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In dem kleinen französischen Badeorte Gérardmer strömte unbarmherzig der Regen über den Girlandenschmuck der Häuser und Plätze, den man in der frühesten Morgenstunde angebracht hatte. Er zerblätterte die großen Papierblumen zwischen ihrem Tannengrün, tropfte auf das pompös geschnörkelte »R F« (»République Française«) der Flaggen und zerweichte die blau-weiß-roten Fähnchen der Kinder, die singend und lachend durch die Straßen sprangen, immer mitten hinein in die regengefüllten Pflasterlöcher, deren Inhalt sich als Schmutzkaskade über die Kleider der Vorübergehenden ergoß. Naß und eifrig unter ihren Regenschirmen schrien die Leute dann lustig auf. Sie nahmen die Sache weiter nicht schwer. Jedermann war fest entschlossen, heute bei Laune zu bleiben, heute am Feste des »Quatorze Juillet«.
Frankreich feierte den Gedenktag des Bastillensturms, nun zum vierundzwanzigsten Male, seit ihn die Dritte Republik im Juli 1871 wieder eingeführt und zum Nationalfest erhoben hatte; feierte ihn jedesmal gleich vergnügt und ausgiebig, aber ohne besondern patriotischen Überschwang. Man nahm den Tag einfach als Anlaß, sich in der sonst festlosen Sommerzeit wieder einmal zu amüsieren. Selbst die Pariser elegante Welt, die alljährlich sorgfältig den populären Freilufttänzen und lärmenden Umzügen dieses Tages aus dem Wege reiste, rechnete den vierzehnten Juli mit ein in ihre ländlichen Zerstreuungen.
So sah man auch heute hier in aller Morgenfrühe elegante Equipagen durch die triefende Straße fahren und am Hôtel du Lac anhalten, empfangen von dem in Blau und Gold pompös gekleideten Portier. Man sah schmale dunkelgekleidete Herren, von Kopf zu Fuß ein einziger blanker Strich, die ihren Damen aussteigen halfen und sie dann am Arme unter dem Schirme des Portiers die Steintreppe hinaufführten. Die Damen waren gleichfalls dunkel gekleidet, mit großen Ballonärmeln, die vielgebogenen Strohhütchen kunstvoll auf den hohen Frisuren befestigt. Zierlich und souverän schritten sie einher, schon im voraus die Lippen zum Lachen gewölbt, Neugier und Spott in den Augen.
In der Grand' Rue entwickelte sich unterdessen ein fieberhaftes Schaffen. Die Schaufenster schmückten sich mit teuern Unnützlichkeiten, schöngeordnet und mit Preistafeln auf farbigem Papier erklärt. Zwischen Torten und Wäsche saßen Kätzchen und blinzelten. Schulschwestern mit ihren Kindern, wie verregnete Hennen mit ihren Küchlein, zogen nach dem Wald, sich Grün für die Kränze zu holen. Geistliche machten mit ihren Schülern Arrangierproben für den Fackelzug heute abend. An den Hotels, der Bank, dem Kasino arbeiteten Burschen in Blusen, die Gasröhrchen zu Buchstaben oder Sternen bogen, und Frauen mit Kleistertöpfen gingen umher, die Plakate frisch anzukleben, aus denen Wind und Regen Ballettröckchen für die Affichensäulen gemacht hatte. Nun hingen sie wieder grade und verkündigten das Programm des Festes:
Und das Roulettespiel sei für Nachmittag und Abend dieses Festtages freigegeben. So war das Programm.
Und jetzt wurde auch der Regen durchsichtiger. Es klärte sich auf. Sofort veränderte sich das Bild. Man stellte Stühle vor die Tür; auf den Balkons der Hotels und an den tief hinabreichenden Fenstern sah man die Damen, wie sie ihre Schleier, Hüte, Mäntel in die Sonne breiteten und sie trocknen ließen.
Die kleinen weißen Villen, die sich, halb im Grün versteckt, den Berg hinaufziehen, steckten Flaggen heraus, man öffnete die Türen zum Garten.
Vor einer dieser Villen stand soeben ein junger Mann und läutete an der Gitterpforte des Vorgartens. Hübsch, elegant, die Zigarre im Munde, eine schmale Reisetasche in der Hand, wartete er eine Weile, dann, wie einer, der hier zu Hause ist, griff er mit der Krücke des Regenschirms über das grünumwachsene Mäuerchen zu einem Apfelbaum hinauf, dessen tiefere Zweige er schüttelte, so daß unter einem Tropfenregen einige frühgelbe Früchte herabfielen. Er bückte sich danach, sammelte sie in der behandschuhten Linken und biß vorsichtig, um die Made darin nicht zu treffen, hinein. Dann schüttelte er enttäuscht den Kopf. »Sieh da,« rief er einer Alten zu, die braun, krumm und mager in ihren weiten Kleidern den Kiesweg herankam, »sieh da, Louison, ich mache einen mißglückten Versuch, den Geschmack meiner sechs Jahre wiederzufinden.« Damit warf er übermütig die angebissenen unreifen Früchte über die Gittertüre.
Louison, die jetzt erst den Besucher recht erkannte, stieß einen Schrei aus. »Ah, Monsieur Paul.« Sie hastete vorwärts mit jener Eile der Greise, die sich ihnen wie Blei an die Glieder hängt, ihre zitternden Arme vorausschickend.
»Sind meine Eltern schon eingetroffen aus Thurwiller?« fragte der junge Mann.
»Madame und Monsieur Füeßli kommen erst mit dem Zuge um elf Uhr.«
Sie öffnete jetzt. »Man sieht Sie also endlich, Monsieur. Wir erwarteten Sie schon gestern, aber Monsieur kam natürlich nicht. O, dieses Paris! Ah ja! Es hält die jungen Leute fest mit seinen Kletten« – wobei sie das Wort gebrauchte, das in ihrer Klasse die Klette sowohl wie die käuflichen Weiber bezeichnet. »Man kennt das, ah la jeunesse, la jeunesse!«
Paul Füeßli lachte wohlklingend. »O, welche Schelterin sie noch immer ist, diese Mère Louison. Aber der kleine Säugling von früher, er ist groß geworden, er hat jetzt einen Schnurrbart bekommen, fühle nur« – und während er das alte Familienerbstück zärtlich umarmte, rieb er seinen Bart an ihrer Faltenwange. Sie schrie laut auf vor Vergnügen.
»Wie befindet sich meine Tante?« fragte der junge Mann, während sie dem Hause zugingen.
»Madame Dugirard ist mit ihren Enkeln in der Kirche.«
»Ah, sind also jetzt die Kinder von Madame Désirée hier zu Besuch?«
Die Alte nickte. »Diese Engelchen.«
»Und mein Onkel?«
»Monsieur ist in seiner Käserei.«
»O, dann will ich ihn nicht stören.«
Louison hatte die Tasche ergriffen, sie ins Haus zu tragen.
»Wir haben Ihr früheres Zimmer für Sie bereitet, Monsieur Paul.«
Der aber blieb im Garten, schüttelte nachdenklich und langsam den Regen aus den dicken Köpfen der Rosen, Stock für Stock, und blickte dann hinunter zur Stadt, auf die blauen, platten Schieferdächer der öffentlichen Gebäude, die wie Seen glänzten, auf die bunte Herde der Ziegeldächer, die sich um sie herumdrängten, und auf die kleinen Schindeldächer, die sich weiter im Tal in Grün vergruben. Er wandte sich zum Kirchhof, das Efeudunkel der alten Kapelle wieder zu begrüßen; eben jetzt spiegelte sich in ihrem Rundfenster die ganz verweinte Sonne. Der junge Füeßli sah das alles mit einem gewissen gerührten Lächeln.
