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Das Frühjahr 1870 war in Frankreich voll Sonne gewesen, Frucht und Früchte hatten schier doppelt angesetzt, und die Erde stand in Blumen. Aber die Wärme war allmählich zur Hitze geworden, die Hitze zur Glut. Auf den Wiesen war das Gras verbrannt, im Obst auf den Bäumen verkochte der Saft, nur der Weizen stand hoch und golden unter dem blauen Himmel, voller Versprechungen. Ein farbiger Hitzglanz zitterte über den Gebirgen, hier durchsichtig, dort opalisierend wie fließendes Glas.
Auch den elegant und launisch geschwungenen Linien der Vogesen verlieh er ein seltsames Leuchten, das unruhig hineinflimmerte in die kühlen Waldtäler, die Weinberge, satten Felder, grünumfriedeten Dörfer und Talstädtchen des Elsaß. Etwas Erregendes lag darin, etwas, das die Leute aufrüttelte, sie frohmutig oder traurig machte, je nach ihrem Temperament.
In den ersten Tagen des Juli marschierte auf der breiten Mauer des Zuchthauses in Thurwiller ein kleiner »gars de Provence« gutwillig seine Runden ab; vor und hinter ihm gingen, im Abstand von je hundert Schritten, die anderen Wachtposten. Wie sie bunt und behende auf ihrer Zinne daherschrittelten, bald durch die Pappeln des Wallrandes hindurchleuchtend, bald sich grell mit ihren roten Hosen vom weißen Kapellchen oder von den abgemörtelten Zellenhäusern abhebend, ganz hoch, ganz klein, gaben sie der traurigen Anstalt etwas Keckes, Opernhaftes. Vorschriftsmäßig drehten sie die Köpfe nach dem inneren Hofe, in dem jetzt unter Schlürfen und Klirren die Sträflinge um den gelbverbrannten Rasen wanderten. Durch die Doppeltür, die von der Straße in den äußeren Hof führte, kam ein Trupp in braunen Kitteln herein, begleitet von dem Aufseher, trabte über das Kanalbrückchen und verschwand in dem langen Gebäude.
Der kleine Soldat setzte eine wichtige Miene auf. Ah ja, es brauchte strenges Überschauen in solchen Augenblicken. Andern Tags hatte einer dieser Miserabeln sich unter dem Wagen des Chefs versteckt, fuhr mit ihm zum Tor hinaus und sprang dann ab. Nicht schlecht courage, hein? Oder sie werfen sich in den Vauban-Kanal, der mitten durch den Hof geht, diese Schweine! selbst bei einer Wolfskälte im Winter. Und dann hängen sie sich an die Eisengitter der Schleuse und feilen sie durch. Letzten Winter hat man einen mit gefrorenen Kleidern tot im Thurwald gefunden. Aber jetzt – bah! Er blickt vergnügt auf die Ill hinunter, deren Bett, von der Hitze ausgetrocknet, voll glitzernder Steine und stinkender Schlammpfützen liegt – man kann unbesorgt ein wenig umheräugeln, ins Städtchen hinein und hinüber in die kleinen Gärten am Wall.
Unten im äußeren Hof, über dem er jetzt wieder anlangte, kamen zwei Herren aus dem Direktionsgebäude und wanderten in tiefem Gespräch auf und ab: Monsieur de la Quine, Chef der Anstalt, und Martin Balde, Maire von Thurwiller und Arzt; der Direktor lang, dünn und elegant, der Doktor von frischem, raschem Wesen, das Strohhütchen hielt er in der Hand, die goldenen Knöpfe seines blauen Tuchrockes glänzten, silbern lag die Sonne in seinem vollen grauen Haar. Wie im Olivenwalde! dachte der kleine Provençale.
Er war jetzt auf seiner Runde beim äußersten Wachthäuschen angelangt und konnte die Hauptstraße draußen übersehen. Ein Wagen mit Stroh fuhr über die Illbrücke, der Fuhrmann sang ein Lied, der Spitz bellte. Frauen in weißen Bindemützen oder schwarzen Filethauben gingen breit und schwankend wie Frachtschiffe mit Körben und Bündeln; die rotnasige Briefausträgerin mit ihrer geflochtenen Tasche beweglich und mager zwischen ihnen. Sie fuchtelten mit den Armen und tratschten mit tiefen, lauten Stimmen. Die eine hatte ein paar Kinder am Rock, die sie plötzlich wütend zu schlagen begann, Dabei schimpfte sie. Der kleine Soldat machte einen ganz langen Hals. Er hörte das zu gern! Verstehen konnte er freilich nichts von diesem sonderbar lauten und raschelnden patois alsacien.
Merkwürdige Leute, hier in dieser Provinz! Groß und stark sind sie und laut und blond. Und Fäuste haben sie – nom d'un chien! Wenn die sich in die Luft strecken! Aber nur keine Furcht, sie schlagen dich nicht, sie drohen nur, sie schreien auf dich ein, sie töten dich mit Schimpfworten, und dann lachen sie und trinken. Daheim in Frankreich hätte man schon längst ein Messer in den Rippen.
Aber laßt sehen, wer kommt denn da einhergeschwänzelt? Tausend Donner! es ist das Salmele, die Magd vom Maire, o, ein »Gickele« hat sie im Korb und einen großen »Kugelhopf«! Der Mund läuft ihm voll Wasser. Heute abend will er doch sicher versuchen, hinüberzuschlüpfen in die Küche des Herrn Maire zum Salmele.
Hübsch sind die Mädchen hier! Und mit denen versteht man sich schon, wenn man auch die Sprache nicht kennt. Ach, und das Rosele im »Lustigen Bruder«. Das Wählen wird einem schwer.
Aber das alles soll ja nun vorbei sein? Morgen heißt es: En marche. Wer weiß, wohin. Freilich sagten sie heute früh beim l'eveil-Blasen, es gebe noch keine Ablösung für die vingtoinq-er. Das treizième, das an ihrer Stelle einrücken soll, ist unterwegs festgehalten worden. Streik gibt es in Mülhausen, und da sollen die braven »Michele«, die Soldaten, wieder einmal Ordnung schaffen in der Cité, dem Arbeiterviertel. Ja, ja, wir Soldaten!
Unternehmend stieß er sein Käppi nach hinten, daß ihm der dunkle, tief in die Stirn hineingewachsene Haarzipfel in Herzform über den Augen lag. So blinzelte er vergnügt auf das Wirtshäuschen hinunter, das, rosenrot gestrichen, mit kleinen Fenstern und Zipfelmützendach sich wie das Gesicht eines selig Berauschten an das Geländer der Illbrücke anpreßte und zu der ernsten Zuchthausmauer hinaufzuschmunzeln schien. Die Nase dieses rosenroten Gesichts bildete ein verregneter kleiner Heiliger, der in krummer Nische über dem Haustürchen stand, dicht unter dem Schenkenschilde »Zum lustigen Bruder«.
Wie heiß es war, hier auf der Mauer! Der Sandstein brannte durch die Sohle durch. Wenn doch erst Ablösung käme! Aus der Kirche klang das Sechs-Uhr-Läuten, nicht lange danach ein Gebimmel und Geklingel aus den Fabrikhöfen der Firma Schlotterbach et Fils da hinter den Wiesen. Nun würden bald die »Fabrikmaidele« kommen, jede mit einem Liebsten, und dann würde es ein Flüstern geben und ein Küssen zwischen den Wallhecken. Es machte weh, hier oben so allein herumzuspazieren, wenn es da unten so lieblich zuging.
Aber sieh da! das Kabriolett der schönen Madame de la Quine. Wenn man sie doch einsteigen sehen könnte! Ihre hübschen grauen Zeugstiefelchen mit den hohen Absätzen und die seidenen Dessous! Unwillkürlich machte er längere Schritte. Aber er sah nur die Hutkokarde des Kutschers, die um die Ecke glitt.
Jetzt blickte er in den flimmernden Hitzschein, der, vom unsichtbaren Vogesengebirge emporgesandt, in breiten Wellen den Himmel überzog. Bei einer Wendung sah er auch die Vogesen selbst. So blau glühten sie dort, als wären sie durchschimmert von einem großen, glänzenden Lichte, das sich drüben in Frankreich hinter ihnen ausbreitete.
Wie das Meer sieht es aus, wenn die Sonne dahintersteht! Oder wie die schuppenbesetzten Sardinennetze, die daheim die Fischer aufhängen nach dem Fange.
Wie er so hinüberschaut, kommen dem kleinen Soldaten vor Sehnsucht die Tränen in die dunkeln Augen. Und leise, ganz leise fängt er an das Lied zu summen, das die Mutter sang, daheim in den Hügeln, wenn sie die Rinder weidete, wählend er im Grase hockte und mit den glänzenden gelben Blumen spielte. »Oh mes boeufs,« sang sie, »mes boeufs. Oh mon bon frère. Oh mes enfants, mes boeufs!« Und dann das feierliche Lied vom »bon Dieu«. Rot hatte die Sonne geleuchtet auf silberne Wälder und blaues Meer. »Oh mes boeufs, mon petit frère!« Hélas! wann würde er sein Frankreich wiedersehen? Das wirkliche Frankreich! Denn dieses Land hier, in dem man das Maul so breit macht, wenn man Französisch spricht, in dem man nicht lacht, wenn man betrunken ist – o nein, dieses Land hier, das war kein Frankreich mehr, das war die Fremde!
Zur gleichen Stunde wanderte auf der Mülhauser Straße zwischen Feldbreiten von gelbglänzendem Korn und langblütigem, rotem Klee ein junger Mann in grauem Reiseanzug dem Städtchen Thurwiller zu, er ging elastisch und froh und strich manchmal erwartungsvoll über seinen ganz jungen blonden Kinnbart. Zwei Fabrikmädchen, die eilig durch die Hitze gingen, drehten die schönfrisierten Köpfe nach ihm: »Grad wie d'r Saint George bei d'r Muttergottes von Thierenbach, »pas vrai?«
Heinrich Hummel beachtete sie nicht. Sein Blick umfaßte das grüne Tal, aus dem einzeln oder gruppenweise hohe Pappeln emporragten, deren strenge Formen all der Fruchtbarkeit ringsum das Gerüst gaben, und um deren hochmütig zusammengefaßte Glieder die Sonne goldne Doppellinien zog. Blaubesonnt reihten sich die Vogesenberge vor ihm auf. Unwillkürlich wandte sich der junge Deutsche, um liebevoll auf die behaglichen Rundungen seines heimischen, vertrauten Schwarzwaldes zurückzusehen. Dabei entdeckte er, viel ferner und ganz klein, in Golddunst gehüllt, die Schneeberge der Berner Alpen, von denen er soeben herkam. Heinrich Hummel riß den Hut vom Kopfe. Ein überwältigendes Gefühl von der Schönheit dieser Erde und von den Freuden, die sie für ihn im Schoße hielt, durchrieselte ihn. Er war in Ferienstimmung, hatte zu Hause in Jena sein medizinisches Staatsexamen beendet und sich nun, ehe er die Assistentenstelle antrat, die dort an der Universitätsklinik auf ihn wartete, eine Erholungsreise nach der Schweiz gegönnt. Eben kam er von dort zurück. Und jetzt wollte er im Elsaß einmal seine »verwelschte Sippe« besichtigen, von der man daheim halb mißbilligend, halb neugierig zu sprechen pflegte, und die ihm ganz fremd war.
Die Hummels stammten vom Rhein, ein Teil hatte sich schon im sechzehnten Jahrhundert nach Thüringen abgezweigt und wurde dort protestantisch, während ein einzelner von Köln nach Frankreich hinabging, sich in Straßburg festheiratete, dort eine Pastetenfabrik gründete und viele Kinder hatte. Einer seiner Söhne übersetzte die deutsche Hummel in einen französischen Bourdon und erwarb sich in Thurwiller eine Apotheke. Zu dem jetzigen Besitzer dieser Apotheke zum »Bourdon d'or«, Camille Bourdon mit Namen, war der junge Heinrich unterwegs.
Mit seinen langen Schritten überholte er ein altes Weiblein, die ihr Reisigbündel hinter sich herschlidderte und damit auf der staubigen Chaussee große, durchsonnte Wolken aufwirbelte.
»Buschur, monsieur,« sagte die Alte.
»Bonjour.« Und in seinem besten Französisch fragte er sie, wie weit es noch sei bis Thurwiller.
Das Weiblein riß den zahnlosen Mund weit auf.
» Oh excusez, monsieur, i verstand Euch net, i verstand halt nur Elsässer-Ditsch!«
Hummel war beinahe enttäuscht. Freilich hatte er als guter Patriot gehofft, das Elsaß deutsch zu finden, recht deutsch; aber daneben hegte er doch in seinem Herzen die übliche Bewunderung seiner Zeit für alles Französische.
Gleich hinter den Grenzpfählen hatte er denn auch in den weniger streng geforsteten Wäldern, der malerischen Unordnung der Dörfer sowie in dem verwahrlosten Zustande der Landstraßen die erwarteten Symptome zu sehen gemeint; die ungewohnte Höflichkeit der Zollbeamten hatte ihn entzückt. Aber auch dort war die Sprache zu seinem Erstaunen deutsch, das Deutsch des sechzehnten Jahrhunderts. Mülhausen wieder hatte ihm in seiner zwar eleganten, aber wohlgeordneten Sauberkeit und Nüchternheit ganz den Eindruck einer deutsch-schweizerischen Stadt gemacht. Die Arbeiter dort redeten ein altertümliches Alemannisch, im Hotel aber hatten Gäste und Kellner ein süddeutsch betontes Französisch seinem Deutsch erwidert. So war er noch zu keiner klaren Anschauung über diese Volksart gelangt. Und daran hielt er doch!
Die Straße, die sich eine Weile gesenkt hatte, fing wieder an zu steigen. Und er sah nun die kleine Landstadt vor sich, freundlich aufgebaut in der grünen Schüssel ihrer Wallwiesen. Ihre schrägen hohen Ziegeldächer glänzten in der Sonne wie knusprig. Schlank, einer versteinerten Pappel ähnlich, hob sich der Kirchturm aus der engbrüstigen Häuserversammlung, und um das Ganze zog sich wie eine appetitliche Verzierung ein schmaler Rand von Buschgrün, so daß die ovale Silhouette des Städtchens einem hübschen leckeren Tafelaufsatz glich, der dem deutschen Ankömmling bereitet stünde. Frisch ging er darauf zu, an einem altväterisch gemütlichen Fachwerkhause vorbei, das auf einem Bauerngehöft zwischen Bäumen und Kühen gemächlich dastand.
In diesem Augenblick hörte er ein grobes Schelten und Rufen. Ein langer Mensch in rotgestreiftem Hemd kam durch eine Kornfurche gerannt, immerfort schrecklich mit den Armen herumfuchtelnd und Schimpfworte schreiend. Jetzt lief er quer über den Weg und verschwand jenseits in einer neuen Furche.
»Françoise, Françoise, venez vite!« rief es ängstlich aus dem Feld.
»Me voilà, Lucile!«
Vom Feldwege her, der mit der Mülhauser Straße parallel lief, kam eilig ein Mädchen in blauem Kleide dem Scheltenden entgegen, ein blonder, glänzender Haarkorb stand ihr über dem Scheitel. Hummel konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ihr Gang hatte etwas Kräftiges, Zuversichtliches, das er schön fand. Zugleich bemerkte er im hohen Klee drüben einen großen Florentinerhut mit flatternden Bändern. »Françoise,« flehte es noch einmal von da.
Der Bauer war inzwischen unter fortwährendem Schimpfen dem Feldweg ganz nahe gekommen. Hummel blieb stehen, aufzupassen, ob man etwa helfen müsse.
Da hörte er das blonde Mädchen mit warmer, tonvoller Stimme sagen: »'s isch uns arg leid, Schambedis, arg leid.«
Aber der Kerl wurde nur wütender.
»Arg leid – das hilft m'r nix, nundedié noch emol!«
Hummel faßte seinen Stock. Schon wollte er querfeldein auf die Gruppe zulaufen, da hörte er den Bauer wieder:
» Sie mein' i jo net, Mamsell Balde, Sie isch jo net e so! Awer do dene noble Mamselle aus Paris, dene kummt's net drauf an, einem so viehmäßig d' Frucht z'verdappe.«
Jetzt kam ein sonderbar kokettes Kinderlachen aus dem Korn heraus. Das zierliche Persönchen im Strohhut stand da und schaute mit gespannter Aufmerksamkeit hinüber. Plötzlich steckte sie ihr in feinem, braunem Zeugstiefel steckendes Füßchen dem Bauern entgegen und rief in geschwindestem Französisch:
»Sehen Sie doch, Herr Jean-Baptiste, Sie glauben wirklich, daß man mit solchem Füßchen Schaden anrichtet? Mit solchem Füßchen?!«
Und sie trillerte noch einmal dieses seltsame, bewußt kindliche Gelächter.
Der Bauer grinste. Täppisch bückte er sich nach dem kleinen Fuß, der längst wieder verschwunden war, und ließ es dann geschehen, daß die Mädchen wie aufgescheuchte Wildvögel davonflatterten. Hummel amüsierte sich über den Kerl, der mit offenem Maul den fliehenden Geschöpfchen nachglotzte. Dann wurde ihm bewußt, daß er selber es nicht viel anders machte.
Angeregt ging er weiter. Etwas Prickelndes fühlte er um sich her. Und die beiden Mädchenstimmen, die tiefe, weiche und die kapriziöse, gaben ihm das Geleite bis zur Illbrücke.
Françoise Balde, die Tochter des Maire von Thurwiller, und ihr junger Gast waren inzwischen atemlos den Feldweg heruntergejagt und ins Städtchen zurück. Jetzt, in Sicherheit, lachten sie, übermütig und anhaltend, wie nur junge Mädchen lachen können. Françoise hörte zuerst auf, sie machte eine anmutige, freie Bewegung des Abschüttelns. Frisch und kernig ging sie dann die heiße Straße herauf, ein paar ernsthafte Augen in dem lachenden Gesicht. Lucile schlenderte hinterher, immer noch mit kleinen Stößen von Gelächter kämpfend.
Sie war mit ihrem Vater, dem Straußenfederfabrikanten Dugirard, aus Paris vor ein paar Tagen hier zu Besuch bei den Baldes eingetroffen und amüsierte sich herrlich in der ungewohnten Freiheit der Provinz. Zierlich mit den Stiefelspitzchen über das ungleiche Pflaster balancierend, kam sie sich vor wie eine kleine Fee bei Hirten.
Jetzt bogen die beiden Mädchen von der Hauptstraße ab nach der Klostergasse, an deren Ende das Baldesche Haus stand. Früher war da ein Franziskanerkloster gewesen. Wiederholt von den Armagnaken geplündert, in burgundischer Zeit durch wilde Einquartierungen und unsicheres Recht verarmt, wurde es im Bauernkriege vollends zerstört. Während der habsburgischen Herrschaft baute man auf den meterdicken Grundmauern ein stattliches Haus für die österreichischen Vögte als Amtssitz. Der Dreißigjährige Krieg verwüstete auch dieses Gebäude wieder. Lange lag es öde, bis endlich die Stadt das Anwesen wiederherstellte und es an begüterte Private verlehnte. Zuletzt wurde es von Baldes Vorfahren mütterlicherseits aufgekauft und zu einem guten, sicheren Patrizierhause umgewandelt.
Nun stand es da, behaglich und vornehm, mit Fruchtfestons unter den Fenstern und einer breiten Freitreppe. Zwei alte, mächtige Platanen, deren elefantengraue Stämme wie Säulen ragten, hielten rund und wuchtig davor Wacht.
Die Mädchen gingen durch Flur und Eßzimmer quer durch das Haus nach dem kleinen, gemütlichen Vorplatz hinaus, der, gedielt und mit einer Balustrade versehen, von einem schiefgeneigten Birnbaum überdacht, jetzt grün und kühl im Schatten lag; dunkel dem Goldgrün des Sonnengartens gegenüber. Auf dem Rasenplatz zwischen Haus und Garten lagen weiße Wäschestücke zur Bleiche und gaben die Erinnerung an kalten Schnee.
Auf diesem Vorplatz saß jetzt Françoises Schwester, Hortense Dugirard, mit ihrer kleinen Désirée in einem Lehnstuhl. Sie ließ das Kind auf ihren Knien mit einem Kätzchen spielen, sie selbst las in einem französischen Roman. Ihr ein wenig blasses Gesicht erheiterte sich, als sie die Schwester sah.
Lucile begann sogleich mit der Erzählung ihres Abenteuers, ihr Mäulchen regte sich geschwind, die kurzen, raschen Silben klapperten Galopp. Wie eine Schauspielerin hob sie die Arme, machte ihr eigenes Fußstrecken, ihr Laufen nach.
Hortense sah ihrer kleinen Schwägerin mit liebenswürdiger Geduld zu. Sie war in Belfort an einen Offizier verheiratet, Luciles Bruder. Ihre beginnende zweite Mutterschaft hatte ihr ein unwiderstehliches, fast krankhaftes Heimweh gebracht, noch verstärkt durch die Entdeckung eines neuen Liebesverhältnisses ihres Mannes, diesmal in ihrem eigenen Hause, mit Désirées Mademoiselle. Nun war sie hier, zufrieden, einmal wieder bei Vater und Mutter zu sein, in dem alten Garten ihren früheren sauberen Mädchenvorstellungen wieder zu begegnen und der jungen Schwester in das helle, wohlgeordnete Gesicht zu sehn. Ihr Schwiegervater, der sich seit kurzem an der Fabrik Schlotterbach et Fils in Thurwiller mit Geld beteiligt hatte und deshalb hin und wieder hierherreiste, gab sich bei den Baldes Rendezvous mit ihr. Er hatte sein Enkelkind kennenlernen wollen.
Désirée war inzwischen mitsamt dem Kätzchen von Hortense zu Françoise übergegangen und saß jetzt gravitätisch auf ihrem hohen Stuhl, eine große Birne und ein Taschentuch vor sich, bemüht, der Tante ihre Hantierung abzulernen. Françoise hatte einen Korb frischgepflückter Frühbirnen neben sich auf die Bank gestellt, wählte daraus die reifsten Früchte und rieb sie aufmerksam und sorgfältig mit einem groben Tuche ab. Ihre Bewegungen waren von einer präzisen Anmut, die gut zu ihrem Gesichte paßte, das leicht durchschaubar schien. Dann aber konnte sie plötzlich emporblicken, dunkel und heiß, die Augen voll von einer noch wartenden Leidenschaft. Aber das war nur selten. Sie hatte, als wisse sie um ihre beiden Verräter, die Angewohnheit, die Lider tief zu senken, selbst beim Sprechen. So saßen die Schwestern jetzt schweigend, doch des Zusammenseins froh, beieinander. Lucile trieb währenddessen, den großen Hut auf dem Kopfe, ein Gießkännchen in der Hand, ein spielerisches Wesen zwischen den Bleichstücken, begoß sie mit dünnen, bogigen Kaskaden, wippte mit dem Kleidchen und nestelte an den schützenden Halbhandschuhen. Auch im Garten sah man ihr weißes Kleidchen bald da, bald dort durch die Büsche schimmern, niemals aber sehr entfernt vom Straßengitter. Sie wollte gesehen werden und bestaunt.
Unglücklicherweise aber ging niemand vorbei als ein Mann mit seinem Hundewagen und jetzt die Postbotin. Sie reichte einen Brief hinüber an »Madame«. Lucile lief damit zu Françoise. Die sah den Poststempel an. Sie wurde rot dabei, dann strich sie ihre Ärmel glatt, die sie zur Arbeit ein wenig aufgeschlagen hatte, legte Früchte und Tuch ordentlich beiseite und ging mit langsamen Schritten ins Haus hinein, in die Küche, wo Frau Balde mit dem sommerfleckigen Salmele zusammen das Abendessen bereitete. Die elegant gewachsene Frau stand im dunkeln Kleide und großer, weißer Schürze am Herd und rührte eine Omelette, das Feuer färbte ihr schmales, bräunliches Gesicht mit Rot und übergoß die glatten, silbrig schimmernden Scheitel mit Reflexen.
Gelassen reinigte sie am Küchenbrunnen ihre Hände, trocknete sie ab, ließ sich den Brief geben und trat damit ans Fenster.
»Aus Mülhausen,« sagte sie dabei auf französisch zu ihrer Tochter, »von Pierre Füeßli. Es wird seine Werbung sein. Du weißt, seine Familie ist sehr gut.«
»Aber Protestanten.« Françoise stand vor ihr, den Blick gesenkt, den Kopf hintenübergeneigt. Ihr Gesicht war ruhig. Die Mutter nahm sie bei der Hand.
»Er fragt, ob er morgen kommen darf. Wegen des Streiks ist seines Vaters Fabrik geschlossen. So möchte er sich seine Antwort selber holen.«
Françoise nickte. »Ich achte ihn, er ist ein lieber Mensch.«
»Und er sieht gut aus.«
»Und dann ist es auch so nah an Thurwiller.«
»Wir sollen ihn also kommen lassen? Übereile dich nicht, mein Kind. Es ist für das ganze Leben.«
Françoise lächelte. »Ich wüßte nicht, was sich ändern könnte. Mein Gefühl für ihn ist ruhig und klar. Aber immerhin –« Etwas Verträumtes kam in ihre Stimme, sie sah in das Funkeln des Gartens hinaus. »Ich kann mir ja noch einige Tage Bedenkzeit ausbitten,« sagte sie langsam.
Still legte die Mutter ihre beiden Hände auf das weiche, heiße Blondhaar ihres Kindes. »Ja, so soll es sein,« sagte sie sanft, »er soll noch ein wenig warten.« Mit einer Bewegung, deren Präzision die geborene Französin verriet, ließ sie die kleine Schleppe ihres Hauskleides seitwärts gleiten und ging an ihre Arbeit zurück. Françoise stand einen Augenblick, die Stirn an die Scheibe gepreßt, ihre Augen waren groß und flammend geöffnet. Eine unbestimmbare Gier nach Fremdem, unerhört Bewegendem hatte sie auf einmal erfaßt. Noch recht, recht viel sich einverleiben von all dem Herrlichen, das draußen wartet, ehe man sich seinen Alltag baut!
Aber dann ging dies ihr selbst Verwunderliche wieder schlafen. Er ist ein guter Mensch, dachte sie, als sie zum Vorplatz zurückging. Er wird mich auf Händen tragen, und ich werde ihm eine treue und ergebene Gefährtin sein. Es wird sich gut schaffen lassen mit Pierre Füeßli zusammen.
Sie stellte sich den gutgebauten, kraftvollen jungen Mann vor, dessen glänzend schwarzer Bart von Kraft, dessen blühendes Gesicht mit den dunkeln, fast melancholischen Augen von Wärme und Güte sprach. Sie glaubte, ihn lieben zu können.
Der Empfang war freundlich gewesen in der Apotheke und wurde immer herzlicher. Hummel empfand sich bald als zugehörig, sogar seltsam vertraut. Ihm schien, als habe er das alles irgendwann schon einmal genau so erlebt oder geträumt.
Man hatte zuerst in der schmalen »salle à manger« bei Abendsuppe, Huhn und Omelette, noch ein wenig steif, beisammengesessen.
Hummel hatte von Jena erzählen müssen, von den bunten Mützen der Studenten und den Mensuren. Tante Amélie machte ihre dunkeln Augen rund. »Grad wie beim mardi gras!«
Sie war eine umfangreiche, aber noch feste Frau mit tiefer Stimme und energischen Bewegungen. Das Schnurrbärtchen auf der Lippe war schwärzer als ihr dichtes, hochgetürmtes Haar. Der Apotheker machte neben ihr einen fast weichlichen Eindruck: lang und schwank und kahl, mit tief verfalteten Augenlidern, ein bleiches Gesicht, dem das Alter Kinn und Nase genähert hatte. Die beiden Alten versuchten gefällig ihr Hochdeutsch, fielen aber immer wieder ins Französische und in ihr Elsässisch zurück. Sie erzählten vom Lokalereignis, vom Streik. Ganz Mülhausen sei in Bewegung. Die Arbeiter zögen singend und lachend hinauf nach »Tannenwald« und »Dollermatte« und schrien »Vive l'empereur«.
Was denn der Kaiser mit dem Streik zu tun hätte, fragte Hummel.
Oh, pas grand' chose, die Arbeiter glaubten wohl, dem Napoleon sei es recht, den Mülhauser Fabrikanten etwas am Zeug zu flicken.
Das sei sehr töricht gedacht, meinte Tante Amélie eifrig, denn hatte nicht Napoleon bei seinem Regierungsantritt gesagt: L'empire c'est la paix? Wie konnte er also solche Krawalle protegieren wollen? Aber Onkel Camille biß sich fest. Wenn auch! Die Mülhauser wären wirklich fast zu hochmütig. Und dann waren doch auch die meisten der großen Familien dort wüste Liberale; also von denen, die beim Plebiszit »Nein« gesagt hätten, und vor allem, sie seien Evangelische. Denen geschehe es ganz recht.
Hummel lachte ihn scherzend an. So? Also das war Onkel Camilles Meinung? Nun, dann wäre es wohl am besten, er beeilte sich, aus dem Hause zu kommen, denn er selbst sei gleichfalls Protestant, wie die deutschen Hummels ja alle!
Der alte Bourdon machte ein verlegenes Gesicht. Die Anwesenden – man wisse ja – wären immer ausgenommen, und er selbst sei ja gar nicht so, im Gegenteil, er hätte noch immer es verstanden, von jeder Meinung die gute Seite herauszufinden. Er sei kein Raisonneur wie andere hier in Thurwiller, Martin Balde, der Maire, zum Beispiel! Oh non!
Man ging jetzt aus der ersten Etage in das Gartenzimmer, das zwischen Drogenstube und Verkaufsraum lag. Der Salon oben sei zu heiß. Übrigens benutzte das Ehepaar der Bequemlichkeit halber fast ausschließlich dieses ebenerdige Zimmerchen, das mit Generationen von Möbeln überfüllt war. Auf dem ovalen Tisch stand der Kaffee schon unter grüngestickter Bischofsmütze bereit. Man setzte sich. Die graue Katze machte sich's auf dem ausgesessenen geblümten Lehnstuhl auf dem Fenstertritt behaglich, Camille Bourdon stopfte sich eine lange Pfeife, während Madame noch geräuschvoll durchs Zimmer fuhr, ihrem Mann die braunseidene Kappe entgegenschleuderte, die er auf den Futternapf des Kanarienvogels gehängt hatte, den Tabaksbeutel, der neben der Zuckerdose lag, auf die Kommode warf, daß es stäubte, und ihn dann wieder zurückholte, um ihn neben die große Tasse mit aufgedruckten Stiefmütterchen zu legen. Dann bot sie dem Neffen eine Zigarre an, die sie ihm, trotz ihres matronenhaften Umfanges, mit einer gewissen Koketterie anzündete. Ein Geruch von Spezereien kam durch die Türritze, vom Hofe her hörte man Hühnergegacker und das Gebrumm von Kühen.
Langsam und glockenmäßig schlug jetzt eine braune, hohe Stehuhr Sieben. Onkel Camille erhob sich, öffnete das Fenster, streckte den Arm aus und hielt, als er ihn zurückzog, eine Zeitung zwischen den Fingern. »Der ›Industriel alsacien‹,« erklärte er. »Sie halten ihn im Gasthause drüben, und der garçon von der ›Krone‹ bringt ihn mir jeden Abend 'nüber. Ich schröpf' ihn dafür umsonst.« Er setzte sich die runde Hornbrille auf und begann sich in die Familiennachrichten zu vertiefen und undeutlich zwischen seinen Zahnlücken vorzulesen. Wie Heinrich Hummel bemerkte, war das Blatt beidsprachig, immer eine Spalte deutsch, eine französisch. Der gute Camille las die lokalen Notizen deutsch, den offiziellen Aufruf des Präsidenten Isidor Salles aber, der die Mülhauser Bürger zur Ruhe mahnte, las er mit erhobener Stimme französisch, jede vorletzte Silbe hart betonend. Dann las er weiter. Die Fabrikanten in Mülhausen hätten an die Regierung telegraphiert, sie möge Militär schicken gegen die »Arbeiter«. Der schlappe Mann schüttelte mißmutig den Kopf. »Militär, sell gfallt m'r net! Sell gibt bös Blut!« Er fuchtelte mit der langen blassen Hand durch die Luft. »Wir protegiere uns schon allein. Wir Elsässer, wenn m'r uns nur in Ruh laßt.« Dann, wie erschrocken über seine eigene Kühnheit, lenkte er wieder ein: »Nicht daß ich ein Raisonneur wäre, Dieu m'en garde! Aber Militär – non, non, non, sell gfallt m'r net.«
Tante Amélie aber glänzte vor Pläsier: »Militär? c'est vrai? all die hübschen jungen Leute! Oha, das wird e distraction gebe für die Maidle et les jeunes femmes.« Sie jauchzte förmlich, die Tassen auf ihrem Servierbrett zitterten.
Nun hatte sie den Tisch abgeräumt; sie zog ein großes weißes Strickzeug vor und begann zu stricken, immer mit dem rechten Zeigefinger, fast fieberhaft, den Faden haschend. Onkel Camille zündete sich die Pfeife an. Heinrich mußte sich neben die Tante setzen und ein sonderbar geflammtes Wollgarn von der Fischbeinwinde abwickeln, die sie auf den großen runden Tisch gestellt hatte. Wie ein umgekehrtes Schirmgestell sah das aus. Auf jeder Spitze saß ein Püppchen in weißem Kleide und fuhr Karussell. »So hat es schon die Großmutter gehalten, und wir Kinder haben unsere helle Freud dran gehabt.«
Hummel wickelte gehorsam sein Garn und sah zu, wie die Püppchen rundfuhren: zwei rote Kleidchen, zwei grüne und zwei blaue, dazwischen zwei Herren im Rokokokostüm, verstaubt und knitterig. Wahrscheinlich ältester Bestand der Garnwinden-Fahrgäste. Die Winde surrte. Wo hatte er das alles schon erlebt? Wo nur?
Tante Amélie erzählte ihren Tageslauf.
O, sie stand sehr früh auf, schon um fünf Uhr, denn dann mußten die Milchkannen nach Bollwiller gefahren werden. Sie besaß mehrere Anwesen vor dem Städtchen, Häuser, Kuhställe und ein wenig Landwirtschaft. Was im Hause nicht verbraucht wurde, verkaufte sie in Bollwiller. Um sieben Uhr löffelt man ein Schüssele Suppe oder Milchkaffee, dann geht's in die Messe. Zwischen Neun und Zehn das Morgenessen, danach ruht man ein Stündchen. Um zwölf Uhr gibt's Mittag, um vier Uhr Vesper, dann um Sieben die Abendsuppe.
Zufrieden sah sie mit dunkeln Augen um sich, und ihr üppiger Körper dehnte sich förmlich in Erinnerung all der guten Dinge, die man ihm täglich so liebevoll zuführte.
Inzwischen war auch Onkel Camille mit seiner Zeitung fertiggeworden. Mit der Miene eines Mannes, der eine köstliche Überraschung anzubieten hat, stand er auf, ging zur Kommode und zog, zu Ehren des Gastes, ein Spieldöschen auf, das dort stand. Während aus dem Holzkästchen eine sachte Melodie hervorächzte, sang der Alte dazu mit einer überraschend dünnen näselnden Stimme:
»Mich fliehen alle Freuden,
ich sterb' vor Ungeduld,
an allen meinen Leiden
ist nur die Liebe schuld.«
Und dann noch einmal scherzhaft die Worte versetzend: »Mich freuen alle Fliegen, ich sterb' vor Ungeduld.« Danach lachte er dünn und anhaltend, die Katze schnurrte, der Kaffee dampfte.
Und auf einmal wußte Hummel, warum ihm alles das so urbekannt vorkam. Dieser Mann hier vor ihm mit seiner Pfeife, in Hausmütze und Pantoffeln; das hausfraulich unermüdliche Ab- und Zugehen der Tante, die alten tiefen Sessel, gestickten Kissen und Rollen, gebauchten Kommoden, Glasservanten und mit Andenken bestandenen Zierbrettchen, das Spindel-Ührchen und der zittrige Gesang – das alles war Deutschlands vergangene, gemütliche alte Zeit. Dort drüben fand man sie längst nicht mehr, aber hier im sich französisch glaubenden Elsaß hatte man sie unversehrt aufbewahrt. Die Erzählungen von Großeltern und Urgroßeltern waren es, die ihm hier wieder entgegentraten. Selber fühlte er allerlei Unruhe von sich abfallen, die ihn geplagt hatte, fühlte sich einfach und still, erlöst von dem Gespannten und Aufgereizten drüben in dem ehrgeizig sich dehnenden Deutschland ...
Drinnen im Verkaufsraum hatte die Kundenglocke schon ein paarmal angeschlagen, worauf jedesmal ein tröstliches »Glich!« »tout de suite!« von seiten des Pharmacien folgte. Jetzt aber, da das Spieldöschen abgelaufen war, ging er gemächlich zu den Wartenden hinaus.
Tante Amélie erzählte inzwischen vom Kirchweihfest, der »Kilbe«, die morgen in Sulz gefeiert würde. Da müßte der neveu auf jeden Fall mithalten, halb Thurwiller ginge hin. Und wenn er lang genug hier bliebe, würde er auch noch die Prozession in der Kirche zu sehen bekommen, den Papst zu feiern, der ja nun unfehlbar würde. Ihr kleiner Enkel würde die Fahne tragen vor dem Herzen Jesu, und Françoise Balde, die Tochter des Herrn Maire, müsse noch immer als Sainte-Madeleine gehen, obgleich sie doch schon aus der Schule sei. »Sie hat das schönste Haar im Städtchen.« Das schönste Haar im Städtchen! Das klang wie aus einem Märchen! Und Françoise? Das war ja das blonde Mädchen aus dem Korn! Er erkundigte sich nun auch nach der anderen, der Zierlichen. Man erklärte sie ihm. Eine echte Pariserin sei das. O, man verstünde sich hier auf das, was pariserisch sei, man sähe es gern! Hummel machte ein sehr vergnügtes Gesicht. Françoise – Lucile. Und es schien ihm, als stehe da draußen in der grünen, monddurchhellten Dämmerung des Gärtchens ein ganzer Zug von schönen Frauen und Mädchen und warte auf ihn. Unruhig erhob er sich.
Im gleichen Augenblick kam Bourdon wütend zur Tür hereingeschossen. »Isch das recht? isch das chrischtlich?«
Er stellte sich breitbeinig vor dem jungen Mediziner auf, ihm ein Rezept hinhaltend. Der begriff nicht.
» Extrait de Quinquine, eau naturelle – – –? Das ist doch ganz einfach?«
» Ah oui, c'est clair! viel zu einfach isch's! Was soll ein armer pharmacien da dran verdienen? Warum net noch e wen'g vin d'Espagne oder so?«
Und nun machte er seinem Herzen Luft.
Jo, jo! Der Maire, das sei so einer! Früher seien die Kranken fast immer directement in die Pharmacie gekommen. Die Doktors hier von dazumal wären nicht beliebt gewesen. Der eine hätte allen Ehemännern seiner Patientinnen Hörner aufgesetzt, der andere sei immer betrunken gewesen und hätte sich dann auch richtig zu Tode gesoffen. Ja, da wären alle zu ihm, zum Pharmacien gekommen, und er hätte teure Medikamente geben können nach Herzenslust; seitdem aber dieser Doktor Martin Balde, der in Straßburg Medizin studiert hätte, sich hier niedergelassen – Er zog auf eine komisch weiche Art ein paarmal die Schultern zu den Ohren hinauf.
»Und er braucht's net emol,« fiel Madame ein. »Wo doch die Tochter emol d'r Sohn vom reiche Füeßli in Mülhuse heiraten wird.«
Von der andern Seite fing Camille wieder an.
Ja, verschreiben täte der Balde nur die allerbilligsten Arzneien. Und überhaupt sei es eine Schand', daß man einen Liberalen zum Maire gemacht habe. Noch dazu, wo seine Frau eine Fremde sei, eine Evangelische aus'm Frankrich, während sie selber, die Pharmacienne des »Bourdon d'or,« doch schon ihre Eltern und Großeltern hier in Thurwiller auf dem Kirchhof besuchen könne.
Hummel suchte zu trösten, so gut er konnte. Der Herr Onkel sei ja noch in seiner besten Kraft, überdies habe er sicher schon langst sein Schäflein ins trockne gebracht?
» Eh ça – je ne dis pas non! M'r will jo net klage! Un für d'Kinder isch gsorgt. Der fils, der sitzt emol weich im ›Bourdon d'or‹. Schad', daß er seinen deutschen Cousin nicht kennen lernt, aber er ist in Straßburg in der Lehre. Und meine Tochter Madame Schlotterbach« – er machte fast eine kleine Verbeugung – » vous savez, Schlotterbach et fils, die große usine hinter der Ill. Monsieur Théophile, mein Schwiegersohn – oh, il a de ça!« Er bewegte unsichtbare Geldstücke zwischen Daumen und Zeigefinger. »Sie haben nur zwei Kinder, eine Tochter und einen Sohn. Aber Madame Schlotterbach läßt Virginie, en attendant im Kloster. Une fille à marier, vous comprenez! Der kleine Victor Hugo hat erst vierzehn Jahre. Sein Gesicht war plötzlich voll Tränen. Madame gab ihm einen kleinen Stoß mit ihrer Fußspitze auf sein Knie: » Vieux drôle, va! Er hat halt e weich Herz, ce pauvre Camille!«
Bourdon tätschelte ihre Hand: » On fait ce qu'on peut! Mais tenez, not' cousin, jetz solle Sie doch auch unser ditscher Vorfahr sehe, vous savez: le tolle Hümmelle!«
Er stand auf, ging zum Fenster und nahm ein rundes, verstaubtes Bildchen vom Nagel, ein hübsches, blutjunges Kerlchen im französischen Dreispitz und Militärrock. »Mein deutscher Urgroßvater aus Köln,« sagte Bourdon wohlgefällig. »Un wenn ich mich net trumpier', ein Urgroßonkel von Ihne, mon neveu.«
Heinrich betrachtete das Bild. Unwillkürlich mußte er die schönen, entschlossenen Züge mit den verweichlichten des Apothekers vergleichen. Der hatte sich behaglich am Fenster in den geblümten Lehnstuhl gesetzt und fing an, vom Ahn zu erzählen: Wie er unter Soubise bei der Reichsarmee diente, dann bei Roßbach elend und verzweifelt sich von preußischen Werbern einfangen ließ, bei Zorndorf ein begeisterter Kampfer des grand Frédéric wurde, beim Überfall auf Hochkirch aber schwer verwundet schließlich desertierte und sich nach Köln durchbettelte. Wie er in Frankreich, Deutschland, Holland vornehme Liebschaften gehabt und die Damen in kostbaren Equipagen mit Wappen und Lakaien an seiner Wohnung vorgefahren seien; wie er übermütig Stadt und Sippe die Stirn geboten, zuletzt aber das schönste und reichste Mädchen von Köln geheiratet hatte, in den Rat gewählt wurde und so zu Reichtum und Ehren kam, die er verschwenderisch mit Freunden und Verwandten teilte. Wie er oft »viere lang« von Köln nach Paris hinübergefahren wäre, um irgendein kostbares Möbel zu erstehen, das da in einem Schloß verkauft wurde.
Auch Hummel kannte diese alten Geschichten. Man half sich ein und steigerte einander. Bunt und wild stieg alte deutsche Zeit auf im sommerheißen, von bürgerlichen Essenzen durchdufteten Stäbchen und machte den Dreien die Augen glänzend. Ein unternehmendes Lächeln lag um Camille Bourdons dicke, faltige Lippen, und Madame ging wie berauscht mit weiten, wehenden Röcken hochatmend im Zimmer hin und her. Auch Hummel war entzündet. Ja, damals gab es noch verwegene Männer und leidenschaftliche Frauen in Deutschland. Damals lebte man noch mit den Sinnen, nicht nur mit dem Geist, der Bildung! Ihm war plötzlich, als habe er das Leben versäumt. »Ja, damals!« sagte er laut.
Die guten Bourdons faßten diesen Ausruf nach ihrer Weise auf.
»Isch's denn wohr, mon neveu,« fragte Tante Amélie und blieb dicht vor dem jungen Manne stehen, »isch's denn wohr? Hat's jetz in eurem Ditschland keine rechte Maidele mehr? Nur so Schulmamselle mit Brille uf d'r Nas un gstutzte Haar un Dintefinger, so wie m'r sie im ›Jean qui rit‹ abgmalt gsiet?«
Und Onkel Camille fragte geheimnisvoll hinter seiner Hand: » Dites donc, jeune homme, isch's immer noch so, daß die kleine Kätterche un Gretche sich mäuselestill halte, wenn ihr ihne als eure propos mache? Un d'rno z'Nacht lasse sie euch doch's Kammertürle wageweit offe?«
Tante Amélie drohte ihrem Mann mit dem Finger: » Ah, voyez-moi le Don Juan! Um dich alter Babbe wird sich grad e Maidele derangiere! Monsieur Hümmelle que v'la, das isch e anderer Mann, gell!« Sie kniff die glimmerigen Augen ein. »Nur daß ihm sein Bart so wüscht ums Kinn ummewachst, sell will m'r halt net gfalle, sell kennt m'r net do bi uns. Der verkratzt jo dene arme Maidele 's Gsichtle!«
»Versuche Sie's emol, Tante Amélie!« Übermütig breitete er die Arme gegen sie aus und ließ sich von ihr küssen. Erst auf beide Wangen, dann auf den Mund.
