprache halten wollen?

Und jetzt, militärisch taktfesten Schrittes tritt einer vor, schlank und federnd, den silbernen Pokal, der überreicht werden sollte, hoch in der Hand. Es ist, als trete die Jugend selber in das Zimmer. Er steht nun gerade unter dem Kronleuchter, sein soldatisch kurz geschnittenes Haar schimmert wie brauner Goldsamt, das Gesicht im Schatten, ihr in jeder Bewegung vertraut und doch ganz fremd in seinem Umriß, dem die Einrahmung der Locken fehlt. Seine Stimme zittert ein wenig, als er anfängt zu reden. Es ist Martins Stimme.

Françoise lehnt sich an die Nische der Tür, in der sie steht. Es ist also geschehen! Martin Füeßli hat sich zum deutschen Soldaten gemacht. Sie sucht Pierres Blick, den sie besorgt über sich hingehen fühlt. Da drüben war er. Auch er hatte verstanden. Mit einer Anstrengung, die ihr die Empfindung plötzlichen Alterns gab, richtete sie sich hoch. Sie lächelte ihm zu. Sie sah auf Martins leuchtende Gestalt und trat mit tapfer verhehlten Schmerzen hinter das große Erlebnis des Sohnes zurück.

Nach einer Weile erst vermochte sie zu hören, was er dem Geheimrat entgegenredete. Es waren Monsieur Henris feine, klug gestellte Worte, aus dem Manuskript gelesen, das Martin verstohlen im Zylinder vor sich hinhielt. Von des verehrten Lehrers Verdiensten um die Wissenschaft war die Rede, von der Freude der Studenten, daß er die Universität nicht verlasse, sondern ihnen dort erhalten bleibe. Denn nicht nur Wissenschaft habe er gelehrt, hieß es, sondern gelehrt auch was Deutsch ist. Nämlich nach dem Worte von Lagarde: »Deutsch sein heißt eine Sache um ihrer selbst willen tun.« »Und darum – –« Und den Geburtstag selber hätten sie nicht abwarten können, weil – –

Im Begriff, den Pokal zu überreichen, flog ihm das Konzeptblatt zu Boden. Er neigte sich unwillkürlich ein wenig, es aufzuheben, lachte dann sorglos auf, warf den Kopf zurück und schickte dem verstummten Manuskript eine kleine Fußbewegung der Verachtung nach.

»Nein, wir können nicht warten,« sagte er mit völlig veränderter Stimme.

Alle schauten auf, weil es klang wie Fanfarenton. »Eine Botschaft ist hineingedröhnt ins Land, die ruft zu den Fahnen. Alles, was stark ist und gerade. Auch hier im Elsaß. Das ist über uns gekommen wie ein großer Wind, der die Leute auseinander bläst und zueinander, jeden wo er hingehört. Und wer eine Maske getragen hat, dem ist sie abgefallen; der Wind hat ihn hinübergeblasen über die Grenze in sein Land. Wer aber bislang nicht recht gewußt hat, wer er ist, der erfährt es heute. Ich, ich habe es erfahren. In Deutschland bin ich daheim. Deutschland muß leben und sollt' ich selber darum sterben!« Seine Stimme jubelte und sang. Es war wie das Geschmetter von tausend Frühlingslerchen.

»Amen,« sagte, eine Stimme, vor Erregung schnarrend. Es war Helmuts Stimme. Er stand hinter dem Geheimrat, schon in Uniform, eine sonderbar hellrote Rose an der Brust.

An dem allgemeinen Schweigen, das folgte, erwachte Martin. Er errötete, sah sich ratlos um, neigte sich dann wortlos und tief vor dem Geheimrat und hielt ihm anmutig mit beiden Händen den Pokal entgegen. Der nahm ihn in Empfang, tiefernst, mit Händen, die ein wenig zitterten. Und als Helmut ihm den Becher abgenommen hatte, ihn zu füllen, blieb er noch eine feierliche Sekunde ohne Worte, hob wieder die Hand und glitt damit über Martin Füeßlis kurz geschorenes heißes Haar. Er wartete, bis seine Stimme fest geworden war, dann, fast leise, begann er:

»Wenn die Jugend Taten findet, soll das Alter schweigen. Und wir schweigen gern. Denn Sie, meine Herren, Sie sind jetzt weiser als wir. Anstatt aus Büchern und Erfahrungen, wie wir es Sie lehren wollten, schöpfen Sie sich Begeisterung aus der lebendigen, nie versagenden Quelle des Gefühls.

Endlich einmal wieder!