Er war hier zu Hause gewesen während seiner Schuljahre, die er nach dem Wunsche seiner Eltern bis zur Wiedereroberung des Elsaß durch Frankreich – einige wenige Jahre – in Frankreich verbringen sollte. So hatte ihn denn seine Tante Hortense an Stelle eines eigenen Sohnes erzogen und ihn zum willigen Werkzeuge für ihre fanatischen Revanche-Ideen zu machen gesucht.
Paul Füeßli entsinnt sich der aufregenden Fahrten nach Belfort. Wie Hortense ihn aufschauen ließ zur trotzig auf dem Felsen erbauten breiten Feste und ihm unter Tränen der Bewunderung von den Heldentaten erzählte, die im Jahre Siebzig die Besatzung vollführte. »Die ganze Nation hatte schon die Waffen niedergelegt, Paris und die Departements erklärten sich für besiegt. In diesem verlassenen Winkel des Elsaß aber ließ sich eine Handvoll Tapferer töten für die Ehre Frankreichs. Selbst die Eroberer, diese Grausamen, haben sich der Ehrfurcht nicht erwehren können, man hat den Überlebenden freien Abzug gewährt, man hat ihnen sogar ihre Waffen belassen müssen.«
Und Paul hat mitgeweint und sich geschworen, wenn er erst groß wäre, so zu sein wie diese Männer. Aber Sieger, nicht Besiegte! Und dann hatte Hortense Dugirard ihm das Denkmal von Bartholdy gezeigt, eingehauen in den Fels unterhalb der Feste. Ein wutbrüllender Löwe, die Pratze kraftvoll gerade vor sich hingestreckt, das mächtige Haupt mit dem geöffneten Maul witternd emporgerichtet, die tiefliegenden Raubtieraugen furchtbar spähend. Darunter stand: »Aux défenseurs de Belfort 1870/71«.
Eine nationale Sammlung habe das Werk bezahlt, sagte Hortense, und sie selbst habe drei Jahre auf alle Toiletten verzichtet, um eine große Summe dazu beisteuern zu können. »Und du, was tust du?« fragten ihre Augen.
Der kleine Paul hat dann einen Schauer in sich aufwallen gefühlt, halb schöne Vorsätze und halb Abneigung. Unwillkürlich und ohne sich darüber klar zu werden, wehrte er sich dagegen, schon jetzt eine Verpflichtung auf seine Schultern zu nehmen, da er noch so neugierig war auf das Leben und die Arme freibehalten wollte dafür.
Auf die Place d'Armes wurde er geführt, wo die »Quand-même«-Statue stand, eine junge Elsässerin mit ländlicher Schlupfenhaube, in deren Kleid sich, niedersinkend, ein verwundeter französischer Soldat krampft, und die das Gewehr, ehe es seiner Hand entsinken kann, entschlossen über ihn wegschreitend, auf die Schulter nimmt. Hortenses Gesicht wurde vor diesem Bilde steinern und brutal wie das der Standfigur selber.
Zuletzt ging sie mit Paul in die kleinen schmutzigen Läden der Bilderbuchhändler und kaufte die Schmähbilder auf Deutschland, die dort feilgeboten wurden: deutsche Soldaten, die kleine Kinder auseinanderrissen, an hellem Feuer brieten und verzehrten; »Prussiens«, die über die Schlachtfelder gingen und Ringfinger abschnitten, die sie an Gürteln um den Leib hängten; Kaiser Wilhelm als große Spinne inmitten eines Netzes, davor die République Française mit einem Besen, im Begriff, das Netz zu durchstoßen, und ähnliche Kindlichkeiten.
Mit solchen Bildern füllte sich seine Phantasie.
Kam er in den Ferien nach Mülhausen, wo seine Eltern damals noch im alten Füeßlischen Familienhause mit wohnten, so fand er dort an Stelle der erwarteten deutschen Grobiane und Tyrannen eine Handvoll Beamter, über deren enge Sparsamkeit, Besserwisserei und unfranzösisches Wesen Großpapa und Großmama unterhaltsam spotteten, an Stelle der elsässischen Märtyrer aber Spaßvögel, die mit blau-weiß-roten Schlipsen unter zugeknöpften Röcken patriotischen Sport trieben, Damen, die ihre Hüte mit Mohn, Kornblumen und Sternblumen besteckten, um damit die französischen Farben anzudeuten, und »kuraschiert« unter der Nase des Gendarmen damit herumwippten.
Wirklich zu Hause hat er sich in Mülhausen nie gefühlt. Seine Eltern, abhängig vom Familienoberhaupte, schienen ihm gleichfalls wie nur zum Besuche dort. Sie hatten überdies eine Art, ihn zärtlich prüfend zu betrachten, die ihm unbequem war. Er spürte es bald heraus, daß sie irgend etwas für sich selbst von ihm erwarteten, daß er ihnen irgendwie helfen sollte. Das rührte und beunruhigte ihn zu gleicher Zeit.
Dabei liebte er seine junge Mutter zärtlich. Ihr kleines weißes Zimmer, das immer aussah wie ein erwartungsvolles Mädchenstübchen, war ihm der einzig trauliche Platz des Hauses, in dem es prächtig, aber steif und zeremoniell herging, und das für Kinder kein Herz hatte. Nur wenn Françoise einmal plötzlich mit einer Leidenschaftlichkeit, die zu ihrem übrigen Wesen nicht paßte, von ihm verlangte, er solle jeden Deutschen hassen und verfolgen, sah er sie befremdet an und schwieg.
Er, der durch die Fremden noch nichts gelitten hatte, empfand im Grunde keinen Groll gegen sie.
Seinem Vater begegnete er mit altkluger Nachsicht. Ihm, den man gelehrt hatte, die französische geräuschlose Feinheit der Formen möglichst vollkommen nachzuahmen, schien Pierres naiv-fröhliche und laute Art bäurisch. Er schämte sich für ihn. Überhaupt war er ein wenig herablassend gegen das Elsaß und wurde darin bestärkt durch die andern, die gleichfalls in ihm den Franzosen sahen und ihn deshalb wichtig nahmen. Man maß an ihm eigenes Benehmen und Verhalten ab.
Da war besonders grand-papa Füeßli. Die Familie hatte sich, trotzdem sie längst in Mülhausen ansässig war, ihre Schweizer Nationalität bewahrt. Sie schickte ihre blonden, kräftigen Söhne seit Generationen nach Paris, um dort freieren Blick und Bildung zu bekommen. Auch grand-papa Füeßli war dort gewesen. Damals politischer Spötter, war er seit Siebzig blindglühender Anhänger Frankreichs, jenes Frankreichs, dessen Sitten und Anschauungen er in seiner Jugend in Paris kennengelernt hatte, und die er nun gewissenhaft seinem elsässischen Heim einimpfte. Seit dem Kriege durften selbst seine Dienstboten kein Elsaß-Deutsch mehr reden, und es war dem Alten ewiger Grund zum Spott, daß Pierre von seinem Patois nicht lassen konnte und immer wieder hineingeriet.
Grand-papa ließ sich Pauls französische Schulhefte bringen und entzückte sich an den bunten patriotisch-sentimentalen Bildern der Umschläge: Napoleon in ritterlicher Haltung vor einer jungen bittenden Frau, ein Todesurteil zerreißend. Und ähnliches. Geschwätzig erzählte er dem Knaben von glänzenden Festen, berühmten Männern und schönen Frauen, die er in Paris erlebt. Paul hörte aufmerksam zu. Er wollte auch so leben, später, wenn er erwachsen wäre. Und ganz im Tiefsten seines Herzens wünschte er dann wohl, die Deutschen möchten das Elsaß nicht wieder hergeben, dann würden die Eltern ihn in Frankreich lassen, und er könnte nach Paris gehen, schöne Frauen sehen, Feste feiern und ein berühmter Mann werden.