»Monsieur Bourdon schaut nicht her,« sagte die vergnügte dicke Dame dabei scherzhaft beruhigend. Noch ganz atemlos setzte sie sich auf den Fenstertritt und strickte.
Jetzt klang von draußen ein langgezogener Gesang herein, mit psalmodierendem Schnörkel nach jeder zweiten Zeile:
»Hört, ihr Bürger, ich tu' euch kund,
es ist um die neunte Stund'.
Nehmet Feuer und Licht in acht,
Gott geb' euch eine gute Nacht.«
Das war das Zeichen zum Schlafengehen.
Hummel freilich saß noch lange oben im Gaststübchen wach. Es ging auf den Platz hinaus. Ihm fast gerade gegenüber stand das schöne alte Rathaus aus dem sechzehnten Jahrhundert. Unversehrt von der Zeit, würdig und harmonisch stand es da im Mondschein. Es bildete die Ecke zwischen Hauptstraße und Markt. Weiter hinten begrenzte die Kirche das still geschlossene Geviert des Platzes. Mit ihren vielen freistehenden Schmuckturmspitzchen erschien sie weltlicher geputzt und unruhiger als das harmonisch gegliederte Stadthaus mit seinem Hallen-Unterbau und seinen breiten, dreigeteilten Fenstern. Hinter einem dieser Fenster saß ein alter Mann und schrieb. Flockig stand ihm silberweißes Haar um das stillgeneigte Gesicht. So etwas Stilles, Zeitloses lag über dem Einsamen da oben! Heinrich Hummel sah lange hinüber.
Auf einmal schellte die Nachtklingel. Heinrich horchte hinaus. Es gab ein wenig Treppenlaufen im Hause, der Onkel im Schlafrock gab dem jungen, französisch antwortenden Laufburschen, der unten schlief, eine Anweisung. Auf Heinrichs Frage rief er gleichmütig hinauf, im »Lustigen Bruder« hatten sie einen zu Boden geschlagen. Es sei weiter nichts passiert. Bald war alles wieder still.
Hummel setzte sich an den ovalen, etwas schwankenden Tisch. Er hatte sich einen Band von Gottfried Keller mitgebracht, in dem las er. Um ihn her war es traulich, wie von atmenden Wesen belebt. Das Muttergottesbildchen schien ihm freundlich zuzusehen, sein Lämpchen surrte mit einem behaglichen Mückenton, eine kleine eilige Uhr mit einem Füllhorn voll künstlicher Blumen tickte ganz hell, der niedrige blauweiße Fayenceofen, über dem die Röhre sich in phantastischen Schlangenwindungen zur Decke hinzog, trug in alter Schrift einen Spruch: » Je suys le soleyl de l`hyvère.« Und auf dem Nachttisch, der eine alte Säule nachahmte, lag ein schöngebundenes, Gebetbuch: »Maria, du Morgenstern.«
Sein Tag zog an ihm vorüber. Nach all der Bücherstöberei der letzten Wochen und dem angestrengten Wandern in der Schweiz der erste Tag der Einkehr in sich selbst.
»Holt, ihr Bürger, ich tu' euch kund,
es ist nun die elfte Stund'.«
Da löschte er das Licht.
Er hatte einen sonderbaren Traum, der ihn in silbern tönendem Korn mit schönen Mädchen spazierengehen ließ. Eine große schwarze Schlange folgte ihm wie ein treuer Hund. Er trat auf weichen, weichen Weg. Musik war um ihn. Im halben Erwachen fand er sich dann überquer im ungewohnten französischen Zweierbett liegen, draußen war Kirchengeläut, und ihm gegenüber blendete das schwarze gewundene Ofenrohr. Noch schlafschwer blinzelte er darauf hin. Sofort aber begann sein Hirn die Gewohnheit der Examenzeit fortzusetzen und mechanisch Gedächtnisübungen zu machen. Er sagte sich die Reihenfolge der Handwurzelknochen her: das Kahnbein – das Mondbein – das Dreiecksbein.
Völlig wach werdend lachte er auf. Da hörte er den Nachtwächter mit rostiger Stimme singen:
»Hört, ihr Bürger, ich tu' euch kund,
es ist um die fünfte Stund'.
Morgenrot am Himmel schwebt,
und wer den neuen Tag erlebt,
der danke Gott dem Herrn!«
Da schlief er friedlich wieder ein.
Im »Lustigen Bruder«, wo die »Wackes« tranken, war es lebhaft zugegangen heute abend. Schon gleich nach Arbeitsschluß war die Stube dicht voll, über den Tischen und Bänken lagerte Tabaksdunst. Die beiden offenen Öllämpchen flackerten im Luftzuge und im Stimmengewirr, das gegen sie andrängte, unruhig hin und her; zu den fast ebenerdigen Fensterchen sahen blutrote Himmelsstücke herein. Öffnete ein neuer Ankömmling die Tür, so verschwadete sich der Dampf und ließ für einen Augenblick rote, massige Gesichter und graugelbe über schmutzigen Werkstattblusen auftauchen; eine ausladende Armbewegung wurde sichtbar, dann vergraute wieder alles. Es roch nach Schnaps, Schweiß und Pfeifenschmauch. Ab und zu polterndes Lachen, das zwischen dem Durcheinanderreden hervordröhnte. Alle sprachen aus voller Kehle und zu gleicher Zeit. Man war behaglich.
Jetzt aber eine Krähstimme mitten hindurch.
Alle horchten auf. Der Pfiffer-Schang war gekommen, der auf den Dörfern aufspielte. Man bewunderte ihn, weil er so gewitzigt war, aber man scheute ihn auch. Manche wollten wissen, er habe geheime Auftraggeber unter den Regierenden, denen er die kleinen Leute aushorche und verrate. Bestimmtes wußte man nicht, aber es war doch eine wortlose Verabredung zwischen den Arbeitern, sich in acht zu nehmen vor ihm.
Pfiffer-Schang hatte sich auf den Tisch geschwungen, er baumelte mit den langen Beinen gefährlich zwischen den Nasen seiner Nachbarn auf und ab. »Gottverdammi,« kreischte er nun los. »Han ihr scho' g'hört? Lustig geht's zu drobe in Mülhuse, nix als Feierdag. Beim Füeßli uf der Wülle han d' Spinner d'r Anfang g'macht. Un morn oder übermorn gehn sie zum Nägeli.«
Er stieß die landbekannten Übernamen der großen Mülhauser Fabriken schmetternd heraus. Tiefes Stillschweigen antwortete seiner Eröffnung. Keiner wollte eine Meinung bekennen.
Nur ein alter, verkommener, rothaariger Mensch am untern Ende des Tisches, mit einem durchlöcherten Strohhut über dem bleichgedunsenen Gesicht, der eine rote Blume an der linken Brust seines übelriechenden Armenröckchens trug, fing an, unsicher und mit fahrigen Bewegungen in die Luft hinein zu plappern, »'s isch awer doch nit racht, so umz'schpringe mit de Noble! Kei Respekt hat's meh in de Welt: es isch e Sünd un e Schand.«
Schmied-Louis lachte: »Blib numme still, m'r wisse's scho lang: du un d' Noble, ihr fische im nämlige Weiher.« Das sollte eine Anspielung sein auf Groffs Ältesten, wegen seiner Häßlichkeit »Petit-singe« genannt, der einen député in Paris zum Vater hatte. Groff bezog eine kleine Jahresrente von dem Pariser »Gevatter«.
Der alte vertrunkene Mensch legte den Kopf auf den Tisch und schnüffelte. Sonst war er der Spaßmacher im »Lustigen Bruder«, man gab ihm Wein, seine Cochonnerien zu hören, heute aber war er schon betrunken und traurig. »Jojo, so kann's de Mensche gehn,« wimmerte er. »Siebe Johr bin i im Badische gsi un hab' Thurwiller nie meh gsehn. In dere Zitt un in jedwederem Johr han i d'heim vom Schosefin a Kind bekumme. Neune sin's. Eins oder zwei, däs versteht m'r scho, ça se comprend, awer z'viel isch z'viel.« Und er jammerte laut.
Drüben sprach man weiter vom Streik.
»Wohr isch's!« Rosenkranz-Schorsch, ein noch junger, fetter Mensch, rieb sich das glatte Kinn. »Herre tät's allewil gebe.«
»Wenn's kei Herre tät gebe, was wär d'rno der Papst?«
Auch der Schneider gab das zu. »Wenn alle wollte Arweitsbluse trage, d'rno war's üs mit unserem métier. Herre un Knecht, so steht's scho im Evangelium.«
Pfiffer-Schang hatte inzwischen vertraulich den Arm um den schieligen Mathiß geschlungen, er flüsterte mit ihm. Der hob den schwarzen Zeigefinger. »Ketzer sin's awer doch,« sagte er gelehrig. »Un wer d'r katholisch Glauwe net haltet, der isch au wider d'r Kaiser un's Gesetz.« Er wischte sich mit der linken Hand das schmutzige Auge, das tränte, und sah befriedigt um sich.
»Nur dreimal im Johr mache sie Feiertag,« warf Pfiffer-Schang dazwischen, » merci bien.«
Das traf. Alle brachen los. »I vergunn's de Herre.« » Nun-dedié, i vergunn's de Herre z' Mülhuse.« »Dene faquins.« »Dene ghört a Krambohl, e ganz wüschter Krambohl.«
Der Rosenkranz-Schorsch stimmte jetzt bei. » Pour sûr. Die bonne soeurs – mi Kathele wascht ihne jede zweite Woche – jo, die bonne soeurs han gsait, d' Herre in Mülhuse, das sin net emol rachte chrétiens, und drum wird sie unser Herrgott jetz strofe. Un in Stroßburg un im Unterland gibt's au viele von dene, han se g'sait.«
»Un bi euch« – Pfiffer-Schang sah triumphierend um sich – »jo bi euch hat's au Litt, die d'r rechts Glauwe net han. Die Madam vom Herr Maire zum exemple. Die isch e Welsche un e Luthrische d'rzu. Fi donc!« Er spuckte aus.
Ein mißbilligendes Schweigen folgte.
»Ich will man sagen, daß das anders ördentliche Lüt' sind,« schiebt der Fabrikschlosser Tjark Smeding in seinem breiten, langsamen Ostfriesisch dazwischen. Er ist vor zwei Jahren auf der Wanderschaft hier hängen geblieben und an der Schlotterbachschen Fabrik angestellt. Weil er an der rechten Hand nur drei Finger hat, nennt man ihn den Dreier-Tjark.
» Diavolo!« Ein schöner, verwegener Bursch, der neben Groff an der Tischecke saß, schlug mit der Faust auf den Tisch. » Diavolo! möcht' i dabei sein! O carambolo bello!« Seine weißen Zähne blitzten.
Der schielige Mathiß begehrt auf: »Jo, ihr Salzbohrlitt, ihr welsch Lump-Chor! Euch kann's net wüscht g'nug zugehe!«
Und das blasse Schneiderlein hetzt gleichfalls: »Wart' numme, Krambohl, meh als g'nug, wenn dir d'r Förster Rusch emol hinter d' Hasestrickle kummt! Sell gibt e g'salzener Imbs!«
Der schwarze Carlo, der berüchtigte Wilddieb, lachte mit allen seinen Zähnen.
»M'r machen au mit beim Krambohl!« Die Stimme des breiten Schmied-Louis klang wie aus einem tiefen, leeren Gewölbe heraus. Alle begeisterten sich daran.
Pfiffer-Schang schlug ihm auf die Schulter. »Racht hasch, ihr sin' au kei' Hund!«
»Grad so isch's! D' Herre stecke alles in d'r Sack, un ihr Arweiter könne verrecke für sie.«
»Jo d' Noble!« brüllte ein Rotnasiger. »Jo, die fresse un saufe, Herz was begehrsch', un unsereins hat net emol Kredit beim Wirt. Rosele, gell du bringsch mir noch einen?«
Und das hübsche Wirtstöchterchen läßt sich erweichen.
»Jo, d' Mülhuser han rächt!« ruft der Louis wieder. »Dreischlage, luschtig si! Sich nix g'falle losse!«
Der Pfeifer ist mit einem Satz vom Tisch gesprungen. »Un ihr solle euch au nix g'falle losse,« kreischt er. »Merken ihr das net? Dor bi euch isch's grad so wie drüwe in Mülhuse. 's Schlotterbach's – –«
Aber niemand will recht anbeißen. » A bah, der Alte. Der isch jo seller Arweiter gsi.«
Pfiffer-Schangs Gesicht, das durch seinen Beruf unveränderliche Lachfalten bekommen hat, versucht weise auszusehen. »Jo, Hafekäs, die wo emol arm gsi sin, die sin hintenach d'Argschte.«
Schmied-Louis lacht: »Jo, un der fils, der Mösjö Theophile, der stopft sich Seidewatt in d'Ohre, wenn er emol auf d' Fawrike kummt.«
»Wege dem könnt unsereiner verrecke, der wüßt' net emol, daß m'r g'lebt het,« hieß es nun.
»Nix als Französch parliere un 's Geld üseschmisse kann der.«
»Un sine Madam kauft alle ihre seidige Plunder z' Paris,« wirft das Rosele neidvoll dazwischen.
»Ues euerem Geld!« hetzt der Schang. »Verstehn's doch. Litt, i will euch doch nur üsehelfe üs'm Dreck. I sag' doch nur: Revolt' mache müsse ihr, grève mache, Revolt' wie d' Mülhuser. Awer bald. Verstehn ihr. Un d'rno, wenn ihr do ufg'räumt han – – – d'rno gehts witer.«
Es wurde still in dem stickigen Raum. Man sah den Pfeifer von der Seite an. Kürzlich war in der Fabrik gewarnt worden vor Leuten, die zum Streik aufstacheln wollten. In den breiten Schädeln brodelte es.
»Mir Arweiter,« beginnt der Pfeifer wieder. Aber der gewaltige Schmied weist ihn zurecht: »Dü bisch jo gar kei' Arweiter. Dü bisch jo e halwer Schirebirzler. Grève solle m'r mache, un wenn mir Hunger leide, gehsch dü ab, un mir sitze do.«
Am anderen Ende des Tisches, da wo Jean Groff jetzt über seinen Armen lag und schlief, hockten ein halbes Dutzend blasse, hohlbackige Männer beisammen, alle nicht mehr jung. Man sprach leise.
»I will liewer fir a Sou im Tag schaffe, als gar net, i han siewe Kinder.«
Aber der Versucher bleibt im Zuge.
»Revolt' müsse ihr mache,« zischt er. »'s Glieche heische, was d' Mülhüser g'heische' han!« Und er zählte auf: »Zehn Stunde Arweit un Lohn wie ziterher, wo ihr zwölf Stunde g'schunde han.«
Alle sahen sich verlegen an. Der Schmied-Louis kratzte sich laut das borstige Kinn.
»Häsch kei Kurasch?« höhnte der Schang.
»Kurasch scho, awer – – –« Er sah vielsagend zum schieligen Mathiß hinüber, der mit ihm zusammen beim Schlotterbach arbeitete. Der wischte mit der flachen Hand über den Tisch, als hätte er da etwas zu glätten.
»Kurasch scho!« sagte auch er, »awer – – –«
Dreier-Tjark lachte lärmend auf. »'t is man blot: Wat der alte Slotterbach da woll zu sagen würde, wenn wir mit son Saken kämen. Denn, was wir sind, wir haben hier ja all lang, was die von Mülhausen nu man erst haben wolln.«
Pfiffer-Schang machte ein beleidigtes Gesicht. »Jo, d'r Dreier, der redt allewil so Dings. Der isch halt kei Hiesiger! Üsewerfe sollt' m'r ihn.«
»Werfen ihn üs!« hat's geheißen. Aber der Wagner wehrte sich. Wie in eisernen Schrauben packt er jeden, der ihm nahekommt. Sein Gesicht ist frischer, sein Anzug sauberer als der der anderen. Methodisch und schweigsam schafft er sich mit der geballten Faust Luft. Bald darauf sitzen sie alle wieder gemächlich beieinander. Das kleine échauffement hat ihnen gut getan. Jetzt will man seine Ruhe haben.
Am großen Kachelofen sitzen zwei Bauern, prächtige Gestalten mit kurzgeschorenem Haar und sonnverbrannten Gesichtern.
»Wie wär's, Klaus, wenn mir Büre au emol täte grève mache?« Das scharfgeschnittene Gesicht mit den spöttischen dunkeln Augen zeigt deutlich den Sarkasmus, den er für diese ärmlichen Städter hat, die blaß und geduckt oder frech in den Stuben herumhocken. Der andere, stumpfer und schläfriger als sein Gevatter, nickt.
»Jo, jo, Pére Justin, hesch racht, mir sin's, wo schwitze, für daß d' Stadtlitt Brot han.«
»Sell scho'. Wenn d'r Bür Sonntag mache tät, d'rno müßte sie alle Hunger leide, d' Herre un d' Arweiter. Allez, Rosele, lang' m'r e p'tit verre.«
Jetzt kommen Soldaten herein mit ihren Mädchen, der kleine gars de Provence zwischen ihnen, junge Dinger aus den Fabriken mit schön frisiertem Haar und hochhackigen Schuhen. Ihre geblümten, fleckigen und zerrissenen Kattunkleidchen sind in der Taille fest zusammengepreßt. Die Paare setzen sich an den kleinen Tisch, den Rosele ihren lieben » piou-pious« freizulassen pflegt.
Der kleine Provencale von der Zuchthausmauer macht dem Wirtstöchterchen schöne Augen. Er kann kein Deutsch, sie kein Französisch, aber die Sache ist trotzdem beiden sehr klar.
Überhaupt hat sich die Stimmung sichtlich wieder ins Gemütliche verändert, alle reden durcheinander. Keiner weiß mehr, gegen wen und für was.
» Têtes de bois sin's alle mitnander!« schimpft Pfiffer-Schang in sich hinein. Auf einmal steht er auf dem Tisch, mitten in einer klebrigen Branntweinlache, zwischen Gläsern und Fäusten. »Ihr Arweiter,« zetert er mit seiner schrillen Stimme, »ihr Arweiter, ihr dischkuriere do so umme un wisse doch gar net, was ihr in dere letschte Zitt für en importance bekumme han. Un daß es numme von euch abhängt, ob's Krieg git oder net.«
»Krieg? Mit wem? Wer het denn ebbes g'macht?«
»Isch's wohr, git's Krieg?«
»Krieg' g'nug git's do im ›Luschtige Bruder‹,« sagt der Schmied-Louis spaßhaft und weist auf die großen Weinkrüge.
Da fängt der Pfiffer-Schang an zu erzählen: wie die Schwowe, die Prussiens, sich so frech zeigen in letzter Zeit. Und der Bismarck nimmt ganze Mäuler voll.
»M'r werd's stopfe!« brüllt der Schmied.
»Jo, stopfe!« schreien die anderen ihm nach. Der Wagner ist still geworden. Eine Ader schwillt auf seiner Stirn, er trinkt in mächtigen Schlucken.
Père Justin von Sulz, der stattliche Bauer, ist herangekommen, sich den Spektakel genauer zu besehen.
»Worum,« sagt er bedächtig, »worum kann's net für d' Natione e G'setz gebe, grad' wie für jedwedere particulier? Wer gibt m'r d' permission, d'rNochber umz'bringe, weil er m'r e Latt vom Zaun bricht, oder weil m'r seine Katz d' Gickele frißt?«
»Jo, Pfiffedeckel, 's G'setz!« fallt ihm der Schang in die Rede. »Jetz, wenn's Krieg git, isch kei' G'setz meh'! Da können ihr totschlage, wen ihr wolle. Un Lohn bekummen ihr noch d'rzu un Maidle in jedem Kartjeh, Herz, was begehrsch.«
»Isch das au g'wiß e so?«
» C'est vrai? Krieg git's?«
»Wenn's nur au wohr isch!«
» Ma foi oui, worum sollt's net wohr si? Pour sûr isch's wohr! Im ›Lion d'or‹ z' Mülhüse han sie's verzählt: kaum daß d'r souspréfet von Kolmar ankummen isch, so het scho' d'r valet d'chambre ihm müsse d'r Revolver putze!«
» A la bonne heure! Sie solle numme kumme, d' Prussiens! Dene wolle m'r d'r Weg zeige.«
»I hätt', verdammi, vor hundert so Schwarzbrotfrasser kei' Angscht.«
»Im Rhin müsse sie alle versüffe, bi Gott!«
Und in plötzlicher Begeisterung geht es durch die Versammlung: »Vive l'empereur! Vive la France!«
»Vive l'empereur!« ruft Pfiffer-Schang dazwischen. Und »Vive l'empereur!« rufen sie ihm unverdrossen nach.
In der Ecke beim Comptoir, wo die »piou-pious« sitzen, wird es still. »Hörsch, was sie sage? 's gibt Krieg, d' Prussiens kumme. Prussiens puff, puff!«
Das Rosele machte ihm die Gebärde des Schießens vor.
Der kleine Soldat lacht. Er nimmt sie zärtlich um die Taille.
»Les Prussiens – on n'en fera qu'une bouchée, ma belle!« En attendant viens donc m'embrasser!«
Jo, worum net gar! Du kannsch' warte, bis m'r g'hirote han.« »Wenn's nur au wohr isch mit'm Krieg,« sagt Schmied-Louis bedenklich.
Der Pfeifer hat ein Papier aus der Tasche gezogen: »Nur fir daß ihr's glauwe tun.« Man sieht das große Zeichen der Präfektur darauf. Mit lauter Stimme liest er vor:
»Monsieur le Maire, je vous serais obligé de me faire conaître le plus tôt possible quel effet produit la déclaration du Gouvernement à propos des affaires d´Espagne.Veuillez me tenir au courant de l'esprit public.«
Und auf deutsch erklärt er: »Wisse wolle sie z' Kolmar, was d' Litt hier halte von selle affaires d´Espagne – – un schriewe soll m'r ihne üwer d'r esprit public.«
»Affaires d´Espagne?« Alle sehen sich verblüfft an. Keiner von ihnen weiß, was er mit dem fremden Wort machen soll.
»Von wem hasch's, das Schriewes?«
»Halt g'funden uf d'r Stroß, wo'n'i am Rathüs vorbei g'loffe bin. Eh bien, d'r Tränkele wird's üseg'schmisse han mit'm Speikischtle vom Herr Stadtschreiber.«
»Uf der Stroß?! J'te crois! Sie geht unterm Deckbett von d'r Madam Tränkele durch, selle Stroß, hein? Ah, le sacré gaillard!«
Pfiffer-Schang lächelt nur. Dann aber richtet er sich auf: »Eh bien, messieurs?« Er schlägt mit der Faust auf den Tisch: »Zum letschte Mol frag i jetz': Was gilt's mit d'r grève? Was gilt's mit'm Krieg?«
Er wartet einen Augenblick. Niemand antwortet. Seine Stimme wird krähend: »Viehchor sin ihr alle mitnander! Könnt ihr's denn net begreife: d' grève un d'r Krieg, das isch's Glieche. Sie g'schehen alle zwei für unser heiliger katholischer Glauwe, für daß er iwerall groß un stark würd, in magnam gloriam. Voilà. Un d' Prussiens, sell dürfen ihr glauwe, das sin noch viel ärgere protestants, als die, wo'n'im Ländle sin!«
Der Wagner haut wütend auf die Bank.
»Trumpf – Trumpf – un noch emol Trumpf!« schlägt der Justin seine Karten auf den Tisch. Er will nichts zu schaffen haben mit der Sache. Und auch der Tjark Smeding beruhigt sich wieder. Was geht ihn eigentlich der ganze Lärm an? Seit ihm auf dem Übungsschießplatz sein Finger abgeschossen wurde, ist er giftig auf Soldatenstand und Militär. Hier im Elsaß, wo man mit dergleichen nichts zu tun hat, fühlt er sich wohl und daheim. Nur wenn er das Wort Deutschland hört, wird ihm manchmal wunderlich zumute, als müsse er dafür einstehen hier unter den Welschen. Aber es geht vorbei.
In der Stube wird es luftloser und lauter. »Vive la France! Vive l'empereur!« Und es wird doppelt so lustig getrunken. Auf einmal steht der Smeding auf, ganz langsam, ganz bedächtig, und ehe ein Mensch es sich versieht, streckt er mit einem einzigen mächtigen Schlage Pfiffer-Schang, der sich gerade sachte davonschleichen will, zu Boden. »So, do hast's für dei Spioniere.« Diesmal regte sich keine Hand gegen ihn. Nur der Schang am Boden flucht und zappelt und wischt sich das Blut vom Gesicht. Die anderen lachen. Da macht sich der Tjark Smeding denn auf, geht über die Brücke hinüber zur Apotheke und läutet die Nachtglocke. »Petit-Singe«, der bei Bourdon Hausfaktotum ist, nachts da schläft und auch in dem Verkaufsraum Bescheid weiß, bringt ihm das Pulver und kommt mit. Sie schleppen den Schang in den Garten, und »Petit-Singe« verbindet ihm die Nase. Schimpfend zieht der Mißhandelte endlich davon.
Drinnen aber diskurieren Arbeiter und Soldaten noch lange miteinander über die spanische Affäre und die Maidele.
Es war schon weit in den Vormittag hinein, als Heinrich Hummel sich aus der schattigen Behaglichkeit des Apothekergärtchens losriß, um auf den sonnigen Platz hinauszugehen. Er wollte seinem Koffer nachforschen, der nicht angekommen zu sein schien, und wollte nach Briefen fragen. Jetzt, beim hellen Tag erschien ihm das alte Stadthaus noch viel schöner. Er stand lange davor und freute sich an seiner festen, maßvollen Schönheit. Oben am Fenster saß wieder der silberne Alte und schrieb. Unwillkürlich grüßte Heinrich hinauf. Er trat in die Arkade der Vorhalle. Kinder schaukelten sich auf den von Pfeiler zu Pfeiler gezogenen Sperrketten. Drüben in der Hauptstraße fuhr auf der schmalen Schattenseite des Bürgersteiges ein zweirädriger Karren, von einem zerlumpten Kerl und einem Hunde gezogen, die Begegnenden wegdrängend. Es gab Geschimpf und Lachen. Die Madames in Kattunjacken und weißen Leinenhauben, die wie Helme aussahen, lagen breit in den Fenstern, die Arme auf Kissen gestützt, und lachten. Sie sahen herab zu ihm. Bemerkungen, die er nicht verstand, flogen nachbarlich zueinander. Aus der Kaserne kam ein Trupp Soldaten heraus, die roten Hosenbeine lustig hebend, schmutzige Kinder tanzten um sie herum. Einer oder der andere der Soldaten streckte ihnen die Hand hin, gab ihnen ein vergnügtes Wort. Kritisch sah der junge Deutsche auf die fleckigen, schlechtsitzenden Uniformen und die lässige Haltung der jungen Menschen. Er war gern Soldat gewesen und achtete den Drill. Auch fiel es ihm auf, wie klein die Leute waren, und daß sie elend aussahen. Vor dem schmalen Hause, das Telegraphendrahte über dem Mützendach als Post auswiesen, blieb er stehen. Er trat ein und fand sich in einer Art Schalterraum, dessen Schranke aber nur etwa einen Meter lang ins Zimmer hineinging und wie eine Kulisse wirkte. Man blickte ungehindert in Mademoiselle Célestines blaugeblumtes Boudoir mit Toilettentisch, Nähkorb und Himmelbett, in dem zwischen ihren eigenen Kartons und Kleiderkasten die angekommenen Pakete lagerten. Mademoiselle selber war eben damit beschäftigt, ihrem blassen Bübchen, dessen ganz helle glatte Haare über die schwarze Blusenschürze fielen, mit einem Spitzentaschentuch, das sie eifrig und ausgiebig mit Speichel näßte, das Gesicht zu reinigen. » Vois-tu, friand! Was häsch au' Honig z'schlecke, vaurien que tu es!«
»Das Honigfäßchen für Madame de la Quine läuft ein wenig aus,« sagte sie in schlechtem Französisch zu Hummel, »und da hat dieser gamin sich das ganze Gesicht vollgeschmiert.«
Man sah das Fäßchen, das in einer Waschschüssel gesichert war. Der Kleine hielt geduldig still und sah dabei mit mühsamem Seitenblick auf den wartenden Fremden. Heinrich entdeckte jetzt, daß im Hintergrunde ein kahlköpfiger Herr mit dunkelm Henriquatre in grauem Seidenröckchen saß und rauchte. Seine Zigarre leuchtete neben dem Bettvorhang aus dem verdunkelten Zimmerchen.
»Tiens!« Der Herr stand auf, er gab dem Kleinen ein blankes Geldstückchen und küßte ihn auf das gesäuberte Gesicht, dann verbeugte er sich gegen Hummel. Célestine stellte mit majestätischer Handbewegung vor: »Monsieur de la Quine, Directeur de la maison centrals in Thurwiller – Monsieur Hümmelle.«
Heinrich lachte. »Es scheint, die ganze Stadt kennt mich schon.«
Die üppige Célestine lächelte. »Ah certaiement! Die Stadt ist so klein. Und was mich betrifft – Monsieur hat ja doch die bagages mit dem Postillon hierher geschickt. Wenn Sie sie vielleicht benötigen –« Sie zeigte mit königlicher Gebärde auf Hummels Reisetasche, die da seit gestern früh ungestört und nutzlos dalag.
»Monsieur wird sich einige Zeit aufhalten in Thurwiller?« Sie steckte die Schleife über ihrem enormen gelben Chignon schiefer, entschlossen, Konversation zu machen. » Quelle chance pour nous, es fehlt immer an Herren in solchem kleinen Nest, besonders an jungen und hübschen.« Hummel wurde zu seinem Ärger rot und gab es deshalb auf, das Kompliment zu erwidern, was ihm, namentlich in Gegenwart des sich so häuslich gebärdenden Herrn, schwer gefallen wäre. »Ich darf wohl?« sagte er statt dessen und griff nach einem an ihn adressierten Brief seiner Mutter aus Jena, der, bereits mit allerlei schwarzen Fingerspuren punktiert, einsam auf der Schranke lag.
» Oh oui, i vergaß! Man verplaudert sich so leicht, wenn einmal Gelegenheit dazu kommt.«
»Nun, Sie haben aber doch hier Militär?« sagte Hummel und wies auf einen hübschen jungen Offizier, der hineinlächelte.
» Oh quant à ça, unsere Garnison, an die wir uns gewöhnt hatten, zieht ab. Neun Offiziere!« Sie machte Madonnenaugen zu dem Direktor hin.
»Mademoiselle Célestine sollte nach Mülhausen gehen,« sagte Monsieur de la Quine etwas sarkastisch. »Da ist heute Militär genug. Die Fabrikanten dort haben das treizième aus Hüningen, das hierher kommen sollte, bei sich festgehalten wegen des Streiks. Man veranstaltet einen bal champêtre, j'en suis sûr!«
Er hatte den kleinen Charles auf den Schoß genommen und zog dessen parfümierte Haarsträhnen durch die Finger. Das Kindergesicht mit den nahe beieinanderstehenden braunen Augen schien eine verkleinerte Kopie des großen da über ihm. Die schöne Célestine fuhr fort, Hummel wie einen Besucher zu unterhalten. Ihr Bruder, Monsieur Napoléon Cerf aus Kolmar, sei seit gestern hier, sagte sie. »Sie werden ihn kennenlernen. O, ein geistvoller Mann.«
»Und ein Mann von Chancen, un jeune homme digne,« fügte de la Quine hinzu, so gut er es unter des Kleinen Hand, der ihm den Schnurrbart zauste, vermochte. »Unser Kandidat für die Wahlen des Bezirkes. Un homme plein d'esprit et de dévotion.«
Mademoiselle fuhr fort: Monsieur Cerf sei gekommen, hier und in der Umgegend einige Versammlungen zu halten, ja, und nun sei jedermann mit anderen Dingen beschäftigt. Die Ernte, die bei dieser Hitze früher fallen würde als gewöhnlich, »und dann der große Streik. O, das hat viel Einfluß auf die Meinung der Partei.«
Der Herr Direktor lächelte. »Sie sehen, Monsieur, unsere Damen haben ein neues Mittel gefunden, reizend zu sein. Sie politisieren. Aber Monsieur hat seinen Brief zu lesen, wir dürfen ihn nicht stören.«
Hummel trat ans Fenster. Das Schreiben seiner Mutter war nur kurz und enthielt hauptsachlich praktische Fragen und Anweisungen. Am Rande stand noch: »Bleib' nur recht lange und erlebe viel Schönes! Ich erwarte keine langen Briefe von Dir, Du weißt, ich freue mich an allem, was Du genießest, auch wenn ich keinen Teil daran habe.«
Am liebsten hätte er die Stelle gestreichelt, aber er schämte sich vor diesen Fremden. Er sah sein Mütterchen vor sich, tapfer, klein, mit den lieben, sorgenblassen Augen. Und die gefällige gelbblonde Dame da vor ihm mit ihrem verheirateten Galan machte ihm auf einmal gar keinen Spaß mehr. Er kaufte sich nur noch einiges Schreibmaterial und Postkarten und Marken, verbeugte sich tief und trat ins Freie.
Zerstreut betrachtete er das Papier, in das man seine Postkarten gewickelt hatte. Es schien aus einem Schulheft ausgerissen und war mit einer gespreizten französischen Schrift unordentlich beschrieben, ein Konzept, erst Zahlen, ein paar Ortsnamen, dazwischen zweimal der Namenszug »Napoléon Cerf«, immer mit verschiedenem Schnörkel probiert. Das also war der jeune homme digne et dévot, der die Stadt Thurwiller im Parlament vertreten sollte! »Ein Fünftel der französischen Bevölkerung widersteht dem Kaiserreich,« las er. »Dieses Fünftel atmet immer noch den Geist der Revolution. Es setzt sich zusammen aus den Voltairianern, Leuten, die freiheitliche Ideen pflegen, und den französischen Prussiens, den Protestanten. Das letztere Element hat sein foyer im Elsaß. Überlassen wir es unserer glorreichen Armee, unsere heiligsten Güter nach außen hin zu verteidigen, wenn die Notwendigkeit sie dazu zwingt, und tragen wir inzwischen Sorge, daß auch im Lande selbst unsere katholische Religion eine geeignete Repräsentation finde.«
Heinrich mußte lachen über die großen Worte. Es amüsierte ihn, wie hier einmal wieder Himmel und Erde in Bewegung gesetzt wurde zum Konzept für eine Wahlrede. Dieser Monsieur Cerf jedenfalls schien zu wissen, auf welcher Seite es zu fischen galt!
Drüben, über den Platz hinüber, wartete schon der Apotheker auf ihn, unternehmend mit schiefgesetztem, hellem Strohhütchen, weißer Weste und Spazierstöckchen. Er schien begierig, dem Städtchen seinen Gast zu zeigen. Lebemännisch nahm er Heinrichs Arm und bog mit ihm zur Hauptstraße ein, ihm bei jedem Haus den Namen des Besitzers nennend. Neben der hoch ummauerten Maison Centrale stand der alte Gasthof »Zur Krone« mit seinem Renaissance-Erker, gleichaltrig mit dem Rathaus drüben. Hummel blieb stehen, die Ornamente zu betrachten. Bourdon, der meinte, seine Aufmerksamkeit gelte der schönen Madame Keller, der Besitzerin des Hauses, die mit ihrem Filetkissen im Fenster saß, grüßte ausführlich herauf, zweifach stolz auf seine Freunde: »Mes hommages, madame!«
Die Frau, eine Dreißigerin mit langen, dunkeln Seitenlocken, beugte sich vor. Hummel hatte den Eindruck, sie sehe ihnen nach. Und so ging's weiter. Onkel Camille guckte überall in die niederen Fenster der Erdgeschosse hinein, bei den geschlossenen sogar durch die Herzlöcher der Fensterladen: »Geht's guet? comment ça va?« Er unterhielt sich mit einer kleinen Verwachsenen, die auf niederem Strohsesselchen vor ihrer Tür saß und nähte, und wußte nachher eine saftige Geschichte von ihr zu berichten. Er grüßte freundlich ins Fenster der Frau des jüdischen Avoué Bluhm: »Madame, je vous salue!« und fand, sie habe einen bösen Husten, für den er ein vorzügliches Mittel wisse.
Aus den Häusern heraus roch es nach Kohl und Zwiebeln. Ein paar struppige Pinscher bellten dem Fremden entrüstet nach. Hummel stolperte über Katzen und glitt in Mistpfützen hinein. In der stillen, menschenleeren Breitgasse standen am alten Ziehbrunnen ein paar schmutzige Mädchen und schwatzten. Eine wilde Dunkle und eine Blauäugige.
»Das sind die Kinder vom Säufer Groff,« sagte Bourdon. »Er hat sie von allen Farben, und er ist stolz darauf.«
Er machte jetzt den Neffen aufmerksam auf die neuen Rinnsteine und das Straßenpflaster. Auf den Sou wußte er, was das gekostet hatte. » Oh oui, der Herr Maire! Der versteht den Leuten das Geld aus der Tasche zu locken. Und député hat er auch werden wollen, 's letztemal. Grad nur an einer Stimme hat's gehängt – –,« er lächelte selbstgefällig – »der Stimme vom Pharmacien im Bourdon d'Or. Und die Ziehbrunnen will er abschaffen, weil alle paar Jahre mal ein Kind darin ertrinkt. Quel grand malheur! Aber die Gemeinde kann sich an die Pumpen nicht gewöhnen.«
Auf einmal verwandelte sich das Gesicht des guten Camille in lauter Süßigkeit. Durch ein schmales Gaßchen hindurch, das nach der Hauptstraße zurückführte, sah er das blanke Kabriolett der Madame de la Quine fahren. Die Dame saß hinter den facettierten Scheiben zwischen den hohen Rädern wie in einem fahrenden Schmuckkästchen, ein schwarzes, ovales Tellerhütchen auf dem goldbraunen Chignon, über der Stirn waren die Haare kurz verschnitten und leicht gelockt, die helle Seidenmasse ihres Kleides wogte ihr bis zu den Schultern hinauf. Neben ihr zeigte sich das ernsthafte Kinderprofil ihrer kleinen Berthe mit kurzem Näschen zwischen den runden Bäckchen.
Bourdon stürzte vor, Hummel mit sich ziehend, und begrüßte die Dame, die halten ließ, mit tiefer Reverenz. Sie öffnete das Fenster. Wie es ihr gehe? fragte er. Ob sie unter der Hitze sehr leide? Und ob Monsieur viel Ärger habe in der Anstalt? Dann stellte er ihr Hummel vor: »Ein junger Verwandter aus Deutschland.«
Die elegante Frau lächelte liebenswürdig. Sie reichte Heinrich die feine, im weichen Handschuh heiße Hand. In ihre großen, dunkelblauen Augen kam ein feuchtes, gleichsam schwimmendes Glänzen. In gewandtem Französisch erzählte sie, sie habe ihr Töchterchen von den »bonnes sœurs« in Isenheim hergeholt, Berthe dürfe über Nacht bei p'tite mère bleiben. »Sie liebt mich unendlich, diese Kleine! N'est-ce pas, mon amour, mon trésor, mon bijou?« und sie küßte das kleine Ding vor dem jungen Manne, wie eine Frau ihren Liebhaber küßt. Wirklich stieg Hummel das Blut ins Gesicht, ein verliebtes Brausen ging ihm durch den Kopf, daß er einen Augenblick wie taub war. Um die gefährliche Frau nicht anzusehen, faßte er das Händchen des Kindes. Berthe sah ihn ernsthaft an.
Blanche de la Quine wandte sich jetzt an Bourdon. »Was gibt es Neues?« fragte sie. »Und ist es etwas Ernstes mit dem Streik? Man spricht von einem neuen Bäckefest wie damals. Ich glaube –«, das ging wieder zu Heinrich – »im Jahre Siebzehnhundertsiebenundvierzig, sie plünderten die Bäckerläden. Vielleicht kommt diese amüsante Abwechslung auch zu uns. Drüben der Bäcker-Nazi wenigstens macht schon jetzt seine brioches um die Hälfte kleiner. Er will sich im voraus entschädigen, scheint mir.«
Sie lachte sehr melodisch und strich sich die gebrannten Stirnlocken über den Augen zurecht. Ihre hohen Brauen hoben sich mokant und hochmütig. Heinrich folgte jeder ihrer Bewegungen. Er fand alles reizend, was sie tat.
Jetzt mischte sich auch der livrierte Bauernbursche ein, der auf dem Bock saß und kutschierte.
»Dem Lumpevolk in Mülhuse g'hört d'r Buckel voll,« sagte er und ahmte dabei auf eine burleske Weise das Brauenziehen seiner Herrin nach. » Quelle crapule! verdammte Chaibe sin's!«
Er schnalzte mit der Zunge, daß der Rappe zu tanzen begann. Man verabschiedete sich.
»Auf Wiedersehen!« rief die schöne Blanche noch unter dem Lärm des Wagens auf dem holprigen Pflaster.
Beide Männer sahen ihr nach.
Bourdon grunzte: »Sapristi, eine schöne Frau!«
»Und vornehm!« sagte Hummel andächtig.
Bourdon lachte: »Sie war Aufwaschmädchen im ›Roten Ochsen‹ in Mülhuse. Als Monsieur de la Quine sie heiratete, zog sie zum erstenmal Handschuhe an.«
Hummel schwieg eine Weile. Er war ganz verwirrt. »Und schadet diese Heirat dem Direktor nicht in seiner Stellung?« fragte er endlich.
»Ah, bah! Sie ist ja reizend. Et avec ça – hier ist's net wie drüwe überm Rhin. Bi uns hat's net so Unterschiede in der société wie bei Ihne, mon neveu. Un das, wo m'r drüwe éducation heißt un grande rennommée het, darauf haltet m'r do bi uns net so große Stück. Tout au contraire. G'sunde Vernunft muß einer habe, raison un savoir vivre, voilá. Was m'r so us de Bücher nimmt, das isch halt für d' Gelehrte wie der Herr Stadtschriewer do drüwe.« Er wies nach dem Rathaus. »D' Meischte – ob hoch oder niedrig gebore – sin zufriede in ihrem Kalender z' lese un in der ›Ame catholique‹. Regardez voir unsere Fabrikmaidele, wie die mit ihre Röckele schwänzle un ihre Haar schön koiffiere! Un parliere könne sie – a comtesse verstehts net e so! Un wenn einer erscht Geld verdient het, wie unsere große Fabrikherre in Mülhuse par exemple, do kann 'r im Mischtloch uf die Welt komme sin un er wird doch eschtimert als war er a grand seigneur.«
Sie waren jetzt zu dem Elend-Teil des Städtchens gelangt, dem »Süßen Winkel«. Thurwillers älteste Häuser standen hier, zerfallend, gestützt, mit zerbrochenen Fenstern. Unsäglich schmutzige Kinder, die Finger in Mündern und Nasen, die Hemdzipfel in der Luft, trieben sich da herum, in familienhaftem Durcheinander zwischen Schweinen, Gänsen und Hunden. Auf dem lehmigen Boden der kleinen Gärtchen, die zum Wall anstiegen, wuchsen nur blasse, verkümmerte Johannisbeersträucher. Hie und da ein Birnbaum mit kleinen, verschrumpelten Früchten. Onkel Camille blieb stehen. Ein Mann mit einer Uniformmütze, blauer Leinenbluse und einer großen Trommel schrie in den Straßen zu den Häusern hinauf. »Der sergeant d'ville,« sagte Bourdon. Er ging heran zu hören und kam krebsrot zurück. »Do han mr's wieder! Jetzt loßt's der Maire gar üstrommele, daß er hüt nachmittag in seiner Wohnung die Kinder vakziniert. Quelle cochonnerie!«
Cochonnerie? Ich verstehe nicht – –«
»Glaub's scho, 's geht m'r gradso! Das sind halt so Plän' von Paris. Unser überg'scheiter Herr Maire muß es halt den Thurwillers beweise, daß er Interne g'si isch in Strasbourg bim Monsieur Pasteur aus Paris. Alle Johr het er's no probiert mit dem neumöder Dings, dem Vakziniere. D'r Curé het scho uf ihn spektakelt in d'r grand'messe, daß es net christlich isch, unserm Herrgott seine Intention z' dérangiere.«
»Und kommen denn die Leute zu ihm?«
»Das isch's jo grad, 's halbe Städtle lauft ihm noch.«
Hummel lachte still für sich. Bourdon bemerkte es nicht, er war beschäftigt, seine grün und rosa Krawatte gefälliger zu zupfen.
»Und jetzt, mon neveu,« sagte er feierlich, »jetzt bringe ich Sie zu meiner Tochter Schlotterbach, vous présenter.« Wenn er nur an sie dachte, sprach er schon Französisch. »Sie ist très chic, tout à fait Paris. Nun, Sie werden ja sehen!«
Hummel war neugierig und erwartungsvoll. Er fühlte sich bereit, eine große Fülle von Erlebnissen in sich aufzunehmen.
Als sie sich jetzt dem Wall näherten, schlug ihnen ein sonderbar lautes Summen entgegen, das näher kam und zu Lärm wurde. Ein rhythmisches Heulen. »Uese mit ihne! üse mit!« hörte man rufen. Zugleich kamen ein Dutzend Frauen und Mädchen im Zuge heran.
»O Jeses Marja Sankt Joseph!« Bourdon riß Hummel mit sich fort in einen Torweg hinein.