Lange ist es in Deutschland verschüttet gewesen, das Gefühl, dieser Urquell deutscher Kraft. Man hatte verlernt seinem Herzen zu vertrauen, man traute nur noch seinem Kopf und seinem Körper. Klugheit, Geschicklichkeit waren die neuen Götter; Seele, Gemüt Spottnamen geworden. Uns Alten, die wir Deutschland kannten, als es noch das Land der Philosophen und Idealisten hieß, uns tat das weh. Wir suchten manchmal nach dem alten, tiefverborgenen Quell. Aber man hatte ihn so vorsichtig ummauert, daß er versiegt schien. Nur Toren und recht alten Leuten zeigte er sich manchmal noch in ihren Träumen, der alte Quell deutschen Gefühls. Elementarer Erschütterungen aber bedurfte es, um seiner Kraft wieder zum Licht zu helfen, so daß er dem ganzen Volke sichtbar werde.

Und nun,« mit einer ergreifenden Bewegung hob er jugendlich adorantisch den Pokal hoch, als wolle er Ströme darin auffangen, »nun rauscht er wieder und ich höre ihn. Das große Wecken, auf das die Besten hier im Elsaß lange hofften, ist ertönt, die so oft übermalte Urschrift, von der die Weisen wußten, Elsaß' Deutschtum ist wieder lebendig geworden! Hell flammt sie auf in großen, heiligen Zügen, die alte, unverloschene, deutsche Schrift. Daß sie sich nicht wieder verberge und verfremde, das steht zur Entscheidung in diesem Kriege. Und ihr seid es, die Jugend, die diese Entscheidung fällen wird. Für Elsaß und das ganze Deutschland!«

Er trank ihnen zu. Ein unbeschreiblicher Tumult erhob sich. Schreie des Muts und der Begeisterung wurden laut, dazwischen kreiste feierlich der schimmernde Pokal von Mund zu Mund. Und dann sangen die Studenten. Ein trotziges Lied in wuchtigem Rhythmus: »Burschen heraus!« Sie glühten vor mannhafter Lust. Auch als sie am langen Eßtisch saßen und tafelten und tranken, lag noch das Schimmern einer Feierstunde über ihnen.

Martin ging wie ein Berauschter umher. Er ging zu Vater und Mutter und küßte sie, er blieb vor Helmut stehen und küßte auch den. »Du!« Dann Dora, Hanna. »Du!« Dora schloß die Augen und lächelte, als Martin seinen Mund auf ihren drückte. Hanna stand regungslos. Dann küßte sie ihn wieder. »Du!« sagte sie ernsthaft.

Er sah sie an, betroffen, wie erwachend. Dann nahm er ihre Hand und hielt sie fest in den beiden seinen gefaltet. –

»Ich muß nun gehen, Mutter,« sagte Helmut zur Frau Hauptmann.

Ihr Gesicht wurde fahl. Starr sah sie ihn an, mit vor Leid harten Augen. »Komm mir gesund zurück, mein Junge, und halt' dich brav!«

Er küßte ihr die Hand. Da schloß sie ihn ganz fest in die Arme. Dora hing sich ihm um den Hals und schluchzte. – –

Die Studenten verabschiedeten sich. Draußen im Garten stellten sie sich noch einmal auf und sangen das alte Lied, das eben wieder neu sich auf allen deutschen Lippen wiedergefunden hatte. »O Deutschland hoch in Ehren, du heil'ges Land der Treu'.« »Haltet aus, haltet aus im Sturmgebraus,« klang es verhallend, als sie abzogen.

Die Zurückgebliebenen standen am Fenster und sahen ihnen nach. Françoise hielt die Hand der Frau Hauptmann, die eiskalt war. Dora weinte laut. Sie blickte dabei auf Martin und Hanna, die still beieinander standen. Auch Pierre und Françoise sahen zu ihnen hinüber.

»Nun hat das Elsaß auch mit Deutschland sein vaterländisches Erlebnis gehabt,« sagte Hummel zu Pierre, an ein Wort anknüpfend, das er von ihm im Gedächtnis hatte seit ihrer letzten Begegnung damals in Thurweiler.

Pierre nickte. »Das gemeinsame Gemütserlebnis, ja, das kittet.« Und er wies auch Hummel nun die beiden Verbundenen drüben.

Hummel ließ seine Augen langsam über alle Anwesenden hingehen. Dann blickte er wieder hinaus, dem letzten verwehenden Klang der Studentenschritts nach. »Die Kinder haben es erlebt,« sagte er, über das Einzelschicksal da in seinem Hause weit hinausschauend. »Wir alle haben es erlebt, haben es wiedergesehen, das deutsche Urgefühl im Elsaß, neu und jung und jauchzend!

Mag nun auch Enttäuschung kommen und Verzagtheit. Wir glauben daran

Und er reichte seinen Freunden beide Hände.


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