Dem Vater gegenüber verschwieg er freilich solche Hoffnungen. Der rechnete sicher auf den Sohn, nicht nur als Nachfolger, sondern bereits als Mitarbeiter in der Fabrik. Schon jetzt redete er mit ihm gern Geschäftliches. »Wann du emol an der Reih bisch, mon petit, do wirsch dü's besser bekumme wie di'Vatter.« Und dann, unter dem leise mißbilligenden Blick des Sohnes französisch fortfahrend: »Früher, da wir für Frankreich lieferten, waren wir Spezialität, wir konnten für unsere solide Arbeit hohe Preise fordern; jetzt haben wir die Konkurrenz mit Deutschland, das an billige Ware gewöhnt ist. Und grand-papa, der verlangt, wir sollen uns keine Mühe geben für die kurze Zeit, bis Elsaß wieder französisch geworden ist! Ich dagegen vertrete die Meinung: Wir dürfen unsern Ruf nicht schädigen, wir dürfen nicht nachlässige Gewohnheiten annehmen in unserer Produktion, sondern müssen gerade durch die Güte und den Geschmack unsrer Ware die neue Konkurrenz besiegen. Dann kann alles mit der Zeit gut werden. Aber der Kampf ist hart. Ihr müßt uns dankbar sein, ihr jungen Leute, wenn ihr nachher einfach im wieder französischen Elsaß in die Nester zurückkehrt, die wir für euch bereit hielten, Allemand malgré nous«. Und er schloß, wieder kräftiger: »Jo, 's isch kei Pläsier jetzt, mit dere neie Douangrenz', je t'assure. Dü wirsch's besser han, wenn du emol an d' Reih kummsch.« Paul hatte dann schweigend die Augen gesenkt. Genau wie bei Tante Hortenses Fanatismus und grand-papa's Spott empfand er Abwehr. Alle wollten ihn mit Beschlag belegen, jedem sollte er zur Erfüllung eines Ideals dienen. Er aber wollte vorerst einmal selber erleben. Sich noch nicht binden.
Von grand'-maman und den Tanten wurde er ausgiebig gehätschelt. Sie machten dem hübschen Buben den Hof und benutzten ihn zugleich dazu, ihnen französische Parfüms, Seifen und verbotene Romane herüberzuschmuggeln. Der Kleine plauderte gern mit ihnen, und sie lachten zusammen. Sie waren fromm, putzsüchtig und unterhaltend boshaft. Vor allem wurden die norddeutschen Damen von ihnen unbarmherzig bekrittelt. »Baumwollne Hemden tragen sie, sie tragen ihre Hüte drei Jahre, immer die gleiche Fasson. Sie verlangen beim Schuhmacher niedrige Absätze, imaginez-vous. Natürlich haben sie den Kot der Straße an ihren Rocksäumen. Sie tragen gewirkte Handschuhe, sie essen süße Obst- und Biersuppen. Sie haben nur zwei Mahlzeiten täglich, so geizig sind sie. Ihre Dienstboten bekommen nicht das tägliche Schöpple Wein. Sie arbeiten sich ab; sie begleiten ihre Männer abends in die Wirtshäuser, essen ungeheure Portionen von rohem Fleisch und stützen die Arme auf die fettigen Tische. Zu Hause haben sie den ganzen Tag ihre schreienden Kinder an ihren Rockfalten. Und wie viele Kinder sie haben! Fünf oder sechs ist das Gewöhnliche. Man kann nicht verstehen, wie es vorkommen kann, daß ein Elsässer ein deutsches Mädchen heiratet.«
»Oh, ça dépend!« Paul sah spitzbübisch drein. Er war letzten Mittwoch in der Lambertsgasse ein paar hübschen blonden deutschen Mädelchen mit Musikmappen begegnet, deren dicke Zöpfe und helle, gerade Blicke ihm so gut gefallen hatten, daß er beschloß, fortan jeden Mittwoch und Sonnabend in der Lambertsgasse Ausschau zu halten.
»In Frankreich ist alles feiner und besser als bei uns jetzt hier,« sagten die Tanten.
»Nur die Straßen schmutziger,« erwiderte Paul keck und wies auf die uniformierten Straßenreiniger, die unter Leitung eines strammen Deutschen die Gasse kehrten. Die Tanten nahmen es als Witz und lachten. Aber es war wirklich so, daß der kleine Franzose den Deutschen weniger gram war als die Elsässer daheim, die sich täglich an den Eroberern rieben.
Als Paul dreizehn Jahre alt war, übersiedelten seine Eltern nach Thurwiller, wo Pierre in Gemeinschaft mit Victor Hugo die Schlotterbachsche Fabrik übernahm. Er wollte selbständiger arbeiten können.
Von da ab fühlte Paul sich in der Heimat heimischer. Das alte Baldehaus, in dem sie wohnten, die Ländlichkeit des ganzen Wesens rund ergänzte besser und willkommener den gemütlosen Zwang des Lyzeums, als die Mülhausener Umwelt das gekonnt hatte. Auch die Eltern schienen bodenständiger dort und widmeten sich ihm mehr als früher.
Vor allem aber war es Großpapa Balde, der ihn interessierte. Paul wußte, daß die Deutschen ihn im Jahre Siebzig gefangen mitgeschleppt hatten, daß er dann am sechzehnten Februar als Abgeordneter des Elsaß im Deutschen Reichstag zu Berlin gesessen und die Verkündigung der Annexion mitangehört, sich in hohem Zorn erhoben und den Sitzungssaal verlassen hatte. Alle die anderen Abgeordneten hinter ihm her. Und er war anfangs enttäuscht gewesen über die schlichte, fast nachlässige Erscheinung dieses Helden, den er sich in beständig heroischer Attitüde vorgestellt hatte. Wenn er aber heimkehrend an dem neugebauten Gartenhaus vorbeiging, das der Alte jetzt an Stelle des niedergebrannten Pavillons bewohnte, konnte er sich niemals enthalten, hineinzugucken: »Du befindest dich gut, Großpapa?«
»Bisch net so wunderfitzig, Bub.«
Martin Balde konnte es nicht leiden, wenn man nach seiner Gesundheit fragte. Paul wußte das, brachte es aber niemals fertig, die höfliche Formel zu umgehen.
Balde saß gewöhnlich ohne Rock am Schreibtisch, Hemdärmel und Haare in gleichem Weiß. In dem Gesicht, das beim Altern ein wenig kurz geworden war, herrschten gut und spöttisch seine dunklen Augen. »Kumm numme ine, i bin gliech fertig,« sagte er und schrieb an seinen Krankenbüchern, Rezepten oder Briefen weiter. Dann faßte er den Enkel an den Schultern und stellte ihn zur Prüfung vor sich hin. » Nom de Bibbele, 'ne richtige Welsch han sie üs dir g'macht. Ah ja, m'r müeß jo Franzeesch rede mit d'r, monsieur. Unser güet alt Elsässer-Ditsch kann er net meh versteh, pas vrai?« Dabei nahm er ihn in den Arm und küßte ihn zärtlich. Dann führte er ihn wohl an Großmamas Grab im Park, sprach von dem schrecklichen Brande, von den deutschen Soldaten, die beim Begräbnis gesungen hatten, und von dem bösen, bösen Tag der Republik-Erklärung. Paul mochte davon nichts hören. »Erzähl' von den Festen beim Statthalter,« verlangte er. Er liebte es, von Glänzendem und Heiterem Berichte zu bekommen. Aber der Alte erzählte auf seine eigene Weise. Wie da immer ein paar verächtliche Windfahnen von Elsässern den Statthalter umdrängt und umschmeichelt hätten, wie der Statthalter selber die Honoratioren hofiert und auf die Geringeren im Lande, die Titel- und Mittellosen, nicht geachtet habe, so daß, schlimmer als zu französischer Zeit, Protektion und Rechtlosigkeit geherrscht. Er, Balde, hatte natürlich kein Blatt vor den Mund genommen. Einmal, ganz laut, mitten auf einem der großen Februarempfänge im Statthalterpalais hatte er seine Meinung gesagt. Er sei denn auch nimmer wieder eingeladen worden. »Un geholfe het's doch nix,« fügte er hinzu.