»Sie reklamiere ihre Männer,« flüsterte er entsetzt, »üs der Fabrik wolle sie se hole, ces grues!«
Hummel betrachtete amüsiert den langen Mann, der vor Angst bebte. Jetzt zogen die Frauen an ihnen vorbei, einen Geruch von Knoblauch und Schweiß verbreitend. Kattunjacken flatterten auf, man sah jugendliche Formen und welke Fleischmassen enthüllen. Die Gesichter der Vorderen sahen in den eng umschließenden weißen Leinenhauben erschreckend massig und erdfarben aus, ein paar trugen kokett gehäkelte Kopftücher, andere bloßes Haar, neumodisch getürmt. Mit langen, hartnäckigen Schritten, unter fortwährendem Rufen stürmten sie voran, eintönig ihr langgeheultes »Uese mit, üse mit!« wiederholend.
»Umkehren,« zeterte Bourdon, »wir wollen umkehren!« Aber der junge Doktor hörte nicht auf ihn. Das Schreien und Schreiten dieser Weiber hier im Sonnenbrande erregte ihn, der Rhythmus ihres Ganges riß ihn mit. Unwillkürlich in den Takt ihrer Schritte verfallend, ging er dem Zuge nach. Bourdon folgte ihm unschlüssig in einiger Entfernung. Ihm war eingefallen, man würde doch von ihm erwarten, daß er sich um das Schicksal seines Schwiegersohnes in der Fabrik kümmerte. Es ging jetzt über den Vauban-Kanal. Wie Pferdegetrappel klangen die Holzschuhe der Frauen über dem Brückchen.
Eine der Madames, noch jung, mit gewaltigen Feueraugen, tat sich besonders durch ihre regelmäßigen lauten und doch gleichgültigen Schreie hervor, nach denen sie jedesmal ihre Dose zog und tüchtig schnupfte.
Ein paar Kinder, die mitgelaufen waren, ließen die Röcke ihrer Mütter los und fingen an, Sternenblumen und Sauerampfer aus der Wiese zu reißen. Zwei setzten sich aufs Gras und machten Ringelblumenkränze. »Das da ist die Tochter vom Schmied-Louis,«, jammerte der Apotheker, »das die Toinette vom Groff, das die Rosenkranz-Schorschre und die dort hinten die Frau vom schieligen Mathiß.«
An der Zuchthausecke blieben ein paar jüngere stehen und schrien zu dem Posten hinauf: »Salü, Morissele, was hasch do owe Mülaffe feil, allez hopp, kumm mit!«
Nun über die Straße gejagt und in die Wiesen längs der Ill hinein. Bis zum Fabrikhof. Da standen sie still. Laut dröhnten die Maschinen heraus, die Heizung surrte und atmete. Man hörte feilen, hämmern und klopfen. Bourdon hatte sich jenseits des Brückchens auf eine Bank gesetzt. Er hielt Hummel am Arm, daß er ihm nicht entwischen sollte. Die Weiber pflanzten sich vor dem großen Hoftor auf, das geschlossen war.
Sie schlugen mit Fäusten an das Gitter und versetzten dem Eisen schallende Fußtritte mit ihren Holzpantoffeln. Niemand zeigte sich. Ein riesengroßer schwarzer Kater mit gelben Augen stand drinnen auf dem Prellstein und sah hochmütig auf die Lärmenden. Die Weiber brüllten ihre zwei Worte. Mit vorgestrecktem Halse wie eine Horde schmutziger Hunde standen sie da und heulten. Immer lauter, immer drohender. Die Groffsche begann den Kater anzuspucken, der vornehm zur Seite wich. Sie machte größere Anstrengungen. Andere folgten nach. Ein Gebalge entstand. Die Sache schien den meisten Spaß zu machen. Der Schlachtruf wurde nur noch mechanisch und nur von wenigen weitergeführt, man sang und lachte. In diesem Augenblick kam der Portier mit dem Schlüsselbunde, öffnete das Tor und trat dann zurück, einem alten Herrn in grauem Sommerröckchen Platz zu machen, der gemächlich, mit wiegendem Gang, herausschritt. Er ging auf die Dicke zu, die am lautesten geschrien hatte, faßte sie an den Schultern und drehte sie halb um.
Tiefes Schweigen plötzlich. Der alte Schlotterbach lächelte freundlich. » Bonjour, les commères, ah bonjour! Ihr kumme g'wiß goh luege, wie's eure Männer do g'fallt. Eh bien, 's g'fallt ihne ganz guet. Nur darf m'r ihne net in d' Ohre blase, sell könne sie net vertrage. Sunscht git's d'r Buckel voll.« »Uese mit! üse mit!« riefen die Weiber.
Der Fabrikherr stemmte die Hände in die Seiten.
» Nundedié, das heißt m'r emol verliebt! Ihr bekumme eure Mannsbilder noch früh g'nug in euer Bett. Sin froh, daß ihr e paar Stündle Ruh han vor ihne.«
Brüllendes Lachen. Dreckige Witzworte hinüber und herüber. Wieder griff Schlotterbach eine heraus, die er auf den Rücken klopfte, eine alte Zahnlose, deren Gesicht schwarz aussah von kleinen Härchen: »Gang heim, mon ange, sunscht brennt d'r d' Erdäpfelsuppen a, i schmeck sie scho von do!« Sie kicherten verlegen. »I sag's euch noch emol im guete,« fuhr er ernsthafter fort, »mit 'm Spektakelmache kummt m'r net wieter. I bin jo emol salwer Arweiter g'si, ich weiß, wie das Ding geht. Un wenn i net so ferme g'schunde hätt', Tag und Nacht, so war i's bliewe bis zur hutige Stund. Awer grève un révolte, jo, bonsoir, sell isch numme a Hypothek uf's Armehüs. Un noch ebbes: Sin froh, daß eure Männer noch schaffe könne für euch! Grad ewe han i g'hört, daß es wieder Krieg gebe soll, weil d' Litt im Ländle z' übermütig worde sin. D'rno isch's der empereur, wo sait: üse mit ihne! Salut! D'rno könne ihr euch eure Männer in Pelzpommre z'sammesuche, und d'rno isch's Amen. Voilà.«
Die bauernschlauen Augen zwinkerten, der Mund vergaß sich einmal kurz und wurde zynisch. Der Alte ging gleichgültig zu dem Kater, der wieder auf dem Prellstein saß, und streichelte ihm das Fell.
Es war ganz still geworden unter den Weibern.
»Aber die bonnes sœurs han's g'sait,« fing die Rosenkranz-Schorschre an. Ein derber Schubs ihrer knochigen Nachbarin beförderte sie jenseits der Debatte.
»No, so geh m'r jetzt!« sagte eine halblaut. Aber es wirkte in der Stille wie ein Kommando. Der Portier mit den Schlüsseln, ein riesiger Mensch mit schwarzem, lockigem Vollbart, trat vors Tor und schob mit ausgebreiteten Armen das Trüppchen lachend zurück. Die seinem Mund am nächsten war, bekam einen Kuß mitten ins Gesicht, daß sie belustigt aufkrähte. Andere drängten an ihn heran, schon im voraus kreischend. Unter Gesang und Gelächter zogen sie dann an Bourdons Bänkchen vorbei, ohne ihn, der sich ganz im Ulmenschatten zusammendrückte, zu sehen. Hummel, der am Bach stand, sah sie auf der Wiese, die von Blumen wie mit blauen und weißen Tüchern belegt war, sich zusammenhümpeln, dann verstreuen. Ein Kind, ein blonder Schmutzfink, mit Ringelblumenbehängen überm Ohr, stand einsam da und heulte: »Weil m'r doch ins Schloß hatte kumme solle, wo alles von Gold isch, und wo m'r hätte alles mitnehme dürfe.«
Der Pharmacien war vortrefflicher Laune geworden. »Ah le vieux juif,« sagte er zu Hummel, »er weiß so gut wie wir, daß es mit dem Krieg nix ist. Er läßt sich ja immer die côte aus Mülhausen telegraphieren, den Stand der Börse, die rente, vous savez!«
Er trat jetzt über den Bach hinüber in den noch offenen Hof hinein und beglückwünschte den alten Schlotterbach, der dort mit dem Portier sprach. »Grad wollte ich Ihnen zu Hilfe kommen, Père Schlotterbach!«
» Merci vielmol! Ihr brauchen euch net z'derangiere. Il n'y a pas de quoi! Il n'y a pas de quoi! 's isch net so gefährlich do in Thurwiller. D' Litt wisse salwer net, was sie wolle. Sie mache nur mit, was ihne in Mülhuse vorgemacht wird. Voilà, tout!«
Seelenruhig steckte er sich eine kurze Pfeife an und paffte vor sich hin. Bourdon stellte ihm seinen deutschen Besuch vor. Der alte Schlotterbach nickte ihm zu.
» Eh bien, jeune homme, Ihne wird's scho g'falle do im Ländle, do isch's anderlei als dort owe, wo noch im juin der Schnee liegt.« Er schien Hummels Berichtigung nicht sehr zu glauben: » Chancun prêche pour sa paroisse! Jedwederer hebt halt seine patrie in d'r Himmel.«
Er wischte sich mit einem kanariengelben baumwollenen Taschentuche den Schweiß vom faltigen Halse. Dann nahm er seine Perücke ab: »Excusez« und zeigte einen klugen gebräunten Schädel, der seinem Gesicht etwas Ehrwürdiges gab. »Ist mein Schwiegersohn in der Fabrik?« fragte Bourdon.
»In der Fawrik?« Der Alte machte eine Grimasse.
»Die Herrschaften sind nach Nancy gefahren zum tapissier. Die junge Madame muß neue Fauteuils haben und ein canapé à la mode. Ah ja, meine Kinder sind Elegante!« sagte er zu Hummel. Er zeigte auf den ausgefransten Ärmel seines Orléansröckchens: »Vor Madame Schlotterbach fils dürfte ich mich so nicht sehen lassen!« Er lachte knarrend. Bourdon machte ein beleidigtes Gesicht. Er blieb stehen. Auch der Alte legte den Finger grüßend an den kahlen Kopf und ging.
»Immer hat er auf meine Tochter zu sticheln, ce mufle-là,« sagte der Pharmacien, als man sich getrennt hatte. Er war sehr ärgerlich. Ziemlich schweigsam gingen sie wieder zurück, jetzt den schattigen Weg an der Ill entlang, deren verschlammtes Bett in der Hitze unerträglich stank. Es war eine Erquickung, wieder auf die Straße und den Marktplatz zu gelangen. Hummel hatte Lust, noch vor Tisch das Rathaus zu besehen. Er verabschiedete sich vor der Apotheke und versprach pünktlich um zwölf Uhr zurück zu sein.
»Madame Bourdon würde es Ihnen nie verzeihen, wenn ihre Pastetchen und ihr gigot warten müßten.«
Ratsschreiber Anselme Sartorius blickte auf den Marktplatz hinunter, auf dem eine Schar Kinder im Schatten der runden, grünen Linde spielte, die wie ein Feststrauß neben dem behelmten Treppentürmchen steht. Man hat sie im Jahre Achtzehnhundertachtundvierzig während der Zweiten Französischen Republik gepflanzt und mit einem Fläschchen des ältesten Burgunders begossen. Republik und Wein waren verdampft, aber die Linde stand noch da und breitete ihre frischen, süßduftenden Zweige den Leuten entgegen, die durch das Seitenpförtchen die steinerne Rathaustreppe emporstiegen. Jetzt zwitscherten da die Kinder der Honoratioren, die rings um den Platz herum wohnten, ihr Kauderwelsch.
Man zählte ab, wer »renard« sein sollte. »On, don, dree,« »Quatre animés,« »Animés animo,« »Die Kapelle Santimo,« »Santimo de täpperi,« »Täpperi de Kolibri« – »0n, don, dree,« »Arrét!«
Der Alte blickte hinunter; aber eigentlich sah er nicht viel; er tat es nur, seine kurzsichtigen Augen auszuruhen, diese großen, himmelblauen Kinderaugen, vor denen die Geschehnisse der Jahrhunderte alle auf demselben Plane standen. Denn über die Toten, von denen er da in seinen Chroniken und Protokollen las, wußte er fast besser Bescheid als über die Lebenden, die da unter seinem Fenster vorbeigingen. Die konnte er nicht immer recht auseinanderhalten mit ihren Vorfahren. Seit Jahren schrieb er an einer Geschichte des Elsaß; jetzt gerade beschäftigte ihn die Chronik von Thurwiller. Er war Privatgelehrter gewesen in Kolmar und hatte die Stadtschreiberstelle hier angenommen, um Brotberuf und Quellenstudium vereinen zu können.
In diesem Augenblick lag ein Dokument aus dem großen Revolutionsjahre vor ihm, ein Brief des Pfarrers Balde in Thurwiller an die damalige Regierung. Er lautete:
»Hiermit bezeuge ich öffentlich, daß der Eyd, den die Nationalversammlung von uns Geystlichen fodert, sich nur auf Sachen, die der weltligen Macht zukommen, bezihen kan; demzufolge schwör ich der Nation, dem Vaterlande getreu zu seyn in Allem Was Nicht Der Catholischen Apostolischen Roemischen Kirche Zuwider Ist.
Diese ausdrückliche Ausnahme fodert von Mir Mein Gewissen und die Sorge, die ich Meinen Gläubigen schuldig bin.
Dieses soll in eines jeden Händen ein Unterpfand der aufrichtigen Lieb seyn, die ich zum Vatterland trage wie auch der unverbrüchlichen Treue seyn, mit welcher ich der Religion anhange.
Thurwiller, den 5ten Hornung 1791.
Honoré Balde, Curé.«
Ja, ja, so sind sie alle, die Baldes, getreu dem, was sie einmal beschworen haben. Und das – er lächelte sein feines Greisenlächeln – das bedeutet bei dem raschen Herrschaftswechsel hier im Elsaß fast für jede Generation ein Festhalten am Gestrigen. Die große Revolution machte die Königstreuen zu Vaterlandsfeinden, der begeisterte Republikaner sollte sich in der Eile zum Nationalgardisten umwandeln, dann galt es wieder Untertan zu werden. Aber die Baldes, ja, die sind jedesmal Kämpfer für das Entwertete gewesen, liebe, unpraktische Leute. Er kennt sie alle, das ganze Geschlecht; alle sind sie seine guten Freunde, sein täglicher Umgang.
Da ist zuerst Dorte Balde, das unselige Weiblein, die man als Hexe verbrannte, weil sie an Vieh und Menschen Wunderkuren machte. Dann ihre Söhne und Enkelsöhne mit Allongeperücken und den massigen gescheiten Gesichtern. Unter ihnen der berühmte »deutsche Horaz«, der Pater Jacobus Balde, und späterhin eben der Curé, starknackig und fest, ein paar treue, dunkle Augen unter dem gepuderten Haar. Martin Balde, der heutige Maire, glich ihm.
Und dann sieht er den Neffen des Curé, den reizenden blonden Frédéric mit seinen schwarzen Feueraugen, aufbrausend, unzufrieden, ein Sohn der Revolutionszeit.
Der Alte am Fenster schaut über den Platz. Da wo drüben jetzt die große goldene Hummel blinkt, da hat der bestgehaßte Mann des Elsaß, Eulogius Schneider, neben seiner kleinen blanken Guillotine gestanden. Das Beil hat aufgeblitzt, und Curé Baldes Haupt ist auf das heiße Pflaster gerollt. Der junge Frédéric aber hat sich aufgerichtet, ganz blaß, die Augen flammend, hat die blonden Locken geschüttelt und seines Oheims Mörder, dem gefürchteten Mann, ins Gesicht gespien. Man hat ihn ins Gefängnis geworfen. Der Umschwung der Geschichte befreite ihn wieder. Später in einem Stadtamte zu Ehren gekommen, brachte ihn seine Weigerung, dem Usurpator Treue zu geloben, um Amt und Brot. Lieb und unpraktisch wie alle Baldes! Der blonde Frédéric mußte es aber noch erleben, daß sein jüngster Sohn Octave, nachdem er ganz bürgerlich brav in eine der ersten Thurwiller Familien eingeheiratet hatte, Frau und Kind im Stich ließ und zu Napoleons Fahnen schwur. Erst als Krüppel kam er, nachdem er ein halbes hundert Schlachten für seinen Abgott mitgefochten hatte, nach Thurwiller zurück. Nun war der auch tot. Und sein Sohn, der Martin Balde, hatte schon erwachsene Töchter. Ja, ja, die Baldes!
Und mit seinen Kinderaugen, denen das Geisterreich vertraut war, schaute er den Thurwiller alten Geschlechtern nach, wie sie da vor ihm aus seinen Büchern und Papieren aufstiegen.
Endlich nahm er seine Arbeit wieder auf, ein ungefüges, mit französischer Schrift kreuz und quer bedecktes Manuskript. Er schlug die Blätter bald hier, bald dort auf.
Als Heinrich Hummel eintrat, sah der alte, gelehrte Anselme tiefverworren in das fremde Gesicht.
Heinrich erklärte, er sei gekommen, die Erlaubnis zu erbitten, das alte Stadthaus besichtigen zu dürfen, das ja eines der schönsten im ganzen Elsaß sein solle.
»Die Geschichte des Elsaß ist sehr interessant,« sagte der Alte, verträumt in seinem Gleise weiterfahrend, auf französisch. »Seit dem dritten Jahrhundert kommen die Alemannen über den Rhein, dann die große Schlacht, bei der Apostata siegte. Sie wissen doch – alles zurückgetrieben – und dann – Sie entsinnen sich wohl – breiteten sie sich wieder bis zu den Vogesenpässen aus. Seit dem fünften Jahrhundert sehe ich sie immer an beiden Ufern des Rheins. Hier, nicht wahr?« – er zeigte auf eine alte Karte, die vor ihm an der Wand hing – »hier sind die fränkischen Ansiedlungen bis in den Hagenauer Forst. Aber mit wem habe ich eigentlich – was verschafft mir das Vergnügen?«
Hummel erklärte ihm nach Kräften sein Woher und Weshalb. Der Alte nickte. »Die Bourdons, alias Hummel, o ja.« Er machte eine Bewegung ins Zimmer hinein, als gelte es, eine Menschenansammlung in Gruppen zu ordnen, eine rechts und eine links. Aber er äußerte sich nicht weiter. Schweigend nahm er ein großes Schlüsselbund vom Nebentische, ergriff den jungen Besucher väterlich bei der Hand und führte ihn aus dem Sälchen, in dem er arbeitete, durch einen hallenden, gewölbten Flur mit ausgetretenen Steinfliesen hinüber in den großen, schönen Sitzungssaal, der in den reinen Verhältnissen der Renaissance mit hohen, dreigeteilten Fenstern zwischen dem dunkeln Getäfel unter einer schwer und kunstvoll kassettierten Decke würdig dalag. Der Schreiber führte Hummel selbst umher, zeigte ihm das kostbare Schnitzwerk der alten Eichentür und die Zerstörungen, die bei der großen Revolution der Pöbel daran verübt hat. Dann gingen sie wieder über den weiten Treppenflur nach der anderen Seite des Gebäudes zurück. Sartorius zeigte das aus einem einzigen Eichenbaum geschnittene, in sich selbst kunstvoll hineingedrehte Treppengeländer, das Hummel beim Heraufstürmen nicht beachtet hatte.
»Ein Bau aus guter deutscher Zeit,« sagte der Alte. »Sie sind Deutscher, mein Herr? O, ich kann zu Ihnen auch gutes Hochdeutsch reden; ich habe in Tübingen studiert. Und dann bin ich auch ein Pfarrerssohn aus dem Reblande. Die Pfarrer und die Philologen haben bei uns noch nicht aufgehört, das Deutsche zu pflegen. Ihr Schiller und Ihr Uhland stehen in unseren Bücherregalen.«
Es freute ihn augenscheinlich, als Hummel sein gutes Deutsch so rühmte, und wirklich hatte das Sprechen des alten Herrn etwas dermaßen Trauliches und Naives, daß Hummel sich noch einmal fragen mußte: Ist das wirklich Welschland? Frankreich?
Sie waren jetzt in einen der leeren Säle getreten, schmal und hoch, die ganz mit großen Schränken bestellt waren. Mächtige Schlüssel steckten vertrauensvoll in den alten Schlössern. Mit dem Stolze des Sammlers zog der Ratsschreiber die Fächer auf und kramte allerhand Kuriositäten heraus. Dann zeigte er den Riesen-Meteorstein, eine schwarze Eisenmasse, dreieinhalb Zentner schwer, die im Jahre Vierzehnhundertzweiundneunzig bei einem großen Gewitter vom Himmel fiel; zuletzt alte Karten und Dokuments. Seine Augen leuchteten. Unermüdlich bückte und beugte er sich, wie eine rosige Kugel wölbte sich seine Glatze inmitten der feinen weißen Härchen.
Er zeigte alte Kupferstichs, die Schenkungsurkunde Ferdinands des Ersten mit dem großen Siegel, eine Verfügung Rudolfs von Habsburg – alles zusammen in durchaus nicht einwandfreier Art in zerrissenen Mappen und brüchigen Zigarrenkisten untergebracht.
»Und nun sollen Sie auch etwas von Ihren cousins zu sehen bekommen.« Und er zeigte ihm den Kaufkontrakt über die Apotheke von Thurwiller, die der Vater von Onkel Camille erworben hatte.
»Ja ja, die Bourdons, sie haben sich arg verändert, seit daß sie über den Rhein flogen. 's isch halt immer ein wenig gefährlich mit dene zwei Sprache, gar zu leicht werde sie zweizüngig, d' Leut. 's hat g'nug solche im Elsaß. Falsch heißt m'r sie dann! Aber das isch g'fehlt. Gefällig sind sie worden, um daß man sie in Frieden läßt.«
»Und Sie halten diese Zweizüngigkeit, von der Sie reden, für ein Resultat der elsässischen Geschichte?« fragte Heinrich lernbegierig.
Aber der Ratsschreiber machte eine abwehrende Bewegung. Er ließ sich nicht gern in seinem eigenen Ideengang stören. Kurzsichtig und ein wenig schwerhörig wie er war, hatten sich ihm die Pforten des Gegenwärtigen sehr verengt. Das genoß er wie eine Befreiung. Unbehinderter gab er sich so seiner Gedankenwelt hin, »der wirklichen«, wie er sie nannte.
»Ich weiß nicht, ob Sie sich entsinnen,« sagte er, in das Französische zurückfallend, und blätterte mit leisen zärtlichen Fingern in seinem unordentlich gebauschten Manuskript. »Damals im dritten Jahrhundert,« las er, »in der Zeit der fränkischen Herrschaft – ›das Land der Eli-Sassen‹ hat man das jetzige Elsaß geheißen, das Land der Fremdsitzer. Und das ist es geblieben bis auf den heutigen Tag, ein kleines Volk zwischen zwei starken, ein Volk zwischen den forts.«
Er hob, das Wortspiel andeutend, belehrend den Zeigefinger, dann klappte er das Heft zusammen. »Kein Wunder, wenn die Leute Windfahnen würden. Aber, glauben Sie mir, mein Herr, das sind sie nicht, das sind nur wenige unter ihnen. Die meisten sind treu, vielleicht sogar zu treu. Meistens freilich der Vergangenheit. Das Herz, wissen Sie, geht langsameren Schritt als die Vernunft, es braucht Gewöhnung. Und der Elsässer kann nur mit dem Herzen politisieren. Starrköpfig sind wir, das ist wahr, aber einem Zwang, den wir uns freiwillig mit unserem Herzen gewählt haben, dem gehorchen wir dann auch, dem opfern wir uns bis zum letzten Atemzuge.«
Er sagte das alles leise, fast trocken, schien aber dennoch betroffen, sich so weit ins Gefühlsmäßige verloren zu haben, denn es war eine leise Scham in seiner Stimme, als er belehrsam fortfuhr.
»Mein Herr, Sie kennen die alten Pergamente, die man Palimpseste nennt. Sehen Sie, so ist es uns gegangen. Abwechselnd haben bald Germanen, bald Lateiner ihre Zeichen gesetzt auf jenes Blatt in der Weltgeschichte, das Elsaß heißt. Da müßte wahrhaftig erst der liebe Gott selber kommen und ein großes Wecken blasen, um da wieder die tiefverborgene Grundschrift zum Licht zu bringen.«
Sonderbar standen ihm plötzlich zwei Tränen in den Augen, während er lächelte. Der junge Deutsche wurde rot vor jäher Rührung. Dieser kleine, alte Mann im fleckigen Röckchen bekam Pathos für ihn und Größe. Aber der Ratsschreiber ließ es nicht recht weit kommen damit. Er zog plötzlich einen Zettel hervor und begann zu schreiben. »Ich werde das mit in mein Buch hineinbringen,« sagte er dabei. »So Sache falle eim grad nur beim Schwätze ei.« Er klappte das Manuskript zu; gleich darauf begann er, kurzsichtig auf der Schreibtischplatte tastend, eifrig in allerhand Mappen umherzusuchen. »Wo isch denn aber nur – –? Do het's g'lege, do überm große Dintefleck, und weg isch's! Tränkele, Tränkele,« rief er laut.
Ein Mann mit vertränten Augen und ungeheurer verbuchteter Nase kam herangeschlurrt und begann auf Sartorius' Geheiß in und unter den Schränken umherzustöbern.
»Such, Tränkele, such! Wo han m'r jetz' d' spanische Affäre?«
In diesem Augenblick hörte man jemanden die Treppe hinaufspringen, dann rasche, kurze Schritte über den Fliesen. In der Tür tauchte ein Kopf auf mit vollem, grauem Haar, ein Gesicht, wie aus alten Holzschnittbüchern herausgestohlen, Martin Balde. Mit schwarzen, lebhaften Augen blickte er den Fremden, der sich erhob, aufmerksam an.
»Sososososo, da haben wir also den Prussien!« Hummel verbeugte sich und nannte seinen Namen, aber der Maire lachte.
» Sans cérémonies, monsieur! Hier in Thurwiller gibt es keine Geheimnisse. Ihr Steckbrief ist bereits in jedermanns Mund.«
Dabei streckte er ihm eine warme Hand entgegen, die Hummel dankbar faßte. Der Maire wandte sich jetzt an Tränkele: ob er auch das Impfen gehörig ausgetrommelt habe? Und zu Sartorius bemerkte er auf französisch, man dürfe die Antwort an den Präfekten nicht verschieben. Wo denn das Schriftstück sei? Damit man es beantworten könne. Er sah eine Weile kopfschüttelnd zu, wie Sartorius und Tränkele nach dem Briefe suchten.
»Doch nicht in den uralten Akten, mon cher! Allons donc!« Mit ein paar Griffen schob er die Skripturen auf dem Schreibtisch beiseite und entdeckte nun das leere Kuvert mit dem Präfektursiegel.
»Darin hat es gestern nachmittag noch gesteckt,« erklärte der Ratsschreiber.
»Also nicht verloren, sondern gestohlen!« Balde gab aufs Geratewohl dem Tränkele, der sich tief in den Schrank gebückt hatte, einen derben Schlag, der ohne jede Erwiderung akzeptiert wurde.
»Un du sorgsch dafür, daß es morn doliegt! Hörsch?«
Er hatte nicht besonders die Stimme erhoben, aber der Tränkele lief, die Hände an beiden Ohren, davon, wie vor dem Donner des Jüngsten Gerichts.
Die Uhr schlug Zwölf. Hummel erinnerte sich seines Gastversprechens und verabschiedete sich. Balde hatte sich in den Schreibstuhl gesetzt.
»Ja, gehen Sie nur,« sagte er gemütlich, »Madame Bourdons Pasteten sind heilig.« Er gab ihm die Hand. » Au revoir. Und kommen Sie auch mal zu mir, wenn Sie sich für Altertümer interessieren. Mein Haus ist einmal Schloß gewesen, Kloster, was Sie wollen. Kommen Sie zur Vesper heute.«
Hummel sagte dankbar zu, aber – das Altertum in Ehren – er dachte dabei an etwas recht Junges: an die blonde Françoise und die zierliche Lucile.
Balde sah ihm nach, wie er breitschultrig und elastisch durch den Saal ging. » Un garçon tout d'une pièce!« sagte er wohlgefällig. Dann klopfte er dem verträumten Ratsschreiber auf den Arm:
» À nous maintenant, père Anselme! Der Brief des Präfekten ist verschwunden, wohlan, man muß ihn aus der Erinnerung beantworten.«
Und er diktierte folgende Worte auf französisch:
»Herr Präfekt, in Beantwortung Ihrer Anfrage vom 9. Juli teile ich Ihnen mit, daß die allgemeine Stimmung in bezug auf die spanische Affäre hier im Elsaß eine friedfertige, ja eine gleichgültige ist und das auch bleiben wird, falls es den Versuchen des Klerus und seiner Abgesandten nicht doch noch gelingt, das Volk in eine kriegerische Stimmung hineinzuhetzen.
Falls zu den Meinungen, die der Herr Präfekt zu kennen wünscht, zufällig auch die des Maire von Thurwiller gehören sollte, so füge ich hinzu, daß trotz dieser Beeinflussung die Gefahr einer Revolution, von der man in den Tuilerien so viel spricht, in Wahrheit keineswegs vorhanden ist, und daß es nicht wohl angeht, diese Gefahr zum Vorwand zu nehmen für die Notwendigkeit eines Krieges, der die Unzufriedenen beschäftigen und ihnen den Ruhm ihres Kaisers wieder neu vergolden soll.
Diejenigen, die solches raten, haben Sonderinteressen.
Empfangen Sie, monsieur le Préfet – – –«
Als der Maire unterschrieb, sah ihm der alte Sartorius erstaunt auf das Papier. Er hatte einen Augenblick gemeint, unter dieser tapfer unzeitgemäßen Erklärung müsse stehen: »Honoré Balde, Curé.«
Aus der Baldeschen Küche klang eine wilde Janitscharenmusik von Kasserollen und Pfannen, da hantierte das Salmele und ließ seine Trauer um ihren »Vengtzenker«, der sie nun bald verlassen sollte, beim Putzen und Scheuern aus. Mit ihrem runden, strohblonden Kopf, dem sommerfleckigen Gesicht und dem ewig erstaunt geöffneten Mäulchen, aus dem kleine unzufriedene Töne kamen, sprang es ungeschickt traurig umher wie ein klagendes Kälbchen. Am Fenster erschien hin und wieder Luciles braunes Köpfchen. »Pas encore?« Sie wartete aufgeregt auf den jungen hübschen Deutschen, dessen Besuch für heute nachmittag Vater Balde angekündigt hatte. Frau Balde im dunkeln Kleid, mit großer, weißer Schürze, ging ab und zu, holte warmes Wasser und reine Tücher und spülte gebrauchte Näpfchen. Sie half ihrem Manne in der Impfstube.
Jetzt klingelte es, das Salmele stürzte hinaus und kam atemlos zurück. Ein fremder Herr sei da, grausam groß, der Kirchendeutsch rede.
Frau Balde wies sie an, den Besucher in die Bibliothek zu führen, weil es im Salon zu heiß sei.
Dort wartete nun Hummel.
Angenehm kühl war es in dem verdunkelten Raume, der halbrund, mit einer einzigen Tür nach dem Garten hin, zur Sammlung lud. Rings breite Nischen, mit Bücherregalen gefüllt, zwischen den pilasterartig schmalen Wandflächen die tief hinabreichenden Fenster. Zwei kleine Bronzen waren da angebracht: Napoleon und der Große Kurfürst, »Protecteur des protestants français« stand auf dem Sockel des Kurfürsten. Aha! die Bürgermeisterin sollte ja französische Protestantin sein! Er sah weiter um. Sessel standen da, zueinandergewendet wie im Gespräch. Er betrachtete die schwarzgerahmten Bilder, die da ringsum in Augenhöhe hingen; Gravüren nach Gemälden von David, Lorrain und Correggio. Unter einer gemalten Landschaft hing ein alter gemalter Kupferstich, der die Stadt Thurwiller darstellte, noch mit dem Benediktinerkloster und den Befestigungen der Stadtmauer. Die Jahreszahl war eingraviert. Und überall Bücher. Ihre goldbedruckten Rücken glänzten in dem grünlichen Halbschatten, den die Marquisen-Rouleaus verbreiteten, braungolden auf. Hummel las einige der Titel: Rousseau, Voltaire, Schiller, Uhland, Molière. Dann Mignet, Victor Hugo, Béranger, Lafontaine; dazwischen Mörike und Goethes »Wahrheit und Dichtung«, alles schön gebunden, viele Bände anscheinend eifrig gelesen. Die Anwesenheit dieser erlauchten und vertrauten Geister machte ihm die fremde Stube heimisch. Überdies fühlte er sich angenehm berührt von dem sicheren, etwas strengen Geschmack der Einrichtung, der gute Tradition in sich trug. Dann aber dachte er wieder an seine beiden Mädchen aus dem Korn, Lucile und Françoise. Er war sicher, daß er sich in eine von ihnen verlieben würde, wahrscheinlich in die kleine Pariserin. Er machte es sich mit Gründlichkeit und Wissenschaftlichkeit klar, daß dies für ihn jetzt das Gegebene sei, ja, er fühlte dies nun fast wie seine Aufgabe hier im Elsaß.
Jetzt öffnete sich die Tür, und Frau Balde erschien. Sie entschuldigte ihren Mann, der noch beschäftigt sei, und lud Hummel ein, mit ihr auf den schattigen Gartenplatz hinauszukommen. Nach den ersten deutschen Worten sprach sie ihr gewohntes Französisch, fragte, ob sie es beibehalten dürfe, da sie trotz ihres langen Aufenthaltes im Elsaß sich noch immer nicht tadellos in Deutsch ausdrücken könne und sich ihrer ungeschickten Versuche schäme. Sie hatte dabei im Gang und Reden etwas so Schlichtes, erlesen Wirkendes, in der Art, wie sie ihr Kleid faßte und an sich zog, etwas so Elegantes, daß Heinrich, der sich auf eine kleinstädtische, durch den Besuch eines Fremden genierte Frau vorbereitet hatte, wohltuend enttäuscht war.
Sie traten jetzt in den Garten ein. Das Bibliothekszimmer befand sich auf dem linken der beiden Flügel, die das Baldesche Haus nach der Gartenseite ausstreckte, der rechte schloß mit einem kleinen Glasbau ab, der als Vorstube für das Ordinationszimmer des Doktors dientet Eine Anzahl Mütter mit ihren schreienden Bündelkindern im Arm, die größeren an der Hand, standen jetzt da und warteten, bis die Reihe des Impfens an sie kommen würde. Rosen und Klematis bedeckten die Mauerwände, auf dem Rasenplatz zwischen den beiden Seitenflügeln flatterten Girlanden batistener Damenwäsche. Das Ganze hatte etwas ländlich Liebes und Behütliches. Und diese beiden Steinarme bekamen jetzt, da eine seitliche Sonne sie vergoldete, eine fast leidenschaftliche Innigkeit. So als sehnten sie sich danach, ganze Generationen von Gästen zu umfassen.
Jetzt kamen sie zum Birnbaumplatz. Die tief niederhängenden Zweige gaben einen schönen Rahmen ab für die drei jungen Frauenwesen, die dort hinter der Balustrade standen. Sie zeichneten sich als zierliche und klare Silhouetten ab von der grünen Hauswand.
Lucile stand zuvorderst. Sie blickte mit großen, übertrieben unschuldigen Augen dem jungen Manne entgegen. Bei der Vorstellung machte sie eine kleine Kinderverbeugung. Sie ist es, die ich lieben werde, sagte sich Hummel. Wie pikant sie ist, der Kopf einer entzückenden Frau über dem kurzen Kleinmädchenkleidchen. Hortenses sehr gerade, etwas kühle Haltung verschüchterte ihn ein wenig, und Françoise erschien ihm seltsamerweise wie jemand, den er schon lange, lange kenne, mit dem man deshalb nur einen flüchtigen Erkennungshändedruck auszutauschen braucht. Und nicht einmal verwundert war er über dieses Gefühl der Zugehörigkeit. Aber eine rätselhafte Dankbarkeit, der er keine Richtung zu geben wußte, strömte in ihm auf und machte ihn glücklich.
Man hatte sich an den Tisch gesetzt, der jetzt mit Karaffen roten Weines und Kuchen, Brot, Früchten und Käse besetzt war. Der Tisch hatte ovale Form, so daß jedermann jedermanns Nachbar schien. Hummel fiel die schöne Form der alten Silbermesser auf. Als er sich eine Birne nahm, stürzte der schwere silberne Nußknacker zu Boden. »Er fällt immer,« sagte Madame Balde liebenswürdig.
Man plauderte. Zwischen den raschen, schwebenden Rhythmen der französischen Laute klang Elsässisch und Hochdeutsch hinein. Hummel sprach ein herzlich schlechtes Französisch, aber er versuchte sich tapfer immer wieder, angestachelt durch das frauliche Wohlgefallen an seiner Hilflosigkeit, das er um sich herum spürte. Lucils saß da wie eine Heilige. Entzückt betrachtete er ihr braunes Seidenköpfchen, das sich metallisch von Françoises frommblauem Kleide abhob.
Diese kleine Pariserin liebe ich nun also, dachte er befriedigt. Humoristisch gab er dann seine erste Begegnung mit den beiden jungen Mädchen im Korn zum besten. Man lachte viel, alles war in heiterer Laune. Dann sprach man vom Rathaus und vom Ratsschreiber. Hummel erfuhr, Père Anselme sei Françoises Taufpate, die Mutter neckte sie mit ihren häufigen Besuchen bei dem Alten. Françoise machte ein ernsthaftes Gesicht. »Durch ihn habe ich Ihr Vaterland kennengelernt,« sagte sie zu Heinrich, »Père Anselme liebt es.« Zum erstenmal sah er ihre Augen. Er erschrak fast davor. Unwillkürlich wandte er sich ab, als habe er eine Indiskretion begangen.
In diesem Augenblick flogen zwei Tauben auf, die im Birnbaum gesessen hatten. Sie waren durch die Spitze einer langen Angelrute beunruhigt worden, die an ihnen vorbei durchs Laub fuhr. »Nom d'un nom!« fluchte eine joviale Stimme. Ein Herr im eleganten Anglerkostüm tauchte seitwärts im Gassenschlupf auf. Er rüttelte ungeduldig die Schnur vom Baume los. Lucile lachte leise: »Voila papa!« Sie versteckte sich hinter Madame Baldes großem Stuhl. Der Straußenfedernfabrikant kam naher. Er trat durchs Pförtchen. Und als jetzt der Wind ein Paar auf der nächsten Leine, aufgehängter Spitzenhöschen leise formte, konnte er nicht umhin, mit sachverständiger Hand darüber zu streichen. Als er der Damen ansichtig wurde, machte er ein würdiges Gesicht.
» Ah, mes toutes belles, ich lege mein Herz zu Ihren Füßen.« Er nahm galant Françoise den Stuhl aus der Hand, den sie für ihn frei machte. »Das ist nichts für Feenhände!«
»Merci, monsieur« sagte sie konventionell.
»Bonjour, papa!« rief Lucile plötzlich. Sie sprang aus ihrem Versteck heraus und umarmte ihren Vater.
»Petite ingénué!« Er küßte sie auf die Stirn. Sie lachte für ihren Vater eine Kadenz, wie er sie liebte. Zu Frau Balde gewendet, beklagte sich Dugirard dann, der Maire sei nicht zu bewegen gewesen, heute an die Thur mitzukommen zum Angeln, seine »sales nourrissons« da drinnen seien ihm lieber als das Angeln mit ihm im Thurwald. »Ah, ce trâitre!« Er redete so rasch, daß Heinrich ihn kaum verstand. Seine kleinen braunen Augen wirkten exotisch in dem vergilbten Gesicht, der schwarzgefärbte Schnurrbart stand unternehmend über dem schneeweißen Spitzbartflöckchen. Man machte ihn mit Hummel bekannt, er verneigte sich höflich. Lucile stellte sich neben ihn. Sie steckte ihren Kornblumenstrauß enger in den festen Gürtel, so daß Hummel ihn sehen mußte.
Vater Dugirard begann Konversation zu machen.
»Finden Sie sie nicht reizend, diese kleine Stadt?« fragte er Hummel. »Das Stadthaus ein bijou, der Marktplatz eine Szene. Man scheint beständig durch ein Vaudeville zu wandeln.«
Frau Balde lächelte. »Ich fürchte. Sie sehen uns nur deshalb so poetisch, Monsieur, weil man in Paris die Gewohnheit hat, die Vaudevilles in elsässischen Kostümen zu spielen?«
»O nein, nicht nur das. Mir scheint auch in der elsässischen Landschaft ein sanfter, gemütlicher Zug zu liegen, wie wir ihn im übrigen Frankreich nicht kennen. Wir haben nicht einmal das Wort dafür. Das ist entschieden noch eine Erinnerung daran, daß dieses Land früher einmal deutsch war. Wir anderen Franzosen wenigstens fühlen das so. Nicht etwa, daß ich damit etwas Nachteiliges äußern wollte,« fügte er beflissen hinzu, und sich zu Hummel wendend: »Ich achte von meinem ganzen Herzen Deutschland mit seinen Dichtérs et Denkérs und Ihren Henri Aine.«
»Heinrich Heine,« verdeutschte Françoise unwillkürlich.
»Sein oder Nichtsein, müssen wir uns fragen,« zitierte Dugirard seinen »Henri Aine«. Er sah sich kindlich stolz dabei im Kreise um.
Jetzt kam Balde. Heinrich spürte wieder deutlich das Wahrhaftige und Frohe, das von diesem Menschen ausging. Es machte schon Freude, das Behagen zu sehen, mit dem er seinen Wein trank und von dem Backwerk aß. Er redete mit großer Herzlichkeit auch dem jungen Gast zu einem neuen Glase und einem neuen Törtchen zu, legte ihm sogar selber ein Stück Gebäck auf den Teller. Hummel sah entzückt auf die schöngemalte Jagdszene des Porzellans, während er aß. Balde sagte:
» Tenez, das ist etwas, was wir verstehen, wir Elsässer. Gutes Essen. Wir sind mehr gourmands – Vielfraß als die müßigen Franzosen und genäschiger – plus friands als die ernsten Deutschen. Mais voyez-vous, wir schämen uns auch unserer materiellen Bedürfnisse nicht. Wir verstecken sie nicht. Ja ja, mein junger Freund, ich weiß recht gut, bei Ihnen beschwichtigt man seinen Körper heimlich, ohne Vergnügen, sans tambour ni trompette. Man will ihn nur sättigen und zum Schweigen bringen. Wir Franzosen dagegen, ja, wir versuchen, uns aus unseren Bedürfnissen eine Kunst zu machen. C'est ça.«
In diesem Augenblick klang über die Mauer des Gartens herüber ein mehrstimmiger Gesang:
»Es blühen die Rosen im Tale,
Soldaten ziehen ins Feld –
leb' wohl, du mein Liebchen, du feines,
von Herzen gefallest du mir.«
Seltsam, dachte der gründliche junge Heinrich, warum singen sie nicht französisch?
Auch Hortense Dugirard hatte aufgehorcht. »Fabrikmaidele, que j'aime cela! Ich habe mich so gesehnt nach unseren alten Volksliedern.« Tränen traten ihr in die Augen. Frau Balde strich ihr leise, liebevoll über den Arm.
Hummel hatte nichts gemerkt von dieser kleinen Szene, er kämpfte mit einer Frage, die er nicht mehr unterdrücken konnte. »Fühlen sich die Elsässer eigentlich mehr als Franzosen oder als Deutsche?« Er wurde verlegen nach dieser fast unfreiwilligen Explosion, die ihm selbst taktlos und ungeschickt vorkam. Wirklich entstand eine kleine Pause. Man lächelte. Dann aber setzte sich Balde tiefer in seinen weißen Holzsessel hinein und hielt dem wißbegierigen Gast eine längere Rede. Man merkte, daß es ihm Spaß machte.
»Es hat lange gedauert, daß wir losgekommen sind von Deutschland,« sagte er bedächtig. » C'est vrai! Und lange hat's gedauert, bis wir Franzosen wurden. Jetzt« – er machte ein humoristisches Gesicht – »jetzt ist es vielleicht so: wir beten deutsch und rechnen französisch. Mais pour le reste – sehen Sie, mein junger Freund,« – er faßte vertraulich Hummels Arm – »wir kamen aus einem kleinlich zerrissenen Lande und fanden unter Louis-Quatorze ein großes einheitliches Reich – une vraie patrie. Wir hatten Niederlagen erlebt und fanden die gloire. Man hatte gehungert und fand Sattessen unter dem Roi Soleil. Lange haben wir Deutschland geliebt. Wir lieben es noch heute. Cela veut dire, unsere Erinnerung, l'Allemagne d'autrefois, Deutschland von früher. Das neue Deutschland kennen wir nicht. Die Badenser, die in Mülhausen und Kolmar in unseren Fabriken arbeiten, sind arme Schlucker ohne Physiognomie. Wenn wir von Ihren Titeln drüben und Dekorationen lesen, so ist uns das fremd. Ihr Bier trinkt man hier nicht, und Ihre modernen Bücher liest man hier nicht. Das ist schade, denn wir sind nicht so begabt wie die Franzosen, die weniger aus Büchern, aber desto mehr aus dem Leben lernen. Und noch eins: Frankreich hat immer nur unsern Leib verlangt. Jamais la France n'a reclamé notre âme! Und das war klug, c'était sage. Hätte es versucht, uns unsere alten Gebräuche zu nehmen, unsere Familiensprache, nos traditions, ganz Elsaß wäre dagegen aufgestanden. Denn wir sind und bleiben nun einmal die deutschen têtes carrées die Eigensinnigen, Beharrlichen; und gerade das ist ihnen recht, à ces coquins de Français. Ils en profitent, sie nützen das aus. Unser Speck und Sauerkraut ist Delikatesse in Frankreich. Unsere derbere Struktur liefert ihnen die besten Soldaten, unsere Besonnenheit die besten Generale. Gerade daß wir so verschieden sind, das bildet das Band zwischen uns.«
Frau Balde lächelte zu ihm hinüber. »Monsieur kann niemals enden, wenn er vom Elsaß spricht. Und wir wollten doch unserem deutschen Gast unsere Altertümer zeigen.« Sie stand auf, ohne eine Erwiderung abzuwarten.
Balde folgte, und Hummel wurde nun durch die tiefen gewölbten Keller gefühlt, in denen noch Klosterwerk bewahrt lag, zerbrochene Kruzifire und Stücke von Grabsteinen. Wieder im Tageslicht oben sah er über der Treppenwindung in einer Wandnische eine wundervolle Holzmadonna, ruhevoll und lächelnd. Auch sie hatte man im Keller gefunden. Hummel sah sie lange an, er fand, sie glich Françoise. Balde zeigte die gute Arbeit »aus der Zeit des Straßburger Münsters«, den naturalistisch gegebenen Kinderkörper, und sprach kluge, frische Worte zu alledem. An Hummel rauschte alles vorüber, er dachte an die Frauen oben, Hortense, Lucile, Françoise. Und mitten zwischen ihnen die Madame de la Quine. Vertrautheit und Fremdheit schufen ein wundervolles Wogen in ihm, dem er sich überließ wie einem warmen, blauen Meere.
Jetzt wurde er durch das Haus geführt.
Martin Balde hatte ziemlich alles so belassen, wie er es ererbt hatte, und nun schien es wie gerade erst für ihn und seinen Hausrat geschaffen, der sich zusammensetzte aus der behaglichen Louis-Philippe-Einrichtung, mit der er geheiratet hatte, und den ernsten geradlinigen Möbeln des alten Hugenottengeschlechtes, dem Frau Balde entstammte. Und überall standen Françoises Sträuße von leuchtenden Sommerblumen auf den Tischen. Vor der Kornblumenschüssel im Eßzimmer lächelte Heinrich, wie wiedererkennend.
Nun ging man an dem jetzt leeren Vorplatz vorbei, wieder in den Garten.
»Eh bien,« fragte plötzlich Balde unvermittelt, »was denkt man bei Ihnen über die spanische Affäre? Die Kandidatur Ihres Hohenzollernprinzen,« setzte er hinzu, da sein Gast ihn ratlos ansah. »Legt man in Preußen der Sache großes Gewicht bei?«
Hummel antwortete nicht gleich. Er hatte auf der Reise nur selten eine Zeitung zu Gesicht bekommen, von der Thronbewerbung eines Hohenzollernprinzen nur flüchtig und uninteressiert gelesen.
»Sie meinen, das könnte zu Verwicklungen führen?« fragte er tastend.
Der Maire zuckte die Achseln. »Man hat von der Gefahr einer Dynastie Hohenzollern in Spanien gesprochen, die Ihr Bismarck protegiere.«
»Und Frankreich fürchtet das?«
»Fürchten? Nein. Man möchte wohl vielmehr eine Ablenkung daraus machen.«
»Ich verstehe nicht –«
Balde schwieg einen Augenblick. »Seit den anderthalb Millionen Nein beim Plebiszit hat man Angst vor dem Volke,« sagte er dann. »Man fürchtet Revolutionen. Eugénie und die Jesuiten hetzen gegen die Protestanten, die schuld daran sein sollen. Die Preußen nun sind gleichfalls Protestanten, voilà. Nichts wäre der Kaiserin und ihren Getreuen erwünschter als ein kleiner Religionskrieg, der ein Beschäftigungsspiel für die Unzufriedenen bedeutete.«
Einen Augenblick schwiegen alle. Dann sagte Hummels helle junge Stimme zuversichtlich: »König Wilhelm wird kein unnötiges Blutvergießen zulassen.«
Der Maire betrachtete ihn mit Wohlgefallen. »Sie lieben Ihren König!« Er seufzte. »Sie sind zu beneiden.«
»Man ist hier nicht sehr patriotisch?«
Balde machte ein ernsthaftes Gesicht: »Was mich betrifft, ich habe dem Louis Napoléon Treue geschworen und werde sie halten. Im übrigen – man könnte sehr wohl gegen Papst und Kaiser sein und trotzdem sein Vaterland lieben. Vielleicht sogar besser,« fügte er hinzu. Seine Stimme klang wie das Grollen eines treuen Hundes, der Gefahr anzeigt.
Frau Balde sah ihn mütterlich an: »Er ist ein liebes, großes Kind!«
Man befand sich im hinteren Garten, dem ehemaligen Klosterkirchhof, der über den zerfallenen Gräbern mittelalterlicher Mönche Frau Baldes Rosen und Gemüsebeete aufs vortrefflichste gedeihen ließ. Die Grenze bildete hier die Wallmauer mit dem Blick auf die Getreidefelder, dahinter sah man die Schornsteine der Schlotterbachschen Fabrik, links die Ill und das Spitalwäldchen. Nach dem Hause zurück führte eine breite, schattig lockende Kastanienallee, die in der Mitte des Gartens sich zu einem runden Platz ausweitete. Farbige Kleider schimmerten da.
»Unsere Jugend,« sagte der Maire. Sie steuerten darauf zu. Da sie näher kamen, sahen sie die beiden Schwestern mit der kleinen Désirée und irgend etwas Wagerechtes, hin und her Blitzendes zwischen den Bäumen. Der Maire lachte: »Voilà la petite paresseuse!« Frau Balde machte ein unzufriedenes, fast strenges Gesicht. Jetzt erkannte auch Heinrich, was da zwischen zwei Kastanien schwebte: Lucile in einer Hängematte, die sie durch Aufschnellen und Zurückfallen in Bewegung hielt. Als die drei näher kamen, zog sie, wie in kindlicher Schüchternheit, das Netz ganz eng um sich und blieb mäuschenstill so liegen. Sie sah reizend aus in dieser Fischpose mit dem dunkeln, spitzbübisch beschämten Gesicht. Balde, geleitet durch das etwas erzieherische Schweigen seiner Gattin, versuchte gleichfalls streng auszusehen: » Eh bien, la petite, es ist nicht Schlafenszeit, wie ich glaube?«
Lucile richtete sich auf. Sie schlang graziös ihre Arme um den breiten, grauhaarigen Mann: »Nicht schelten, Papa Balde, Sie wissen, ich bin nichts als ein Kind, das spielt.« Und sie ließ sich von ihm herausheben.
Heinrich Hummel verwandte keinen Blick von ihr. Noch nie war ihm etwas so Entzückendes begegnet. Er hatte es ja gewußt, daß ihm in Thurwiller das Glück kommen würde! Und sein Blick ging zu Françoise hinüber, die schlank und kräftig zwischen den Büschen stand und mit der Kleinen Blätterkränze steckte. Ihr Gesicht war blaß, wie sie jetzt nach ihm hinsah.
Die Allee ging vom Boskett aus weiter zum Vorgarten hin. Dort hatte Vater Dugirard im gleichen Augenblick ein strenges Verhör zu bestehen. Im Begriff, nun wirklich endlich zum Angeln aufzubrechen, wurde er von Luciles alter Wärterin zurückgehalten, die sich mit imposanter Miene vor ihm aufpflanzte.
»Monsieur geht aus? O, ich weiß schon, Monsieur denkt nur daran, sich zu amüsieren, Monsieur denkt aber nicht an seine Pflicht. Monsieur vergißt, seine Demoiselle Tochter zu überwachen in dieser schrecklichen Provinz, in der es erlaubt ist, daß die jungen Fräulein ohne Papa und Mama und ohne dame d'honneur mit den jungen Leuten spazierengehen. Das ist nicht schicklich, o nein, das ist unmoralisch. Und der Effekt – voilà!« Sie wies mit dem mageren Finger, der aus einem schwarzen Filethandschuh herausstak, nach dem Boskettplatz und Luciles Hängematte. Dugirard setzte sich sein Pincenez auf und sah hin. Er lächelte. Die helle Jugend da im grüngoldnen Baumschatten gefiel ihm sichtlich, aber die treue alte Frauensperson war empört. »Monsieur lacht, aber ich werde nach Paris an Madame schreiben, was hier vorgeht. Dann wird Monsieur schöne Dinge zu hören bekommen, o ich versichere Sie, schöne Dinge.«
»O, Sie verstehen zu schreiben, Louison?« Es war die einzige kleine Rache, die er wagte. Aber die Alte ließ sich nicht besiegen. Wie eine Pythia streckte sie die Arme gegen die Gesellschaft da hinten aus:
»Man wird Lucile nie verheiraten, wenn man nicht vorsichtiger ist. Niemals.« Damit drehte sie sich um und ging in den Küchenflur zurück.
Dugirard blieb nachdenklich stehen. Sie hatte recht, seine Frau plante eine Verbindung Luciles mit dem jungen Victor Hugo Schlotterbach. Er war erst vierzehnjährig, das ist wahr, zwei Jahre jünger als Lucile, aber die Fabrik machte ein schönes Geld, und die Schlotterbachs hatten ohnedies Vermögen. Der Kleine war vor ein paar Tagen aus dem Lyzeum in Kolmar zu den Ferien heimgekehrt, die Kinder hatten sich gut gefallen. Vorerst freilich schien der Junge über beide Ohren verliebt in Françoise, aber das ging vorüber. Nur mußte man vorsichtig sein, daß nicht etwa dieser junge Deutsche – sie machte schöne Augen nach ihm hin. Aber ein Deutscher! Bah! Seine Tochter würde keinen so schlechten Geschmack haben. Immerhin – er war hübsch, und die Frauen sind unberechenbar. Er beschloß, wachsam zu sein.
Hummel hatte sich von Baldes verabschiedet. Am nächsten Nachmittage sollte er mit der Familie nach Sulz zur »Kilbe« fahren. Ihm war, als kenne man sich schon lange.
Noch in der Allee warf er einen Blick zurück auf diese Menschen, die ihm plötzlich wichtig geworden waren. Aber eigentlich sah er nur Françoise und das goldene, zitternde Licht auf ihren Flechten.
»Das schönste Haar im Städtchen,« fiel ihm ein.
Dann versuchte er sich Luciles pikante Reize zurückzurufen, Lucile, die er ja liebte! Auf dem Heimgang durch die gleichen Straßen, die ihm vorhin an Bourdons Seite banal und häßlich vorgekommen waren, empfand er jetzt alles lebendig, so als ob alles, was er hier sah, ihn innig angehe, irgendwie zu ihm gehöre. Ja, als ob das ganze Elsaß ihn angehe, von ihm verstanden und erfaßt werden müsse. Aufmerksam blickte er in die umbuschten Gärtchen, in die offenen ländlichen Torbögen. In der Mitte eines Hofes saß ein silberweißer Pfau auf einer Leiter und ließ sein Gefieder herabströmen wie einen Wasserfall. Das rührte ihn irgendwie. Lange stand er und schaute, bis die Hitze, die die Steinmauern von sich gaben, ihn nach Hause trieb.
Françoise Balde war in das obere Stockwerk hinaufgestiegen, um für Eusébe Blanc, den Bruder ihrer Mutter aus Straßburg, der heut abend erwartet wurde, die Giebelstube herzurichten. Sie tat ein Glas mit Blumen auf den Tisch, zog die Decken glatt und rieb an der Politur des Bettes. Alles mit einem verträumten, gleichsam nach innen horchenden Gesicht. Jetzt stellte sie auf der Kommode ein altes verschwommenes Daguerreotyp zurecht, der Mutter Elternhaus auf dem Lande in Frankreich, Frau Balde selbst davor mit ihrem Bruder, beide in kurzen, karierten Kleidchen mit langen Höschen. Dazu eine Photographie der Thomaskirche in Straßburg, an der Oncle Blanc Pfarrer war. Zuletzt ging sie das Treppchen hinauf nach dem Speicher und maß dort mit Arm und hochgehaltenem Kleid den runden alten Holztisch, gleichfalls Blancsches Erbteil, der mit sechs starren Holzstühlen gemeinsam hier, ernst und vornehm, den Wechsel der Moden verwartete. Der Onkel sollte es heimatlich haben. Er war immer ein wenig stadtmüde, wenn er heraufkam ins Oberland, und voller Dankbarkeit für jede Liebe hier. Mit einem Lächeln voll Güte stand Françoise da, prüfend blickte sie auf den Niederschlag der Geschlechter, der sie hier umgab. Octave Baldes rostige Säbel hingen da, Pistolen und Uniformen der vergangenen Régimes, ein mottenzerfressener Predigertalar, lederne Mantelsäcke und gestickte, behagliche Reisetaschen. Alle hatten hier oben abgelegt, die Unruhigen und die Seßhaften. Aus den Schränken roch es nach Lavendel und Thymian, das Sparrenwerk krachte vor Hitze. Françoise rückte dies und glättete jenes, ihre Hände hatten das Leichte, Schlanke der Gutzugreifenden.
Plötzlich aber quoll ein heißer Schmerzensstrom in ihr auf und stürzte ihr aus den Augen. Ganz steif stand sie da mit emporgehobenem Gesicht. Dann lächelte sie wieder tiefverklärt.
Und all dies Sonderbare geschah ihr am Vorabend ihrer Lebensentscheidung. Denn morgen sollte der Mülhauser reiche Fabrikantensohn Pierre Füeßli seine Antwort haben. Die Bedenkzeit war ja doch nur eine Form gewesen. Es war ihr gar kein Zweifel gekommen, daß sie diesem Freier Ja sagen würde. Nun aber – – Lange saß sie da oben auf einem der alten, hohen Stühle, lächelte und weinte.
»Meine Tochter empfängt in ihrem Boudoir,« sagte Onkel Camille zu Heinrich, als sie am nächsten Morgen sich auf den Weg zum Château Schlotterbach machten. »Die Fauteuils im Salon stecken meist in ihren Bezügen. Man arrangiert ihn nur für angemeldete Gäste.«
Das erste, was Heinrich sah, als er bei Madame Schlotterbach eintrat, war mitten im Zimmer ein niederes, blau und orange garniertes Bett von gewaltigen Dimensionen, einen großen Stoffbaldachin über sich. Unwillkürlich stutzte er.
Madame Schlotterbach selber, ein zierliches Persönchen, stand aufrecht am Kamin, beide Arme vorgestreckt. Sie war in ein Deshabillé von weißen Spitzen gekleidet, über und über mit gelben Rosetten garniert. Bourdon eilte auf sie zu wie auf einen Vorgesetzten. Sie hielt ihm erst die eine, dann die andere Wange hin, die er küßte.
»Bonjour, papa, vous allez bien?«
Bourdon stellte sich in dritte Position:
»Erlaube, daß ich dir deinen deutschen cousin präsentiere, Monsieur Hümmelle aus Jena.«
»Ah, entzückt, Sie zu sehen!« Sie reichte ihm die Fingerspitzen. Das vorn verschnittene glatte Stirnhaar lag wie eine Pelzkappe über den schwarz umränderten Augen. Der Puder gab ihren unregelmäßigen Zügen etwas Maskenhaftes, das den jungen Deutschen erschreckte. Man sprach Französisch. Die Dame fragte Hummel, wie ihm die Stadt gefalle, woher er komme, wohin er reise? Heinrich ertappte sich darauf, daß er versuchte, seine Antworten möglichst geistvoll zu gestalten, und amüsierte sich zugleich über seine Originalsucht, die von der ruhigen Banalität dieser französierenden Elsässerin unvorteilhaft abstach. Trotz guten Willens fühlte er sich hier unbehaglich. Die ganze Art dieses Zimmers, das aufdringlich auf Frau gestimmt war, befremdete ihn. Da standen auf dem Klavier große Sèvresgruppen verliebter Schäfer und Schäferinnen, eine große Vase mit künstlichen Blumen, die man vor die Feuerstelle des Kamins gesetzt hatte, zeigte als Malerei Amouretten und schmachtende Damen, auf den Marmortischchen lagen Goldschnittbücher, der Toilettentisch, deutlich ins Zimmer hineingerückt, war bedeckt mit Kämmen, Bürsten, Döschen, Flakons, Spiegeln, Parfümflaschen, Puderbüchsen und Schminkkästchen. Neben der Chaiselongue eine große halbgefüllte Konfektschale auf Füßen, bunte Papierfächer auf der Kaminplatte. Die Fenster waren fest geschlossen, es roch nach Puder und Heliotrop.
»Ich habe mich um dich geängstigt, ma chère!« sagte Bourdon. »Diese Umzüge und Drohungen!«
Madame Schlotterbach nahm den Fächer in die Hand, sie lachte. »O, wir haben nichts gemerkt von alledem, wir sind ganz abgeschlossen von dieser schmutzigen Fabrik. Théophile ist übrigens noch in Nancy geblieben, alte Stickereien anzusehen. Ich erwarte ihn jede Viertelstunde zurück. Unser Salon soll erneuert werden,« sagte sie zu Hummel. »Er stammt zum Teil noch von meiner belle-mère und war unmöglich. Es ist nur schwer« – sie lachte kokett – »Monsieur ist blondin, und mein Teint fordert Gelb.«
Heinrich begriff, daß er jetzt ihr etwas Schmeichelhaftes sagen müßte, aber einer verheirateten älteren Frau gegenüber ging ihm das zu sehr gegen Gewohnheit und Geschmack. Um einer Pause zu entgehen, blätterte er in den Noten, die zwischen Modejournalen auf dem Klavier lagen: französische Walzer und ein paar Opernarien. Auf einigen der Blätter stand eine Widmung mit schönem Namensschnörkel von Napoléon Cerf.
»Sie treiben nicht deutsche Musik? Mozart? Beethoven?«
»Beethoven? Ah non, c'est trop triste.«
Der Pharmacien untersuchte indessen die Büchsen und Gläser auf dem Toilettentisch. Er nahm aus einer silbernen Hülle einen Stift und strich ihn sich prüfend über die Hand: »Ah, tiens, von diesem rouge bewahrt Tuteur Frères in Paris das Geheimnis.«
In diesem Augenblick trat, parfümiert, mit englischem Seitenbart, ein wenig geckenhaft, der Hausherr ein. Ein Duft von starken Zigarren ging von ihm aus. Er trug ein Monokel, und die Hand, mit der er seine dünnen blonden Haare strich, glänzte von Brillanten. Seine Begrüßung war formell.
»Sie befinden sich gleichfalls am Hofe von Jena, wie Ihr armer Papa?« fragte er den Besuch.
Und da ihn Hummel verblüfft ansah, fügte er hinzu: »Ich las es damals in der Todesanzeige, die man meinem Schwiegervater schickte.«
Hummel erklärte ihm, daß sein verstorbener Vater allerdings den Titel Hofrat besessen, daß aber ein Fürst von Jena nie existiert habe.
»Ah, also nie existiert? Das ist außerordentlich interessant! außerordentlich interessant!« wiederholte er ein paarmal.
Madame setzte sich graziöser auf dem kleinen Sofa zurecht. Sie empfand sich zwischen den drei Herren in ihrem Boudoir wie eine Herrscherin. Man begann nun regelrecht Konversation zu machen, plauderte mit Lebhaftigkeit über die Verschiedenheit von Paris und Provinz, über den französischen Hof, über die neuen Ausbrüche des Vesuv, über die Pazifizierung Algeriens und weiter über Dinge, die keiner von ihnen genau kannte, und die keinen von ihnen interessierten.
»Sie lieben Musset?« fragte endlich Madame Schlotterbach. Sie nahm ein goldgeschnittenes Büchlein vom Ziertisch. »Er berauscht mich. O diese köstlichen einsamen Abende am Kamin! Mein Mann spielt Billard bei Monsieur de la Quine, ich sitze mit meinem Buch hier in der Ecke und lese. Gut ist's da! Ah qu'il fait bon dans mon coin, j'en ai le frisson!« Sie schauderte graziös.
»Ach, wirklich?« sagte Hummel. Er hatte entdeckt, daß ihr goldenes Medaillon, zwischen dem viereckigen Halsausschnitt hin und her gleitend, auf dem gepuderten Busen einen breiten, schwarzen Strich beschrieb. Das zerstreute ihn.
»Frankreich liebt nur eine Poesie,« sagte Théophile Schlotterbach unvermittelt, »die poésie parisienne.«
»Und Elsaß?« fragte Hummel.
»Aber das ist die gleiche Sache, mais c'est la même chose!«
»Soviel ich gelesen habe,« erwiderte der junge Doktor mit Gründlichkeit, »existiert doch auch eine speziell elsässische Poesie? So etwa wie es eine elsässische Malerei gibt: Vautier zum Beispiel.«
»Monsieur hat recht,« sagte Schlotterbach höflich. »Es gibt eine elsässische Poesie, aber das ist schon lange her, sehr lange.«
»Gottfried von Straßburg?« fragte Hummel.
» Mais certainement.« Madame Schlotterbach gähnte verstohlen. Jetzt wurde Bourdon lebendig: »Aber Sie vergessen, Monsieur Théophile: unser ›Hans im Schnokeloch‹.« Er lachte über das ganze Gesicht. Behaglich stellte er sich auf seine beiden Beine und deklamierte:
»D'r Hans im Schnokeloch
hett alles, was er will,
und was er will, das hett et net,
un was er hett, das will er net,
d'r Hans im Schnokeloch
hett alles, was er will.«
Madame Schlotterbach fächelte sich stärker: »O, Papa!«
Auch Schlotterbach zuckte die Achseln: »Sie sehen, Monsieur, das nennt sich hier Poesie.«
Aber Bourdon war diesmal nicht einzuschüchtern: »Das Gedicht ist ganz gut! Und außerdem – man sagt ja, der Hans im Schnokeloch wäre der Elsässer, wie er leibt und lebt. Das muß einen Ausländer doch interessieren, nicht wahr, mein Neffe?«
Auch Heinrich beharrte: »Nun wohl, die elsässische Poesie könnte inmitten der ermüdeten » poésie parisienne« eine Enklave naiver Frische bilden.«
»Ohne Zweifel,« sagte Madame höflich.
Hummel wurde warm. »Und sehen Sie, das wäre sogar eine Mission für das Elsaß. Es könnte eine Einzelpoesie schaffen, wo es jetzt nur Mitläufer ist. Eine Einzelpoesie, wie wir Deutschen sie pflegen. Denn das ist vielleicht der Vorzug unserer sonst so beklagenswerten deutschen Kleinstaaterei: Eine Anzahl Nebenflüsse ergießen sich unaufhörlich in den großen Hauptstrom deutscher Poesie und führen ihm frische Nahrung zu.«
»Monsieur Hümmelle hat ganz recht, parfaitement,« sagte Madame Schlotterbach wieder. »Aber nun müssen Sie mir von Deutschland erzählen, es muß charmant sein, ganz und gar pittoresk! Ich weiß leider so wenig davon. Meine Tochter dagegen –« Sie warf auf den hübschen jungen Deutschen einen prüfenden Blick. Ihr fiel ein, ob es nicht ganz gut wäre, ihre Virginie bliebe nicht länger im Kloster, sondern verheiratete sich? Der junge Mann würde dann in die Fabrik eintreten, man würde ihn französieren. Deutsche sollen ja so tüchtige und fleißige Leute sein. »Ich war schon einmal in der Schweiz mit meiner Tochter,« plauderte sie weiter, »in Lausanne. Die Schweiz – das ist ja beinahe Deutschland, nicht wahr?« Er würde ihr gefallen, dachte sie, für einen Franzosen paßt sie nicht, sie hat den bäuerlichen Geschmack ihres Großvaters.
»Zu denken, daß man schon eine erwachsene Tochter hat!« begann sie wieder. Sie seufzte ausdrucksvoll. Théophile Schlotterbach wartete eine Weile auf das Kompliment, das Hummel seiner Frau sagen würde, da es aber nicht kam, äußerte er selbst:
»Man würde sie beide für Schwestern halten!« Er putzte dabei aufmerksam sein Monokel mit einem hochroten Foulard.
» Vrai? O ja, man ist noch keine alte Frau. Glücklicherweise.« Jetzt endlich schwang sich Hummel zu einer kleinen Höflichkeit auf, die mit erfreutem Lächeln erwidert wurde. Und nun kam die Dame in ihr Fahrwasser. »Ich habe mich früh verheiratet, Sie wissen. Meine Tochter hat nur siebzehn Jahre weniger als ich. Madame de la Quine freilich behauptet, es seien zwanzig. Sie könnte es gut genug wissen. Denn sie hat im gleichen Frühjahr wie ich ihre Kommunion gemacht, und Mama hat ihr ein Kleid von ihren eigenen dafür gegeben. Ihre Mutter wusch für uns. Das hat sie vergessen. Mais enfin, man darf sie nicht ernst nehmen. Sie liebt es, cette chère dame, sich auf Kosten anderer zu amüsieren. Man muß auf seiner Hut sein.«
Das war wie eine Warnung.
»Aber wo ist Victor Hugo?« fragte Schlotterbach. »Ich habe ihn noch nicht umarmt.«
Schon ein paarmal hatte ein schlankes, anmutiges Gesicht durch den Türspalt gelugt, von Madame Schlotterbach mit einer Handbewegung immer wieder weggescheucht. Jetzt kam der ganze kleine Mensch zum Vorschein: Victor Hugo, der jüngste Schlotterbach, etwa vierzehnjährig, in Kniestrümpfen und Schottenanzug, das helle Haar pagenartig verschnitten. Bourdon und Schlotterbach strahlten. »Ah, da ist er ja!« »Hast du deine thèmes beendet?« »Arbeitest du auch nicht zu viel bei dieser Hitze?« Madame Schlotterbach küßte ihn. »Und die Bonbons, die ich dir hineingebracht habe, waren sie gut?«
»Vorzüglich! Ich habe sie alle aufgegessen.« Der Knabe sah unverwandt auf Hummel, der ihm gefiel.
» Bonjour, monsieur le géant,« sagte er keck. »Guten Tag, Herr Riese!«
Sein Vater hielt es vor dem Fremden für anstandig, ihn zurechtzuweisen: » Eh, dites donc, jeune homme, so spricht man nicht.«
Madame Schlotterbach zog ihn wieder an sich und küßte ihm ausführlich das ganze Gesicht.
»Er ist ein gutes Kind, ein kleiner Gelehrter, ich versichere Sie. Er studiert im lycée in Kolmar. Und er ist schon ein Held, nicht wahr?« Sie küßte ihn von neuem. »Denken Sie, als gestern sein Großvater Schlotterbach ihm einredete, es könne einen Krieg mit Preußen geben, ist er in den fumoir eingedrungen und hat aus der Waffensammlung seines Vaters einen Degen ergriffen. Er wollte uns verteidigen.«
Heinrich Hummel lachte. Er legte dem hübschen Jungen brüderlich die Hand auf die Schulter. »Gut, daß es mit dem Krieg gegen Preußen nichts ist, da hätte dieser blutdürstige junge Herr vielleicht seine Waffe gegen mich richten müssen.«
»O nein« – er sah ihn verliebt an – »nie würde ich das! Aber ist denn der Herr Riese Offizier?«
»Bei uns sind alle gesunden Männer Soldat.«
»Allgemeine Wehrpflicht,« sagte Schlotterbach. »O ja, ich weiß.«
»Ich will auch Soldat sein!«
Madame Schlotterbach wehrte ab: »Aber man könnte dich totschießen, mein armes Kind!«
Victor Hugo ließ ruhig maman und grand-papa an sich herumhantieren. Madame Schlotterbach seufzte. »O ja, die Kinder! Man hat sie niemals für sich selbst, seine Söhne. Nur die paar Jahre, wenn sie vom Lande von der Amme zurückkommen. Aber da schon teilt man sich in ihren Besitz mit der Bonne. Dann gleich nimmt das lycée sie uns fort, danach les filles und dann der Beruf. Zuletzt die Heirat.« Und sie seufzte wieder.
Heinrich sah mit Verwunderung, wie das Gezierte von ihr abfiel wie eine Maske und ein ganz echtes, warmes Gefühl ihr in die Augen stieg, daß sie aussahen, wie richtige besorgte Mutteraugen. Die Frau wurde ihm fast lieb in diesem Augenblick.
Bourdon und Théophile hatten inzwischen vom Streik gesprochen. Bourdon war noch immer tieferbost über das Gebaren des alten Schlotterbach ihm gegenüber. »Und mit Krieg zu drohen!« schrie er. »Ist das nicht sündhaft?! Ja ja« – und er puffte seine Arme einem unsichtbaren Gegner in den Bauch. »Der Krieg wird kommen und ihn strafen. Nie waren wir einem Krieg so nah wie heute, das sage ich, der Pharmacien vom ›Bourdon d'or‹«.
»Und warum?« fragte der elegante Théophile sanft.
»Weil, weil – – – man soll den Teufel nicht an die Wand malen, sonst kommt er.« – –
Als Onkel und Neffe auf dem Heimweg zum Rathausplatz einbogen, fanden sie ihn voll Lärm und Gelächter. Vor der Kaserne stand ein Trupp Lustiger, darunter Kinder und Frauen, sie empfingen mit Händen und Schürzen, was die Soldaten aus den Fenstern warfen, als unnütz bei dem bevorstehenden Wegzug. Wer über den Platz ging, trat hinzu und beteiligte sich. Ein Trupp Dienstmädchen stand kichernd und schluchzend beiseite. Der alte Groff kauerte am Boden und wühlte unter einem Haufen bunter Papierherrlichkeit, Maskenflitter, Überbleibsel des vorigen Faschings. Er behängte sich mit Papierorden, Knallbonbonmützen und Schärpen, daß es raschelte. Zuletzt fand er noch eine scheußliche Witzmaske mit roter Nase und dickem Schnurrbart, die befestigte er am Hinterkopf und scheuchte damit die Kinder. Es sah burlesk aus im heißen Sonnenschein.
Es war eine kleine lustige Karawane, die das Balde-Haus am Nachmittag nach der Sulzer »Kilbe« entsendete, voran der Doktorwagsn, vom Maire selbst gelenkt, im Fond Frau Balde mit ihrem heute morgen hier eingetroffenen Bruder. Pfarrer Eusèbe Blanc war ein schmaler, intelligent aussehender Mensch mit dunklem gelocktem Haar und einer liebenswürdigen Stimme, der man gut sein mußte. Er zeigte dieselbe Ruhe und vornehm wirkende Gelassenheit wie Frau Balde. Sehr wohl schien er sich zu fühlen da im Kütschchen neben der Schwester, die er liebte. Seine Ehe daheim mit einer geborenen Straßburgerin, hausbacken und dabei vergnügungssüchtig, machte ihm dies Beisammensein mit der Frau seines eigenen Blutes zum Ausruhen zugleich und zur Belebung.
Wie sie jetzt über die Thurbrücke fuhren, wandte er sich, nach den jungen Leuten zurückzuschauen, die im langen Bankwagen der »Krone« unter Dugirards und Hortenses Schutz folgten. Die Blumenhüte der Damen, das helle Geplauder, das herüberklang, das Lachen und Sichzueinanderneigen dort freute ihn.
»Nichts Gesunderes als der Anblick von Schönheit und Fröhlichkeit,« sagte er ein paarmal. Seine schmale, feste Hand suchte die feste, schmale der Schwester.
»Net so karessiere, sunsch bin i jaloux!« sagte Balde. Er sprach Elsässisch, um neckend sich abseits zu stellen von den beiden Franzosen, als seien sie gegen ihn verbündet.
Im großen Wagen saßen auf der einen Seite die Damen: Hortense, Françoise und Lucile, auf der anderen Dugirard, Hummel und der junge Schlottelbach. Heinrich war froh, mitfahren zu dürfen. Er hatte gefürchtet, seine Verwandten würden ihn mit Beschlag belegen. Aber der Onkel hatte einen leichten Gichtanfall bekommen, und die Tante pflegte ihn. So waren sie gezwungen, ihren Gast der feindlichen Partei abzutreten.
Ihm gegenüber die Schwestern hatten helle Kleider an, ihre Hütchen lagen ihnen wie Studentenkäppi über der Stirn. Lucile trug einen Matrosenhut mit Bändern, über dem Haar ein dichtes blaues Chenillenetz gegen den Staub. Victor Hugo hatte wieder sein romantisches Schottenkostüm an. Man lachte über nichts und alles. Wie goldene Leuchtbälle flog es durch die Luft, Scherzreden und Gelächter. Nur der arme Dugirard war nachdenklich, die Drohungen und Warnungen der alten Louisen bohrten in ihm. Er fühlte sich unbehaglich in dem unkleidsamen Amte eines Wächters. Hortense dagegen war wie im Rausch. Diese Fahrt mit ihren Erinnerungen an so viele schöne Vergangenheit machte sie glücklich. Lucile amüsierte sich köstlich. Mit einer gewissen Ranküne sah sie auf Françoise, der niemand huldigte, während sie selbst sich unter den Blicken des jungen hübschen Deutschen wußte und mit Victor Hugo plauderte, der, von seinen Eltern verständigt, der künftigen kleinen Frau nach Kräften den Hof machte. Sein Herz gehörte Françoise, aber das hinderte ihn durchaus nicht, der Kleinen seine schönsten Augen zu machen und sich zu überlegen, daß Paris doch einen ganz besonderen Schick verleihe, der den hiesigen Damen fehle. Dazwischen blickte er ein wenig erstaunt auf seinen Abgott, der so hübsch aussah und so tat wie ein Eisblock. Eben wieder sah er mit seinen blauen, klaren Augen so merkwürdig zwischen Lucile und Françoise hindurch in den Himmel hinein, als säßen anstatt zweier hübscher junger Mädchen ein paar Säcke voll Mehl vor ihm, und er habe Angst, sich vollzustäuben, wenn er ihnen zu nahe käme. Er schien gar nicht daran zu denken, daß es unartig sei, schönen Frauen gegenüberzusitzen und zu schweigen.
Nein, in der Tat, Hummel dachte nicht daran. Er war eben, während er mit Dugirard Jagd- und Angelgeschichten tauschte, damit beschäftigt, Françoises und Luciles Profile zu vergleichen und zu finden, daß es nichts Verschiedeneres gäbe und daß natürlich das französische Gamin-Gesichtchen der Kleinen das interessantere sei. Françoise, die – ja, die sah eben wie ein liebes deutsches Mädchen aus. Nichts Auffälliges. Aber, er war gewissenhaft, um diese Tatsache zu konstatieren, mußte er fortwährend auf sie hinsehen. Dabei litt er unter dem Gefühl seiner deutschen Schwerfälligkeit, das er heute nicht los wurde, und das ihn in seinen eigenen Augen herabsetzte. Er ahnte nicht, wie hübsch er allen erschien in seiner kernigen blonden Frische und seiner Ruhe, sicher zwischen den Beweglicheren.
Inzwischen erzählte Dugirard vergnüglich weiter von einem großen, schweren Fisch, der ihm an der Angel hing, die Schnur, hatte sich im Baum verwickelt, und er mußte hinaufklettern, um sie loszumachen. Er gab sich selbst zum besten, indem er auf sein rundes Lebemannsbäuchlein wies.
Man war jetzt an den kleinen Kirchhof gelangt, auf dem die aus der Maison Centrale Heraussterbenden begraben wurden. Er war ganz rot von Mohn und leuchtete fast unerträglich in der Sonne. Hortense erkundigte sich, ob da noch immer das »Heidengrab« geschmückt werde. Sie erklärte Hummel die Bewandtnis. Unter den Begrabenen befand sich ein Mohammedaner, sein Hügel war mit einem turbanartigen Stein besteckt. Jede Woche legte dort eine unbekannte Hand eine Rose nieder.
» C'est beauça!« sagte sie. »Daß ich das alles wiedersehe! Ich fürchtete schon zu sterben zuvor!« Sie weinte beinahe.
Dugirard versuchte ihre Erregung, die er als nicht » convenable« empfand, abzudämpfen. »Welches schöne Feuer! Welche Passion! Ich bewundere Sie, Madame! C'est du ›Gemüt‹ – vraiment,« und flüsternd, damit Lucile es nicht höre, sagte er ihr ins Ohr: »Wahrhaftig, er ist nicht zu beklagen, mein Sohn Armand!«
Hortenses Gesicht veränderte sich, es nahm den konventionellen Ausdruck an, den Hummel zuerst an ihr gesehen hatte.
»Wollen wir nicht das Grab besehen?« schlug Victor Hugo vor, der sich Heinrich dienstbar zu erzeigen wünschte. Heinrich tat ihm den Gefallen, sich von ihm führen zu lassen. Der Wagen sollte langsam vorausfahren, sie würden schon nachkommen. Der Knabe steckte mit einer kleinen, kosenden Bewegung seinen Arm in den des großen Gefährten und sah ihn mit glänzenden Augen an. Sie traten an das Grab. Die Rose war da. Lauter Kreuze ohne Inschrift. »Ein Kirchhof der Namenlosen!« sagte Hummel. Victor Hugo war sich nicht ganz klar, ob das ein Lob oder einen Tadel zu bedeuten habe. »Es muß schrecklich sein, nicht wahr, keinen Namen zu haben?« – er sah ihm nach den Augen. »Aber ich, monsieur le géant, ich werde einmal einen Namen haben, o ja! Ich bin nur ein Kind, aber ich habe Mut! O, ich habe Mut! Und ich liebe Frankreich!«
Er machte sich los, blieb stehen und deklamierte mit großem Pathos den Vers seines berühmten Taufpaten:
»Gloire à notre France éternelle,
gloire à ceux qui sont morts pour elle,
aux martyrs, aux vaillatns, aux forts!
à ceux qu'enflamme leur exemple,
qui veulent place dans le temple
et qui mourront, comme ils sont mort!«
Er streckte den rechten Arm aus und hielt die linke Hand an der Brust. Sein Gesicht hatte einen drollig-theatralischen Ausdruck, der durch das schottische Kostüm noch verstärkt wurde. Heinrich lachte laut auf. Der junge Mensch blickte ihn betroffen an, dann stürzte er sich in Hummels Arme, umhalste ihn und bot ihm seine Wange. Heinrich war gerührt. Er nahm das blutjunge Gesicht mit den Feueraugen zwischen seine großen Hände und betrachtete es väterlich. Die Mütze war dem blonden Jungen vom Kopf gefallen, und sein ehrlicher, borstiger Schopf stand ihm wie eine Flamme über der Stirn. Er sah auf einmal seinem Urgroßvater, dem »tollen Hummel«, ähnlich.
Der Kleine wurde jetzt natürlicher. Auf Hummels Frage, ob er lieber Deutsch oder Französisch spreche, erzählte er, in seinem Lyzeum in Kolmar seien Strafen angesetzt für das Deutschsprechen auf der Straße. Da mache es natürlich erst recht Spaß. In Thurwiller aber, wo man bis vor ein paar Jahren in der Schule nur Deutsch unterrichtet hatte, hier wäre es feiner, Französisch zu reden.
»Na, mit mir sprich du nur Deutsch, kleiner Vetter!« sagte Hummel, worauf Victor Hugo sich nur fester an ihn drückte.
Im Muttergotteswäldle stiegen sie wieder ein. Es ging jetzt durch Wiesen, auf denen hohe Sternblumen blühten. Dugirard plauderte vergnüglich. »Ich liebe das Landleben,« sagte er, »und später – seien Sie sicher – wenn man einmal eine hübsche Rente beiseite gelegt hat, dann kaufe ich mir hier im Elsaß für Madame Dugirard und mich ein kleines weißes Häuschen, nahe am Wasser, dort angle ich und pflege meine Rosen.«
Lucile sah ihn mit großen Engelsaugen an.
»Und ich, Papa, wo bleibe ich?«
»O, bis dahin« – Dugirard räusperte sich – »habe nur keine Furcht, Kleine! Man wird dann schon für dich gesorgt haben.«
»O nein, Papa, ich habe keine Furcht! Ich werde stets zufrieden sein mit dem Manne, den meine Eltern mir aussuchen werden!«
Es war, als wenn ein Greuze Stimme bekommen hätte, so glashell-deutlich naiv klang es.
Wie ich sie liebe, dachte Hummel. Dabei fiel ihm ein, daß seine Thüringer Tannenwälder eigentlich wohl schöner seien als diese weichen, bläulich schimmernden Gehölze, und daß Lucile niemals in Tannenwälder hineinpassen würde; dazu müßte sie größer sein und blonder, herber und kräftiger. Unwillkürlich blickte er auf Fräulein Balde.
Man fuhr jetzt auf der Ungersheimer Straße. Verlockend standen zu beiden Seiten die Kirschbäume, zwischen deren kohlgrünem Laub die kleinen roten Früchte glänzten. »Die Liqueurflacons des Elsaß,« sagte Dugirard.
Und auf einmal standen die Vogesen da, blausilbrig, kapriziös geschwungen, so wie Heinrich sie bei seiner Ankunft in Thurwiller gesehen hatte. Vorgestern erst? Ihm war, als seien Jahre vergangen. Man fuhr weiter, immer zur Rechten die Thurwiesen, zur Linken Felder. Der Staub wurde lästig. Balde fuhr rascher, die Entfernung zwischen beiden Wagen zu vergrößern. Auf der breiten Straße schleiften die langverzerrten Schatten von Pferden, Wagen und Insassen entlang, griffen mit komisch dünnen Armen gierig zueinander, berührten sich mit langen, langen Nasen, krümmten sich leidenschaftlich, dehnten sich und wuchsen ins Leere. Victor Hugo machte darauf aufmerksam, er hob sich, drehte sich ins Profil, streckte ein Bein empor und arrangierte so immer burleskere Silhouetten. Er wäre beinahe aus dem Wagen gefallen. Alle lachten. Françoise, die seitwärts blickte, hielt sich still. Sie schämte sich. Ihr war auf einmal, als verhöhnten diese burlesken Zerrbilder da unten sie alle. Durch eine schlaflos verbrachte Nacht voll innerlicher Entscheidungen feinfühlig gemacht, spürte sie fast körperlich das Sehnen und Bangen, das sich zwischen ihnen da im Wagen kreuzte. Wie Fangbänder war es, die man einander zuwürfe. Sie selbst mitten drinnen eingefangen, eng, schmerzhaft.
Da war der kokette Victor Hugo, der abwechselnd ihr, Lucile und Heinrich Hummel Liebesblicke zuwarf, Lucile und Dugirard, die wieder nach ihm hinangelten, Hummel sah nach Lucile, und Françoise selber – Schamröte stieg ihr ins Gesicht. Gleich darauf hatte sie Lust zu lachen. Ihr gesunder Sinn spürte das Komische dieses Durcheinanders. Aber dann seufzte sie wieder, weil sie sich machtlos fühlte gegen sich selbst. Denn alles war seit heute nacht bereits entschieden in ihr und Schicksal. Nur ob es Leiden werden sollte oder Glück das wußte sie noch nicht!
In dieser Stunde jedenfalls war es Leiden!
Mit Neid sah sie auf Lucile. Wie machte sie's, daß er sie lieben mußte? Aber dann richtete sie sich kräftig auf. Immerhin! Ohne Kampf würde sie sich nicht beiseite drängen lassen! Sie ward auf einmal im Bewußtsein einer großen Kraft ganz übermütig, holte die alte Guitarre, die sie mitgenommen hatten, unter der Bank hervor und begann, im Fahren etwas trillerig, mit kleiner, weicher Stimme zu singen, was ihr gerade einfiel. Die Geschichte vom Compère Guilleri bei der Rebhuhnjagd, der auf den Baum klettert, um seine Hunde besser laufen zu sehen, ein Bein bricht und von den Damen des Hospizes gesund gepflegt wird. Alle sangen mit:
»Carabi toto carabé,
marchand d'carabas, Compère Guilleri,
te lairas-tu mourir?«
Sie war ganz ausgelassen. Alle sahen nach ihr, weil sie so schön wurde.
Man beschloß jetzt, um dem Staube zu entgehen, den Umweg durchs Isenheimer Wäldle zu wählen. Wirklich fand man dort mehr Frische, Schatten, und unversengtes Grün, ein Bächlein kam mit und sah nach Kühlsein aus. Man fuhr durch das alte, steingraue Isenheim, am Kloster vorbei. An den hohen Mauern entlang stand ein Zug kleiner Pensionärinnen in schwarzen Schulschürzen, die von einer Nonne in Kutte und Flügelhaube reihenweise spazieren geführt wurden. Die rosigen Gesichtchen drehten sich neugierig nach den Fremden. Berthe de la Quine war unter ihnen. Hummel fragte nach der Klosterkirche. Er hatte in dem Reiseführer seines Vaters von einem Altar mit schönen alten Bildern gelesen. Man sagte ihm, die Altargemälde seien alle nach Kolmar verschleppt. Von wem sie gewesen, wußte keiner. Eine Kreuzigung war es und ähnliches. Alles so unangenehm natürlich! Hortense schauderte in der Erinnerung. Man näherte sich Sulz. Herr und Frau Balde verabschiedeten sich, der Doktor hatte hier draußen im Schloß bei der Baronin Meckelen einen Krankenbesuch zu machen. Seine Frau begleitete ihn. Blanc kam in den großen Wagen. Er setzte sich zum Kutscher.