»Warum hast du es getan?« fragte Paul. Er hatte ein wenig Mißachtung für die Erfolglosen.
Manchmal auch stöberte er, ohne viel reden zu müssen, in Baldes Zimmer herum, in dem Bücher- und Flaschenschränke die Wände bestellten, und in dem die alten, lieben, bürgerlichen Möbel der Baldes standen.
Er entsinnt sich noch genau, wie ihm einmal ein Bildchen auffiel, das er bis dahin noch nicht gesehen hatte, die Zeichnung eines Elsässers: Eine Elsässerin und ein Knabe mit großer Werbetrommel steigen aus dem Tal empor, drunten auf allen Wegen und Nebenwegen strömen Burschen herbei, der Trommel zu folgen. »L'Alsace-Lorraine à l'Alsace-Lorraine« hieß die Unterschrift. Während er das betrachtete, trat der Alte hinzu. »G'fällt dir das, hein?«
Paul verstand wohl, daß dies eine Frage nach seinem politischen Glaubensbekenntnis bedeuten sollte. »Es ist gut gemacht,« hatte er gesagt. Da war Martin Balde der Zorn rot in die Stirn gestiegen. »Gut gemacht, gut gemacht!« Dann, in seinem alten Ledersessel sitzend, den Kopf etwas emporgerichtet, hatte er mit bebender Stimme, die plötzlich greisenhaft klang, seinen neuen Kampfspruch herausgestoßen. »Français ne puis, Allemand ne daigne, Alsacien suis.« Dabei hatte er die dunklen Augen fest auf das Gesicht des Enkels gerichtet, der schlank und rosig neben ihm stand und an seinem schmalen Kommunionsring drehte.
Paul weiß dies alles noch ganz gut. »Und wenn nun Frankreich kommt, euch zu befreien?« hatte er zuletzt gesagt.
Da hat Großpapa bitter aufgelacht. »Damit hat es gute Wege, mein Kind. Frankreich wird sich nicht um unserer schönen Augen willen ruinieren. Nein, l'Alsace aux Alsaciens, das ist das Ziel. Und sei es selbst unter deutscher Oberhoheit. Und für das« – der Greis hatte ihn an sich herangezogen und geschüttelt – »für das, mon enfant, sollsch lawe un starwe.«
Wieder einer, der die Hand auf ihn hat legen wollen, ihn auf ein Gelöbnis festhalten.
Paul hatte damals das Wort nicht gesprochen, das der Alte von ihm erwartete. Ein paar Jahre darauf ist Martin Balde gestorben.
Und dann, Elsaß war noch immer deutsch, trotz aller Prophezeiungen, ist er in das militärpflichtige Alter gekommen. Er hatte sich zu entscheiden. Stellte er sich in Thurwiller und wurde damit Deutscher, so war das ein Messerschnitt zwischen ihm und der Mülhauser Familie. Wurde er Franzose, so durfte er deutschen Boden nicht mehr betreten, seine Heimat nie wiedersehen. So oder so war Pierre Füeßli vergeblich der Platzhalter seines Sohnes gewesen.
Seine Eltern griffen in diese erste ernste Entscheidung seines Lebens nicht ein. Sie waren unter sich selber nicht eins. Vater Pierre wollte den Sohn im Elsaß behalten, quand-même, Françoise verlangte leidenschaftlich, ihn an Frankreich zu geben und ihm, wenn er dort ansässig geworden, nachzuziehen. Paul selbst war so unentschieden, daß er sein Schicksal gern an den Knöpfen abgezählt hatte. Ein Brief von Großvater Füeßli, der ihm gänzliche Enterbung in Aussicht stellte, falls er Deutscher werde, gab zuletzt den Ausschlag. Er liebte das Geld und brauchte es, hübsch und voll Appetit auf das Leben, wie er war.
So ging er nach Paris.
Tante Hortense hatte gewünscht, er solle in die französische Armee eintreten. Paul aber machte sich zum Juristen. Er fühlte keinen Beruf zum Soldatenstande. Und er konnte unmutig werden, wenn ihm nun auch hier in Frankreich das alte Lied vom »vengeur«, zu dem er bestimmt sei, gesungen wurde. Man hätschelte in der Gesellschaft förmlich den »verlorenen Bruder«, den man erlösen würde, und dessen Schicksal so poetisch war. Aber Paul fühlte nicht das Talent zum Märtyrer in sich. Und in Paris legte man freilich Kränze nieder vor der Statue der Strasbourg, man ließ bei der Internationalen Ausstellung als patriotische Anziehung Elsässerinnen im Kostüm Sauerkraut und Würstchen verkaufen, man spottete aber nach wie vor über die »têtes oarrées» und machte Lustspielfiguren aus ihnen. Und die Elsässer Familien, die an die Versprechungen der Franzosen geglaubt hatten, die in wenigen Monaten zurückkehren und »ihre Provinz« zurücknehmen würden, jammerten enttäuscht.
So zog Paul es vor, sich vorerst in Frankreich zu akklimatisieren, bemühte sich, möglichst wenig elsässisch zu erscheinen, besserte an seiner Aussprache und achtete auf seine Manieren, die er immer noch ein wenig à l'allemande wähnte.
Er hatte hierfür eine verständnisvolle Lehrmeisterin gefunden: Lucile Deveau née Dugirard, die man an den Kompagnon ihres inzwischen verstorbenen Vaters verheiratete hatte, und die, obgleich Vierzigerin, vor einem Jahre Pauls Maitresse geworden war. In ihrer amüsant-weltklugen Art lenkte sie ihn nach direkt entgegengesetzter Richtung wie Tante Hortense. Sie lachte sehr hübsch über die Exaltation alter Damen und beklagte sich, Hortense habe ihren armen Bruder Armand mit ihrem unpraktischen Idealismus fast in den Tod gehetzt.
Paul hörte ihr belustigt zu. Kam er dann nach Gérardmer, so hatte er ein peinliches Gefühl von Undankbarkeit und Saumseligkeit, das ihm die Tante, die es veranlaßte, nicht lieber machte.
So war es ihm heute nicht unangenehm, die Begegnung mit ihr noch aufzuschieben. Er sah nach der Uhr. Der Gedanke war ihm gekommen, wieder hinunterzugehen und mit der Dampftram bis zur Grenze den Eltern entgegenzufahren.
Die Grenze! Es lag eine geheime Lockung darin, nahe, ganz nahe heranzutreten ans verbotene Land, wenigstens einmal hinüberzugucken. Dann lachte er über sich selbst.
Immerhin sah er so die Eltern eine Viertelstunde früher, und es würde lustig sein, die Elsässer zu beobachten, die ja heute in Scharen herüberzogen nach Frankreich, um die fête nationale zu feiern und ihre Söhne und Verwandten zu sehen. Es hatte sich dies als förmliche elsässische Sitte herausgebildet in diesen vierundzwanzig Jahren. Man verband Gemüt, Patriotismus und Landpartie dabei. Und zwar so, daß die Patriotischen nach Belfort zogen, die Naturfrischler aber nach der Schlucht und Gérardmer.
Jungen Schritts ging er den Hügel hinab. Ein wundervoller Regenduft stieg aus dem Waldgrund, die Bäume funkelten. Auf den Wiesen sah man weiße Kleider. Man hörte Singen. Ganz nahe bei ihm, auf einem Parallelweg, durch Büsche bedeckt, sang eine alte Frau eine heitere Chanson:
»En revenant des noces
j'étais si fatiguée,
près d'une fontaine
je me suis reposée.