»Die Baronin ist eine Landsmännin von Ihnen,« sagte Hortense Dugirard zu Hummel, »eine geborene Freiin von Stein aus Nassau und immer noch ein wenig Madame Bismarck, obgleich sie im Herzen gute Französin geworden ist.«
»Was verstehen Sie unter Madame Bismarck?«
»O, die Art, wie sie sich kleidet.«
Désirée kicherte lustig. »Ich habe sie gesehn, sie trägt die Haare aus dem Gesicht gerissen, hinten einen kleinen Knoten und dazu eine dicke falsche Flechte über dem Scheitel, die bereits eine andere Farbe hat als ihr eigenes Haar.«
»Ihre Kleidet sind immer vornehm und tadellos geschneidert,« sagte Hortense, »aber sie trägt sie nach der vorletzten Mode und über die nachnächste hinaus. Immer die gleichen. Sie ist vornehm, aber weder elegant noch chic.«
In diesem Augenblick erhob sich plötzlich Dugirard im Wagen und zog den Hut. Oben im Rebgelände wanderten zwei Herren auf sie zu. Ein katholischer Pfarrer mit flatternder Soutane, breitschreitend wie eine behagliche Frau, der andere, trotz der Hitze gleichfalls schwarz gekleidet, mit hohem, steifem Hut.
»Unser Curé mit Monsieur Cerf,« sagte Françoise erklärend, und Dugirard fügte hinzu: »Der Bruder der schönen Demoiselle Célestine.«
Pfarrer Blanc drehte sich um zu den anderen. Er lachte. »Aha, die Herren gehen auf Wählerfang.«
Nun waren die beiden ganz nahe. Sie grüßten zum zweitenmal beflissen in den Wagen hinein, mit um so auffallenderer Nachlässigkeit zu Blancs Kutschersitz hinauf. Auch Hummel erhielt nur einen scharfen Seitenblick. Er hörte das Wort »Prussien« mit einem ungut klingenden Beiwort.
»Das gilt mir, dem Franzosen, ebenso wie Ihnen,« sagte Blanc zu ihm. »Alle Nicht-Katholiken sind diesen Leuten Prussiens.« Dabei machte er den beiden ein Bubengesicht hinterher, was bei seinem sonstigen Ernste komisch wirkte.
»Man glaubt ja im Elsaß,« sagte er dann, »Preußen liegt hinter Rußland und ist von Kosaken bevölkert, die zum Frühstück kleine Kinder fressen.«
Françoise nickte. »So dachte ich auch einmal, aber dann hat mir Père Anselme – – « Sie wurde grundlos rot.
»Ich liebe ihn nicht sehr, diesen Herrn Napoléon Cerf,« sagte Blanc wieder. »Solange er beim alten Füeßli in Mülhausen Sekretär war – der gute Martin Balde hatte ihn dorthin empfohlen – solange gebärdete er sich als Freund der Republik und Freigeist. Und jetzt zieht er mit dem Klerus auf Menschenjagd für seinen Namensbruder auf dem Thron. Das ist nicht schön.«
Dugirard machte sein würdiges Gesicht: »Es gibt Bekehrungen.«
»Die gibt es vielleicht, obwohl« – Er hatte nicht Zeit, seine Meinung weiter zu erklären, denn ein paar lange Bauernbuben, die dem Wagen nachrannten, belustigten sich damit, über die Köpfe der Sitzenden hinweg die Pferde mit Steinen zu werfen. Der »Kronen«-Kutscher drohte mit der Peitsche und jagte sie endlich davon.
»D'Buwe vom fermier Justin dort owe« – er wies mit der Peitsche nach dem Schindeldach, das zwischen den Bäumen hindurchschimmerte. »D'r Justin, jo, seller isch scho a rachter Mann, un er gilt ebbes in d'r G'mein. Awer's Georgette, sine Frau, sell het d'r leibhaftig Satan in d'r Ripp. Un d'Junge gliche d'r Alt' ufs Tipfele!«
Jetzt kam man an den Marktplatz. Schon von weitem sah er aus wie mit Dampf überzogen, der Staub stieg hoch in die Sonne, bis in die Allee hinein roch es nach bratendem, gezuckertem Fett, nach Tabak, Wein und »Kirsch«, man hörte Karusselmusik, zwei verschiedene Melodien auf einmal, Kindertrompeten und das Schreien der Verkäufer, die sich in witzigen Anlockungen überboten, und dem regelmäßig donnernde Lachsalven folgten. Ein brausendes Übereinander war es von Musik, Tiergebrüll und Menschengeräuschen.
An einem der alten Gasthöfe mit rundem Tor, die den Marktplatz einfaßten, stieg man aus, ließ Wagen und Kutscher dort und schob sich nun erwartungsvoll ins Gewühl hinein, allen voran, bewußt heldisch, Victor Hugo als Sturmbock, dann folgte Hortense mit Blanc und Dugirard, zuletzt Hummel mit den beiden jungen Mädchen. Vor der schönen alten Kirche und um den Moritzbrunnen herum war das Gedränge am stärksten. Landleute, Arbeiter und Soldaten mit ihren Frauen, Mädchen, Kindern, dazu die Mädchen aus der Seidenfabrik, auf hohen Absätzen recht zierlich einherstelzend, mit echten und unechten dicken Haarzöpfen und Chignons, sehr parfümiert und sehr geschwätzig; alle mit grellen künstlichen Blumen in den Händen. Prächtig glänzten die goldigen Römerhelme der Pompiers in der Sonne. Kopf an Kopf wogte es in der von Buben gebildeten Straße. Da gab es Zuckerzeug für die Kinder, »Bäredreck« und rote, gelbe und grüne gummiartige Schlangen, die gefährlich giftig aussahen, Hampelmänner und Lärminstrumente. Kleine lebendige Katzen lagen schnurrend zwischen dem Backwerk. Jedes Kind tutete, knarrte und trommelte aus Leibeskräften. Hummel wurde an die Jahrmärkte in seiner Heimat erinnert. Er war fast gerührt, als er in einem Spielwarenstand die Arche Noah entdeckte mit genau denselben bunt bemalten Holzfiguren, wie sie ihn als Kind entzückt hatten: Herr und Frau Japhet und Herr und Frau Sem. Ganz wie damals dort kauften die Burschen ihren Mädchen Pfefferkuchenherzen und bunte Halstücher, und die Buben opferten ihren Marktgroschen für das Vergnügen, zwei Minuten auf dem Busen der Riesendame sitzen zu dürfen. Auch das prophetische Glasteufelchen in der Flasche fehlte nicht: »Samiel, steige hinauf, steige hinunter,« das die Photographie des künftigen Schatzes hervorzauberte. Die Baldeschen Damen ließen es sich nicht nehmen, es zu befragen. Hortense erhielt ein Kärtchen, auf dem ein Landmann abgebildet war – sie bezog das auf ihren künftigen Sohn und freute sich daran –, Lucile einen Kaufmann hinter dem Ladentisch, Françoise einen Soldaten. Man scherzte harmlos über die Drei, nahm sie zum Anlaß für ein Lachen, das jedem noch ungenützt in der Kehle saß und herauswollte.
Auf den Tanzdielen, die mit Tannengirlanden und roten Fähnchen geziert waren, ging es schon lustig zu. Stampfen und Johlen, die Karussels klingelten und lärmten, ein paar Leierkästen machten sich den Platz streitig. Und da waren auch die Tafeln mit den Moritaten. Sogar das Lied dazu war Heinrich bekannt. Es schien ihm, als sei die heisre dicke Frau mit dem Kiepenhute, die es sang, noch genau dieselbe, der er damals andächtig zugehört hatte. Der lange Stock, mit dem sie bei jeder neuen Strophe auf die Liedertafel schlug, war bestimmt der gleiche.
Das Lied hieß:
»Dieser war ein wunderbarer
Knabe von verwickelteerer
Gestalt, dabei wahahar er
schon nicht, sondern au oontr=äer.
Seine Haut war braun, die Haare
hatten Borstenähnlichkeiet,
seine Augen taten fu–uhunkeln,
Mund und Na–ase–e waren breiet.«
Man war jetzt vor eine Glücksbude geraten. Lucile und Françoise erwürfelten sich einige Bonbonpapilloten mit Versen. Auf dem einen stand:
»O du min Schatzele üs Zuckerpapier,
wenn i di sieh', so g'fallsch dü mir,«
auf dem andern:
»Un wenn din Herzele us Zucker wär',
so tät i dra' schlecke, bis nit meh' dra' wär.«
Lucile wollte sich die Verse von dem jungen Schlotterbach übersetzen lassen, als der nicht damit zustande kam, versuchte, sich Françoise, wurde aber dabei plötzlich so brennendrot, daß es aussah, als ob sie in ein Feuer hineinblicke. Hortense trat zu ihr, nahm sie unter den Arm und ging mit ihr weiter.
Victor Hugo blickte ihnen mit offenem Munde nach, er sah nicht sehr klug aus. Und auf einmal fühlte er sich sterbensunglücklich. Er hatte bemerkt, daß Françoise seinen deutschen blonden Riesen liebte. Nicht etwa der die junge Lucile, wie Victor Hugo erst geglaubt hatte. Da hinein hätte er sich gefunden, obgleich er wußte, daß Lucile ihm selber zur Frau bestimmt war. Doch dazu war ja immer noch Zeit. Françoise aber, in die er so heftig verliebt war – –
Er warf mit einer erhabenen Handbewegung den Zuckerwecken, den Hortense ihm vorhin gekauft hatte, in den Staub. Nie wieder würde er essen können!
Vor einem Schießbüdchen blieb er stehen. Er spähte nach Waffen zum Selbstmord. Auch die andern hielten dort an. Hortense und Françoise versuchten sich eifrig im Schießen. Françoise, die erst von ihrem Gewehr einen empfindlichen Backenschlag erhielt, kam ganz in Ehrgeiz, sie ruhte nicht, bis sie dreimal hintereinander getroffen hatte. Sie gewann ein »Spiegelchen« und wieder einen »Zukünftigen«, diesmal einen ältern Herrn mit einem Geldbeutel. Hummel, sorgfältig zielend, gewann jedesmal. Erst ein Pfefferkuchenherz mit der Aufschrift »Daß du süßer lüegsch!«, das er, an den verstummten Victor Hugo gab. Der stieß es leidenschaftlich weg, was zu seinem Kummer keinen Eindruck machte. Dann gewann Heinrich noch einen gelben Kamm. Den hielt er lange in der Hand.
»Sie kämmt es mit goldenem Kamme«, ging ihm durch den Sinn. Er sah ein Bild vor sich: Françoise, wie sie abends ihr Haar, löste, daß es wie ein Sonnenmantel um sie floß. Dann aber schenkte er den Kamm an Lucile. Zuletzt gewann er noch einen Blechomnibus, auch der mit einer Inschrift:
»
Excusez, daß i's sage muß,
wann's d'r au net sollt' g'falle:
Din Herz ischt wie – an Omnibus,
es steht halt druf: für alle.«
Den Vers las er nicht vor.
Man ging jetzt wieder in der alten Ordnung hintereinander, wegen des Gedrängs Arm in Arm. Als Heinrich in Françoises liebem Gesicht nach neuer Freude suchte, bemerkte er eine Art Erschrecken. Der Wendung ihres Kopfes folgend, blickte er sich um, sah aber nichts als ein Gefährt, das er als Blanche de la Quines Kabriolett erkannte. Jetzt erhob sich die junge Frau wie ganz überrascht im Wagen, sie winkte, man möge auf sie warten. Mit der kleinen Berthe an der Hand stieg sie eilig aus und war, mit einer Rücksichtslosigkeit vorwärtsdrängend, die ihrer eleganten Toilette nicht förderlich sein konnte, in ein paar Schritten bei der Balde-Gesellschaft.
»Quelle chance!« sagte sie ganz atemlos. »Ich ahnte nicht, daß Sie hier seien, glaubte Sie ganz friedlich zu Haus in Thurwiller. Ich fürchtete schon, mich hier entsetzlich zu langweilen, aber petite Berthe ließ mir keine Ruhe, ich mußte mit ihr hierher. Nicht wahr, mon chat bleu, mon trésor!«
Petite Berthe sah mit großen erstaunten Augen auf: der Blick ihrer Mutter ruhte hart auf ihr, trotz der lächelnden Lippen. Das Kind senkte den Kopf, das französisch vorgewölbte Mündchen zitterte leise. Françoise hatte sich von Hummels Arm gelöst, sie nahm die Kleine bei der Hand, beugte sich herab und küßte sie. Hummel nahm des Kindes anderes Händchen. Wie Vater und Mutter gehen wir, dachte er behaglich. Ihnen voran drängte die Gruppe Dugirard, Blanche, Hortense und Lucile durchs Gewühl. Victor Hugo hatte sich in seiner Verzweiflung zu Blanc gesellt, der still beobachtend umherblickte. Bunt genug war das Bild und wurde mit jedem Augenblick lebendiger. Immer mehr drängte die derbe, deutsche Fröhlichkeit die zierlicheren Allüren der vornehmeren Kilbegäste in Verteidigungszustand. Auch Blanche de la Quine zog ostentativ abwehrend ihr Kleid eng um sich zusammen. Überdies gewann sie dadurch Gelegenheit, ihre hellen, knappen Stiefelchen und die Spitzenvolants ihrer Balayeuse zu enthüllen. Sie wandte sich beständig zu Heinrich zurück, befragte sein Urteil und erklärte. Ihm war das fast lästig, er hätte lieber sich still treiben lassen, ohne selber in Aktion zu treten; der kleine warme Körper des Kindes schien eine Kette zu bilden, die ihn mit Françoise verband und ihm in all dem Lärm und Gedränge eins Heimat gab. Beinahe pflichtmäßig, weil er sich ja einbildete, das Französische hier bewundern zu sollen, freute er sich an Luciles kleinen, zierlichen Schritten, an ihrer schmalen Taille über dem weitabstehenden weißen Kleide und mehr noch an Madame Blanches selbstbewußter Erscheinung. Ihr preziöser Gang, die Bewegung ihrer Schultern, das unregelmäßige Flattern des schwarzen Suivez-moi=Bändchens, das sie am Halse trug, interessierte ihn. Jetzt hob die junge Frau beide Arme, ihren Hut, dem ein Arbeiterellbogen einen Stoß gegeben hatte, wieder zurechtzurücken.
»Ist er grade?« fragte sie und stand einen Augenblick, halb zurückgewendet mit gehobenen Armen, vor Hummel still, so daß Nachdrängende sie wie einen Kreisel umherwirbelten und sie dicht an Heinrichs Brust gedrängt würde. Ihr Haar hatte einen heißen Duft, der ihm unangenehm war. Sie lächelte und strich ihren Schlepprock glatt, der, straff nach hinten gebunden, trotz der Tournüre ihren ebenmäßigen Wuchs recht deutlich erkennen ließ. Halb ihrer stummen Aufforderung folgend, halb selber neugierig sah er ihr in das reizende Gesicht mit der kleinen amüsanten Nase und dem ein wenig zu flachen Munde. Ihre Augen strahlten ihm blau und dunkelfeucht daraus entgegen. Er fühlte ein leichtes Frösteln mitten in der Hitze.
»Bin ich hübsch in diesem Hütchen, Monsieur Hümmelle, gefall' ich Ihnen?« fragte sie auf deutsch.
»Entzückend,« sagte er gewissenhaft.
Sie lachte und wandte sich befriedigt um. Von diesem Augenblick an beachtete sie ihn anscheinend nicht weiter. Er aber, wie er ihr nachschritt, fühlte ein peinvolles Ziehen an seinem Herzen, eine Unruhe, die ihm die Farbe nahm.
Blanche de la Quine verlangte zu tanzen; man trat zu dem großen gedielten Tanzplatz, wo es jetzt schon laut und heiß zum Ersticken war. Oben auf der Tribüne blies Pfiffer-Schang zwischen den Fiedlern die Backen auf. Es waren eben »Drei allein« angesagt, alle Paare gingen auf ihre Plätze zurück, nur ein hübscher Bursche in Hemdsärmeln und rotem Gilet tanzte ernst und würdevoll mit einer Bäuerin, alt und plump unter ihren vielen Röcken.
Hortense und Françoise hatten sich seitwärts auf die über Tonnen gelegten schwanken Bretter gesetzt, während Lucile mit Berthe zusah. Victor Hugo verschmähte das Vergnügen. Madame de la Quine plauderte mit Dugirard, Hummel stand neben Victor und betrachtete die zwei, die sich da in der Mitte drehten, seine frohe Stimmung war verflogen, alles schien ihm verzerrt und unnatürlich. Als er sich zu Berthe hinunterbückte, um ihr einen Bonbon aufzuheben, fiel ihm der kleine Blechomnibus aus der Brusttasche. Er trat darauf, bis er zerstampft war. Er blickte nach Françoise. Die aber sah gerade vor sich hin. Der Tanzplatz wurde wieder freigegeben, Blanche forderte Hummel auf, mit ihr zu tanzen, während Lucile mit Berthe herumhopste. Die Quine tanzte schlecht. Das erbitterte Heinrich. Aber sie war unermüdlich. Als sie drei Runden getanzt hatten und an ihren Platz zurückkamen, waren die anderen verschwunden. Sie fanden sie auch draußen nicht.
»Sie werden nach der ›Sulzer Nas'‹ hinaufgegangen sein,« sagte Blanche. »Mademoiselle Françoise ist ja solch eine Naturschwärmerin. Und es ist ja auch wirklich hier unten unerträglich.«
Heinrich folgte ihr zögernd. Er hätte sich lieber allein auf die Suche begeben, aber er fürchtete, unhöflich und plump zu erscheinen, und die schöne Frau, wie sie da elastisch, die Schleppe über den Boden ziehend, das Sonnenschirmchen wie einen Schild gegen Neugierige über der Schulter haltend, durch die Straße ging, schien sie ihm der Inbegriff von französischer Grazie und Eleganz, von allem, was seiner eigenen alemannisch schweren Natur der Gegensatz war.
Sie stiegen zwischen den Rebbreiten steil empor, schmale kleine Wege, kamen an niedern Tannen vorbei, der Thymian duftete, der Felsboden brannte, hier und da blühte schon die Heide. Manche ging ohne sich umzusehen, fortwährend schweigend, voran. Die Stille zwischen ihnen und ringsum gab ihrem Beieinandersein den Schein von etwas Bedeutungsvollem; Hummel bäumte ein paarmal den Kopf zurück, als gelte es, Zügel abzuwerfen. Plötzlich, an einer Steinsenkung zwischen hohem, abgeblühtem Ginster blieb die junge Frau stehen, wandte sich um und zeigte Heinrich ein Gesicht voll unbeherrschten Verlangens. Irgendein leiser, fragender Ton kam aus ihrem Munde. Sie sah ihn aus weitgeöffneten Augen starr an, sekundenlang. Unwillkürlich neigte er sich vor, ihre Gesichter berührten sich, und mit einem kleinen, hohen und zitternden Laut, der an den Liebesschrei eines Tieres erinnerte, fiel sie ihm wie eine Berauschte in die Arme. Sie küßten sich, Heinrich war wie betäubt. »Pauvre ami, comme vous m'aimez,« sagte Blanche ein paarmal zwischen ihren Liebkosungen mit süßer Stimme.
Endlich machte sie sich los. »Soyons sage, mon ami!« Sie sah sich um, ging ein paar Schritte vorwärts und setzte sich dann, vorsichtig ihr Kleid hochhebend, auf einen bemoosten Felsvorsprung. Sie griff nach ihrer Pompadour und holte ein Puderbüchschen hervor. Aufmerksam drehte sie den Kopf vor dem kleinen Spiegel im Puderdöschen hin und her, während sie sich mit dem Bäuschchen über Stirn und Wangen fuhr, dann netzte sie den Zeigefinger und zog sorgfältig die Brauenbogen nach. Langsam begann, sie, die Handschuhe wieder über ihre Finger zu streifen. »Mon amour, mon trésor, mon bijou,« sagte sie dabei zu Heinrich hin, der hinter ihr stand. Der betrachtete beschämt, wie sie so ruhig und zufrieden dasaß und sich putzte. Ihm selbst schlug das Herz, und seine Brust keuchte. Da er nichts antwortete, blickte sie auf. Eine leichte Betroffenheit kam in ihre Augen. »Ich habe dich erschreckt? Sag', habe ich vielleicht nicht artig genug abgewartet, bis du kamst?«
Heinrich beugte den Kopf. Aber mitten in der Verachtung, die er für sich selbst empfand, war doch eine uneingestandene kleine Befriedigung. Die Liebesbezeigungen dieser hübschen französischen Frau stellten ihm gleichsam das Reifezeugnis für seine Weltläufigkeit aus und schmeichelten ihm. Die Quine nahm seine Hand zwischen die ihrigen. Sie lachte kokett auf. »Ah der Undankbare! Und Sie müssen wissen, mein Herr, wir hatten durchaus keine Zeit zu verlieren, die arme Françoise Balde alterte bereits sichtlich vor Eifersucht.«
»Vor Eifersucht? Ja – haben Sie denn den Eindruck, daß sie mich liebt?« Sein Gesicht flammte. Sie erriet ihren Mißgriff. Weich und verführerisch lehnte sie sich an ihn. »Ich scherzte nur, mein Freund. Ja, schilt mich nur,« flüsterte sie, » c'est vrai, ich bin frivole, moqueuse, nicht wahr? was du willst, aber ich liebe dich, oh, je t'aime, je t'aime!« Ihre dunkle, melodienreiche Stimme bebte und lockte und riß ihn in ihre Macht. Mit beiden Händen preßte er ihr Gesicht sich zu und küßte sie von neuem.
Sie wehrte ihn ab. Ihre Lippen lächelten dazu. »Versuch' es doch! Geh' zu Françoise, liebe sie, heirate sie! Sie würde mit dir deine ernsthaften deutschen Bücher lesen, würde dich hätscheln und pflegen, dir gute Süppchen kochen, bis du einen kleinen Bauch bekommst, würde dir im Winter die Pantoffeln vor den Kamin stellen und zwischendrein eine Menge kleine Hümelles in die Welt setzen, die alle ihrem blonden dickköpfigen Herrn Papa glichen mit der schlechten Laune und der schlecht gebundenen Krawatte.«
Ihre schlanken Finger versuchten seiner etwas genial geschlungenen Lavallière mehr Chic zu geben. Belustigt betrachtete sie seine verfinsterte Miene. »Wie das mich amüsiert,« sagte sie – dann ernsthaft: »Zu denken, daß ich einen deutschen amant haben werde!« Sie sah ihn prüfend an.
Sie saßen jetzt beide, die heißen feuchten Hände ineinander. »Und Monsieur de la Quine?« murmelte Heinrich.
»Der? O, er ist nicht eifersüchtig, er ist genug beschäftigt, seine Demoiselle in der Post zu hüten.«
»Ach, Sie wissen?«
» Mais certainement, das hebt ihn sogar ein wenig in meinen Augen. Er ist so träge.«
»Haben Sie Herrn de la Quine geliebt, damals als Sie ihn heirateten?«
Jetzt lachte sie laut. »Geliebt? Welche Phantasie! Sie sind romantisch, Monsieur. Wie das reizend ist!« »Aber warum haben Sie ihn geheiratet?« beharrte Heinrich eigensinnig.
»Man muß ja doch heiraten, mon ami. Und es hätte ein viel Schlechterer werden können. Er war der Erste, der mir Stellung und Geld bot. O nein, ich bin zufrieden, ich bin ganz zufrieden! Aber reden wir jetzt von Wichtigerem. Wir lieben uns, wir müssen uns wiedersehen, nicht wahr? Bei mir in der Maison Centrale ist das unmöglich, der Pförtner ist nicht zu bestechen, aber bei Ihnen – die guten Bourdons gehen ja immer schon mit ihren Hühnern zugleich schlafen. Ich werde heute nacht durchs Gartenpförtchen kommen, etwa nach Zehn-Uhr-Läuten. Sie erwarten mich, nicht wahr – und führen mich hinauf. O, ich kann schleichen wie eine Katze!«
Sie stemmte ihre beiden Arme gegen seine Brust. Ihr Atem ging heiß.
»Heute nacht also,« sagte er mechanisch und küßte sie. Dabei nahm er sich fest vor, sie an dem Gärtchen abzufangen und nach ihrem Hause zurückzubegleiten.
»Monsieur Hümelle! Madame!« rief es von weitem. Gleich darauf tauchte Victor Hugo auf. Man hatte ihn abgesendet, nach den Flüchtlingen zu suchen.
»Ich dachte mir, Madame de la Quine würde mit Ihnen hier sein,« sagte er, »mit Papa geht sie auch immer hier hinauf, wenn Mama und ich unten bei dem Wagen bleiben.«
Er hatte dabei den listigen Bauernblick seines Großvaters Schlotterbach. Heinrich Hummel nahm ihn bei der Schulter: »Schwatz' nicht dummes Zeug, mein Sohn!«
Eine Pause entstand, dann lachte die Quine aus vollem Halses. Sie lachte so sehr, daß sie häßlich wurde.
Zu Dreien ging es hinab. Hummel unzufrieden und befangen hinter den beiden. Die Quine plauderte hastig mit dem Knaben. Sie erzählte von einer Reise ans Meer, die sie vor ein paar Jahren gemacht hatten, und wie man den ganzen Tag im Badeanzug im Freien verbracht habe, »mit bloßen Beinen, Hals und Armen«. Dabei sah sie vergnügt auf den hübschen Jungen, der einen roten Kopf bekam. Hummel blickte zu Boden. Er fühlte eine Scham, die ihn betäubte. Am liebsten wäre er gar nicht wieder zu den anderen gegangen, hätte sich irgendwo versteckt, aber Victor Hugo, der instinktiv empfand, daß sein Held, den er immer noch heiß liebte, litt, hing sich an seinen Arm und zog ihn mit. So schritt der junge Deutsche wie ein Tauber und Blinder durch den Trubel drunten.
Am Gasthof warteten die beiden Wagen, die Damen hatten schon Platz genommen. Blanche de la Quine legte beide Hände an ihre volle Brust, sie schien ganz außer Atem.
»Wie wir Sie gesucht haben! Wir haben davon Herzklopfen bekommen! Nicht wahr, Monsieur Hümelle? Es war nicht schön von Ihnen, mes dames, uns so im Stich zu lassen. Und Monsieur Hümelle war die ganze Zeit über unausstehlich. Kein Wort konnte man mit ihm reden. Er sah sich die Augen aus nach seinen Gastfreunden. Sind Sie jetzt endlich zufrieden. Undankbarer?« Und sie sah ihn lachend an. Ohne irgend jemandes Antwort abzuwarten, stieg sie dann ein. Ob man etwas an die bonnes soeurs in Isenheim auszurichten habe, fragte sie, schon im Fahren, sie werde dort übernachten und erst frühmorgens in die Maison Centrale zurückkehren. Etwas übertrieben laut sagte sie das. Ob die Baldes so liebenswürdig sein wollten und das an Monsieur de la Quine ausrichten lassen? fragte sie. »Vers dix heures donc,« flüsterte sie im Vorbeifahren an Hummel hin. Dem schoß eine rote Welle in die Stirn. Françoise sah zur Seite. Er tat ihr so furchtbar leid. Victor Hugo wickelte sie in ihre Beduine, als ob es Winter wäre. Der »Kronen«-Kutscher erwies sich als dermaßen betrunken, daß man ihn dort lassen mußte, Blanc nahm seine Stelle ein. Er berichtete zornig, er habe die beiden langen Schlingel von vorhin dabei betroffen, wie sie sich an den Pferden hier zu schaffen machten, er hatte sie aber gehörig davongejagt.
Die Pferde zogen an, man rasselte die steile Gasse hinab zur Chaussee. Aber das Handpferd, sonst willig und auch nicht mehr jung, zeigte plötzlich wilde Launen, schlug aus und machte böse weiße Augen. Als Blanc die Zügel stärker anzog, stieg es, schnaubte und riß am Geschirr. Hummel und Victor Hugo sprangen ab, um zu helfen, da ergab es sich, daß die beiden Buben vorhin Kletten und Nesseln am Leitriem befestigt hatten, sodaß das Pferd bei jedem Schritt gereizt wurde.
Blanc lachte: » Voilà, Monsieur Cerfs Reden haben bereits Frucht getragen, das Pferd des liberalen Maire und sein ketzerischer Lenker müssen es entgelten.« Der junge Schlotterbach ballte die Faust. »Ah, les assassins!« Ein guter alemannischer Zorn stand in seinem Gesicht zu den französischen Worten.
Es war ein mühsames Fahren. Das Handpferd, nervös geworden, scheute beständig. Der Pfarrer hatte beide Arme voll zu tun.
Drinnen im Wagen ging es schweigsam zu. Dugirard war ängstlich und ein wenig vorwurfsvoll und Hortense nachdenklich. Lucile saß müde in die Ecke gedrückt, sie fühlte sich langweilig unbeachtet. Françoise aber sah über alles hin mit starren Augen; sie litt. Um sich ebenso wie um Hummel. Wenn sie wenigstens ihm hätte helfen können, weghelfen von dieser Frau, die keine Liebe kannte. Sie richtete sich straff auf, ihr Gesicht wurde hart. Sie soll ihn nicht bekommen, dachte sie fast laut. Hummel sah bedrückt auf ihre Hände, die zitterten.
In diesem Augenblick gab es einen Stoß, einen Krach. Das Pferd hatte sich vor einem alten Messingreifen entsetzt, der am Wege lag und sich unter seinen Hufen plötzlich aufrichtete. Wieder stieg es hoch. Die Geschirrkette riß, der Wagen prallte hart an einen Stein, das Rad löste sich und rollte in den Graben. Der Wagen hing schief. Dugirard breitete galant die Arme aus für Hortense und Lucile, die lachend gegen ihn fielen. Hummel sah gespannt auf Françoise. Das junge Mädchen bog sich gewaltsam hintenüber, um ihn nicht zu berühren. Sie faßte wie angstvoll die eiserne Seitenstange und hielt sich fest. Dann stand sie kräftig gerade vor ihm, ein herber Zug in dem blühenden Gesicht. So vertieft war er in ihren Anblick, daß Dugirard ihm erst auf die Schulter klopfen mußte: »Man steigt aus, mein Herr Gelehrter. Mir scheint, Monsieur beabsichtigt, hier Wurzel zu schlagen.« Aber Heinrich regte sich erst, als er Françoise unversehrt am Grabenrand stehen sah. Victor Hugo mit aufgestreiften Ärmeln versuchte dort wichtig und ungeschickt das Rad aufzurichten, Françoise beugte sich sachverständig hinzu. Aber erst Hummels Kräften gelang das Werk. Eifrig schoben sie das Rad die Böschung hinauf und rollten es nun siegreich und stolz über den Weg. Sichtlich war das für sie alle Drei eine willkommene Befreiung aus verlegenen Minuten. Die andern klatschten in die Hände. Dugirard hatte sich eine Zigarre angezündet, er war indigniert. Man habe ihm ein Idyll versprochen, »et voilà une catastrophe«. Hortense beruhigte ihn. Man würde nun einfach zu Fuß den kurzen, schönen Spaziergang machen nach dem Isenheimer Wäldle, wo man sich lagern wollte und soupieren. Unterdessen könnte man vom fermier Justin da drüben Hilfe holen.
Blanc hatte inzwischen die Pferde abgeschirrt und an Bäume gebunden. Victor Hugo erbot sich, zu dem Bauer Justin hinüberzugehen. Und Monsieur Hümelle könne sich ja bei dieser Gelegenheit dort eine elsässische ferme ansehen. Sicher würde ihn das doch sehr interessieren. Er sah bittend zu ihm auf. Es wäre ihm eine Erleichterung gewesen, sich vor dem großen Freunde auszusprechen. Heinrich antwortete nicht. Der Gang nach der ferme lockte ihn, aber die Gesellschaft des Knaben dabei schien ihm lästig, denn er sehnte sich danach, einen Augenblick mit sich allein zu sein, selbst herauszufinden aus all dem Widersprechenden, das in ihm kämpfte. Im Suchen nach einem Ausweg fiel sein Blick auf Françoise, die neben ihm stand. Und plötzlich sagte sie, als lese sie seine Wünsche und gebe ihnen Raum: »O, wir können Victor Hugo hier durchaus nicht entbehren, er muß uns helfen, unsere provisions zu transportieren.« Sie hielt die Augen gesenkt, aber Hummel hatte den Eindruck, als schaue sie ihn durch und durch.
»Nur immer am Bleichbach entlang,« war ihm bedeutet worden. Er sah auch gleich die grüne Raupe, die von den niederen Randweiden des Bächleins gebildet wurde, ging über Wiesen, auf denen er mechanisch pflückte: Champignons und unwissentlich auch kleine Giftpilze. Ein Alter in Hemdsärmeln stand am Bach und fischte, zwei kleine Mädchen in roten Röcken mit Beerenkannen unterbrachen einen hohen, lauten Gesang, um ihm »bonjour« zu wünschen. Jetzt sah man oben über dem Hügel das tief herabgebogene Schindeldach des Pachthofes liegen. Auf dem Holztrog eines fließenden Brunnens saß ein Mann in blauer Bluse und dengelte. Unter der Zipfelmütze sah man das kluge scharfgeschnittene Gesicht, belebt durch dunkel-spöttische Augen. Père Justin musterte den Fremden gelassen. Als Hummel jetzt durch das Holztürchen der Schlehenhecke hindurch in das Gehöft trat, folgte er ihm langsam, schob seine Pfeife schiefer in den Mund und betrachtete den Gast von neuem. »Qu'y a-t-il à vot' service?« fragte er schließlich.
Hummel richtete seine Bestellung aus, indem er versuchte, sein Hochdeutsch durch den heimatlichen Thüringer Dialekt volkstümlicher zu machen, was die Verständigung ungemein erschwerte. Zuletzt begriff der Bauer. Er schalt gelassen auf seine Buben und drohte den Abwesenden mit der Faust. Dann schrie er machtvoll in den Hof hinunter nach dem Knecht. Ein kleiner pockennarbiger Mensch kam herangeschlurrt. Der Bauer gab ihm weitläufige Anweisung, mit dem Daumen über die Schulter nach Hummel zeigend. Nun führte er den Gast weiter; sie kamen an wohlgefüllten Kuhställen vorbei, rochen Schweinekoben, ein Trupp Gänse stob vor ihnen auseinander und watschelte entrüstet dem Misthaufen zu, der in voller Breite neben der Haustür lag. Laut sprechend wie mit einem Tauben nötigte der Bauer den fremden Herrn in die große, ebenerdige Küche, die zugleich als Stube diente.
Drinnen war es dämmerig. Heinrich hörte irgend etwas schnurren, fühlte ausgetretene Fliesen unter seinen Füßen, Estrich und gestampften Lehm. Allmählich erkannte er den Herd mit dem verräucherten Windfang, daneben ein geblümter Ohrensessel, in dem eine alte Spinnerin saß. Wie eine Sagenfigur sah sie aus. In der erhobenen linken Hand hielt sie einen Wocken empor, in der rechten bewegte sie die Spindel. Von ihren Augen konnte man nur die Höhlen sehen, der Mund war nichts als ein schmaler Strich, über den sich seitwärts ein langer gelber Zahn hakte. Es schien Hummel, daß sie ihm zunicke, und er grüßte zurück. Dann aber merkte er, daß die Greisin ohne Aufhören nickte und dann wieder schüttelte, emsig, lautlos. Und jetzt fing sie an mit Murmeln und Schwatzen.
Justin wischte mit der Hand einen Strohstuhl ab für den Fremden. »Meine alte Mutter, Monsieur, achtzig Johr vorbi. Sie müsse ihre G'schwätz net eschtimiere, für's ordenari isch sie alleweil still, awer d'r curé un d'r jeune homme, wo derbi 'g'si isch, han sie exzitiert.«
»Ah, die beiden Herren waren also hier!«
Justin wies zur Bestätigung auf den Weinkrug, der auf dem Tisch stand, und auf den Teller mit abgenagtem Hühnergerippe.
» Ah oui, so 'ne poulet, il ne crache pas dessus, vot' curé. Am letschte Freitag, wo 'n er do g'si isch, hat er au so 'ne Mischtkratzerle reklamiert. ›Brings nur sans façon, Justin,‹ het er g'sait. ›I mach 'a Kreuz drüwer, d'rno isch's Fisch‹« Sein bartloses Gesicht mit der Aristokratennase bemühte sich, töricht auszusehen.
Er ging zum Schrank, holte ein frisches Glas und schenkte Hummel ein. Der trank ihm zu: »Zur Gesundheit!«
»A la vôt', monsieur!«
Sie tranken. Justin tat ein paar tiefe Züge aus der Pfeife und qualmte schweigend vor sich hin. Dann begann er in der flachen Truhe, die unter der Muttergottes stand, nach Riemzeug zu suchen, holte Hammer und Zange und kramte nach Draht.
Dicke Schmeißfliegen surrten um die Speckseiten herum, die im Rauchfang hingen. Vom Käsebrett fiel ab und zu ein Tropfen in den Holzeimer.
»Jo, d'r curé,« fing der fermier wieder an. »Unsereiner het jo net so d' éducation, awer d'Herre expliziere's einem: 's Elsaß, kann erscht wieder so recht prosperiere, wenn alle üseg'jagt sin, wo d'r Glauwe net han; erscht d'rno, wenn's emol in Mülhuse, Stroßburg, Genève und Berlin kei Ketzer un kei Liberale meh' het. Un d'rno soll m'r am Platz vom Herr Maire von Thurwiller d'r Monsieur Cerf uf d'Wahl setze. D'r Monsieur Cerf kenn' i no net guet,« fuhr er fort, »awer d'r Herr Maire, seller kenn i guet! Der isch bi meinem Maidele, dem Jeannettle, am Bettl g'sesse, wo's am Versticke g'si isch, un het mit siner Hand ihm ins Hälsle g'langt un het ihm alles üseg'holt, wo ihm weh g'macht het. Do uf'm Bänkle isch er g'hockt d' ganz Nacht un isch erscht heim, wo's Jeannettle wieder laut het brülle könne. So isch es.«
In diesem Augenblick fuhr aus der Kammer, die einige Stufen höher lag, ein kleines, blondes, trockenes Frauenwesen mit kreischender Stimme herab und schrie in wildem Patois, ohne auf Hummel zu achten, den Bauer an:
»Halt's Mul mit dinem Herr Maire! D'r curé sait, in d'r feurige Höll muß er brote! On alle, wo's mit ihm halte, dene geht's grad e so!«
Der Bauer spuckte friedfertig aus. »'s isch zum Lache,« begann er wieder. »Im Mai han sie g'sait, wenn m'r net d'r Kaiser wähle, d'rno git's Krieg. Jetz han m'r d'r Kaiser g'wählt, un jetz git's erscht racht Krieg, wie sie sage. Das Wählerdings, das isch en général so ebbes Exageriertes – uns Bauerslitt touchiert das so viel wie nix. Ob m'r seine contributions für d'r Charles-Dix, für d'r Louis-Philippe oder für d' république zahle muß, oder ob d'r Napi sie in d'r Sack steckt – n'importe!«
Die dürre Frau sah die beiden schielend von der Seite an und machte sich dann unter halblautem Schimpfen am Herde zu schaffen. Justin stellte sich wie schutzbedürftig neben den großen starken Fremden. Unterdessen fuhr die Frau fort, mit großem Lärm Pfannen und Kessel hin- und herzuschieben.
»D'r curé sait,« giftete sie nach einer Weile wieder hervor, diesmal in besserem Deutsch, so daß Hummel es hören sollte, – »d'r curé sait, wenn's Krieg git, d'rno schlagt m'r d'r roi d'Prusse z'samme zu 'ne ganz kleine Kurfürschtle.«
Hummel lachte herzlich. »Ich will's ihm sagen, wenn ich wieder mal nach Berlin komme.«
»Monsieur isch von Berlin?« fragte der Bauer bedenklich, er rückte sichtlich ein wenig ab.
»Von dicht dabei. Ich bin nämlich auch Prussien« » C'est dommage.« Aber dann faßte sich Maître Justin höflich. »Z'erscht«, sagte er bedächtig, »kann Monsieur nix d'rfür, daß er Prussien isch – ensuite –«, er streckte den erdschwarzen Zeigefinger versöhnlich in die Luft – »geht mich das garnix an.«
Die Greisin am Fenster, die ihre halberloschenen Augen schon eine Weile gespenstisch starr auf Hummel gerichtet hatte, erhob sich plötzlich. Sie streckte, immer mit der Kunkel in der Hand, die lange Faden zog, beide Arme wie suchend vor sich hin, blieb aber in der Bewegung stehen und fing an, leise zu weinen.
»Was hat sie?« fragte Hummel.
Die Schwiegertochter ging mürrisch auf die Alte zu, sie wieder auf ihren Platz zu bringen. »An einem Stück embêtiert sie d'Litt mit ihre ewige Schnecketänz.« Aber die Alte schien aus Eisen. Unbewegt stand sie da. Und jetzt zeigte sie mit den fleischlosen, bis zum Ellenbogen entblößten Armen auf Heinrich, daß er sich unwillkürlich zurückbog.
»Prussien – d' Kugel – d' Kugel –« Sie machte eine Geberde des Hasses auf Heinrich zu. »D' Kugel – d' Kugel –,« wiederholte sie heiser.
Justin faßte sie unter die Achsel und führte sie zu ihrem Sessel zurück: »Blib still, Muettel!«
Sie ließ es ruhig geschehen, aber ihre erstorbenen Augen hefteten sich aufs neue unbewegt auf Heinrich, daß es ihn durchfröstelte.
»Sie meint selle Kugel, wo mein Vater getroffen hat z'Jena,« sagte Justin. »M'r hett sie ihm üsg'schnitte un er isch dran gestorwe. Vorher awer het er noch zu mir g'sait: Wenn m'r emol d'r Tanz von vorne a'fange mit de Prussiens, d'rno schick ihne das falsche Geld wieder z'ruck, du oder dine Söhn. So het er g'sait.«
Die Junge hatte inzwischen eine kleine Holzschachtel geholt, in der eine schwarze Eisenkugel lag, die Kugel eines Hinterladergewehrs, wie sie Anfang des Jahrhunderts in Preußen üblich war. Sie gab Hummel die beiden kalten glatten Stücke in die Hand. » La voilà, monsieur, sie ist in zwei Stücken, sie langt jetzt für zwei Prussiens.« Und sie lachte, daß sie stöhnte. Hummel hielt die kleinen schwarzen Halbteile in der Hand. Sie schienen sich da zu krümmen, verwunden zu wollen, wie zwei böse runde Tierchen voll gesparten Gifts. Etwas Grausames haftete an diesen kleinen schwarzen Kugelhälften, die im Blute eines Menschen gebadet waren, von geduldigem Hasse zur Rache aufgespart. Der junge Mediziner, der so oft in Blut und Schmerzen hinein kühl beobachtend seine Arbeit getan hatte, empfand dabei eine merkwürdige Beängstigung. Er hob den Kopf. Da sah er immer noch die toten vorwurfsvollen Augen der Greisin auf sich gerichtet. Unwillkürlich schüttelte er sich. Er legte die beiden Kugelhälften auf den Tisch und trat ans Fenster. Ihm war einen Augenblick, als müsse er sich versichern, daß draußen noch die Brunneneimer klapperten, die Bäume rauschten und die Hühner tuckerten, daß draußen Friede war.
Der Bauer hatte ein paar Werkzeuge zurechtgepackt und gab sie ihm. »En cas d'besoin,« sagte er, »für den Notfall.«
Heinrich verabschiedete sich rasch. Die Frau brummte ihm nach. Die toten Augen der Alten folgten ihm bis zur Schwelle. Er war froh, als er draußen war.
Seltsam verwirrt hatte ihn die ganze Szene; dieser zähe Groll der Blinden, das aberwitzige Belfern des jüngeren Weibes – er war sich wie gefemt vorgekommen zwischen ihnen. Und da war noch etwas anderes gewesen, etwas Bitteres, ihm selber Unklares; ein wirkliches Schmerzgefühl. Und warum eigentlich? Was gingen ihn diese Leute an? Was ging ihn überhaupt das Elsaß an? Oder ging es ihn vielleicht jetzt doch an? An dem Lächeln, das jetzt sein ganzes Gesicht überzog, erkannte er auf einmal, wie es um ihn stand. Also das? sagte er sich ganz erschrocken. Plötzlich jauchzte er auf: »Françoise, Françoise.« Wie ein thüringischer Bauernbursch schickte er einen Juchzer hinterdrein. Er fing an zu laufen. Ihm war, man habe ihm eine Kostbarkeit in die Hände gelegt, und es gelte, sie möglichst schnell in Sicherheit zu bringen, als laure man darauf, sie ihm zu stehlen. Blanche fiel ihm ein und Lucíle. Ach ja, Lucíle hatte er ja lieben wollen. Wieder lachte er, ausgelassen, getröstet, so wie Kinder lachen, die ihren Kopf in den Schoß der Mutter legen beim Versteckspiel, gewiß, daß niemand da sie finden kann.
So überraschend und gewaltig hatte diese Offenbarung seines eigenen Gefühls ihm die Seele überflutet, daß noch gar kein Raum darin war für die Frage, ob wohl auch Françoise ihn liebe? Er schob das von sich fort wie etwas Störendes.
Im Laufen redete er ein paar zusammenhanglose Worte vor sich hin. »Ihr Haar, ihr weißes Kleid, ihre Stimme,« sagte er.
Vom Dache einer Scheune flogen Tauben auf; er erinnerte sich, einmal bei einer Feuersbrunst brennende Tauben gesehen zu haben, die wie glühende Kugeln in den schwarzen Himmel flogen. Und wieder hing dies irgendwie zusammen mit dem dankbaren Gefühl des Gerettetseins, das ihn erfüllte.
Übermütig peitschte er mit dem entlehnten Lederriemen die Luft. An einer Stelle, die er vorhin nicht beachtet hatte, war der Bach blau von Vergißmeinnicht. Da bückte er sich und pflückte einen großen Strauß, den er locker in der Hand hielt und vorsichtig vor sich hertrug. Für Françoise.
Er hatte jetzt den Richtweg erreicht, drei helle, jugendliche Gestalten kamen ihm entgegen und winkten ihm zu: der junge Schlotterbach zwischen Lucile und Françoise. Er vermochte kaum den Gruß zu erwidern, es schien ihm unerträglich, das Mädchen, das er liebte, jetzt zu sehen, die Empfindung, die er hatte, war beinahe Furcht.
Beim Näherkommen riefen alle Drei zugleich: man habe ihn holen wollen, ihm den Weg zeigen, und wo er denn bliebe? Victor Hugo und Lucile schienen bei bester Laune. Im Wäldle hätten sie sich gelagert, sagte Lucile, romanesque sei es dort. Und man habe ihm schon die besten Bissen weggegessen.
Françoise sagte kein Wort.
»O die entzückenden myosotis!« Lucile zeigte begehrlich nach seinem Strauß. »Haben Sie die für uns gepflückt?«
Er zog unwillkürlich die Blumen an sich heran, als wolle er sie schützen. Alle lachten über die ungalante Bewegung. Er selber mit. Aber Françoises Gesicht wurde unter dem fröhlichen Getue seltsam steif. Zuletzt klang das Lachen aller komödienhaft.
»Bei uns heißen die Blumen anders,« sagte Heinrich, nur um sprechen zu hören.
»Wie denn sonst?«
»Vergißmeinnicht.«
Françoise sah auf, weil sein Ton so ungeschickt zärtlich gewesen war. Aber die verzerrte Gespanntheit wich nicht aus ihren Zügen. Mit verschlossenen Mienen wanderten die beiden jungen Menschen den Kindern nach, die sich neckten und jetzt einander zu haschen begannen.
Françoise ging mit kleinen harten Schritten, sie blickte gerade vor sich hin. Sie dachte an die Leiden, die dieser fremde Mann da neben ihr ihr schon bereitet hatte. Sie dachte an Blanche.
Und ein Zorn stieg in ihr auf gegen alles, was diese Liebe ihr noch bringen würde. Unfähig das Schweigen noch länger zu ertragen, brach sie auf einmal los: »Daß sie sich nicht schämt vor dem goldigen Kind!« Sie schluchzte auf, ihre feinen Brauen waren gerunzelt. »Diese Madame sans-gêne,« schickte sie noch zornig nach.
Heinrich sah sie überrascht an. Er hatte sie bisher als die Harmonische, Sanfte gedacht, die Heimatliche, in der man ruhen könne. Nun reizte ihr würziger Zorn ihn zu viel heißerer Leidenschaft. Unwillkürlich streckten seine Arme sich aus, sie an sich zu ziehen. Er hielt sich kaum zurück, ihr nahes Gesicht, das von Jugend duftete, zu küssen. Aber nein. Er durfte nicht das Mädchen, das er liebte, mit denselben Lippen berühren, auf die sich Blanches parfümierter und gefärbter Mund gedrückt hatte. Behutsam, wie bittend, ergriff er ihre beiden schlaff herabhängenden Hände, fügte sie zusammen wie eine Schale und legte seine Blumen da hinein. »Ihnen gehören sie!«
Ein weiches Rauschen war in der Luft, ein Duften und Wehen, das löste. Françoise blickte auf. Ihre Augen waren ganz schwarz. Um ihren Mund zuckte es, als ob sie lange geweint hätte und nun damit aufhören wolle. Sie hob die Blumen zu ihrem Gesicht, in das langsam eine zarte Röte stieg. »Werden Sie es mir denn jemals glauben können –?« stammelte Heinrich hilflos. »Nur dich, Françoise! immer nur – nur dich!«
»Ja, jetzt glaube ich es,« sagte Françoise einfach. Sie schloß die Augen. »Je vous aime,« flüsterte sie rasch und sehr leise.
Aber es gab ihm einen Stoß. Die Erinnerung an die gleichen Laute aus Blanches Munde quälte ihn.
»Sprich Deutsch!« flehte er. »Sage es deutsch!«
Das schien sie komisch zu finden. Um ihre Wangen spielte ein Übermut. Und plötzlich hob sie sich ein wenig und gab ihm einen frischen Kinderkuß mitten auf den Mund. Und entsühnte ihn so.
Sie sah in sein Gesicht, in dem es kämpfte, ihre Augen wurden voller Güte.
»Jetzt gehörst du mir,« sagte er fast hart.
Sie nickte. »Für immer. Was auch kommt.«
Dann sprachen sie nicht mehr, gingen mechanisch weiter und sahen sich in die glühenden Gesichter.
»Sie sind auf falschem Wege!« rief Victor Hugo. Er war den beiden nachgerannt, die sich anschickten, Hummels Pfad wieder zurückzugehen. Sie sahen sich an, erröteten und kehrten um. Unversehens brachen sie in Lachen ans. Diesmal befreit und froh. Es war, als hätten sie starke, tröstende Dinge zueinander gesagt in jenem einen raschen Blick, und alles, was nun kommen werde, sei erwünscht.
Es ging jetzt dem Isenheimer Wäldle zu, immer über Wiesen. Lucile hielt sich neben Hummel, der, göttlich gelaunt, sie auf das amüsanteste unterhielt. Françoise ging still neben Victor Hugo. Ab und zu streiften die Liebenden mit den Händen oder den Kleidern aneinander, dann sahen sie in die Luft und lachten den Himmel an. Eine graue, kleine Wolke mit entzündeten Rändern hatte sich über ihnen zusammengeballt. Es sah schön aus im blaßblauen Himmelssee.
Duftend und herrlich kühl war es an dem Moosplätzchen zwischen Tannen, wo die übrige Gesellschaft lagerte. Dugirard hatte eine dicke Zigarre im Mund und amüsierte sich mit einer Laute, auf der er sich versuchte. Er hatte das Hütchen schief nach hinten geschoben, einen Krug mit Wein neben sich und plauderte während seines Musikknipsens gegen Hortense hin, die, ungern müßig, mit einem Elfenbeinschiffchen eine feine Spitzenarbeit neuer Mode hervorbrachte. »Occhi« nannte man sie. Nur Blanc lag, lang und unbeschäftigt, auf dem Rücken, die Augen ins Blau gerichtet, in dem die kleine, graue Wolke mit Schwefelrand größer und schwerer wurde. Er atmete den Duft der Moose ein, und sein intelligentes Gesicht zeigte eine fromme Stille. Zu ihm setzten sich die Liebenden. Man bot ihnen Wein und von den guten Fouragepäckchen, die Françoise selbst am Mittag sorgfältig und liebevoll bereitet hatte. Hummel konnte nichts genießen, aber Françoise war wie ausgehungert. Sie versuchte erst zu fasten, weil sie sich dem bedürfnislos verzückten Liebsten gegenüber beschämend materiell vorkam, aber da er ihr gute Bissen von kaltem Huhn und Pastetchen zuschob, konnte sie nicht widerstehen. Er sah ihren gesunden, starken Zähnen zu wie einer Offenbarung.
Victor Hugo hatte sich abseits gesetzt. Auch er war wieder hungrig geworden, aber die Leidenschaft des Edelmuts, die in ihm tobte, vertrug keine so banale Beschäftigung. Ich gebe sie ihm! sagte er sich mit unwillkürlich segnender Handbewegung. Ihm, der der Größte und Erhabenste ist, den ich kenne. Er dachte an Mucius Scaevola, der seine links Hand verbrannte, um seinen Mut zu zeigen. Er, Victor Hugo, verbrannte sein Herz. Ob man nicht ein Gedicht daraus machen könnte? Er hatte zu Hause ein orangefarbenes Büchlein mit der Aufschrift: »Poésies«. Sieben Gesänge standen schon darin, dazwischengepappt einige Haare von Françoise, die er ihr heimlich aus dem Kamm gestohlen hatte, als er ihr eine Bestellung seiner Mutter überbrachte und in ihr Schlafzimmer gelassen wurde, in dem sie nähte. Man betrachtete ihn ja immer als ein Kind! Aber sie würden schon erkennen müssen, daß er ein Mann war, ein Römer! Und er weinte vor Hunger und Edelmut.
Hummel machte inzwischen aus Kräften Lucile den Hof, die sich aus dem Lachen nicht herausfand. Dugirard beobachtete das zwischen seinen Scherzen hindurch sehr aufmerksam. Ganz gut vielleicht, daß sie diese ersten Übungen an dem Deutschen machte, das war ungefährlich. In Paris würde man sie dann wieder streng halten müssen.
Hortense erbat jetzt einen Chorgesang; in Frankreich kenne man das nicht so wie »chez nous«, worauf Dugirard vorwurfsvoll erwiderte, ihr Zuhause sei doch jetzt bei ihrem Gatten in Belfort. Man sang zuerst ein paar kindliche Lieder, Françoise begleitete, ihre Lippen glühten, sie lächelte ohne Ursache.
»Il court, il court, le furet,
le furet des bois, mesdames,«
sangen sie. Dann stimmte Dugirard mit Chansonnettenstimme an:
»Il était une bergère –«
den Refrain sangen alle mit:
»Eh ron ron petit patapon,«
Dann kam die Strophe:
»Mon père, je m'accuse
d'avoir tué mon chaton.«
und die Antwort:
»Ma fille, pour pénitence
nous nous embrasserons,«
wobei Françoise so falsche Griffe machte, daß Hortense verwundert und dann plötzlich verstehend aufsah. Beim Schluß aber:
»La pénitence est douce,
nous recommencerons«
warf Françoise die Laute zu Boden und lief lachend davon; Hortense sah ihr nach, Hummel hielt sich mit aller Gewalt bei den anderen. Victor Hugo nahm das Instrument, hüllte es sorgfältig ein und trug es in seinen Armen, bis man wieder zum Wagen ging. »Die Strafe ist sehr lieblich,, wir fangen nochmals an,« summte Hummel in freier Übersetzung von Françoises Liedchen, ihr nachblickend.
»Eine gute Stimme,« sagte Dugirard anerkennend. »Sie sollten Unterricht nehmen.«
Die Rückfahrt war schweigsam. Heinrich hatte Françoises weißen Schal über den Knien, darunter sagten sich ihre und seine Hände viel liebe Dinge. Die übrigen waren nachdenklich oder müde. In der Luft lag Schwüle.
Im Halbdunkel fuhr man, immer auf der großen, harten und staubigen Sulzer Straße durch Rädersheim und Ungersheim, deren Häuser und Häuschen die am Tage eingeschluckte Sonne an die Nacht weitergaben. Es war jedesmal, als führe man durch einen heißen, engen Hexenkamin hindurch, bis wieder die kühlere Landstraße kam. Aber auch hier war man wie eingehüllt in warme, schwere Staubluft, die unbewegte Wärme und die gleichmäßige Bewegung des Wagens machte schläfrig. Victor Hugo, der nur getrunken hatte und nichts gegessen, war leicht berauscht, er kitzelte Françoise, die verträumt abwehrte, mit einem aufgelesenen Heuhalm, spielte an Dugirards Repetieruhr und ließ sie unaufhörlich schlagen und fing endlich, wie ein wahres Kind, mit Lucile ein Bindfadenspiel an, verschlungene Fadenfiguren, die eins dem andern kunstvoll von den gespreizten Händen abnahm, sie neu verschlingend, und bei dem er wilde Verwirrung anrichtete. Dazwischen sah er mit Märtyreraugen auf den deutschen Eindringling, der gerade dasaß mit unnatürlich strahlendem Gesicht.
Niemand sprach. Hin und wieder kämpfte sich der Mond durch das immer mehr zunehmende Gewölk und machte die Wegränder bleich. Man war bald zu Hause. Die Pferde liefen, Blanc brauchte nur ihnen nachzugeben. Man kam an ein schöngeschnitztes, sehr altes Haus, das ehrwürdig und traulich in seinem Gehöft zwischen Bäumen stand. »Das Pfennigsche Haus,« sagte Françoise, die Heinrichs bewunderndem Blick gefolgt war. »Es ist mehrere hundert Jahre alt. Noch mit deutschen Sprüchen im Gebälk.« Ein Trüppchen Soldaten schlenderte, ihre Mädchen im Arm, ihnen entgegen.
Dugirard lächelte. »Ah ja, morgen früh ist Abmarsch! Sie haben nur diese Nacht noch. Das wird eine famose Aushebung werden in zwanzig Jahren.« Hortense legte mahnend ihre Hand auf seinen Arm. Dugirard räusperte sich. »Wie ist das bei Ihnen?« fragte er dann Hummel. »Wie lange sind die Leute Soldat?« Heinrich erklärte ihm in Kürze das System der allgemeinen Wehrpflicht. »Ja, aber wie denn? Kaufen sich die Reichen denn keine Stellvertreter?«
Heinrich verneinte. »Bei uns ist es fast eine Schande, nicht dienen zu können.«
»Dienen – Sie sagen das ganz recht, nach unserem Geschmack hat die Uniform immer eine verzweifelte Ähnlichkeit mit einer Livree. Mein eigener Sohn ist ja freilich Offizier, aber er hütet sich gut, sein Kostüm in der Familie zu tragen.«
»Wirklich? Nun, bei uns dagegen ist des Königs Rock ein Ehrenkleid. Und dann ist es doch auch ein ausgezeichnetes Erziehungsmittel.«
» Et comment cela?«
»Nun, man befestigt seine Gesundheit gerade in den Jahren nach der Schulzeit, in der man den Körper so sträflich vernachlässigt. Und man lernt Disziplin.«
» Ah, votre fameuse discipline prussienne: ein – sswei – marrrrrrsch.«
»Und Sie selbst?« fragte Françoise laut in die Luft hinein, »müßten Sie sich schlagen, wenn es Ihrem König einfällt, mit einem anderen Krieg anzufangen?«
Heinrich fühlte ihre Hand erkalten in der seinen. Mit einer Stimme, die jedes Wort zur Liebkosung für die Fragerin machte, erwiderte er: »Davor haben wir keine Furcht. Wir wissen, wenn es irgend einmal zum Kriege kommt, dann wird es nur für eine Sache sein, die uns selber angeht. Und für die würde man ja sowieso hinausziehen wollen.«
Ohne daß er's wußte, nahm sein Gesicht einen stolzen und kühnen Ausdruck an. Alle mußten ihn betrachten. Man verfolgte das Gespräch nicht weiter. Wie auf Verabredung strebten alle nach dem bekömmlicheren Alltag zurück. Hortense und Dugirard begannen halblaut zu plaudern, gleichsam im Auftrag der Gesamtheit. Sie redeten über Dinge, die keinen von ihnen interessierten, konventionell, pflichtmäßig.
Jetzt holperte man über das Pflaster von Thurwiller. Blanc bog mit einer allzu kühnen Kurve nach dem Kanal zu den Baldes hinüber. Diesmal hielt Françoise sich nicht so ängstlich fest an den Wagenseiten. Alles fiel durcheinander, man lachte, stieß kleine Schreie aus, alle redeten zu gleicher Zeit.
Man stieg aus, Hummel und der junge Schlotterbach verabschiedeten sich, Blanc blieb auf dem Bock, den Wagen nach der »Krone« zurückzufahren. Man verabschiedete sich ziemlich hastig mit vielen » au revoir« und » à demain«. Nur Françoise, im Begriff ins Haus zu gehen, sagte leise: »Auf Wiedersehen, morgen!«
Dann war alles verschwunden. Ein gelbes, kleines Lampenlicht, das da am Flurfenster gewartet hatte, bewegte sich immer tiefer ins Haus hinein.
»Sollten wir nicht gehen?« sagte Victor Hugo endlich, da sein Todfeind und Ideal wie erzgegossen in merkwürdiger Haltung am Gitter stand, beide Hände im Gesträuch da vergraben, den Kopf wie ein Mondsüchtiger emporgewandt. Er mußte noch zweimal fragen, ehe Hummel sich entschloß, zu gehen. Und dann hörte der Knabe ihn murmeln und seufzen, daß ihm fast bange wurde. So gingen die beiden jungen Leute Arm in Arm durch die warmverhaltene Nacht, jeder seinen ganz besonderen Rausch in sich tragend.
Plötzlich blieb Victor Hugo stehen. »Kamerad, ich gebe sie dir!« sagte er mit dumpfer Stimme. Dann brach er in Weinen aus. Hummel sah ihn schweigend an. Sie gingen am Kanal entlang zwischen dunstig versilberten Weiden. Es schien Heinrich, der den jungen Menschen ungestört sich sattweinen ließ, als höre er ein Wispern hier und da, flüsternde Menschenstimmen, er sah Uniformknöpfe aufblitzen, die hellen Schürzen der Mädchen. Ihm fielen Dugirards Bemerkungen ein. Der Gedanke an all die Liebenden, die sich heut nacht hier ringsum fanden, trieb ihm das Blut zu Kopfe. Er seufzte.
»Laß uns hier gehen durch meinen Schlupfweg,« sagte der Knabe zärtlich, »es ist näher.« Er schlug einen schmalen Querweg ein ins Gebüsch hinein. Bei ihrem Nahen flog ein Volk Rebhühner auf, ein sonderbares Geräusch folgte, wie von einem kriechenden Menschen. Hummel sah scharf hinüber: aus dem Unkraut hob sich ein struppiger Kopf, graugelb mit langem, bloßem Halse. Er ging näher und lachte laut auf, da war nichts als ein alter ausgewachsener Weidenstumpf.
»Dachtest du auch, es wäre ein Mensch?« fragte er den Knaben, der ganz fahl geworden war. Er klopfte ihm auf die Schulter: »Ei, ei, Vetterlein, wo bleibt die Courage?«
Victor Hugo fuhr auf: »Wenn Sie das glauben!« Sein Gesicht war schon wieder voll Tränen.
Und dann kam die ganze bedenkliche Geschichte heraus. Gerade an dieser Stelle hatte Victor Hugo vor etwa acht Tagen einen entsprungenen Sträfling gesehen, geduckt, blutend, halb verhungert. Der hatte ihm von ferne Zeichen gemacht, ihn nicht zu verraten, war dann sogar herangerutscht, ihn anzubetteln; da hatte er ihm alles Geld hingeworfen, das er bei sich hatte, die Düte mit Kirschen, die er trug, und hatte dann sogar, etwas weiter weg von ihm, seinen Schulrock ausgezogen und ihm hingeworfen. Zu Hause hätte er gesagt, er habe ihn in der Thur beim Baden verloren. Am nächsten Tage hörte man von mehreren Diebstählen in der Nähe. Aber bereut habe er die Sache dennoch nicht, der Mensch hatte so verzweifelt ausgesehen. »Bis jetzt habe ich noch keiner Seele davon gesprochen, keiner, aber Ihnen – dir sage ich es! Dir, weil sie dich so arg, arg gern hat!« Der naive Ausdruck mitten in sein Französisch hinein, zeigte, wie ernst es ihm war damit.
Heinrich faßte ihn an den Schultern und betrachtete ihn. »Darum also? Du bist doch ein guter Kerl, kleiner Vetter.«
Der sah ihn vertrauensvoll an. »Zuerst, o, war ich Ihnen so gram. Sie waren schlecht zu der Dame, der mein Herz gehört, ich wollte mich schlagen mit Ihnen. Und ich hätte es auch getan. Erstens um Mademoiselle Baldes willen, dann aber auch, ja eigentlich hätte ich erst recht mich schlagen sollen mit Ihnen, mein Herr, wegen Mademoiselle Dugirard, der Sie schöne Augen machten! Sie wird einmal meine Frau werden, und dann – dann natürlich wird es meine Pflicht sein, ihre Tugend und ihren Ruf zu verteidigen. Jetzt aber muß ihr Vater noch für sie einstehen.«
Hummel sah ihn verblüfft an.
»Lucile Dugirard heiraten? Ja, aber du liebst doch eine andere, wie du merken läßt!«
»O, es ist so gut wie fertig, unsere Eltern haben es alles abgemacht. Und, sehen Sie,« – er lächelte wie ein Erfahrener – »es ist für mich das Vernünftigste und Beste. Vorher aber, wissen Sie,« – er näherte sein hübsches Gesicht kokett dem des älteren Freundes – »vorher darf ich noch unvernünftig sein, darf lieben und, wenn ich das lycée hinter mir habe, sehr gut das Leben kennenlernen. Sehr gut, das kann ich dir versichern, deutscher Vetter!« Er lachte.
»Und nachher, wenn du Fräulein Dugirard zur Frau hast?«
»O, dann werde ich für die Mitgift meiner Tochter arbeiten. Im übrigen aber« – er zuckte die Achseln mit einer Geste, die an seinen Papa erinnerte – »ich werde es machen, wie es jedermann macht.«
»So wie jedermann,« wiederholte sich Hummel. Nun, Françoise würde wenigstens einmal nicht solch einen Jedermann zum Gatten haben, Gott sei Dank!
Er ging so schnell vorwärts, daß der Knabe ihm kaum folgen konnte. Man überschritt nun noch ein großes Brachfeld, das voll Dornen und Blumen stand, und kam zuletzt glücklich über die Schleuse zur Fabrik, die nur durch eine hohe Parkmauer vom Wohnhause getrennt war. Victor Hugo warf sich in einem erneuten Anfall schöner Gefühle seinem glücklichen Nebenbuhler um den Hals: »Und wenn du abreisest, nicht wahr, dann vertraust du Françoise meinem Schutze an, ich werde sie dir hüten.«
Hummel lachte. »Schönen Dank, kleiner Vetter, aber ich glaube, Fräulein Balde hütet sich selbst.«
Er steckte ihm den Schlüssel ins Tor und schloß auf. »Gute Nacht, schlaf' dich gut aus! Morgen wirst du hoffentlich nichts mehr von allem wissen, was du da eben geredet hast. Du hattest einen kleinen Rausch heut abend, kleiner Vetter, da bildet man sich Dinge ein, die niemals geschehen sind. Nicht wahr?«
»Ich werde schweigen,« sagte Victor Hugo hoheitsvoll und ein wenig gekränkt. Dann schlug er seinen Kragen auf, weil ein Luftzug kam.
Hummel sah nach der Uhr. In einer halben Stunde etwa mußte er am Apothekergärtchen sein und in der unkleidsamen Rolle des Tugendboldes die schöne Blanche abschrecken. Er fürchtete sich ganz ehrlich davor und nahm das peinliche Vorhaben auf sich als eine gerechte kleine Buße für sein großes ungerechtes Glück. Heiße Scham kam ihn an bei der Erinnerung an seine Blindheit, in der er sich, täppisch wie ein wütiges Arena-Tier, auf die ihm neckend vorgehaltenen bunten Schleier, auf alles Welsche gestürzt hatte, weil es ihn reizte und lockend anfremdete. Er empfand nun in dieser Sucht, das Fremde kennenzulernen, etwas Komisch-Pedantisches, das ihn hier im Dunkel erröten machte. Wie mußte sie, die Elsässerin, über ihn lachen!
Droben am Himmel sah er ein schwarzes, zottiges Wolkenungetüm zwischen grauen, tanzenden Dünsten einhertorkeln, das schien ihm sein lächerliches Ebenbild. Und doch, das wußte er jetzt, hatte er eigentlich immer nur an Françoise gedacht, die ganze Zeit. Gerührt betrachtete er ihren weißen Umhang, den er immer noch über dem Arm trug. Ganz ehrfürchtig faltete und trug er ihn durch die in ihrem Dunste kochende Stadt hindurch, in der es überall im Dunkel raunte und raschelte von Liebenden. Hinter jedem Holzstoß, auf jeder Bank gab es ein Pärchen, jeder Hausflur wurde zum Alkoven. Aus der »Krone« fiel ein breiter Lichtschein auf die Straße. Durch die geöffneten Fenster hörte man das lustige Französisch vieler Männerstimmen, das Knallen von Champagnerpfropfen. Dort feierten die Offiziere Abschied.
Kurz vor der Apotheke stoben zwei Menschen auseinander; die verlegene, rundliche Gestalt der guten Brigitte drückte sich ins Pförtchen, draußen blitzten Soldatenknöpfe. Hummel redete die Magd freundlich an, sie solle sich nur durch ihn nicht stören lassen. Und er bliebe ja nun zu Haus und könne nach dem Rechten sehen. Da schaute sie ihn mit rotverquollenen Augen dankbar an. Gerade eben sei die Ablösungsorder gekommen für morgen. Er sei nun schon im sechsten Jahrgang, nächste Allerheiligen käme er frei, dann könnten sie heiraten. Hummel fragte noch, wie es dem Onkel gehe, und erfuhr, er sei wieder wohlauf, habe sogar zum Abend wieder ein »petit verre« im Café Français genommen. Die Verliebtheit sprach dem plumpen, braven Geschöpf aus Stimme und Haltung, als sie sich wieder zu ihrem Soldaten zurücktrollte.
Hummel sah ihr neidvoll nach. Ihn erwartete jetzt ein weniger willkommenes Rendezvous. Immerhin war es ihm lieb, das Mädchen, deren Kammer auf den Garten sah, außer Hause zu wissen. Vorsichtig schlich er hinauf in sein Stübchen, legte den Hut ab und erfrischte sich, dann ging er durch das Haus ans Gartenpförtchen, das nur leicht von innen verriegelt war, und öffnete es. Mit entschlossenem Gesicht stand er da und wartete.
Die Schwüle ringsum erbitterte jetzt sein Blut, er fühlte beinahe Haß gegen die »madame sans-gêne«, die sich in seine schönste Lebensstunde frech hineinschob. Und jetzt sah er durch die Büsche des Gärtchens hindurch sie drüben am Platz an den Häusern entlang streichen. Mondschein auf ihrem weißen Hütchen. Ein heißer Windstoß warf ihm Staub ins Gesicht und trieb Wolken über das Licht. Bald darauf hörte er Kleiderrascheln in der Nähe. Er hatte große Lust, sich still zu halten, sie womöglich wieder fortgehen zu lassen, aber sie hatte ihn schon gespürt. »Sind Sie da, mein Freund?« Sie nahm seine Hand, die schlaff herabhing, und führte sie an ihre Wange. »Fühl', wie heiß ich habe, ich bin gelaufen, o, ich bin gelaufen! Und einen ganzen Roman habe ich gelogen deinetwegen, o schrecklich!« Sie lachte vergnügt.
»Ist das Lügen Ihnen schwer geworden?« fragte Heinrich, bemüht, einen Anfang zu machen mit dem Unartigsein.
Sie achtete nicht darauf.
»Ich habe dem braven Xavier gesagt, ich hätte so fürchterliche Zahnschmerzen, er soll nur ruhig einfahren und abschirren, ich wolle einen Augenblick in die Pharmacie eintreten, meine Tropfen holen. Geglaubt hat er es mir nicht sehr, ich habe es an seinem Blick gesehen, o, ein unverschämter Blick, er hätte eine Ohrfeige verdient dafür. Die Hauptsache aber ist, ich bin hier! Und es findet sich heute besonders gut, daß Monsieur de la Quine beim Abschiedsbankett der Offiziere in der ›Krone‹ sitzt, anstatt wie gewöhnlich um diese Zeit zu seiner belle rousse zu schleichen. Welches Drama, wenn wir uns plötzlich auf dem Marktplatz gegenübergestanden hätten! O, ich, sehe ihn von hier in all seiner Würde, sa tête de pipe en émoi!« Und sie lachte wie eine Tolle.
Hummel fuhr zusammen. »Um Gottes willen, man wird uns hören! Und überhaupt, gnädige Frau, auf welche Weise wird es Ihnen möglich sein, unbemerkt wieder durch den Gefängnishof in Ihre Anstalt zurückzukommen?« Sie sah ihn unzufrieden an. »Welche liebenswürdige Besorgnis, mein Herr! Aber glücklicherweise habe ich bereits heute nachmittag mit einem Schlüssel zu unserer Wohnung vorgesorgt, in den Hof komme ich mit dem Bäckerjungen, er verrät mich nicht, er ist galant.«
Heinrich nahm sich zusammen, er machte seine Hand frei. »Ich werde die Ehre haben, Sie sicher nach Hause zu begleiten,« sagte er steif und kam sich peinlich lächerlich vor. »Jetzt gleich,« fügte er hinzu, da sie gleichmütig nickte und sich von neuem an ihn drückte. Im Begriff, naher zum Pförtchen zu gehen, stand sie plötzlich still.
»Was ist das? Was ist geschehen? Vous faites une tête, mais une tête!« und da er nicht antwortete, mit einem bösen Zischen: »Françoise? Ah, Sie zucken zusammen. Ich darf den Namen nicht anrühren? Sehr gut, vortrefflich! Ich habe es mir ja gedacht. O, sie ist eine Feine, sie versteht ihr métier.« Sie fing an zu weinen, pathetisch und anklagend. Dann fuhr sie mit beiden Händen auf ihn ein, ließ aber vor seiner harten Miene die Arme sinken.
»Sie sind roh, mein Herr, ein echter Deutscher!«
Statt jeder Antwort bot er ihr den Arm, sie wegzuführen. Sie stampfte mit dem Füßchen auf.
»Man beleidigt nicht eine Frau, die man liebt.«
Er sah sie fest an. »Nein, Sie haben recht, gnädige Frau, das tut man nicht.«
Sie schrie auf. Ein breiter Blitz war vor ihr niedergefallen, prasselnder Regen folgte. Die junge Frau in ihrem dünnen Kleide drängte ans geöffnete Pförtchen. Mitten im Regen stand sie einen Augenblick still und drehte sich zu Heinrich zurück, der unschlüssig folgte. An einem Fenster oben zeigte sich Tante Amélies ausführliche Gestalt mit einer Kerze, sie befestigte die Riegel. Ihr Kerzchen zeigte sich noch hier und dort im Hause. Manche hatte sich vorsichtig geduckt, jetzt glitt sie geschmeidig zum Gartenhäuschen, öffnete die Tür und trat ein.
»Gott sei Dank, hier ist man doch nicht in Gefahr, seine Toilette zu ruinieren.« Sie schüttelte graziös ihre Volants. Dabei stieß sie gegen das alte breite Sofa. Sie lachte triumphierend. »Sie sehen, es ist Gottes Wille,« sagte sie zu Heinrich, der in der Tür stand. Der blieb steifernst.
»Ich bin glücklich, gnädige Frau, daß ich Sie hier in Sicherheit weiß. Sobald das Gewitter vorüber ist, werde ich wieder hier sein, um Sie nach Ihrer Wohnung zu begleiten.«
Damit war er in den Regen zurückgetreten, er hörte sie an das Fensterchen klopfen, aber er wandte sich nicht um. Barhäuptig, wie er war, stellte er sich mitten auf den jetzt menschenleeren Platz und ließ die zähen, kalten Faden an sich niederstreichen, sein heißer Körper erfrischte sich daran. Gereinigt kam er sich vor und frei zu allem Glück. Sehnsüchtig dachte er an Françoise. Was tat sie jetzt? Schlief sie? Dachte sie an ihn? Vielleicht betete sie. Es fiel ihm plötzlich ein, daß sie Katholikin sei. Das dünkte ihm einen Augenblick fremd an ihrem Bilde.
Er war inzwischen den Marktplatz rundum marschiert und schon völlig durchnäßt, immer noch zuckten Blitze, grollte der Donner und stürzte der Regen. Jetzt ein heftigerer Schlag. Er redete sich ein, das müsse eingeschlagen haben, beim Kanal drüben, bei den Baldes. Ohne Besinnen und Überlegen lief er sturmschritts dorthin. Das Haus lag breit und friedlich da, hinter seinem umgitterten Vorplatz, nur jetzt – zwei Gestalten, weiß mit wehenden Lichtern, von langem, falbem Haar umweht, bewegten sich feierlich aufeinander zu, begegneten sich, blieben stehen, am nächsten Fenster wieder und wanderten so von Stockwerk zu Stockwerk. Eine beugte sich einmal weit in den Regen hinaus und spähte durch die Nacht, ein Jubel stieg ihm in die Kehle, es war Françoise. Unwillkürlich hatte er ihren Namen gerufen, sie horchte, schüttelte den Kopf und war verschwunden. Ein Fenster im oberen Stockwerk wurde hell, stetig, unverrückt, aber niemand zeigte sich.
Da ging er, triefend und beseligt, nach seinem Posten vor der Apotheke zurück; er durfte die enttäuschte Frau im Gartenhaus da drinnen nicht im Stiche lassen. Er trat unter die Rathauskolonnade. Ihn fror. Die Rinnsteine murmelten und schluckten, das Pflaster, ganz blank, zitterte wie ein See. Er sah zu Père Anselmes Fenster hinauf, das tröstlich leuchtete wie das Auge der Ewigkeit.
Das Unwetter schien jetzt ausgetobt zu haben, der Regen hörte auf, graue Schwaden zogen wie steile Wände vor dem Winde her, in einiger Ferne grollte und wetterleuchtete es. Unbehaglich durch die tiefen Pflasterlöcher watend, tappte sich Hummel mit Schuhen, in denen es gluckste, nach Haus, seine arme Gefangene zu befreien. Er schlich vorsichtig zum Gärtchen herum, dessen Tür er leise öffnete, und ging zum Gartenhaus. Überrascht blieb er stehen. Er hörte Lachen und sah Lichtschein. Sachte glitt er zum Fenster. Da sah er die Quine, frisch und elegant in ihrem hellen Kleide, die Ellbogen liebenswürdig erhoben, eine Kaffeekanne in den Händen; jetzt sah er auch Onkel Camilles langes, weichliches Gesicht, ganz verliebt dreinschauend. Er hatte sein Hauskäppchen auf die Glatze gestülpt und hielt eine Kaffeetasse in der Hand, in die die junge Frau ihm einschenkte. Auf dem Sofa saß in Tollenhaube und Umschlagetuch Tante Amélie, gleichfalls eine Tasse vor sich.
Bei dem Geräusch, das Heinrichs schwergewordene nasse Stiefel auf dem Kies machten, drehten alle drei sich um. Blanche hatte ihn erkannt. Sofort erhob sie sich und sperrte die Tür weit auf. » Le voilà, le beau monsieur, ah, mein Herr Tartuffe, der den Unschuldigen spielt mit seinen roten Kinderwangen! Und nachher zieht man nachts heimlich auf Abenteuer aus. Fi donc!«
Und »fi donc« ahmten die Alten sie luftig nach, wie sie den Zeigefinger komisch nach ihm ausstreckend.
Triefend und verlegen wie er dastand, gab der junge Mann wirklich das Bild eines Schuldbewußten. Madame Blanche trat an ihn heran, ihn preziös mit spitzen Fingern zur Lampe drehend.
» Regardez voir, wie naß er ist! Hu! O ja, in solchem Wetter gehen mit Vorliebe die sündigen Geister um!« Voll höhnischen Triumphes sah sie ihm ins Gesicht. Tante Amélies dunkle Augen lachten den Neffen lustig an.
»M'r hätt's dem Herr Prussien gar net so racht zutraut. Sell g'fallt m'r jetz von ihm!« Auch der alte Camille grunzte einverständlich.
Sie erzählten nun, während um den armen Sünder herum sich ein See zu bilden begann, eifrig zu dreien die schöne Geschichte von den unerträglichen Zahnschmerzen. Grad als die arme Madame an der Nachtglocke läuten wollte, habe ein Betrunkener sie erschreckt, sie sei zur Gartentür geflohen und sei dort, vom Gewitter überfallen, eingetreten. Man schalt über die verliebte Brigitte, die wahrscheinlich den Riegel vergessen hatte. Als die Brigitte von ihrem Rendezvous nach Haus kam, habe sie die Madame im Gartenhäuschen gefunden, den Pharmacien geweckt, Madame Bourdon sei auch gekommen mit ihrem schönen Kaffee und Kuchen, und man habe es sich gemütlich gemacht.
»Und die Zahnschmerzen?«
»O, die seien von selbst verschwunden bei der guten Behandlung.« Und sie klopfte dem entzückten alten Camille die unrasierte Wange.
»Sehen Sie, mon neveu,« sagte der schmunzelnd, »so ergeht es uns Tugendhaften. Ihnen aber ist recht geschehen, daß Sie so vergewittert wurden. Von wegen Ihrer Lasterhaftigkeit. N'ai je pas raison?«
» Parfaitement,« bestätigte Blanche und tauchte ein Biskuit in ihren Kaffee. Tante Amélie hatte inzwischen dem »pauvre garçon« in ihre eigene große Tasse eingeschenkt und hielt ihm den gut dampfenden Kaffee unter die Nase. Dabei wisperte sie ihm ins Ohr: »Bei wem waren Sie denn? Sagen Sie's!«
»Raten Sie, Tantchen!«
Sie wandte sich enttäuscht ab.
Blanche zog die Handschuhe an.
»Ich muß jetzt gehen, Monsieur de la Quine wird sonst eifersüchtig. Leider ohne Grund,« fügte sie hinzu. Sie blickte Bourdon an und legte in ihre Stimme so viel Süßigkeit, als sie nur konnte. Hummel wunderte sich über sich selbst, wie gefeit er nun war gegen ihre Künste.
Bourdon küßte ihr den halbentblößten Arm »Madame ist ein Engel.«
»Ah, so werde ich wohl versuchen müssen, ein wenig zu sündigen, denn ich bin gar nicht gewiß, ob es Engeln erlaubt ist, ihren Freunden in der Hölle einen Besuch abzustatten, und ich hätte gern diesen blonden Herrn dort, der ja sicher in die Hölle kommt, wiedergesehen, um zu beobachten, wie er die, armen Seelen tröstet. Denn hier auf Erden, nicht wahr?« – sie sah ihn vielsagend an – »hier auf Erden sehe ich keine Möglichkeit zu solchen Beobachtungen.«
Hummel schwieg. Sie biß sich auf die Lippe. Ihre Nase wurde weiß und spitz.
»Sie reisen bald, Monsieur Hümmelle, vermute ich? Unser armer Pharmacien kommt sonst am Ende noch in den Verdacht, einen preußischen Spion zu beherbergen.«
Scheinbar achtlos nestelte sie an ihrer Mantille.
Camille war fahl geworden.
»Einen Spion?«
»Aber kein Zweifel! Jetzt, da man Graf Bismarcks Intriguen kennt.«
Vater Bourdon sank in einen Stuhl zurück. »Ich, einen Spion!«
Blanche lächelte. »O, man ist argwöhnisch. Jetzt, da es ja zum Kriege kommt mit Preußen.«
Bourdon stöhnte: »Also Krieg! Habe ich es nicht immer gesagt, es kommt noch einmal zum Kriege? Aber niemand hört auf mich. Das lebt so in den Tag hinein und denkt an nichts! Wenn ich nicht wäre! Sie wissen Neues?« fragte er dann gespannt.
» Mais oui, in Isenheim ist diesen Abend eine Schwester vom Sacré-Cœur aus Paris zu Besuch gekommen, sie sprach von Lärmszenen im Parlament, ganz Paris ist in Erregung, nur wir hier in der Provinz erfahren immer alles erst, wenn es schon vorbei ist.«
»Aber was geschieht denn?« fragte Heinrich. Tante Amélie hatte ihm noch einmal eingeschenkt, ihm ein gutes Stück Kuchen dazu geschnitten, nun saß er am Tisch wie ein Spießbürger und erholte sich von seinem Abenteuer, ungerührt durch die verächtlichen Blicke der schönen Qine, die tiefbeleidigt war durch die Haltung ihres »amant«. Seine »Roheit« hatte sie ihm vergeben, sein Mangel an schöner Geste schien ihr unverzeihlich. Anscheinend leichtherzig plauderte sie weiter.
»Was geschehen ist? Ihr roi de Prusse, Monsieur, hat irgendwelche Ungeheuerlichkeit begangen, es hat darüber erlegte Debatten gegeben in der Kammer, und man hat beschlossen, sich keine Art von Übermut von dort drüben mehr gefallen zu lassen. C'est ainsi. Die Situation ist gespannt, man wartet auf die Entschuldigungen von Preußen, treffen sie nicht ein, dann – – –!«
»Entschuldigungen?« Heinrich war aufgefahren, sein Gesicht flammte. »Ich halte das für unmöglich,« sagte er dann beherrschter. »König Wilhelm wird die Ehre seines Landes nicht preisgeben.«
»Sie wollen also Krieg!« Ihre Augen blinzelten ihn an.
»Krieg zwischen Frankreich und Preußen?« wiederholte Bourdon scheltend, indem er sich hinter die Quine, gleichsam in ihren Schutz stellte. Heinrich sah ihn nachdenklich an. Der Klang des Wortes Krieg, heute schon leise präludiert, nun immer deutlicher angeschlagen, erregte ihn. Vor ein paar Tagen noch würde ihn solche Aussicht vielleicht entzückt haben, er hätte an Kraft und Kampf gedacht, an Begeisterung, an Blut und Jammer auch vielleicht, aber doch an lauter Unpersönliches. Jetzt fühlte er sich sonderbar zerrissen, er hatte die Empfindung, sein eigenstes Geschick sei plötzlich unlösbar verknüpft mit einem streitenden Hüben und Drüben, als müsse er an beiden Seiten zugleich sich einsetzen, sich behaupten. So fand er keine Antwort. Auch erwartete Madame de la Quine das nicht. Im Rausch ihres Sieges über den »hölzernen Deutschen« und im angenehmen Bewußtsein, sich einen guten Abgang gesichert zu haben, schritt sie wie eine Heroine zur Türe. Heinrich raffte sich zusammen. »Ich werde Sie hinüberbegleiten,« sagte er höflich. Sie lachte auf.
»Mir scheint, ich bin sicherer allein als in Gesellschaft eines Herrn, der die Nächte außerhalb des Hauses zubringt. Ihre Begleitung, mein Herr viveur, würde nur meinem Ruf schaden. Habe ich nicht recht, Madame Bourdon? Außerdem, da ich unglücklicherweise keine Nymphe bin, ist meine Toilette nicht geeignet für die Nähe eines Quellengeistes, wie Sie, Monsieur Hümmelle, es in diesem Augenblick sind. Allez vite vous mettre à sec, gewinnen Sie so rasch als möglich Ihr gewohntes Element zurück, das Trockene. Bonjour et au revoir!«
Tante Amélie sah ihr entzückt nach. »So graziös schwatzt und läuft sie,« sagte sie neidlos anerkennend. Dann nahm sie ihr wollenes Umschlagetuch ab, achtlos auf die Enthüllung eines umfangreichen Hängebusens, der nur mühsam durch eine gestrickte Corsage gebändigt war, hob sich auf den Zehen und wickelte sorgfaltig ihren langen blonden Gast ein, beide Arme. Heinrich ließ sich bündeln wie ein Kind.
»Sie sind doch die Beste von allen, Tante Amélie.« Er gab ihr, sich vorbeugend, einen Kuß auf die Wange.
Sie strahlte. » Ah les jeunes gens! Aber nun rasch ins Bett, sonst haben wir morgen die schönste Erkältung!«
»Einen Augenblick noch!« Camille Bourdon stellte sich an die Tür. Er rieb sich verlegen die Hände.
»Ja, was ich sagen wollte – awer Sie dürfe m'r das net etwa iewel nehme, neveu!«
»Laß ihn nur erscht emol ins Bett komme un sich wider wärme,« verlangte die Tante, aber der Alte fuhr fort: »Nicht, daß ich selber etwa der Meinung wäre, oh non, aber Madame de la Quine hat recht, die Leute in der Stadt – Sie dürfe sich darüwer net trumpiere, wie die sich erscht exaltiere mit patriotisme, d'rno isch's letz. M'r muß halt de böse Hund a Stückle Brot hinwerfe. Ich für mein Teil« – er stellte sich in Positur für sein schönes Hochdeutsch – »ich kenne natürlich kein Schwanken, mein Neffe, wenn es sich darum handelt, die Pflichten der Gastfreundschaft« – er zog mit verzweifelter Energie an den Taillenkordeln seines Schlafrockes – » mais vous comprenez, Sie verstehen, man hat Frau und Kind und seine Pharmacie, und das Hemd isch einem näher als d'r Rock. Und« – er atmete laut auf – »ja, ich tu's auch für d'r Herr neveu selber, m'r weiß ja nit, ob m'r eine Prussien so schütze kann, wie m'r gern möcht, wann's wirklich emal losgeht.« Die gelbe Angst sprach aus seinem Gesicht.
Aber Madame schob sich resolut dazwischen.
»Ah bah, ins Bett krabbelt m'r jetz und nir witer,« erklärte sie. »O jawohl, seinen eigenen neveu in die Welt stoßen, wos doch net emol im Blättle g'stande het. Monstre que tu es! Net für e sou courage hat er in sei'm lange magre Leib. Niemand geht's was an, was wir tun, wir sind gute catholiques, ça suffit.« Damit trieb sie die beiden Männer vor sich her die Treppe hinauf.
Droben stand Hummel lange unbeweglich im Dunkeln. Die angstvollen Übertreibungen des Alten hatten angenehm beruhigend auf ihn gewirkt. Ein Gefühl körperlicher und seelischer Wärme war in ihm, das ihn glücklich machte. Alle Einzelheiten des Tages, den er durchlebt hatte, bauten sich vor ihm auf wie ein wunderreiches Heiligtum, vor dessen Türe alles zurückbleiben mußte, was Kleinmut war und Sorge. Und wenn es wirklich wahr würde mit dem Krieg – nun, da müßte man eben auch das miteinander zu bestehen haben, Schulter an Schulter. Eines für den Anderen. »Käm' alles Wetter auch auf uns zu schlahn, wir sind gewillt, beieinander zu stahn.« Eine weiche und große Freudigkeit kam über ihn, er wollte eine Bewegung des Umarmens machen in die tröpfelnde Nacht hinein, dabei merkte er, daß er immer noch mumienhaft verwickelt da im Dunkeln stand, warf das Wolltuch ab, zündete Licht an und begann sich auszukleiden. Françoises weißen Kaschmirschal legte er andächtig auf seine Bettdecke, daß er ihn streicheln könnte, wenn er aufwachte. Im Bett blätterte er noch ein wenig mechanisch in seinem Gottfried Keller, der auf dem Nachttischchen lag. Er traf inmitten der Prosaseite auf ein Gedicht, das sich mit seinen kurzen Zeilen auffällig abhob. So las er dann:
»In einem Gärtchen, wo du weißt,
da blüht der Seelen Paradeis,
da badt im Brunn der Heilig Geist,
die Taubenflügel silberweiß,
da riecht der himmlische Jasmin.