Ah tralala tralalalaine.«
»Tralala, tralalalaine,« sang er mit. Er war vergnügt und leicht und in Feststimmung. Auf einmal gab er sich ein würdiges Aussehen, nahm das Hütchen ab, strich über sein Haar und zog die Handschuhe glatter. Auf der Kurpromenade, die er nun fast erreicht hatte, bemerkte er, auch ihnen nun sichtbar werdend, eine junge Frau in hochmoderner Toilette, die neben einem eleganten Krankenwägelchen herging, den ein junger Bursche in Livree schob. In dem Wagen saß ein wachsbleicher, magerer Herr, Baron de la Flèche. Madame Berthe, seine Frau, war eine geborene de la Quine. Man wußte, daß ihre Mutter jahrelang die Geliebte des Barons gewesen war und diese Heirat gemacht hatte. Lucile hatte Paul in der Familie eingeführt. Es war da eine Tochter des Barons aus erster Ehe, eine reiche Erbin, die sollte er heiraten.
Korrekt und dabei doch ein winziges wenig intim, stand Paul jetzt neben dem Krankenstuhl, fragte nach Mademoiselle, die bei einer Klosterkameradin in Belgien zu Besuch war, und legte, wenn er mit dem Kranken redete, einen respektvollen Rücksichtston in seine Stimme, der seiner Frische vorzüglich stand. Madame Berthe plauderte inzwischen mit konventioneller Heiterkeit. Sie hatte die wunderschönen, feuchtblauen Augen der Mutter, die aber in ihrem schmalen resignierten Gesichtchen jede Spur von Frivolität eingebüßt hatten.
Paul sagte ihr im Weiterspazieren Komplimente über ihre Toilette, die, streng nach der letzten etwas koketten Mode, sie in ein entzückendes Blau kleidete, das bis zum Weiß hinauf sich aufhellte und in einem weißen Tüllhütchen mit Federn endete. Der gestickte blaue Tüllärmel, durch Drahtgestelle aufgespannt, ließ den schmalen weißen Arm wie ein Silberfischchen im Wasser schwimmend erscheinen. Der Sonnenschirm war eine blaue Nelke mit grünseidenen, schmalen Blättern. All dies Pikante aber und fein Aufreizende verlor seine Kraft an ihrem pensionärinnenhaft korrekten Wesen. Hätte einer sich die Zärtlichkeit genommen, genau zuzusehen, so hätte er wohl den Zug von Herbheit, fast Verachtung um ihren feinen, hübschen Mund gesehen. Die meisten aber merkten nichts davon. Sie galt als tadellos uninteressant.
Auch Paul blieb höflich und gelangweilt an der Mauer der Banalität stehen, die sie um sich herum gezogen hatte.
Sie waren jetzt bei den letzten mondänen Auktionen, die man in Paris gemeinsam erlebt hatte. Der Baron war Sammler von Illustrationen, Radierungen und sprach angeregt aus seinem unbeweglichen Gesicht heraus wie aus einer Maske über die Feinheiten der Chéretschen Plakate, in denen Blau und Orange vorherrschten.
»Ich liebe diese starken Farben,« sagte er mit schleppender Stimme. »Ein Kranker wie ich liebt alles Starke. Alles Junge und Zukunftsreiche,« fügte er liebenswürdig hinzu, indem er in seine immer noch schönen Augen eine Schmeichelei für Paul zu legen versuchte.
Paul dankte mit einer leichten Verbeugung. »Und dieses Fest, unterhält es Sie?«
»Der Baron ist der Jüngste von uns allen,« sagte Madame Berthe, »wenn es gilt, ein Vergnügen mitzumachen, sich zu putzen, Menschen zu begegnen.« Ihre Ärmel flatterten sonderbar dabei im Luftzuge. Es sah aus, als friere sie.
Der Kranke blickte sie, ohne den Kopf zu bewegen, von der Seite an. »Meine beiden Damen müssen viel entbehren,« sagte er dann leichenhaft liebenswürdig. »Mein Zustand erlaubt mir nur selten, ihren Kavalier zu spielen. Ich mache mir Vorwürfe deshalb. Auch die unschuldigen Vergnügungen meiner Tochter behindere ich. Sie ist eine so heitere Natur, Monsieur Füeßli, so dankbar für jede kleine Freude, die man ihr macht.« Wieder warf er seiner Frau einen Blick zu. Die Meinung war ein strenges: »Fahre nun du gefälligst fort darin!« Und Madame Berthe sagte lächelnd: »Ja, es ist wahr, unser Töchterchen vergißt keine Freundlichkeit, die man ihr erweist. Sie haben ihr auf der Soiree der Deveaux ein Buch empfohlen von einem gewissen Maeterlinck, es heißt ›Die Blinden‹. Ich habe es gleichfalls gelesen. Ein merkwürdiges Buch. Es macht traurig und glücklich zugleich.«
Sie wurde rot im Bewußtsein, von sich selbst gesprochen zu haben und dabei das nützliche Thema »Tochter« zu vernachlässigen. »Aber ich ertappe mich darauf, selber ein wenig im Stile Ihres Buches zu reden, während ich doch nur ...«
Aber Paul hatte Angst. Er wollte selber werben, wenn er erst mit sich im reinen war, nicht sich einfangen lassen. »Sie haben recht,« sagte er. »das Buch ist schön. Es ist ein wenig niederländisch-mystisch. Aber vielleicht tut der wachsamen französischen Spöttischkeit ein Zuguß solcher Träumerei nicht schlecht?«
»Was mich betrifft, ich bin für das Greifbare,« sagte der Baron. Unwillkürlich rundete er die noch bewegliche linke Hand dabei, als fasse er verwegen. Er drehte mühsam den Kopf. Ein paar hübsche Radlerinnen führten ihre Velos den Berg hinauf. Sie waren in Sammethöschen und hatten gefärbtes Haar.
Inzwischen war das Leben des kleinen Bades völlig aufgewacht, überall flutete bunt und von Lachen überschwirrt die Masse Vergnügter durch die Straßen. Auf hohen Schuhabsätzen stöckelnd die Bourgeoisen, die am frühen Morgen schon ihre Ohrbrillanten trugen, Bauern vom Lande in kurzen Jacken und langschößigen Röcken, die Frauen künstliche Blumen am Vortuch. Alle waren Mitspieler, keiner Zuschauer. Vor den Auslagen der Geschäfte standen sie und bewunderten Waren und Ankündigungen. Paul ging immer noch mit Madame Berthe hinter dem Krankenstuhl her. Er hatte noch Zeit, wollte, wohlerzogen, die Tante am Kirchausgang begrüßen.
Sie kamen an den Hauptplatz, auf dem eine Negerin, grell aufgeputzt, den Leuten Reklamezettel für einen Zahnarzt zusteckte. Die elsässische Brasserie Gyß hatte ein Bübchen entsandt, das allem, was nur ein wenig unfranzösisch aussah, seine papierne Lockung in die Hand steckte. » Aux Français de coeur,« schrie er dazu, »'s isch f'r die, wo im Herze franzeesch bliewe sin.« Auch Paul erhielt einen Zettel von ihm. Er wurde rot. Sah man ihm wirklich noch den Elsässer an?
»Man würde Sie einen Belgier glauben,« sagte Madame Berthe, die ihn erriet, beschwichtigend. Der Baron erkundigte sich nach Hortense. »Une femme digne, je la respecte de tout mon coeur«.
Jetzt fingen die Glocken an zu läuten, voll, feierlich. Paul verabschiedete sich und eilte zur Kirche, deren Türen bereits geöffnet waren. An ihm vorbei hastete die alte Louison mit den kleinen Paletots der Kinder. Es sei nach dem Regen frisch geworden, die Kleinen könnten sich erkälten.