Die Seel spazieret süß erbaut
in Zimmetröslein her und hin.
Da küßt der Bräutigam die Braut.«
Eine warme Röte stieg ihm ins Gesicht, süße Vorstellungen bewegten seinen Körper. Seine Hände falteten sich fromm. Der Vater im Himmel schien ihm plötzlich erdenwirklich und nahe, hatte sein Pförtlein aufgetan und schaute liebreich herunter zu ihm, dunkle Wonnen herabträufend. Ruhig und mit einem warmen Glücksbewußtsein lag er in den Kissen, die Augen nach dem geöffneten Fenster gerichtet, in dessen Rahmen sich die Sterne nochmals zu verdunkeln begannen, das Leuchten und Grollen wurde wieder deutlicher, das Gewitter war am Zurückkehren.
Und plötzlich geschah etwas Unbegreifliches. Zum Fenster herein schaute ein Gesicht, ein Kopf mit einer Krone. Man sah das Profil, eine dicke, an der Spitze etwas eingedrückte Nase, ein dichter Schnurrbart, drei aufrechtstehende, unverständlich breite Haare senkrecht auf dem kahlen Schädel. Jetzt hörte man von unten Wispern und leises Pfeifen. Hummel sprang aus dem Bett und ans Fenster. Françoises Schal hatte er mitgerissen. Da sah er, daß es eine Figur war, auf einer Stange, mit bunter Harlekinsjacke bekleidet. Ein weißer Zettel hing dem Phantom über dem dicken Bauch, der trug die Aufschrift »Bismarc«, auf der Krone stand der Name »Espagne«. Hummel bog sich, die Figur wegdrängend, hinaus, da sah er unten einen dunklen Trupp mit allerlei vorgestreckten Armen, ein paar Betrunkene schienen darunter, dazwischen Frauenschürzen, auch Soldaten. In diesem Augenblick versetzte ein krummer Mensch, der eine Harke trug, der Figur einen Backenstreich, man hörte Bravorufen und heiseres Gelächter. »An d'Latern, Bismarc,« riefen sie, » à la lanterne!«
Ein gewalttätiger Zorn stieg in dem Deutschen auf, in zwei Sprüngen war er die Treppe hinunter und zum Hause hinaus, faßte den ersten, der ihm in Greifnähe kam, beim Kopf und ohrfeigte ihn, die anderen, beim Anblick des langen, wütenden Menschen im Hemd und lang nachflatternden weißen Schal, der da aus dem Dunkel sprang, stoben zu Tode erschreckt auseinander. In diesem Augenblick brach auch das Gewitter von neuem los, naher Blitz und fürchterlicher Donner, Güsse von Regen. »Der Leibhaftige!« kreischten die Frauen.
Hummel mußte lachen. Das kam den Leuten noch viel grauenhafter vor, in heilloser Angst ließen sie die Puppe fallen und sprangen, holprig sich verrenkend, davon wie eine Horde lebendig gewordener, knorpliger und triefender Bachweiden. Im Laufen bekreuzigten sie sich und blickten um, voll abergläubischem Entsetzen, denn das streitbare Gespenst hatte die Puppe auseinandergerissen und lief nun den armen Tröpfen mit kriegerisch flatterndem Burnus, die nackte Stange wie einen Speer schwingend, durch Blitz und Donnerbrüllen nach. Den Krummen erwischte er noch, gab ihm einen guten Streich mit der Hand und ließ ihn laufen. An der Straßenecke blieb er stehen und lachte. Wie er da im Hemde hinter der Bande herlief, durchnäßt bis auf die Haut, mit der Gebärde eines Siegfried, kam er sich recht komisch vor.
Vor der Pharmacie stand er und lauschte. Niemand regte sich, sie schliefen. Onkel Camille war sowieso ein wenig taub, die Tante sagte selbst, man könne sie nicht wecken, und die Brigitte war vielleicht schon wieder weggeschlüpft. Oben hängte er reuevoll den lieben weißen Schal zum Trocknen auf, dann erst dachte er an sich selbst. Aber es war ihm unbehaglich zumute. Gegen ihn war diese kindische Demonstration gerichtet gewesen, kein Zweifel, gegen den »Prussien«, den Bismarckspion. Wieder, wie heute beim Bauer Justin, fühlte er sich umgeben von Haß und Feindschaft, die er nicht erwidern konnte, und die deshalb beunruhigend für ihn war. Und klarer als heute nachmittag wußte er jetzt, wie nah das alles ihn angehen würde, ihn und das Mädchen, das aus dieser Welt hier zu ihm gekommen war.
Er lag still in seinem Bett, umdrängt von Gedanken und Empfindungen, die geklärt werden wollten, aber seine Kraft ließ nach. Bald lag dieser ganze ereignisreiche Tag in ihm versenkt wie ein gestrandetes Schiff voll Kostbarkeiten, über das stumm und eilig die Fische Hinspielen. Morgen werden dis Taucher kommen und bergen. Morgen. – –
Die Baldes hatten die Ankunft des »Kronen«-Wagens vor ihrem Tore nicht gehört. Sie saßen noch wach und angekleidet nach ihrem späten Nachtessen im Wohnzimmer, die beiden Silberköpfe zueinander geneigt. Sie hatten beunruhigende Nachrichten mitgebracht von der Meckelen, deren beide Brüder Offiziere in Norddeutschland waren. Genaueste Marschorders seien soeben ausgegeben worden für den Ernstfall. In Ems, wo König Wilhelm zur Kur war, sei es zwischen ihm und dem französischen Abgesandten zu ernsten Meinungsverschiedenheiten gekommen. Man mußte auf alles gefaßt sein! Die Baronin, deren Niederkunft bevorstand, war vor Unruhe erkrankt.
»Wenn Armand marschieren muß, behalten wir Hortense hier!« sagte der Maire und schob ein wenig an der Messinglampe, so daß seine Frau den Kastenschatten bekam. Er liebte es nicht, wenn sie die Augen auf ihre Näharbeit richtete, anstatt auf ihn. »Hörst du mich auch?« fragte er.
Sie drehte die Lampe gelassen wieder zurück. »Sie kann die große Stube oben haben, ganz für sich allein. Désirée schläft mit der Bonne daneben. Sie hat es ruhiger dann.«
»Ob es sie sehr aufregen wird? Sie muß geschont werden! Aber laß doch das Sticken jetzt, meine Freundin!«
»Es beruhigt mich, mein Freund, ich denke dann besser. Und Hortense ist es nicht allein, um die ich Sorge trage.«
»Um wen noch sonst?!«
Madame Balde schwieg eine Weile. »Ich denke daran, wie bedenklich es ist, seine Tochter gerade jetzt in das Ausland zu geben,« sagte sie dann, legte aber rasch den Finger auf die Lippen. »Chut!«
Man hörte Françoises Stimme in das Klingeln der Haustür hinein, dann auch die anderen.
Und nun brachen die Ausflügler mit Geschrei herein. Dugirard an der Spitze. Mit einer Lebhaftigkeit, die Dank für das gespendete Vergnügen bedeuten sollte, schilderte er launig den Markt zu Sulz, das Tanzen, dann den Unfall, Hummels Expedition zum Bauer Justin, das »souper sur l'herbe«, sein eigenes Lautenspiel und Singen, von dem er entzückt war, und Victor Hugos leichten Rausch. Er ahmte nach und half mit beiden Händen, die anderen sekundierten, man regte einander zur Heiterkeit auf, eine Zufriedenheit darstellend, die bei den wenigsten echt war. Blanc kam nun auch hinzu, Françoise holte einen Krug Wein und Gläser, nur Lucile wurde zu Bett geschickt. »Kleine Mädchen trinken keinen Wein.«
Hortense begleitete sie hinauf, um nach der kleinen Désirée zu sehen, die oben schlief. Dort fand sie einen Brief aus Belfort von ihrem Mann. »Ich bete Dich an,« schrieb er, »sag' doch, was soll ich tun. Deine Verzeihung noch einmal zu erhalten? Ich liebe ja nur Dich. Das weißt Du, femme digne que tu es, die immer meine Irrtümer so gütig vergessen konnte.« Hortense seufzte und sah auf die Kleine, die ihm glich. Sie hätte sie am liebsten geweckt, denn dann hatte sie Martin Baldes gute schwarze Augen. Sie dachte an das Kind, das sich in ihr bildete, von ihrem Blute genährt, und das nachher vielleicht als ein zweiter Armand Dugirard von ihr geboren werden würde. Fremde, welsche Art! Mit schweren Füßen ging sie hinab.
Inzwischen ließ Lucile sich im Gastzimmer von der alten Louisen zur Nacht die Locken wickeln. Sie sah dabei in den Spiegel. »Diese Elsässer sind ohne Herz,« sagte sie, »und sie wissen nicht, sich zu benehmen. Aber dennoch finde ich es zum Entzücken hier in der Provinz. Die jungen Mädchen im Elsaß haben es gar nicht nötig, sich zu verheiraten, sie haben schon jetzt ihre Freiheiten.«
» Oui, malheureusement!« Eine Rachel hätte das nicht mit mehr Tragik ausrufen können«
»Was mich betrifft,« fuhr Lucile nachdenklich fort, »ich werde, zurückgekehrt nach Paris, Mama bitten, mich recht schnell zu verheiraten.«
»Und warum, mon cœur?«
»O, dann werde ich Monsieur Hümmelle einladen, mich zu besuchen. Und, wenn es nicht Monsieur Schlotterbach sein sollte, den man mir zum Mann gibt, auch ihn.«
Die Alte nahm sie in ihre Arme und küßte sie zärtlich auf Gesicht und Schultern.
Lucile schloß die Augen. Sie dachte an Hummel und Victor Hugo.
Unten im Wohnzimmer war inzwischen in den gespielten Übermut ein politisches Gespräch hineingewachsen. Blanc brachte aus der »Krone« die Zeitungsnotiz eines Mülhauser Blattes, der Herzog von Gramont habe erklärt, ein Preuße auf dem spanischen Thron, das sei ein feindliches Banner, das man an Frankreichs Grenzen aufpflanzen würde, eine fortwährende Beleidigung Preußens gegen Frankreich. Eine solche Beleidigung aber dürfe nicht geduldet werden.
Balde ging im Zimmer auf und ab, die Hände auf dem Rücken verschränkt, Blanc, von der anderen Zimmerseite kommend, folgte seinem Beispiel. Bei jeder Begegnung blieben die beiden Männer einen Augenblick stehen und tauschten ihre Meinungen aus.
»Ich bin überzeugt,« sagte Balde, »diese Zeitungsartikel sollen nur zum Sondieren dienen. Man möchte eine Erklärung Süddeutschlands hervorrufen, daß es sich im Falle eines Krieges gegen Preußen mit uns verbünden will. Darauf wartet man, ehe man stärkere Hetzereien ins Werk setzt.«
»Sie haben recht, Schwager, das Ganze ist Ministerarbeit. Frankreich selbst will nicht den Krieg, auch der Kaiser kann ihn jetzt nicht wollen. Eingeweihte wissen, daß er schwer nierenkrank ist. Er würde nicht imstande sein, zu Pferde zu steigen.«
»Und Frankreich macht sich lächerlich vor ganz Europa, wenn es um einer dynastischen Höflichkeitsfrage willen, die keinerlei Volksinteressen berührt, sich in ungereimten Drohungen ergeht.«
Jetzt mischte sich Dugirard ein. »Die Angelegenheit ist doch nicht so unbedeutend, meine Herren, wie sie Ihnen erscheint. Sie hier oben am Rhein haben sich vielleicht an die lästige Umklammerung Preußens bereits gewöhnt, wenn es aber seine täppische Bärenumarmung nun auch an den Pyrenäen versuchen möchte, dann allerdings hat man die Pflicht, sich mit allen Kräften dagegen zu wehren.«
»Jedenfalls«, sagte Frau Balde vom Sofa her, »jedenfalls würde es für die Minister schwer sein, dem französischen Volke gegenüber die Verantwortung zu übernehmen für ihre Streitsucht.«
Sie hielt Françoises heiße, zuckende Hand in der ihren. Der Maire sah sich verwundert um, er war es nicht gewöhnt, daß seine Hausfrau über Politik sprach.
Dugirard, behaglich in seinem Lehnstuhl, schüttelte den Kopf, » Ah bah, täuschen wir uns doch nicht hierüber. An dem Tage, da das erste französische Regiment die Grenze überschreitet, wird nicht mehr von Spanien die Rede sein und von Prinz Leopold, man wird nur daran denken, daß man endlich die dauernde Demütigung rächen kann, die uns seit Sadowa auferlegt wurde. Und was die Gerechtigkeit unserer Sache vor Europa betrifft, die ersten Siege werden alle Welt von ihr überzeugen.«
»Und wenn wir nicht siegen?« fragte Balde.
Dugirards Gesicht verlor völlig seinen gewohnten verbindlichen Ausdruck. »Sie sind Elsässer, Monsieur Balde, ein Stammfranzose fragt nicht so.«
»Vielleicht nicht, Monsieur Dugirard, dafür befinden aber wir Elsässer uns unglücklicherweise nicht wie Sie da in Paris in der großen Galaloge, die hübsch weit von der Szene entfernt ist, sondern ganz dicht davor.«
Françoise war aufgestanden. Die Hände fest ineinandergekrampft, weiß im Gesicht, horchte sie.
»Was ist es mit den Preußen?« fragte sie jetzt tonlos. »Was wirft man ihnen denn vor?«
Blanc lachte. »Nun, die Minister haben gehofft, Preußens Benehmen würde interessant genug sein, um die öffentliche Aufmerksamkeit von der so brenzligen Budgetfrage abzulenken, die für die Kammer zur Verhandlung stand. Daß sie sich darin zu täuschen scheinen, das eben bringt sie in Wut, meine Nichte.«
»Aber dann –« Françoise machte eine hilflose Bewegung in die Luft hinein.
Auch Dugirard erhob sich jetzt, er trat zu Blanc.
»Ahmen Sie wirklich, Herr Pfarrer, das böse Beispiel unseres teuren Herrn Maire nach?« sagte er gezwungen lachend. »Sie, der Sie doch unvermischtes Franzosenblut in den Adern tragen? Das ist wahrhaftig ein schlechter Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt.« Welch ein Querulant, dieser Pfarrer, dachte er dabei. Man sagt recht, wenn man behauptet, die Protestanten Frankreichs seien die französischen Prussiens.
Inzwischen war auch Hortense mit ihrem Brief heruntergekommen, sie hielt dem Vater die Seiten hin, die sie zur Mitteilung für geeignet hielt. Balde las:
»Im Regiment fürchtet man, die in der Kammer angeschlagene Diskussion sei nicht genügend, ein kriegerisches Einschreiten Frankreichs zu rechtfertigen, noch dazu, da dieser Feigling von Thiers sich anmaßt, ›Vernunft predigen‹ zu wollen. Sollte es wider Erwarten dennoch zu einem Feldzug kommen, so kann er nur kurz sein. Frankreich würde dann unter dem Banner des nun endlich unfehlbaren Papstes mit Spanien zusammen marschieren, Bayern, Baden und die Pfalz, das ist gewiß, werden zu uns stoßen, ebenso wird Hannover und Hessen von Preußen sofort abfallen. Wir würden dann ganz einfach auf Staatskosten einen amüsanten kleinen Spaziergang nach Berlin machen. Madame Eugénie ist es, wie man sagt, die dieses ungefährliche Abenteuer wünscht. Und ich glaube das. Napoléon Vainqueur, das bedeutet Ablenkung drohender Revolutionen, eine vergrößerte Dynastie, ein vergrößertes Frankreich. Madame hat also recht wie immer. Denn es gibt wenige politische Ereignisse in den letzten Jahren, zwischen denen Madame nicht ihre weißen klugen Händchen hätte. Um so besser! ›Das, was die Frau will, will Gott.‹ Er tut das vermutlich um des lieben Friedens willen, denn der Frieden, wie wir wissen, ist sein métier.«
Dugirard applaudierte. »Er hat Geist, dieser Junge!«
Die Stelle, die Balde nicht vorlas, lautete: »Mut also, petite mère! Und habe doch keine Furcht, die Berlinerinnen werden mir nicht gefährlich sein. Du weißt es ja leider, daß die großen Füße nicht mein Geschmack sind.«
Nachdem der Brief gelesen war, legte Frau Balde ihr schwarzes Taffetschürzchen ab. Auf dieses gewohnte Zeichen ging man gehorsam auseinander.
Aber kaum war jeder in seinem Zimmer, da brach das Gewitter los. Man traf sich mit wehenden Lichtern auf den Korridoren, beruhigte einander und sagte sich von neuem gute Nacht. Françoise und Hortense machten die Runde, die Fenster zu verwahren, schließlich kam auch das Salmele, naß wie ein Kätzchen, den Geruch schlechten Tabaks hinter sich zurücklassend. Die beiden jungen Schwestern hatten sich die Haare gelöst, um es leichter zu bekommen. So gingen sie durch alle Stockwerke, schweigend und schön, im Flackern der Blitze und ihrer Lichter wie zwei Gespensterweibchen anzusehen, die irgendein Schicksal im Hause umtreibt.
»Du wirst ja ganz naß, Françoise,« sagte Hortense, als das junge Mädchen sich plötzlich weit aus dem Fenster bog.
»Was macht das! Die Tropfen tun gut! Wie fern alles ist, wie grau!«
Im Begriff das Fenster zu schließen, horchte sie auf, dann schüttelte sie den Kopf. Zusammen traten die beiden in Françoises Zimmer, das, Decke und Wand mit geblümter Kretonne überzogen, unschuldig und hell aussah. Mitten in dieser tapezierten Heiterkeit blieben die Schwestern stehen, umschlangen sich und küßten sich stumm.
»Er gefällt dir?« flüsterte Françoise.
»Zum Glück nicht so wie dir, meine arme Kleine!«
»Arm?« Das junge Mädchen hob ihr glühendes Gesicht.
»Wenn du wüßtest, wie ganz voll Glück ich stecke! Trotz allem,« fügte sie hinzu, da Hortense sie zweifelnd anblickte.
Françoise errötete. »Ich weiß, was du meinst, aber sieh, die Quine fängt mit jedermann ihr Spiel an, und Lucile –« Sie zuckte hochmütig die Achseln. »Glaubst du nicht, daß ich es mit ihr aufnehmen könnte, wenn ich mir ein wenig Mühe gäbe? Mit beiden!« fuhr sie, sich steigernd, fort. »Ich brauche ihnen ja nur abzugucken, wie man es macht, lustig zu sein, kindlich tun, mich elegant kleiden. Und« –, sie sah ernsthaft besorgt aus – »glaubst du nicht, daß ich recht gut lernen könnte, kokett zu sein?«
Hortense lachte ganz laut. »Kind, jetzt erst sehe ich, wie sehr du diesen robusten blonden Monsieur Heinrich liebst!«
Und mitten im Lachen stürzten ihr die Tränen übers Gesicht. »Ja, tu's, geh mit deinem blonden Deutschen in sein Land, in dem die Männer ebenso treu sind, wie die Frauen. In Frankreich werden wir armen Elsässerinnen ja doch nur verlacht. Man begreift uns nicht, wenn wir in der Ehe noch etwas anderes sehen wollen als einen gesetzlichen Kontrakt. Vielleicht wärst du mit deinem Monsieur Füeßli glücklich geworden,« fuhr sie ruhiger fort, »er ist brav und liebt dich aufrichtig, aber für ihn, das sehe ich jetzt deutlich, für ihn würdest du nie versuchen, Koketterie zu erlernen.«
Aber Françoise ging auf diese Wendung zum Scherz nicht ein. Sie hatte sich auf ihr Bett gesetzt, den Kopf gesenkt, ganz umschimmert und umwallt von ihrem Haar.
»Seit heute würde ich's nicht mehr ertragen, wenn er eine andere liebte,« begann sie leidenschaftlich. »Ich glaube, ich müßte sterben, wenn ich ihn jetzt noch verlöre. Oder nein!« Sie erhob sich kraftvoll, die Brust gewölbt, die Hände geballt. »Nicht sterben! Kämpfen würde ich. Mit allen Mitteln. Auch den schlechten!«
Hortense sah sie schweigend an. Das junge Gesicht da vor ihr, das ganz in Glauben und Begeisterung getaucht schien, verletzte sie irgendwie. Ein häßliches Gefühl stieg in ihr auf, ein Neid, der zu zerstören verlangte.
»Alles in allem habt ihr euern Augenblick schlecht gewählt,« fing sie an. »Vergißt du ganz, daß wir vielleicht am Vorabend eines Krieges stehen?«
»Ich vergesse es nicht, Hortense; im Gegenteil. Wenn dieser Krieg wirklich stattfände zwischen unseren Völkern, dann gerade würden wir ja um so fester zusammenstehen müssen, wir beiden, nicht wahr? Um diesen furchtbaren Zwiespalt in uns zu überbrücken. Und ich, ich hätte dann die Aufgabe, ihn zu trösten über die Niederlagen, die man für die Seinen voraussieht. Gerade wenn sein Vaterland unglücklich wird, muß er in mir seine Heimat finden können.«
»Und wenn er selber ins Feld zöge? Du erinnerst dich, bei den Preußen kauft man sich nicht los, wie bei uns!«
Françoise erblaßte. Sie wehrte mit beiden Händen ab. »Ich will nicht daran denken. Heute noch nicht. Nein, ich will es nicht.«
Das Leiden, das sich in ihren Zügen aussprach, rührte Hortense. Sie näherte sich der Liebenden und umarmte sie.
»Habe doch keine Furcht, meine arme Kleine, ihm wird nichts geschehen. Die Glücklichen sind unverwundbar.«
»Sind sie das? Wirklich?«
Ihr Blick, der sich auf die Schwester richtete, bohrte sich gleichsam durch sie hindurch auf irgend etwas Schreckliches und doch vielleicht Erhabenes, das sie fest ins Auge fassen müsse.
»Die Glücklichen,« wiederholte sie mit seltsamer Stimme und fuhr dann fort: »Dann also, o ja, dann muß man ihn also glücklich machen.« Sie sprach mit fast unbewegten Lippen. Gleich darauf warf sie sich, wie von Scham und Furcht überwältigt, in die Kissen und zeigte ihr Gesicht nicht mehr.
Am nächsten Morgen machte Hummel mit der guten Brigitte ein Komplott, sie solle ihm Françoises Kaschmir wieder glatt bügeln. Besorgt und ernsthaft stand er daneben und gab acht, daß alles wieder in den vorigen Zustand kam, dann wurde ein zartes Papier genommen und der Schal dahineingehüllt. Er trug das Paketchen behutsam im Arme wie ein kleines Kind. Brigitte mußte ihn erst darauf aufmerksam machen, daß sein Frühstück im Gartenhäuschen auf ihn warte, er wäre sonst sogleich davongestürzt. Onkel Camille ließ sich nicht sehen. Er habe sich wieder ins Bett gelegt, berichtete die Magd. Auch Tante Amélie sah er nur von weitem, sie trennte und nähte an ihrem schwarzseidenen Kleide für die Kirchenfeier übermorgen. Es würde eine Prozession um die Kirche herum geben, rief sie ihm zu, alle Kinder weiß und ein paar junge Mädchen.
Im Gartenhäuschen trank er stehend. Es mißfiel ihm zwischen den Erinnerungen von gestern. Dann las er fromm ein paar welke Lindenblüten von seinem Kragen, setzte sich den Hut sehr gerade auf und ging unter Seligkeit und Herzklopfen zum Hause hinaus. Da fiel gleich sein Blick auf ein paar große weiße Zettel unter der Rathaushalle. Er ging hin und las nun folgende Bekanntmachungen, die in deutscher und französischer Sprache abgefaßt waren:
»Es wird eingeladen so bald als möglich die Ernte zu beenden.«
»Die beurlaubten Soldaten der Land- und Meer-Armee sind durch dieses aufgefordert, sich zu ihren Truppenkörpern zurückzubegeben.«
»Es wird den Landwirten des Kreises aufgegeben, alle militärtüchtigen Pferde sogleich nach Kolmar auf den Champ de Mars zum Ankauf zu entsenden.«
Das sah bedenklich aus! Heinrich ging weiter den Platz entlang bis zur kleinen Post. An der Kaserne lungerten noch immer tatenlos die Soldaten herum ohne Erlaubnis sich zu entfernen. Die Order vom vorigen Abend war widerrufen worden. Die Leute sahen gelb und unzufrieden aus. Überhaupt erschien ganz Thurwiller an diesem Morgen übernächtig. Die wenigen Menschen, die sich schon aus ihren Betten herausgefunden hatten, standen verdrießlich herum, die Kinder, denen man für die morgige Feier schon letzten Abend Locken mit Zuckerwasser gewickelt hatte, waren gleichfalls zu kurz gekommen und gähnten zänkisch umeinander. Unter ihnen war der kleine Charles aus der Post. »Sie schlafen noch,« sagte er zu Heinrich, der an der Tür klinkte. Da er ratlos stand, rief ihn die Briefausträgerin an, die mit leerer Tasche auf Abfertigung wartete. »Ich will ein Telegramm aufgeben,« sagte Heinrich. Sie begriff zuletzt und riet ihm, die Botschaft aufzuschreiben und unter dem leise klaffenden Fensterchen hindurchzuschieben. Charles, verständnisvoll, brachte das Papierschiffchen herbei, das er im Regenfaß schwimmen ließ, faltete es auseinander und gab es hin. Aber Hummel zog ein Blatt aus seinem Notizbuch diesem nassen, zerknitterten Papierstückchen vor. »Ist meine Heimkehr sofort erwünscht?« schrieb er unter die Adresse seines Onkels, des Majors von Bassewitz in Erfurt. Dann sah er zufällig sein Schiffchen an. Wieder ein blauliniertes Schulheft und wieder die Handschrift Monsieur Cerfs. Das Konzept für eine französische Rede oder einen Artikel.
»Man muß die gute Gelegenheit benutzen, um Preußen dahin zu bringen, daß es in Zukunft nicht mehr zu fürchten ist. Das wenigste, was man verlangen müßte, wäre die Freiheit der süddeutschen Staaten, die Räumung der Festung Mainz, die zum Süden gehört. Werden uns solche Garantien nicht gewährt, so können unsere Forderungen nur immer größer werden.«
Dann kam noch: »Welch lebhaftes Interesse aber auch die äußere politische Konstellation Frankreichs in diesem Augenblicke bietet, der elsässische Bürger kann und darf darüber seine inneren Landesangelegenheiten nicht vernachlässigen. Er darf nicht vergessen, daß die Wahlen bevorstehen!«
Hummel las das mit gesammeltem Gesicht, ebenso wie er seine Depesche geschrieben hatte. Etwas unzerstörbar Frohes war in ihm heute morgen, das wollte nichts wissen von Gefahr oder gar Hindernissen. Mit gleichmäßigen Schritten ging er seinen Weg zum Baldehaus.
» Tiens, c'est vous?« Blanche de la Quine kam Seite an Seite mit Monsieur Cerf die Wallpromenade herab.
»Ah, Sie wollen die lieben Baldes besuchen? Vielleicht die arme Hortense trösten, weil ihr Mann sich schlagen wird? Auch die chère Françoise wird traurig sein, ihren neuen Freund gleich wieder zu verlieren. Ich sprach eben davon zu meinem Freunde hier, Monsieur Cerf, er meint wie ich, daß alle, denen Ihre Sicherheit teuer ist, Monsieur Hümmelle, dafür sorgen müssen, daß Sie möglichst schnell Ihr Vaterland gewinnen.«
»So ist es,« sagte der schöne Napoléon geziert. Sein parfümierter Henri-Quatre glänzte fettig in der Sonne, er machte mit dem Spazierstöckchen gewagte Kapriolen. Er sowohl wie Blanche sahen bedenklich erhitzt aus.
»Madame hat schon früh ausgeschlafen?« sagte Hummel. Es klang boshafter als er wollte. Was ging ihn diese Dame an und ihre Liebhaber! Aber Blanche bekam auf einmal das Gesicht einer alten bösen Frau, ihr Kinn streckte sich vor, sie wußte nicht mehr, was sie sagte.
»Glauben Sie vielleicht, mein Herr, man brauche eine Frau wie mich nicht zu respektieren! O« – sie zog ihren Mund sehr klein – »ich bin nicht die erste beste! Und es gibt noch Männer, die das zu schätzen wissen!« Ihre Augen sprühten. Sie raffte ihre Röcke zusammen. »Vouz venez, mon ami?« Und sie rauschte voran. Monsieur Cerf lüftete gemessen den Hut und folgte ihr mit kleinen, gezierten Schritten.
Hummel sah ihnen grimmig nach. Über seine strahlende Zuversicht war ein Hauch gegangen. Langsam näherte er sich dem Haus, jeder Schritt eine abergläubische Beschwörung.
Die alte Louison öffnete ihm in der Haltung einer Marschallin. Er fragte nach Françoise, da sie ihn streng ansah, verbesserte er sich aber und ließ sich »den Damen« melden. Man führte ihn, wie vorgestern, ins Bibliothekzimmer, und man ließ ihn, wie damals, warten. Heute aber besichtigte er nicht Bücher und Bilder, er blickte nur starr zur Tür.
Endlich traten die Eltern ein, gleich nach ihnen beide Töchter. Man setzte sich und plauderte wie damals, aber es lag etwas Verlegenes über allen, und aus der Art, wie man jede Anspielung auf die gegenwärtige politische Lage unterließ, fühlte Hummel etwas so Absichtliches heraus, daß es ihn tief entmutigte. Ohne daß er es wußte, hefteten seine Augen sich unablässig auf Françoises Gesicht, das bald errötete, bald erblaßte. Aber sie hielt die Lider gesenkt. Nur mit Mühe brachte er die paar notwendigen Höflichkeitsphrasen zusammen. Zuletzt aber schwieg er, beugte den Kopf und hob ihn dann wieder mit einer trotzig bohrenden Bewegung in die Luft hinein. Dieses strenge Zeremoniell, an dem er sich stieß, war ihm unerträglich und beschämend zu dieser Stunde, da es sein Innerstes galt. Er erhob sich, die andern, in der Meinung, er wolle Abschied nehmen, taten dasselbe. Aber Heinrich, die Hände ineinandergepreßt, blieb wortlos vor seinem Sessel stehen, unbeweglich.
»Ich werde vielleicht genötigt sein, noch heute nach meiner Heimat abzureisen,« sagte er endlich. Seine Stimme klang ihm unangenehm dröhnend und kriegerisch. »Ich kann es aber nicht tun, ohne eine Frage an Fräulein Françoise zu richten und eine Bitte an Sie, Herr und Frau Balde.« Er sah flehend von einem zum andern. Hortense wich leise hinaus, er stand vor den Entscheidenden. Frau Balde hob abwehrend die schmale Hand.
»Zu früh, zu früh,« sagte Balde aufgeregt, aber diktatorisch. Er rückte sich unruhig am Bücherbrett entlang, an dem er lehnte. »Sie haben alle unsere Sympathien, das ist wahr, aber trotzdem wäre es eine Übereilung, wenn man – – «
Frau Balde stand sehr grade neben ihrer Tochter. »Monsieur Balde hat recht,« sagte sie gütig, doch bestimmt. »Es ist noch zu früh, sich über Dinge zu unterhalten, die nur erst in der Phantasie zweier junger Kinder existieren.«
»Denkt Fräulein Balde ebenso?« fragte Heinrich mit derselben starr schmetternden Stimme, die er verwünschte.
Françoise sah auf. Sie tat nichts anderes als das, aber es lag Lächeln und Zuversicht in ihren Augen.
»Wir haben unser Kind nicht befragen mögen,« antwortete die Mutter an ihrer Stelle.
»Aber ich reise ab, Frau Balde!« Das klang so verzweifelt, daß der Maire sich nicht langer zurückhalten konnte, er trat vollends zu Hummel heran und faßte ihn tröstend bei den Schultern. Dabei mußte er sich hochrecken, so daß es aussah wie ein Umhalsen. »Ja, reisen Sie!« sagte er dabei freundlich. »Tun Sie das. Das ist das richtigste. Denn, Monsieur, was immer das Resultat einer Unterredung zwischen uns sein könnte, etwas Endgültiges dürfen heute weder Sie noch wir beschließen.«
»Nichts Endgültiges!« Hummel hörte nur die Hoffnung heraus. »Aber diese Unterredung erlauben Sie mir also?«
» Mais voyons, was bleibt mir anderes übrig, als Sie zu bitten, mit mir in mein Ordinationszimmer herüberzukommen, damit man ein paar vernünftige Worte miteinander redet?«
Heinrichs Gesicht war auf einmal ganz in Seligkeit getaucht. Er drückte dem Maire stürmisch beide Hände.
» Pas si vite, pas si vite, jeune ami, – seien Sie versichert, ich werde mir diesen Prussien erst einmal gründlich besehen, der mir mein Kind wegschleppen möchte.«
Er winkte mit der Hand und ging zur Tür. Im Ordinationszimmer setzte er sich in seinen Ledersessel und wies Hummel einen Stuhl sich gegenüber an, der Schreibtisch zwischen ihnen.
»Die Hauptsache ist – sind Sie gesund, junger Mann?«
»Gesund, ja, das bin ich.«
Der Alte sah ihn an. Seine guten, schwarzen Augen bekamen etwas unerbittlich Durchdringendes. Aber Hummel blickte ihm offen ins Gesicht.
»Sososososo!« sagte der Alte befriedigt. Und nun begann er sich über die Vermögenslage des Bewerbers zu unterrichten, über seine Stellung, seine Berufsaussichten. Beide Männer sprachen mit Klarheit, knapp und einfach. Eine herzliche Zuneigung spann sich zwischen ihren trockenen Worten hin und her. Zuletzt sagte der Maire:
»Sie werden es mir nicht verdenken, mein lieber junger Freund, wenn ich trotzdem eine Trennung jetzt für das einzig Richtige halte. Solange es so kriegerisch aussieht in der Welt und unglücklicherweise just zwischen unsern beiden Nationen, wäre es verbrecherisch, irgendeine derartige Verbindung anzuknüpfen. Ich gestehe Ihnen gern zu, daß ich, die Einwilligung meiner Frau vorausgesetzt, nichts Prinzipielles gegen eine Heirat in späterer Zeit einzuwenden habe. Wie aber die Verhältnisse jetzt liegen, wird es das beste sein, daß beide Teils sich vorerst für gänzlich frei und ungebunden betrachten. Sie mögen korrespondieren miteinander, sich dadurch besser kennenlernen, und wenn Sie dann später einmal wirklich wiederkommen, so werden wir – ich bin darin der Zustimmung von Madame Balde gewiß – Ihnen nichts mehr in den Weg legen. Ich glaube, daß das loyal gehandelt ist. Und ich hoffe, mein Herr, dasselbe von Ihrer Seite. Versprechen Sie mir, daß Sie keinerlei Versuche machen wollen, hinter unserm Rücken mit Françoise zusammenzutreffen.«
»Ich verspreche es,« sagte Hummel langsam.
»Und damit, mein Lieber, lassen Sie unser Verhör zu Ende sein.« Er streckte ihm herzlich die Hand entgegen.
In diesem Augenblick klopfte man an die Tür, und Tränkele erschien, eine Depesche in der Hand. Der Maire las.
»Dieu merci!« Er wandte sich zu Hummel. »Ja, mein Freund, das ändert unsere Angelegenheit bedeutend zu Ihren Gunsten. ›Hohenzollern verzichtet auf Königsthron, Frieden gesichert. Bekanntmachung zu Rüstungszwecken zurückziehen. Der Präfekt.‹«
»Das muß Françoise wissen!« Der Jüngling taumelte hinaus, wie ein Falter, der sich in den Tag stürzt ...
Als Balde und Hummel hinausgegangen waren, war es eine Weile still geblieben zwischen den beiden Frauen. Um Françoises frischen Mund spielte ein warm-gewisses Lächeln. Frau Balde hatte sich wieder gesetzt.
»Ein gut und ehrenhaft aussehender junger Mann,« sagte sie, gleichsam als Antwort auf Françoises stumme Frage. Da die Tochter aber auf sie zustürzte, sie dankbar zu umarmen, wehrte sie lächelnd ab: »Kind, Kind, vor allen Dingen muß man sich gründlich erkundigen nach ihm, denn das einzige, was man von ihm weiß, die Verwandtschaft mit diesem prahlerischen Camille Bourdon, genügt doch nicht recht als Empfehlung für ihn, nicht wahr?« Sie strich liebevoll über das Haar der vor ihr Knienden. Françoise legte ihr brennendes Gesicht auf die beiden kühlen Hände der Mutter.
»Er ist von deiner Kirche, maman.«
Frau Balde nickte. Auf einmal stand sie auf.
»Es ist sonderbar,« sagte sie mit einem fast schüchternen Lächeln und ging, sich höher aufrichtend, wie um Mut zu schöpfen, am großen Mitteltisch entlang. »Wirklich, es ist sonderbar. Jetzt, da von diesem Deutschen die Rede ist, daß er meine Tochter haben will, fühle ich mich zum erstenmal hier als Französin. Spürst du denn nicht, wie ich, an ihm die fremde Rasse?« fragte sie lebhaft. »Fürchtest du nicht, du müßtest dich immer übersetzen, wenn du mit ihm zusammen bist? Nicht nur die Worte, dich selbst, dein eigenstes Wesen?«
Françoise schüttelte lachend den Kopf: »Nein, maman, so ist es mir nicht. Nie hab' ich mich noch jemandem so verwandt gefühlt wie diesem Fremden. Vom ersten Augenblick an.« Sie war tiefrot geworden und barg ihr Gesicht wie ein kleines Mädchen in ihrem Arm.
»Wir haben bisher nur von Gefühlen geredet,« fing Frau Balde wieder an, bemüht, ins Ruhigere einzulenken, »ebenso wichtig aber und sogar entscheidend ist es, daß die Familien und Verhältnisse zueinander passen, und daß seine Vermögenslage befriedigend ist. Vertiefen wir uns darum nicht in Probleme, ehe wir festen Boden unter den Füßen wissen.«
Aber Françoise schien sie kaum zu hören. »Meinst du nicht, maman, ich würde glücklicher werden als Hortense?«
Frau Balde faßte ihre Hand. »Glücklich!« Ihr feiner, fast asketischer Mund wurde noch schmaler. »Das persönliche Glück einer Frau, meine arme Françoise, ist es nicht allein, auf das es ankommt bei der Gründung einer Ehe. Wir haben Pflichten, wir Frauen, gegen den Staat, gegen Frankreich. Eine würdige und ehrenhafte Frau wird es sich zur Aufgabe machen, die traditionelle, fast gesetzmäßige Heiligkeit der Familie der Welt gegenüber zu verteidigen.« Ihr reines, tönendes Französisch füllte strenge den Raum und hatte an sich selbst bereits etwas Gemessenes, Gesetzmäßiges. »Und was immer der Mann draußen in der Welt Unmoralisches erleben möge,« fuhr sie fort, »in dieses Heiligtum darf nichts davon eindringen. Das eben ist Aufgabe der Frau! Nicht die Passion ist es, meine Liebe, sondern die vernünftige Überlegung, die die guten Ehebündnisse schafft.«
»Und du, maman?«
Sie stutzte einen Augenblick.
»Dein Vater,« sagte sie dann und sah fast mädchenhaft aus dabei, »du weißt, wie sein Herz mit ihm durchgehen kann, er setzte alles daran, mich zu besitzen, obgleich ich keine Mitgift hatte. Ich habe ihn lieben gelernt in den Jahren unseres Zusammenlebens. Und überdies« – sie legte wieder einen Abstand von Respekt zwischen sich und die Tochter – »es sind nicht elsässische, es sind französische Ideen, die ich hier vor dir ausspreche, Françoise. Aber in diesen Ideen bin ich erzogen. Es sind die Ideen, durch die Frankreich groß wurde, es ist die Moral, die noch heute Frankreich erhält, und ohne die es zugrunde gehen würde. Ich glaube, ich hatte sie beinahe vergessen, diese Ideen, diese Moral, hier bei euch, wo man ja freier lebt und denkt als bei uns drüben.«
»Aber gehörst du denn nicht zu uns?« fragte Françoise erschüttert.
Frau Balde sah sie an. »Ich wußte es selber nicht,« sagte sie, »aber in den Augenblicken der wichtigsten Lebensentscheidungen wird einem wohl das, was man sich in der Jugend eingeprägt hat, wieder so sonderbar lebendig. Nun habe ich mit dir geredet wie mit einer erwachsenen Frau,« fügte sie dann hinzu, fast verlegen werdend.
Françoise antwortete nicht, ihr Gesicht verzerrte sich. »Moral, Ideen,« murmelte sie heftig – »soll man denn wirklich sein ganzes Gefühl einmauern lassen darin? Aber ich! Weißt du, was ich tun werde, wenn man ihn in den Krieg schickt? Ich werde vorher seine Frau.« Sie schrie beinahe.
»Wir würden es niemals zugeben, Françoise.«
»Ich würde einfach zu ihm gehen.«
»Das würdest du?«
Die beiden Frauen maßen sich eine Sekunde wie Feindinnen. »Du willst das Recht haben bei ihm zu sein, wenn er verwundet würde?« fragte die Mutter tastend, bemüht zu verstehen. »Auch das.« Sie blickte vor sich hin. Nein, sie konnte der Mutter nicht sagen, was in ihr vorging. Was in ihr aufgewacht war wie ein Feuer bei Hortenses: »Die Glücklichen sind unverwundbar«, und was in ihr weitergefressen hatte, lodernd und zitternd, und nach Ausweg suchte. Erst der Wunsch, ihn zu halten um jeden Preis, ihn zu behalten, etwas von ihm in sich zu behalten, wenn er ginge, zu ihm zu gehören, wie keine andere. Das war's. Angstvoll horchte sie zur Türe, die leise zitterte.
»Françoise, wir dürfen! Hohenzollern hat verzichtet, wir dürfen!«
Er flog auf sie zu und umarmte sie. Balde räusperte sich. »Das heißt – – unsere Verabredung bleibt deshalb doch bestehen, Herr Doktor!«
»Ja, ja,« gab der eifrig zurück. Er streichelte Françoises Hand, die zitterte. Das junge Mädchen sank nach der erregten Spannung der letzten Stunde wie ermattet in sich zusammen. Sie saß da, die Hände schlaff ineinandergelegt, und schaute mit großen glücklichen Augen zu Vater und Mutter hinüber, die leise miteinander redeten, während Heinrich fortfuhr, ihr zart und andächtig über Haar und Arm zu streichen. In abgerissenen Worten berichtete er von der Unterredung. Frau Balde hatte inzwischen das Telegramm genommen und gelesen, »Dieu soit loué!« sagte auch sie. Dann ging sie zu Françoise hinüber, küßte sie und streckte Hummel die Hand hin, auf die er sich ehrfurchtsvoll neigte.
»Ich bin so dankbar, so dankbar!« sagte er immer wieder. Dann kam eine verlegene Stille, Hummel fühlte, daß die Eltern erwarteten, er würde sich nun verabschieden, aber es schien ihm ganz unmöglich, fortzugehen, ohne Françoise wenigstens noch einen Augenblick allein gesprochen zu haben. Und wieder, wie gestern abend, erriet sie ihn.
»Monsieur Hummel wird reisen, da er es versprochen hat,« sagte sie mit heller Stimme. »Aber vorher, nicht wahr?« – sie lächelte – »Papa wünscht ja, daß wir uns kennenlernen. Ich lade Monsieur zu einem kleinen Spaziergang in den Thurwald ein.« Sie war doch ein wenig blaß geworden bei diesem Wagnis. Heinrich blickte erwartungsvoll zu Boden. Die Eltern schwiegen; sie sahen sich an.
»Nun denn, ich werde Onkel Blanc bitten, uns als Gardedame zu begleiten, ich hatte ohnedies versprochen, heute mit ihm in den Thurwald zu gehen.« Etwas Liebenswürdig-Spöttisches lag in ihrem Ton, wie sie so kühn und höflich die strittige Frage löste. Auch die beiden Alten konnten ein beifälliges Lächeln nicht unterdrücken, Frau Balde ging selbst, ihren Brüder zu benachrichtigen. Der Maire sah inzwischen angelegentlich zum Fenster hinaus.
Blanc und das junge Paar gingen auf dem schmalen Feldpfad dem Thurwald zu. Hüben und drüben am Weg standen Leute und richteten das Getreide, die Frauen in roten Röcken und hellen Kopftüchern. Der Tag war sonnenlos und weich, voll brütender Mittagswärme, aber nur Blanc spürte das. Im Schritt der beiden andern lag etwas Frisches, Federndes, das frühlingsmäßig wirkte.
»Sie wollen nach Deutschland zurückkehren, wie ich höre?« begann Blanc zuletzt das Gespräch.