Hortense war unter den ersten, die herauskamen. Paul betrachtete sie. Sie sah alt aus. Ihr Körper, immer magerer und härter werdend, schien nur noch ein achtlos ungeschmücktes Behältnis zu sein für den Feuerfluß ihrer Seele, der sich im Glanze ihrer Augen verriet. Ihr Gang, mit dem sie jetzt auf ihn zukam, war heftig und ruckweise, wie gestoßen.
Die ersten Begrüßungen mit ihrer falschen Lebhaftigkeit von beiden Seiten, ihren Fragen und Antworten waren vorbei. Hortense, ruhelos wie immer, drängte zum Hauptplatz, die »grande revue« nicht zu versäumen. »Die Kinder müssen es sehen.«
Die kleine Eugénie, Tütü genannt, machte fromme Augen, während das Bübchen, als Abkürzung von grand-frère »Granfe« genannt, unverhohlen der Negerin zustrebte und große Lust bekundete, sich Zuckerschlangen und Dragantpüppchen zu kaufen. Aber die Großmutter zog ihn mit sich fort.
Die Parade verlief nicht sehr feierlich. Schmuck genug freilich sahen die Offiziere in ihren elegant sitzenden Uniformen aus. Ihr kurzschrittiges Marschieren hatte etwas Lustiges und Graziöses. Voll Verve zogen die Soldaten an ihrem Colonel unter den Klangen des Sambre-et-Meuse-Marsches vorüber. Scharen junger Mädchen begleiteten die Soldaten und summten im Walzertakt die Klänge mit. Hier und da wurde in einer Ecke des Platzes von Kindern und Erwachsenen nach der Musik getanzt.
Der blasse, verdrossen an Hortenses Hand dahertrippelnde Granfe wurde plötzlich von einem Soldaten gegriffen und mitgenommen im Zuge. »Hé, l'ami, ta graisse ne te pèse pas trop, par exemple.« Die alte Louison hielt dem Kleinen das Händchen und trabte mit. Sie nickte eifrig. » Ben oui, le soldat,« und zum Kleinen weiter in ländlichem Französisch:
»Qu'est-ce que je te disais toujours, mon vieux? Si tu ne manges pas, tu ne seras pas fort, si tu n'es pas fort, tu ne te marieras pas. Voilà.«
Das kleine Französlein erhob bei dieser Aussicht ein jämmerliches Geschrei und bat und flehte, er wolle dennoch heiraten. Tütü aber, einen Dreimaster aus Papier auf dem Kopf, den ihr Louison gemacht hatte, marschierte mit glühenden Bäckchen nebenbei und sang aus Herzensgrunde sehr falsch den Marsch mit. »C'est ça,« sagte sie befriedigt. Hortense wandte sich unaufhörlich zu ihrem Neffen zurück. »Nun, was sagst du? Ist es schön, ist es erhebend, Franzose zu sein? Möchtest du vielleicht lieber mit den Deutschen ihren Kaisersgeburtstag feiern drüben im Elsaß? Sie tun es nicht wie ein Vergnügen, wie eine Arbeit tun sie es. Und wie sie dann schreien, ces rustres.« Sie schüttelte sich vor Ekel.
Wenn sie mich doch lassen wollte, dachte Paul. Zu patriotischen Aufgaben war immer noch später Zeit, wenn er seine Karriere gemacht hatte! Er sah nach der Uhr. Hortense nickte. »Ja, ja, geh' nur, sonst kommst du zu spät; die Dampftram nach der Schlucht muß jeden Augenblick abgehen. Leider haben wir ja die Eisenbahn dorthin noch nicht. Sie ist uns seit zehn Jahren versprochen ...«
Die Fahrt zur Grenze war genußreich, trotz des Stoßens, Pfauchens und Übelriechens der Dampfbahn, die man zum Empfang der Elsässer mit Grün, Lilien und Fähnchen geschmückt hatte. Paul war der einzige Fahrgast.
An den großen Waldseen, an denen er entlang fuhr, wimmelte es von buntgekleideten Menschen. Schon jetzt, kurz nach dem Kirchgang, sah man die Jugend verliebt Arm in Arm in die stilleren Seitenpfädchen hineinschlüpfen, während die stattlichen Straßburger, Kolmarer und Mülhauser Madames geputzt und selbstbewußt am Arme ihrer Ehemänner oder Galans dahinwogten. Eine Reihe épiciers, alle in weißen Festwesten, bildete mit amüsanter Silhouette eine Bogenornamentik von Frühstücksbäuchlein gegen den Rasen.
Paul hatte Muße, das alles zu sehen. Die Tram ging langsam. Aber mit willigen Sinnen nahm er es nicht auf. Die französische Kleinstadt und die kleinstädtischen Bourgeois waren ihm zuwider. Er fühlte sich Pariser bei solchem Anblick.
Nun kam er zur Schlucht. Und nun hielt die Tram. Paul stieg aus. Hüben das große französische Hotel, drüben ein deutsches Wirtshaus. Am Hotel bewegten sich elegante Leute hin und her. Sie erwarteten den Zug aus Münster, der die Elsässer bringen sollte. Die Damen hatten Lorgnetten vor den Augen und hoben ihre weißgekleideten Kinder auf die Tische, damit auch sie die Alsaciens und namentlich die Alsaciennes in ihrer Tracht sehen könnten.
Als wenn Seiltänzer kämen, dachte Paul geärgert. Er stellte sich auf der Landstraße dicht am Grenzpfahl auf. Ein Spaßvogel hatte hier einen Kreidestrich auf den Boden gezogen, auf den setzte er seine beiden Füße. Die beiden Soldaten vor ihren Schilderhäusern, der rothosige hier und der blauhosige drüben, lachten einander an. Sie waren alle zwei in Feststimmung. Neben Paul machten sich zwei junge Menschen, ihrer Aussprache nach geborene Elsässer, über die deutschen Aufschriften drüben lustig, die man von hier aus lesen konnte. »Halt, wenn die Barriere geschlossen ist«, »Rechts gehen«, »Vor Taschendieben wird gewarnt«, »Es ist verboten, die Gleise zu betreten«.
»Es ist verboten! In Deutschland ist alles verboten, was nicht erlaubt ist,« sagte der eine witzig, »in Frankreich dagegen alles erlaubt, was nicht verboten ist.« Dann plötzlich änderte sich seine Stimme. »Le voilà,« sagte er leise.
Man sah noch nichts, aber man hörte ein prasselndes Geräusch.
»Eisenbahnbauen, das verstehen sie, ces cochons,« sagte der Witzige wieder.
Der andere antwortete nicht, denn nun kam der Zug wirklich. Langsam keuchte er sich hinauf, kurz vor der Grenze anhaltend. Leute stiegen aus. In diesem Augenblick tönten von der französischen Seite her ein paar Flintenschüsse. Zwei Männer hatten sich auf dem unteren Felsvorsprung aufgestellt und feuerten Begrüßungsschüsse ab. Die Leute auf der Hotelterrasse winkten zierlich und taktmäßig mit den Taschentüchern. Die Elsässer lachten und riefen hinauf.
Dann verschwanden die Elsässer im Bahnhofsgebäude, um die deutsche Zollrevision zu durchlaufen. Auf französischer Seite gibt es das nicht heute. Man hat den Zolltisch im Freien hart hinter den beiden Grenzpfählen aufgestellt. Keine Beamten, dafür drei ländliche Musikanten mit ihren Blechinstrumenten, die einen lustigen Marsch spielen. Jetzt schwingt sich ein hoher, schöner Bursch zu ihnen hinauf, eine zusammengerollte Fahne tragend. Und da jetzt die Elsässer aus dem Bahnhofsgebäude heraustreten, lärmend und mit ihren Paketen, Tüchern, Schirmen, Kindern beschäftigt, entrollt er plötzlich die Trikolore und hält sie mit beiden Händen hoch in der Luft.