»Ich erwarte noch Nachrichten, Herr Pfarrer. Aber ich glaube, da doch nun alles wieder friedlich steht, meine Reise wird nicht sogleich nach Thüringen zurückgehen. Ich möchte noch eine Weile hier in Ihrem schönen Elsaß bleiben, es besser kennenlernen. Ich habe nie geahnt, daß mir dieses Land so interessant werden könnte.« Er sprach zu Blanc, aber seine Augen richteten sich auf Françoise.
»Ja, das Elsaß ist schön!« sagte Blanc. »Hier das kleine Thurwiller freilich kann ihnen keinen richtigen Begriff von unserm Lande geben. Straßburg müssen Sie sehn!«
Françoise fuhr auf. »Straßburg!« Auch bei ihr sprach nur der Mund zu Blanc, die Augen gingen zu Heinrich hinüber. »Die Straßburger, ach, das sind ja Stadtleute, nichts als eine billige Nachahmung von Paris. Und überhaupt das Unterland! Nein, hier bei uns im Oberelsaß – Père Anselme hat recht – hier haben sich noch die alten Landsknechtsitten erhalten, grob sind sie ja, die Leute hier, das ist wahr, aber kernig und gerade.«
Blanc lachte. »Aha, die alte Eifersucht zwischen Oberland und Unterland, sicher noch ein Erbteil der früheren Kleinstaaterei.«
Aber er hatte in Heinrich keinen guten Zuhörer für seine Bemerkung. Sie gingen jetzt über die Wiesen, einer hinter dem andern, durch einen weißen Sternblumenwald. Das milchige Wogen, der scharfe Blütengeruch brachten den Verzückten in eine Art wollüstigen Schwindels hinein. Er wußte nicht mehr, ob er selber sich bewegte oder nur das andere um ihn herum. Gleichsam um einen Halt zu verspüren, begann er von seinem Zuhause zu erzählen, dem Jenenser Universitätsleben, von allem, was nun auch Françoises Zuhause werden sollte. Sie lauschte, die Augen gesenkt, das volle, helle Mädchengesicht mondhaft sanft gegen den düstern Himmel sich abhebend. Heinrich fuhr indessen fort, zu Blanc für seine Verlobte das Bild seiner Mutter, die er zärtlich liebte, zu malen. Unmerklich erhielt das Porträt Ähnlichkeit mit Françoises eigenen Zügen. Und in der Tat schien es ihm auf einmal, daß die beiden sich glichen. Im Lächeln irgendwie.
Françoise bog jetzt seitwärts in die Blumenwildnis ein, in der sie bis über die Knie versank. Ihr blaues Kleid schien wie getragen von Blumen.
»Ertrinken Sie nur nicht, Fräulein Balde!« rief Heinrich ihr zu. Wirklich hatte ihn eine kindische Angst ergriffen, sie zu verlieren. Sie kam zu ihm zurück.
»Weißt du, Onkel Blanc, daß ich einmal beinahe ertrunken bin in solcher Blumenwiese? Ich war vier Jahre alt und der Wärterin davongelaufen. Hier ungefähr war's. Plötzlich packte mich die Angst vor dem Schratzmännchen, das da im Thurwald die alten vergrabenen Schätze hütet. Ich versteckte mich. Und dann fand ich mich nicht mehr heraus. Es war schrecklich.«
Sie erblaßte noch in der Erinnerung. Die Blumen, die sie gepflückt hatte, steckte sie sorgfältig in ihr Gürtelband. Die Liebenden sprachen nichts mehr. Zufrieden, dicht beieinander zu gehen, zufrieden, dasselbe zu sehen und in den Augen des anderen neu zu erleben. Sie kamen zum Waldrand. Ein frischerer Hauch wehte herüber vom Thurflüßchen, das metallisch aufrauschte.
Langsam gingen sie am hohen Ufer entlang, zwischen Weiden und einzelnen Birken. Unten im Geröll des Flußbetts stand eine weiße korpulente Gestalt und angelte. Monsieur Dugirard. Blanc legte den Finger auf die Lippen, in sein Gesicht kam wieder das Lausbublächeln, das es so liebenswürdig machte. Er winkte den andern, es ihm nachzutun, und alle drei schlichen nun auf den Zehen hinter dem breiten, weißen Rücken vorbei. Außer Hörweite lachten sie wie Kinder.
»Dieser Eindringling!« sagte Françoise. »Niemand sonst kommt hier in meinen Thurwald.« Sie gingen nun quer durch das Gehölz, das ihnen Schwärme von Mücken entgegensandte.
»Die Weiden weinen,« sagte Françoise und schüttelte die Tropfen von ihrer Schulter. »Ja, Onkel Blanc, früher glaubte ich das nämlich wirklich, und ich fand das wundervoll märchenhaft, aber dann hat mir Jules Bourdon, der Sohn vom Pharmacien, gezeigt, daß es nichts ist als ein Büschel von Ungeziefer, das Feuchtigkeit absetzt. O, ich war so enttäuscht, geschlagen habe ich nach ihm!«
»Sie hätten also lieber weiter an Ihr Märchen geglaubt? Sie scheuen es, klar zu sehn?« Etwas leise Schulmeisterliches klang hindurch.
»Ich will nicht das häßlich sehn, was ich geliebt habe!«
Er bückte sich tief. »Das sollen Sie auch nicht, Fräulein Balde,« sagte er halb erstickt. »Und es wird ein Ansporn sein für alle, die Sie lieben, niemals häßlich zu werden.«
»Sehr interessant,« sagte Blanc und zog einen Brief aus der Tasche. Auch Françoise suchte nach Ablenkung. Sie sah sich um. Plötzlich stieß sie ärgerlich mit dem Fuß an ein gewölbtes Zweigwerk, das da auf dem Moosboden sich erhob. »Eine Marderfalle,« sagte sie. Eifrig riß sie das Gestell mit beiden Händen auseinander. Ein liebes Lächeln kam in ihr Gesicht. »Immer Sonntags nach dem Hochamt gehe ich in den Thurwald, Sonntags fängt sich kein Tier.« Sie lachte wie ein Bub.
»Aber heute ist nicht Sonntag,« sagte Blanc. »Wirklich nicht?« Die beiden sahen sich an. Der Pfarrer nahm wieder seinen Brief vor.
»Es ist sehr heiß hier, meine Nichte, und die Schnaken machen glorreiche Versuche, mich zu töten. Wenn du erlaubst – an der Thur dort ist es kühler. Ich habe auch meinen Brief noch nicht gelesen, er ist aus Straßburg von meiner Frau.«
»Laß dich nicht stören, mein Onkel, ich zeige unserm Gast inzwischen das Hünengrab. Ich liebe es so sehr. Wir sind gleich wieder hier. Oder ziehen Sie es vor, mein Herr« – sie wandte sich zum erstenmal an Heinrich – »gleichfalls in das Kühlere zu gehen?«
Der Onkel sah sie verwundert an. In das madonnenreine Oval ihres Gesichts war schüchtern ein kleiner spitzbübischer Zug getreten, der neu war an ihr, und der fast etwas Angestrengtes hatte. Heinrich aber verlor vor seines Mädchens lieber Evamiene den letzten kleinen Rest seiner Besinnung. Ganz verstört vor Seligkeit trabte er ihr nach. So gingen sie eine Weile. Der Weg wurde breiter. Ohne daß sie es wußten, hielten sie sich Hand in Hand.
»Weißt du, daß du meiner Mutter, meiner Schwester gleichst?« sagte Hummel.
Die neigte den Kopf ein wenig zur Seite, ihn von unten her zu betrachten. »Auch wir beide haben Ähnlichkeit miteinander,« meinte sie dann, und es war wichtig und geheimnisvoll, wie sie es aussprach. Sie prüfte weiter. »Unser Haar ist fast das gleiche. Wir sind auch vom gleichen Stamme, nicht? Meine eine Hälfte wenigstens.«
Wäre Heinrich ein kühlerer Beobachter gewesen in diesem Augenblick, er hatte in ihrer anscheinend so vernünftigen Unterhaltung das Unsichere, Flatternde herausgehört; er selbst aber war viel zu aufgeregt, um das zu merken. Vielmehr verletzte ihn beinahe Françoises anscheinende Kühle und Gewandtheit. Sie liebt mich nicht, wie ich sie liebe, dachte er. Und bewunderte sie zugleich deshalb.
Françoise sprach indessen weiter. »Ich glaube wirklich, wir hier im Elsaß tragen immer noch ein Stückchen alter deutscher Heimatsmelodie in unserm Blute. Manchmal hört man es auch. Ich muß an die Geschichte vom Posthorn denken, dessen Töne eingefroren sind und in der Wärme wieder auftauen.«
»Und jetzt? Spürt es jetzt die Wärme?«
Sie lachte nur.
»Und was tönt es jetzt?«
Sie wandte sich nah zu ihm. »Liebe, nur Liebe,« sagten ihre Augen. Dann auf den verhangenen Weg zeigend:
»Ein paar Schritte noch, und wir sind am Hünengrab.«
Sie waren an der Mulde angelangt, die ganz gefüllt mit den weißen duftenden Blüten der »reine des prés« den grünen Hügel umschloß. Eine einzelne hohe Kiefer ragte dort droben pathetisch in die Luft. Ihre untern Zweige lagen tief und dunkel auf dem Moosboden und bildeten da ein Nest. Françoise kroch vorsichtig dort unter und ließ sich nieder.
»Wie viele Male habe ich doch schon hier gesessen!«
Sie blickte, das Gesicht emporgewandt, an Heinrich vorbei, der vor ihr stand. Das durchfuhr ihn wie Eifersucht. »Mit diesem Herrn Jules Bourdon vielleicht?«
Sie lachte. »Wir waren Kinder,« erwiderte sie dann sanft. Aber seine Miene blieb umdüstert. »Siehst du, Françoise, wenn ich mir vorstelle, ich bin fern, und du, du gehst hier im Wald mit einem andern! Ach, warum quält man uns so?« brach er aus. »Warum müssen deine Eltern auf dieser Trennung bestehen; jetzt noch, da wieder Frieden ist.« Sie senkte den Kopf. »Auch du hast mich gequält, weißt du noch? gestern! –«
Er riß sie in seine Arme. »Ich verdiene dich nicht, ich weiß. Aber gestern war ich noch ein dummer Junge, das Fremde, Welsche imponierte mir an diesen beiden da, heute aber –« Er hielt sie heiß und fest an sich heran – »heute spüre ich endlich das wirkliche, das wahre Wunder.«
Sie sah lieb erwartungsvoll zu ihm auf.
»Dich, Françoise. Die Elsässerin, die mit französischer Sprache und dennoch den Zügen und dem Wesen meiner Heimat mir entgegentritt. Und – rätselhaft ist das – während ich am törichtsten verirrt war, immer habe ich doch gewußt, daß du zu mir gehörst.« »Und du zu mir.« Es klang wie ein Seufzer. Unwillkürlich legte sie, wie wehrend, beide Hände über ihre weißen Blumen.
Und plötzlich kam ein banges, schweres Verstummen zwischen beide. Sie sagten sich nichts mehr, konnten sich nichts sagen, Heinrichs Atem keuchte. Françoise schloß die Augen, um sein Gesicht nicht zu sehen, das ihr Furcht machte. Etwas Lähmendes legte sich über sie, das doch zugleich Seligkeit war, ihre Herzen klopften denselben Schlag, ganz laut. Dicht und brennend an ihrem Ohr hörte sie ein paarmal ihren Namen. »Heinrich?« wollte sie erwidern, aber die Stimme versagte ihr. Sie fühlte etwas aufstehn zwischen ihnen, das sie nicht gekannt hatte, und von dem sie wußte, daß es da nicht sein durfte. Dasselbe junge Mädchen, das eben noch trotzig der Mutter zugerufen hatte: »Dann werde ich seine Frau,« bebte jetzt zurück bei dem ersten heißen Anhauch jener Welt, von der sie nur Wissen, aber kein Kennen hatte. Sie fühlte die Leidenschaft dieses Mannes, den sie liebte, an sich heranbrausen wie die Flügel eines großen, starken Vogels, und sie streckte gegen ihn bange zitternde Hände, von denen sie nicht wußte, ob sie abwehren oder festhalten wollten. Und plötzlich sah sie etwas Unverständliches, das sie entsetzte. Sie sah, wie Heinrich sich mit beiden Fäusten vor die Brust schlug, das Gesicht verzerrt, die ganze Gestalt hin und her geschüttelt wie ein Baum im Sturm. Sie selbst, fast herausgeworfen aus seinem Arm, hatte Mühe, sich aufrecht zu halten.
»Wir dürfen hier nicht bleiben,« sagte er mit brüchiger Stimme. Sie hörte eine Angst aus seinen Worten. Mit langen Schritten, wie auf der Flucht, brach er durch die Zweige. An der Flußlichtung erwartete er sie.
»Laß uns deinen Onkel aufsuchen. Françoise!«
Noch einmal zog er sie behutsamem sich, und seine Lippen, die wie Feuer brannten, rührten an ihr Gesicht. »Wirst du mich nicht vergessen? Wie bald darf ich kommen? Schreibst du oft?«
Als sie wieder mit dem Pfarrer gingen, wurde die Qual groß zwischen ihnen. Blanc machte darum ein Ende. »Hier wollen wir uns trennen,« sagte er freundlich, da sie wieder am Wiesenwege standen. »Sie möchten vielleicht noch ein wenig verweilen. Und wir werden erwartet.« Sie gaben sich die Hände. »Auf Wiedersehen.« »Au revoir.« Sie wandten sich noch einmal um, zu gleicher Zeit, aber still, wie schon ermattet von ihren Schmerzen.
Nachdem Heinrich sich noch ein paar Augenblicke sinnlos da im Walde herumbewegt hatte, ging er nach Hause, wie blind und taub durch die Straße, erwiderte mechanisch die Grüße von Théophile Schlotterbach, der eine freundliche Bewegung machte, ihn anzureden, hörte hinter sich etwas schleichen, das ganz nahe herankam, ihn anzurühren schien, das er, sich heftig umwendend, als den Pfiffer-Schang von der Sulzer Tanzdiele erkannte, sprang dann in zwei Sätzen die Treppe hinauf und warf sich aufs Bett. Dort versank er in bleiernen Schlaf. Ein paarmal hörte er Schritte an seiner Tür, meinte auch erst die Magd, dann die Tante an seinem Bett zu sehen, aber er regte sich nicht.
Als endlich die Betäubung gewichen war, stand er auf und packte sein Köfferchen, das Buch vom »Grünen Heinrich« ließ er draußen, das sollte Françoise haben. Er schrieb eine Widmung ein für sie. »Françoise Balde zum Andenken an Heinrich Hummel.« Nichts weiter, dann Tag und Jahreszahl. Er sah nach der Uhr, es war die vierte Nachmittagsstunde. Ihn hungerte, er hatte seit heute morgen nichts gegessen. Gerade als er hinuntergehen wollte, hörte er weiche Schritte auf der Treppe. Camille Bourdon trat ein, erhitzt, den Hut noch auf dem Kopfe.
»Wir haben Sie heut beim Mittagessen vermißt, mon neveu!«
Hummel murmelte etwas von »nicht ganz wohl sein«.
»Ah, ich hoffe, es ist sans importance? Man selber freilich könnt' ebenfalls die raison verliere vor exaltation. Heut in der Früh hat's geheißen, alles ist wieder in der Reih, der Hohenzollern verzichtet, und jetzt hört man wieder, das Dings mit der couronne d'Espagne ist doch noch nicht en ordre. Au contraire, ganz im Gegenteil, schlimmer als je. Das Gouvernement hat bei Ihrem König in Ems reklamiert. Versprechen soll er: kein Prinz aus seiner Familie darf prätendieren für die couronne d'Espagne. Versprechen muß er's pour maintenant et toujours. Ah, ja doch« – er duckte sich vor der Bewegung des Zorns, die Heinrich machte – »ich bin ganz Ihrer Ansicht, mein Neffe, aber que voulez-vous que j'fasse? Alle sind wütig auf den Bismarck, der uns die ganze Suppe eingebrockt hat. Im Postbüro hat man heute mittag schon von Spionen geredet, die er ins Elsaß geschickt hätte, Monsieur de la Quine machte dabei eine Grimasse nach mir hin, ich habe es wohl gesehen.«
Heinrich Hummel wies statt jeder Erwiderung auf seinen gepackten Koffer.
»Ah, Sie wollen wirklich?« Seine Miene erheiterte sich.
»Und was hat man Ihrem Abgesandten erwidert?« fragte Hummel zuletzt.
»Man sagt, König Wilhelm habe sich zuletzt geweigert, ihn zu empfangen.«
»Gut so!« Heinrich richtete sich auf, seine Augen blitzten. Camille Bourdon faßte ihn unter den Arm. »Aber nun müssen Sie endlich essen. Madame Bourdon hat ein Hammelstötzele bereitet mit Böhnchen, und der gute vol-au-vent ist auch wieder in den Ofen gestellt. Kommen Sie nur geschwind, sonst nimmt Madame es Ihnen übel. Sie ist untröstlich, weil Sie uns im Stich ließen. Und, ah, fast hätte ich vergessen« – er kramte in seinen Taschen – »ein Telegramm an Sie. Monsieur Cerf hat zu Madame Schlotterbach gesagt, wo ich vor dem Essen war, es ist von einem preußischen Offizier.«
»Nun, es ist recht angenehm, daß auch ich mein Telegramm zu lesen bekomme, wenn auch freilich erst zuallerletzt,« sagte Heinrich böse. Er öffnete. Es war die Antwort seines Onkels Bassewitz. »Man gehört jetzt nach Deutschland.« Das durchfuhr ihn. Er fühlte sich auf einmal wie berührt von einer festen Hand, die ihn fortriß von hier.
»Monsieur Cerf ist Mittagsgast bei meiner Tochter,« fuhr Bourdon fort, ohne auf das Schweigen seines Gastes zu achten, »sehr elegant, sehr gewandt in Politik. O, eine vortreffliche Akquisition!«
»Ich sah ihn heute morgen mit Madame de la Quine von der Wallpromenade kommen,« sagte Hummel. Er hatte das Bedürfnis, umsich zu beißen, seiner tiefen Erregung einen ungefährlichen Abzug zu verschaffen. Aber Bourdon schien aufs unangenehmste berührt von dieser Nachricht. Sein Gesicht wurde hochmütig.
» Il fait la cour à Madame Schlotterbach, ich kann nicht glauben, daß er sich erlaubt, fast unter ihren Augen –«
Unten war der Tisch noch für ihn gedeckt, die gute Tante umsorgte und hätschelte ihn, er mußte essen, guten Wein trinken und sich pflegen. Sie klagte, sie habe es so schwer mit der Magd. Die Soldaten wären immer noch hier. Der erste Offizier wisse nicht, was tun. Und mit den Mädels sei nicht auszukommen inzwischen.
»Wir Hausfrauen haben es sonst gern,« meinte sie, »wenn unsere Mägde sich Soldaten anschaffen, man hat sie dann sieben Jahre sicher, und sie gehen doch etwas weniger mit andern Männern.« Und das mit der Magd sei es nicht allein, gestand sie, sie habe eben auch Angst um ihren Jules in Straßburg. Er sei Verlobter von der Tochter eines Douaniers am Kehler Tor, der dort sein Häuschen und seine Äcker zwischen den kleinen Forts habe. Käme es zum Kriege mit Preußen, müßten sofort diese Besitzungen geräumt und abgerissen werden, und dann: » bonsoir la dot!«
Sie trocknete große Tränen. Aber Camille, durch Heinrichs Abreise in optimistischste Stimmung zurückversetzt, schrie sie an, wie sie so töricht sein könne, sich Sorge zu machen: »Was mich betrifft, ich habe niemals an den Krieg geglaubt, niemals.« Er puffte einem unsichtbaren Gegner triumphierend in die Seiten. Hummel, wortkarg und bleich, war schon weit, weit fort von alledem. Er fragte, wie man es einrichten könne mit seiner Abreise?
»Madame Schlotterbach erläßt Ihnen den Abschiedsbesuch!« erwiderte Bourdon königlich. Aber die gute dicke Tante hatte ihn besser verstanden. Sie schlug vor, man möge Théophile bitten, seinen Wagen anzuspannen und den Neffen zum Abendzuge nach Bollweiler zu fahren. Aber Bourdon wollte davon nichts wissen.
»Nicht so öffentlich vor aller Welt, man gibt den bösen Mäulern neue Nahrung. Nein, weißt du, was zu tun ist? Morgen in der Frühe – wir warten den hellen Tag gar nicht ab – Madame Bourdon schickt ja um fünf Uhr ihre Milchkannen auf einer charrette nach Bollweiler, wir legen ein paar Kissen hinein, Sie sitzen da weich comme chez le bon Dieu, und niemand ahnt Sie da.« »Ich fürchte mich nicht,« sagte Heinrich boshaft.
Er verabschiedete sich bald und ging auf seine Stube. Da fand er einen dicken Brief. Er erkannte die Handschrift seines Schulfreundes Krompholtz, eines verbummelten Jenenser Theologen, der kürzlich sein fünfundzwanzigstes Semester gefeiert hatte. Die ersten Seiten überflog er nur. Die Anrede brauchte seinen studentischen Spitznamen »Bienchen«.
»Wieder einmal scheußlicher Kater,« las er. Die Schilderung einer Abendsitzung mit langen Pfeifen auf dem Marktplatz folgte. »Ein Hoher Senat hat Maulkorbfreiheit beschlossen.« »Große Fahrt im Wichs, die Hunde bekränzt auf dem Rücksitz.« »Tapps und Himmelsziege rutschten aus dem Wagen.« Dann eine lustige Geschichte vom Nachtwächter, der sie mit seiner Plempe aus dem Graben am Karzerturm herausstöberte und sie feierlich anredete: »Meine Herren, wenn Sie sich betragen wie das Vieh, dann muß ich Sie auch behandeln wie das Vieh, und so fordere ich Sie hiermit die Studentenkarten ab.« Dann weiter: »Bin mal wieder tief im heulenden Elend drin. Epistel von meinem Alten, ich soll mich hinter die Bücher setzen, oder er enterbt mich. Hinter die Bücher! Schön gesagt. Die sind längst beim Juden. Lernen könnte ich sowieso nichts mehr. Beginnender Hirnschwund. Das Leben freut mich nicht, Kugel vor den Kopf, das ist das einzige.«
Hummel steckte den Brief ins Kuvert zurück. Schade um den! Er sah den breiten, fett gewordnen Menschen vor sich mit den intelligenten, aufgeschwemmten Zügen. Aber alles das schien ihm jetzt sehr fern, fast störend.
Er dachte an Françoise, und wie sie sich hineinfinden werde in das Universitätsleben in Jena mit seinen festen Regeln und Gesetzen. Ihm fiel ein, daß die Verheirateten, mochten sie noch so jung sein, nicht mehr tanzen durften, junge Mädchen dagegen noch mit dreißig Jahren, wenn sie wollten. O, wie sie lachen würden darüber, sie beide. Françoise würde anders sein als alle. Ihre Kleidung, ihre Sprache, die impulsive Anmut ihrer Bewegungen, keins von den Mädchen, die er dort kannte, hatte das so. Sie waren liebenswürdig, auch frisch vielleicht, klug, unterrichtet – o, sicher viel unterrichteter als sein elsässisches Mädchen. Keine aber war so gesund, verständig, irdisch wie Françoise, keine so natürlich in aller mädchenhaften Gebundenheit.
So saß er lange und träumte. Auf dem Tisch lag noch ein zweites Briefblatt, nach dem griff er jetzt.
»Mensch, es wird Krieg! Halleluja! Ich melde mich als Rekrut, daß Du's weißt. Bis jetzt hab' ich mich immer vom Dienen weggeschwindelt. Aber Bruder, wenn aus mir altem Sündenknochen überhaupt noch etwas Gescheites werden kann, dann ist's jetzt! Unten trällern sie ›Deutschland, Deutschland über alles‹. Jetzt soll das alte Luderleben aufhören! Jetzt hat man was, wofür man sich einsetzen kann. Vaterland! Hast Du Dir bis jetzt groß was dabei gedacht? Ich nicht! Sag' Deinen Elsässern da, erst klopfen wir den Frechlingen ihre roten Hosen aus, und dann kommen wir hinüber, Elsaß zu befreien. Sag' ihnen das.«
Hummel erhob sich. Etwas Fanfarenhaftes klang da heraus, was ihn mitriß. Dann besann er sich. Das alles war ja aber nun umsonst, der Friede wiederhergestellt, die Länder in Ruhe. Fast tat es ihm leid um all die schöne Kraft, die so nutzlos verpuffte. Auch er selbst – er war jung und liebte sein Vaterland. Das sollte man ihm nicht schelten und kränken. Seine Kräfte erproben, ein großes Kampfspiel haben!
Mit großen Schritten ging er im Zimmer auf und ab. Er las wieder durch, was der arme Krompholtz vom Elsaß gesagt hatte. Das machte ihn lächeln. Befreien von den Franzosen – nein, so stand es nun doch nicht hier! Er stockte. Aber wie stand es denn eigentlich im Elsaß? Er rief sich die Männer zurück, die er hier kennengelernt hatte, Balde, Bourdon, den Ratsschreiber, Schlotterbach, den jungen Victor Hugo. Jeder von ihnen hatte etwas Deutsches an sich gehabt, wenn auch etwa nur, wie Schlotterbach, die Sucht nach dem Fremden, alle aber fühlten sich als Franzosen. Und gern. Schon deshalb, weil es ihrer alemannisch-eigenbrötlerischen Art gefiel, in Frankreich die Besonderen zu sein. Und die Frauen? Die fühlten sich wohl alle als Französinnen. Und Françoise? Er selbst hätte sie sich gar nicht ganz als Deutsche denken mögen. Daß sie beide ihre Verschiedenheiten fühlten und sich trotzdem so eins wußten, so unentbehrlich eins dem anderen, grade das machte ihre Liebe zueinander so aller Wunder voll, so göttlich. Eine heftige Sehnsucht nach ihr überfiel ihn. Er trat ans Fenster. Es war kühler geworden. Drunten stand die Linde schon tief im Kirchenschatten, aber der Platz war leer. Eine Weile stand er da und schaute, dann griff er nach seinem Hut. Er wollte wieder nach dem Hünengrabe, da im Tannenneste sitzen, wo sie gesessen hatte.
Bei einer Bewegung, die er machte, hörte er ein leises Knistern. Er griff rückwärts nach der Tasche und fand da, mit einer Stecknadel befestigt, ein Stück illustrierte Zeitung.
Das mußte ihm der Pfiffer-Schang da angesteckt haben! Ein Witzblatt schien es. »La Prusse cane,« war die Überschrift. Daneben mit Bleistift aus dem Jargon übersetzt: »Preußen kneift.« Man sah einen Hund mit den Bartkoteletten König Wilhelms geziert, der sich vor dem Fußtritt eines kurzgeschürzten schönen Mädchens »la France« verkriecht. Diesmal ereiferte sich Heinrich nicht. Langsam zerriß er das Papier und machte sich dann auf den Weg nach dem Thurwalde.
Am Beginn des Feldweges lief ihm Victor Hugo entgegen.
»Sie sagen, du gehst fort?«
»Ich komme wieder, bald.«
Das Kind wurde rot. »Und du wirst nie vergessen, daß ich es war, der sich opferte? Nicht wahr?«
»Niemals, kleiner Vetter. Und weißt du« – er zog ihn freundschaftlich am Ohr – »du könntest mir manchmal schreiben. So von dir und von den anderen.«
Victor Hugo sah ihn unter Tränen an. Er nickte heftig. Dann zog er ein nicht sehr sauberes Taschentuch aus seiner Bluse, schnaubte sich donnernd und begann schon jetzt damit Abschied zu winken, obgleich Heinrich noch vor ihm stand. Er wedelte ihm fast ins Gesicht. Heinrich beugte sich zu ihm und küßte ihn, dann ging er schnell davon.
Mit brennenden Augen wanderte er durch die weiße, wogende Wiese, am Ufer der Thur entlang, dann an den weinenden Weiden, den zerstörten Tierfallen vorbei, quer durch das heiße Gehölz nach dem Hünengrabe. Er bog durch die Büsche und blieb, von einem süßen, wunderlichen Schauer erfaßt, stehen. Da im Tannennest am Hügel saß Françoise. Sie saß ganz ruhig da in einem weißen Kleide und hielt die Augen auf ihn geheftet. Dann stand sie auf. Er erschrak, weil sie so groß war, und vor ihrem wie durchlichteten Gesicht.
»Ich wartete hier auf dich,« sagte sie ruhig.
»Du wartetest auf mich?« Ihr Wesen war so fremd und priesterlich, daß er nicht näher zu kommen wagte.
»Ja, Heinrich, ich wußte, daß du noch einmal hierher kommen würdest, ehe du in den Krieg ziehst.«
»In den Krieg?«
Das war nicht mehr das warme blonde Kind von heute morgen, das da zu ihm sprach, etwas Frauenhaftes klang aus ihr, als sie im gleichen stillen Tone sagte: »Du weißt es also noch nicht!«
Er sah jetzt, daß ihre Augen wund und rot umrändert waren, daß sie geweint hatte.
»Françoise, Kind!« Er stürzte zu ihr hin und schloß sie, in dem Bedürfnisse zu schützen, in die Arme. Sie hob das wie in Schmerzen leuchtende Gesicht zu ihm empor. Und wieder durchrieselte es ihn, als hielte er eine fremd Verwandelte an seiner Brust.
»Das entscheidende Wort ist noch nicht gefallen,« sagte sie lebhaft, »aber der Kriegsminister hat es in das Land hinausgeschrien: Frankreich ist bereit, la France est archiprête!«
Sie ließ das Wort tönen, fast ein wenig bewußt. Ein sehr französisches Gefallen an der heroischen Geste lag darin. Heinrich empfand das dunkel.
»Also dennoch der Krieg!« sagte er absichtlich nüchtern. Er hatte Angst vor Françoises Erregung und vor seiner eigenen. Aber dann packte es ihn wieder.
»Es wird etwas Herrliches sein, etwas Großes, das wir damit erleben dürfen: die Erhebung eines ganzen Volkes.«
Sie machte sich los. »Du wirst das erleben, nicht ich.«
»Warum nicht du mit mir, Françoise?«
»Wir hier in Frankreich werden einfach in den Zeitungen lesen, wenn unsere Heere diese und jene Schlacht gewonnen haben, das wird alles sein.«
»Und wenn wir glücklicher sind als eure Soldaten? Wenn wir es sind, die siegen?«
Sie schüttelte leise und traurig den Kopf. »Frankreich ist unbesiegbar, mein armer Freund!«
»Aber wir, Françoise, wir haben eine Sehnsucht in uns, die macht stark.«
»Von welcher Sehnsucht sprichst du jetzt?«
»Elsaß wieder deutsch, und Deutschland wieder ein Kaiserreich.«
Sie strich ihm mütterlich über sein dickes blondes Haar. Tiefinnerlich hatte es sie enttäuscht, daß er von dieser Sehnsucht sprach, nicht von der seinen nach ihr, aber sie wußte das kaum.
»Mein Vater hat Auftrag bekommen,« fing sie wieder an, »die Listen für die Mobilgarde zu veröffentlichen. Man hat eine Kriegsanleihe von fünfhundert Millionen aufgenommen, die Soldaten, die wir hier erwarten, sind nach Belfort kommandiert, das Fort de Barres zu besetzen, fünfzigtausend Mann sind nach dem Camp de Châlons kommandiert.«
Bei den letzten Worten brach ihre Stimme.
»Ich ertrage es nicht,« schrie sie auf. »Du gehst fort, und nichts, nichts bleibt mir von dir. Ich will etwas in mir behalten von dir!« schrie sie verzweifelt.
Sie warf sich mit solcher Heftigkeit auf ihn, daß er schwankte. Er faßte sie fester. »Kind, Kind!« Weiter wußte er nichts zu sagen. Aber sie ließ sich nicht beruhigen, streichelte angstvoll sein Haar, seine Hände, küßte jede Stelle seines Gesichts, brannte und zitterte und krümmte sich vor Gram.
»Glaubst du nicht, daß ich auch leide?« flüsterte er. »Aber sei gewiß, ich komme zurück.«
In seiner Angst sprach er blasse, haltlose Worts. »Man wird mich nicht verwunden, ich werde an mein Mädchen denken, das auf mich wartet, das wird um mich sein, wie ein Schild.«
»Ach!« Mit einer verächtlichen Bewegung schüttelte sie das alles weg von sich. »Ich will dich nicht in den Krieg lassen,« stieß sie heraus. »So nicht! Ich bin zu dir gekommen – ich will dich!« Sie bog den Kopf zurück und flammte ihm ins Auge. »Hier bin ich,« sagte sie noch einmal rauh. Er atmete schwer. Eine fürchterliche Stille war zwischen ihnen, sekundenlang. Immer noch lag ihr Kopf zurückgebogen, ekstatisch. Weißer und weißer wurde ihr Gesicht, ihre schwarzen Augen glühten ihn an. Er preßte die Lippen zusammen in seiner Qual. Sein Flüstern klang wie Stöhnen.
»Willst du, daß ich als Ehrloser in den Krieg ziehe?«
Sie rührte sich nicht. Der Schweiß trat ihr auf die Stirn.
»Du hast versprochen, nicht ich« – erwiderte sie hartnäckig.
»Ehrlos auch gegen dich, Françoise.«
Ihre zurückgebäumte Gestalt lastete immer schwerer in seinen Armen. Eine fast unerträgliche Lust, hinzusinken, nachzugeben, glücklich zu sein, ließ ihn einen Augenblick erschlaffen. Dann hatte er sich wiedergefunden. Es war vorbei.
Françoise Balde spürte sogleich, was in dem Manne vorging, der sie im Arm hielt; sie sank plötzlich in sich zusammen.
»Mein Weib, mein Weib,« flüsterte er beschwörend. Sie lag wie eine Sterbende. Und plötzlich kam glühende Scham in ihr Gesicht, sie riß sich los, wollte hinweg, lief, strauchelte über eine Tannenwurzel und sank mit einem Wimmern zu Boden.
»Weg, geh weg!« Sie stieß fast mit dem Fuß nach Heinrich, der neben ihr kniete.
»Geh weg!« Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. »Geh weg!« sagte sie nach einer Weile wieder dumpf.
Er nahm ihr die Hände vom Gesicht und ließ sie seine Augen sehen, die voll Leid und Anbetung standen. So blieben sie lange.
»Ich muß dir danken,« sagte Françoise endlich leise. »Ich danke dir, daß du mich beschützt hast.« Ihre Lippen zuckten. Sie senkte die Augen. Dann aber beugte sie sich und küßte rasch seine Hand. Er zog seinen Arm erschrocken zurück. Sie faßte ihn aufs neue, fast versöhnlich. Hand in Hand saßen sie dann im Moose, manchmal noch ein leises Aufschluchzen in sich niederkämpfend.
»Ich gehe jetzt,« sagte Françoise endlich. »Laß uns nicht noch einmal Abschied nehmen, es ist so schwer. Wann fährst du?« fragte sie noch und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Es dauerte eins Welle, bis er antworten konnte.
»Wenn du an unserem Gäßchen vorüberfährst, sieh zum oberen Stock hinauf!« Sie war fast blind vor Tränen.
»Ich kenne das Fenster, ich sah dich letzte Nacht da stehen, im Gewitter.« Sie nickte nur. Als aber jetzt ihr Blick auf das bräutlich-weiße Kleid fiel, das sie angelegt hatte, zu diesem Wege, war es mit ihrer Fassung vorbei. Sie weinte, als solle sie zerfließen. Er stand verzweifelt neben ihr. »Bist du mir böse? Soll ich weggehen? Hassest du mich noch immer?«
Er griff nach den zwei Ähren, die sie zwischen ein paar Feldblumen im Gürtel trug. »Wenn dieses Korn zu Brot gebacken ist, essen wir es zusammen.«
»Wo? Wann?« fragte sie mutlos.
»Hier, zu unserer Hochzeit. Kopf hoch, Françoise, die Frau eines deutschen Mannes beißt die Zähne zusammen, wenn er in den Krieg zieht.«
Sie fühlte, was es ihn kostete, so zu sprechen. Wirklich preßte sie die Zahne aufeinander und versuchte ein Lächeln. Dann stand sie plötzlich auf, lief, wie in Angst, sich wieder von ihrem Jammer überwältigen zu lassen, ins Gebüsch hinein und war verschwunden. Er wartete eine Weile, horchte, rief, drang da und dort ins Dickicht, aber er sah sie nicht mehr. Da kehrte er denn zum Hügel zurück, wühlte sich tief hinein in die Tannenzweige und weinte sich satt.
Als er aufstand, war es schon spät am Abend. Dann ging er zum zweitenmal den Weg vom Thurwald nach Haus, zum zweitenmal heut den schweren Abschied in der Seele.
In der Pharmacie schlief schon alles, man hatte ihm ein kaltes Nachtessen zurechtgesetzt, die Brigitte, schlaftrunken, in Pantoffeln, schlurrte herbei. Sie würde ihn schon zur Zeit wecken, versicherte sie, er möge ruhig schlafen. Madame wäre dann auch schon auf und Monsieur würde kommen, ihm »bon voyage« wünschen. Ihm war alles recht. Er saß am Fenster und sah nach der Linde hinüber, die schweigend Wache hielt. Betäubend stieg von den Illwiesen her Heuduft in die schwüle mondlose Nacht, dazu das Surren der Grillen aus dem Garten. Beruhigt blickte er auf das Friedensfenster droben. Er hatte den guten, alten Mann da liebgewonnen.
Als Brigitte an die Tür klopfte, fuhr er ganz wirr empor. Von unten kam die rostige Stimme des Nachtwächters:
»Holt ihr Leute und laßt euch sagen,
die Glock' hat Fünf geschlagen.
Morgenrot am Himmel schwebt,
und wer den neuen Tag erlebt,
der lobe Gott den Herrn.«
Es fröstelte ihn.
Dann aber raffte er sich auf. Er fühlte sich entschlossen und kräftig. Der Gedanke an Françoise bekam etwas Feierliches für ihn. Das, was er an ihr erlebt hatte, schien jetzt maßlos und schön, wie eine Handlung von Erwählten. Er selbst kam sich dürftig vor mit seiner engen Vorsicht neben der reinen Glut ihrer Ekstase. In die banalen Hantierungen der Abreise hinein strahlte ihm ihr Bild in heiligem Feuer. Er sah wieder das helle, warme Rund ihres Antlitzes, wie es auf den flaumig hellen Wellen ihres Haares ruhte wie auf einem Kissen, und Begierde mischte sich ihm wollüstig mit der mystischen Wonne der Entsagung.
Während seine Seele dies erlebte, begab sich sein Leib in den kleinen, durch eine Glastür vom Treppenhause abgeschlossenen Küchenflur. Er wollte nach seinem Frühstück fragen.
Vielleicht wäre Heinrich Hummel nicht erstaunt gewesen, wenn jetzt ein Engel mit feurigem Schwert vor seiner Tür gestanden hätte oder ein hämischer Teufel mit roten Hosen und einer Warzennase oder der alte König, der gekommen ist, ihn in Person zu seinem Regiment zu holen, das aber, was er sah, war so unwahrscheinlich, so burlesk und unerwartet, daß man sicher nichts Besseres hatte ersinnen können, ihn zur Erde zurückzubringen. Im Küchenflur stand eine breite, weibliche Gestalt, an der es schwankte und wogte wie von Polsterkissen. Bekleidet war das Wesen mit Tollenhaube, rosageblümter kurzer Bettjacke und einem Stepprock, der wie eine Glocke abstand, dazu rote Strümpfe: Tante Amélie! In der Hand einen großen Trichter, den Rosenkranz um den Arm geschlungen, in der anderen Hand einen irdenen Wasserkrug, war sie damit beschäftigt, die großen blechernen Milchkannen, die vor ihr aufgestellt waren, ausgiebig zu verdünnen, wobei sie im Takte ihres Gießens gefühlvoll ihr Morgengebet plärrte. »Je vous salue,« schwabb – »Marie, pleine de grâces,« schwabb-schwabb – Als sie Heinrich bemerkte, machte sie einen höchst mißlungenen Versuch, den kurzen Stepprock länger zu ziehen, gab dann aber tapfer jede Beschönigung ihrer Person sowohl wie ihres Tuns auf.
»Que voulez-vous, mon neveu, ce sont les affaires.«
Und plötzlich rollten ihr große Tränen in den Krug.
»Mir isch's arg leid, daß Ihr uns verlosse, arg leid!«
Als er abfuhr, stand sie am Fenster und winkte mit einem kleinen Tuche. Onkel Camille stand unter der Haustür, zog sich aber angstvoll zurück, wenn jemand vorüberging.
Heinrich setzte sich im Wagen auf seinem Koffer zurecht. Einen Augenblick schien vom Rathausfenster oben die liebe rosige Glatze auf ihn herab, dann rumpelte er zur Illbrücke. Jetzt tat sich ihr Gäßchen auf, er sah ihr Haus, ein heller Umriß am Fenster, jetzt ein langer, grüßender Schleier, dann nichts mehr. Im schütternden Trabe ging's weiter, immer weiter weg von ihr. Heinrich nahm sich zusammen. Er blickte um. Alles schien ihm verändert. Die Zuchthausmauer leer, kein rothosiges Soldätle droben, das Bataillon war heute früh endlich abmarschiert, der Ersatz wurde erwartet. Von der Chaussee aus sah er noch einmal das braunglänzende, zierlich aufgebaute Städtchen mit seinem schlanken Kirchturm, das so lockend knusprig auf der grünen Schüssel seiner Vollwiesen stand, von weitem sah er auch den Ackerweg wieder, wo ihm zuerst Françoises blaues Kleid so tröstlich aufgetaucht war, aber das Feld war gemäht, ein heißer Wind fuhr über die Stoppeln. Als er an die Thur kam, die kühl und silbern blinkte, puffte er »Petit-Singe« in den Rücken: »Plus vite, plus vite.« Sehnsüchtig folgte er dem wildkrummen Geläufe des Flüßchens bis hinauf, wo er Françoises Wald wußte. Er malte sie sich aus, wie sie als kleines Kind sich vor dem Schratzmännchen gefürchtet hatte, das da des Elsaß alte goldene Schätze hütet. Er sah es hocken, ihr treues Wichtlein, und wachen und schützen. Und unwillkürlich nahm es die Züge des Alten vom Rathausfenster an. Denn, ja freilich gab es zu wachen und zu schützen hier im Elsaß über halbversunkenem, gutem, deutschem Schatzgold. Er fühlte ein Zucken der Tatkraft in allen Gliedern. Sein Herz schlug wie eine Wünschelrute, die Edelmetall spürt unter weichem, blühendem Grund.
Der Wagen polterte weiter. Am Horizont vorn hob sich eine Staubwolke, die abziehenden Soldaten. Man hörte Musik, heiter, tanzartig. Hummel sah dem allen fast teilnahmlos zu. Flüchtig fiel ihm ein, daß er diesen Soldaten dort vielleicht bald einmal im Kampfe gegenüberstehen würde. Aber das alles war noch nebelhaft, er vermochte sich keine festen Vorstellungen davon zu formen. Er tastete nach der Kornähre, die er in seiner Brusttasche trug. Françoise bewahrte die andere.
Und jetzt löste sich dahinten, wo die Soldaten marschierten, etwas ab, eine zweite kleinere Wolke. Sie wogte und wankte und trennte sich endlich vollständig von dem Soldatentrupp, aus dem es unruhig wehte und blitzte. Dann rannten sie heran, Mädel aller Art. Sie hielten sich an den Händen, armschaukelnd kamen sie daher. Sie waren mitgetrabt mit ihren »bien-aimés«, an der Mühle hatten sie umkehren müssen. Ein paar weinten noch, ein paar lachten. Eine blieb stehen und schrie wie in Krämpfen: »Jetz isch er fort, d'r Schorschi, un i g'sieh 'ne nie meh'.« Immer aufs neue. Die anderen suchten sie zu trösten. Eine, da sie nun dicht am Milchwagen waren, warf Heinrich Kußhände zu. Das Französlein auf dem Lenksitz machte eine täppische Bewegung mit beiden Händen, als fange er die Küsse auf und führe sie dann zum Munde. » Ah, ah, ça fait du bien! Halte là, ma belle, Monsieur het kei Zit für's Karressiere, Monsieur reist ab. Mais le p'tit singe, le voilà.«
Er machte eine burlesk einladende Bewegung. Die Lachende warf ihm eine kleine Birne ins Gesicht, an der sie eben geknabbert hatte. »Do häsch, sale bête, un meh' gits net!«
Die Untröstliche aber hörte auf mit Lamentieren, sie kam heran. Sich mit dem Handrücken die Augen wischend, schwänzelte sie näher. Sie strich an dem Kleinen vorbei. »Uf'm Wall ce soir, gell?« »Petit-Singe« grinste. Eben läutete es zur Frühmesse. Die beiden faßten sich wieder an und liefen davon. Heinrich sah ihnen nach, wie sie unter dem grauen Himmel dahineilten, halb weinend, halb lachend, während ihnen aus den Stoppelfeldern die Krähen schreiend entgegenflogen.
Er richtete sich auf. Gerade und fest stand er im Wagen, den Blick nach dem Lande hin gerichtet, das ihn rief, dem er gehörte. Dann wandte er sich. Noch einmal sah er zurück auf das Elsaß, von dem er nun Abschied nehmen sollte.
»Ich werde wiederkommen« – sagte er laut – »wiederkommen, um mir mein Eigentum zu erobern.«