Eine plötzliche Stille ist eingetreten. Die Männer nehmen die Hüte ab. Zwei zu zweien, wie bei einer Prozession, ziehen sie unter der Fahne hindurch, die leise ihren Nacken berührt, wortlos, lautlos. Ein paar Kinder falten die Hände »Bleu, blanc, rouge,« sagt ein stiller dunkelhaariger Mensch. Mit einer linkischen, unbeschreiblich rührenden Bewegung nimmt er sein zerknittertes Filzhütchen vom Kopf und weist auf die Fahne, die leise im Winde weht.
Auch Paul fühlt Tränen in den Augen. Eine unerwartete Ergriffenheit macht ihm das Herz klopfen.
Von oben feuerte man aufs neue, aber die Ankömmlinge blieben noch stumm. Ein seltsames Pathos hatte sich auf diese bäuerlichen Gesichter gelagert und machte sie heilig-hölzern. Sie regten sich erst, als die Musikanten auf dem Tische wieder anfingen zu blasen. Die Melodie des elsässischen Trutzliedes. Sie stimmten ein:
»Vous n'aurez pas l'Alsace, la Lorraine,
et malgré vous nous resterons Français.«
Aber sie sangen mechanisch, traumhaft, ohne die Radaustimmung, die man oben auf der Terrasse von ihnen erwartete.
Und Paul begriff: Das war keine programmäßige Demonstration mehr, das war ehrliche und unwillkürliche Gemütshingabe. Der »Quatorze Juillet«, dieser froh gedankenlose Festtag der Franzosen, war den Elsässern eine heilige Sache, eine ernsthafte Erinnerungsfeier.
Jetzt waren die Ankömmlinge alle drüben.
»Un, deux, trois,« kommandierte einer. Sehr wider seinen Willen verriet sich in der scharfen, etwas gehackten Art dieses Kommandos preußischer Drill. Und wie mit preußischem Drill auch klang es scharf und geschlossen: »Vive la France!« Alle zugleich. Paul, mitrufend, fühlte sich plötzlich auf die Schulter geklopft: sein Vater, der neben ihm stand, ohne daß er es in seiner seltsamen Ergriffenheit bemerkt hätte. Auch die Mutter war da. Zärtlich umarmte sie den Sohn. »Wie man dieses Frankreich liebt,« sagte sie dann leise, »jetzt erst recht.«
Paul bemerkte mit Genugtuung, wie gut sie aussah. Die helle Seite ihres Haars hatte ein tieferes Blond bekommen, farbiger als das ihrer Jugend, das nun besser fast paßte zu den ernster gewordenen Zügen der Zweiundvierzigjährigen.
»Wie schön du bist, maman, wie elegant du dich kleidest,« sagte Paul.
»Merci.« Sie sah ihn liebevoll an, und er wieder versuchte in seinen Blick all die Bewunderung und Verehrung zu legen, die er empfand. Sogar noch etwas mehr. Denn er fühlte dunkel, daß seine Mutter etwas Besonderes von ihm erwartete, mehr vielleicht, als er ihr geben konnte. Denn Pauls Liebe zu Françoise war gar nichts anderes als die typische, unindividuelle, fast religiöse, fertig hergestellte, französische Verehrung für das Institut »Mutter« schlechthin. Wie sie mich liebt, diese arme, kleine Mutter, sagte er, wenn er an sie dachte.
»Du siehst müde aus,« sagte Françoise, »du befindest dich doch wohl? Du leidest nicht?«
»Ich befinde mich völlig wohl, maman.«
Er zog ihre Hand an seine Lippen. Noch immer sah sie ihm besorgt nach den Augen. »Ach, wenn ich dich doch nach Hause nehmen könnte, aber das darf man ja nicht.« Sie machte eine anmutige Bewegung des Zorns gegen den Grenzposten hin. Paul reichte ihr den Arm.
»Und Lucile?« fragte Françoise. »Siehst du sie oft?«
Er lachte. »Sieh da, die erste Frage von petite maman.«
Sie errötete. »Wir Mütter sind eifersüchtig, und ich verwünsche alles, was dich hindern kann, dich früh und gut zu verheiraten.«
»Aber gerade sie will mich ja immer verheiraten. Du glaubst nicht, welche Mühe sie sich gibt mit mir.«
»Ah, wirklich, sie will dich verheiraten?« Sie strahlte. »Gott sei Dank. Ich hatte schon törichte Sorgen. Aber freilich, sie ist nun auch schon eine alte Frau.«
Paul sah sie von der Seite an. Die unzerstörbare Reinheit dieses Mutterantlitzes rührte ihn. »Ma pauvre petite mère,« murmelte er zärtlich und umarmte sie aufs neue.
Pierre Füeßli trieb zur Eile. Drüben waren die Wagen bereits überfüllt. Der Zug setzte sich in Bewegung, dabei immer noch neue aufnehmend. Auf den Plattformen stießen sich die Menschen. Es war ein wüstes Gelache und Gefluche, ein Zurückfluten des elsässischen Alltags aus dem elsässischromantischen Pathos von vorhin. Pierre zog Françoise zurück, die sich noch hinzudrängen wollte.
»Bleiben wir zurück. Die Wagen kommen noch ein zweites Mal, dann ist es leerer.«
Sie standen einen Augenblick und sahen der grotesken Silhouette des Zuges nach, dem aus den Fenstern, Türen und Plattformen ein Gesträuch heftig winkender Arme und zappelnder Beine entragte.
Viele noch außer ihnen hatten zurückbleiben müssen. Sie spazierten betrachtend und wählend zwischen den Bazarbüdchen umher, die sich zu beiden Seiten des Hotels hier herunterzogen, und versickerten allmählich in dem nur für heute aufgeschlagenen Zelte der Confiserie, deren Büfettauslagen und Ankündigungen Genüsse versprachen. Die jungen Männer aber wanderten zu dem photographischen Atelier, vor dem gespenstisch ein Mannequin seine blaue, schön verschnürte Algerieruniform unter einem kopflosen Fes trug. Dort konnten sich die jungen Elsässer in französischen Uniformen photographieren lassen. Sie schickten dann die Bilder ihren Verwandten, die damit prahlten.
Die Füeßlis gingen inzwischen zum Hotel hinauf, das elegant und hell am Bergabhang stand. Auch hier alles festlich. Fähnchen waren auf den Terrassentischchen angebracht, das Karussel beweglicher Holzpferdchen wurde von den bunten Seidenröckchen der Hotelkinder, die sich darauf hin und her wiegten, dicht beblümt. Als Aufmerksamkeit für die Nachbarn jenseits der Grenze hatte man am Musikpavillon ein Menü ausgehängt, das mit »Sürkrüt et saucissons« begann.
Pierre ging, an Hortense zu telegraphieren, daß sie erst später kämen. Paul führte seine Mutter inzwischen auf die Terrasse, die ins Waldtal sah.
Es war jetzt einsam da. Die Gäste machten Toilette zum Déjeuner. Dicht neben ihnen auf deutschem Boden lag die kleine deutsche Wirtschaft, vor der vergnügt und laut redende Reisende in nicht sehr gewählter Wandertracht beim Biere saßen. Alle Männer rauchten.
Paul sah interessiert hinüber. Ah, Reichsdeutsche, die berühmten Lodenkittel.
Françoise zuckte verächtlich die Achseln. »Sie haben sich ausgerüstet wie für den Chimborasso, wahrscheinlich um den Hohneck zu besteigen. Kaum mehr als eine Stunde dauert das!«
Gerade eben kamen Hand in Hand zwei junge deutsche Mädchen vorbei mit hellen, breiten Strohhüten am Arm, die sie mit frischen Blumen besteckt hatten. Ihr Schritt war elastisch, sie redeten kinderhaft eifrig miteinander. Die jungen Gestalten, in füllenhafter Ungebundenheit springend, verschwanden im Walde.
»Pas mal,« sagte Paul, der ihnen nachsah. Ihm war, als sei ein würziger Windhauch an ihm vorbeigestrichen. Auch Françoise hatte auf die beiden drüben geschaut. »Erzähle von deinem Leben,« sagte sie jetzt.
Er lächelte. »Mein Leben! Was verstehst du darunter?«
»Deine Arbeit und deine Liebe,« sagte sie rasch.
Er sah sie verwundert an. Waren das wirklich seine wichtigsten Dinge?
Der Kellner hatte Wein und Limonade gebracht. Er wies auf einen Platz weiter seitwärts, der besser im Schatten lag. Man konnte von hier den phantastisch geformten Schluchtfelsen sehen, grün umwachsen, an einer Stelle aber nackt, Und dort, wie eine dunkle Wunde, das frisch ausgesprengte Loch des Tunnels. Paul starrte wie gebannt auf das schwärzliche Halbrund da im Felsen. Je länger er hinsah, desto mehr nahm es das Rätselhafte eines Menschenauges an. Es schien zu locken, zu versprechen.
»Da hinüber darf ich also nicht,« sagte er unwillkürlich. »Ich nicht.«
Seine Mutter sah ihn erschrocken an. »Du hast Heimweh?« Sie brauchte das deutsche Wort.
Er lächelte wieder. »Was würde das schaden? Es ist sehr hübsch, etwas zu haben, nach dem man sich eine Sehnsucht einbilden kann.«
Sie blickte noch immer ernst. »Vielleicht – wenn man gewußt hätte! Aber damals sagte man uns armen Eltern, die Franzosen könnten jeden Tag, jede Stunde zurückkommen, und deshalb ...«
»Ich weiß gut, kleine Mama, und es reizt mich wahrscheinlich auch nur das Verbotene, das darin liegt. Das Gefühl, daß man nicht darf! Einfach nicht darf.«
Françoise seufzte. »Man hat sich alles so anders gedacht!« Ihr Blick strich wie suchend über Pauls Gesicht. »So anders gedacht,« wiederholte sie. Dann schloß sie wie von der Sonne geblendet die Augen. Er sollte es nicht merken, daß er es war, der sie enttäuschte; nicht merken, daß sie ihn phrasenhaft fand, oberflächlich und lau.
Was aber diese Enttäuschung so furchtbar machte, war der Gedanke: sie selbst sei schuld an Pauls ungünstiger Seelenentwickelung. Warum hatte sie ihn von sich weg und an Frankreich gegeben!
»Was hast du, maman, du siehst auf einmal ganz blaß aus. Leidest du?« Er nahm ihre Hand. Sie entzog sie ihm schnell.
»Nein, nein, ich bin nur ein wenig müde. Du weißt, ich schließe dann gern ein Weilchen die Augen.« Und, um einen Scherz zu machen, fügte sie hinzu: »Ich sehe in mich hinein.«
Ihr Mund verzerrte sich. O ja, sie sah in sich hinein! Jäh und grausam war ihr, während sie hier saß, die Antwort gekommen auf ihr Warum von vorhin.
Warum sie Paul an Frankreich gegeben hatte? O, nicht um seinetwillen. Nicht um ihn glücklicher, besser dadurch zu machen. Nein! Sich selbst hatte sie erlösen wollen vom Deutschtum. Lösen von der Kette der Erinnerungen. Das ist's gewesen. Wie die Sünderin, die zu ihrer eigenen Entsühnung ihr Kind dem Kloster gelobt, hatte sie ihren Sohn dazu benutzen wollen, sich zu reinigen und zu entlasten.
Sie hörte neben sich Paul plaudern und gab mechanisch Antwort, immer mit gesenkten Augen, während sie rang mit dieser neuen grausamen Erkenntnis.
»Ja und ist es denn ein Wunder,« sagte Paul, »wenn man gern an seine Kindheit zurückdenkt?« Er hatte die Empfindung, er müsse mit seiner Mutter sentiments reden, dürfe sie nicht von Boulevard und Café unterhalten.
»Mit Rührung erinnere ich mich der reizenden Landpartien da in eurem Elsaß, die wir in meinen Ferien miteinander unternahmen. Die altväterischen Walzer auf den Tennen, die drolligen alten Dreispitze. Ich sehe sie noch vor mir, die Männer in ihren langen Röcken und die Mädchen in ihren kurzen. Ah, und das Biertrinken oder der blonde, kühlsaure Wein, der so erfrischt. Euer naives Patois. Kurz, alles, was ihr da drüben habt, scheint mir entzückend.«
Überdem war Pierre herangekommen. Er hatte die letzten Sätze gehört. »Nichts von alledem, was du da lobst, haben wir noch drüben, mein armer Paul,« sagte er, während der Sohn den Wein einschenkte. »Alles das ist verschwunden. In den Tonnen versucht man sich in französischen Tänzen. Die Frauen haben ihre alte Tracht verlassen und kleiden sich städtisch. Elsaß-Deutsch spricht keiner aus den guten Familien mehr auf der Straße. Man halt das für unpatriotisch. Nur das Volk spricht noch sein Patois.«
»Und du bist jetzt zufrieden mit dem Geschäft?« fragte Paul. »Früher, ich entsinne mich, klagtest du oft.«
Pierre Füeßli zuckte die Achseln. »Unsere Gefühls – nun ja – die muß jeder mit sich abmachen. Immerhin – man hat damals nicht wegziehen wollen. Man hat darauf gerechnet, wieder französisch zu werden, nun muß man sich aus den gegebenen Verhältnissen das Beste herausholen. Das ist mir – ich kann es wohl sagen – geglückt. Sein Leben auf Rachehoffnungen aufbauen, ist immer unfruchtbar und führt zu Bereuungen.« Er wickelte sich dabei aufmerksam eine Zigarette.
Françoise nestelte an ihrem Schleierchen. Paul bemerkte mit Verwunderung, daß ihres Mannes Bemerkung sie erregt hatte. »Du bist also zufrieden?« wiederholte er zerstreut.
»Nicht zu schlecht. Wir haben uns auch Deutschland gegenüber bereits eine Einzelstellung erobert, wir Elsässer Textilleute. Das kommt, unsere Zeichner bewahren noch ein wenig den französischen Farben- und Formensinn, gute Tradition. Die Rokokomuster unserer Indienne haben sich überall in Deutschland eingeführt, im übrigen Reich herrscht immer bei den Fabrikanten die Angst, nur ja Neues zu bieten, immer Neues. Die Produktion tastet umher und erwirbt keine Sicherheit. Das ist es. Wir verdienen sehr hübsch. Und siehst du« – er schmunzelte – »darin sind wir vielleicht am allermeisten Franzosen geblieben, wir Elsässer, wir beten den Nutzen an.«
Paul lachte. »Und das gibt euch natürlich eine heimliche Überlegenheit über die unpraktischen Deutschen, die in die Sterne gucken, während ihnen die Häute wegschwimmen.«
»Aber so sind sie ja gar nicht mehr!« Françoise schrie beinahe. »Der Krieg hat sie zu Strebern gemacht, zu Leuten ohne Gefühl und Idealismus.«
Sie hatte das Bedürfnis, sich vor Paul auszusprechen.
Pierre legte beschwichtigend die Hand auf ihren Arm. »Sieh, wie maman galoppiert, wenn sie in die Wärme kommt,« sagte er zu Paul. Auch das Folgende sprach er zu ihm gewendet, obgleich es Antwort war für Françoise: » Maman erlebt immer noch ein wenig das Deutschland des Mittelalters, das, von dem Père Anselme ihr erzählt hat. Sie ist beleidigt, daß es nicht die derben, täppischen und kindlich gläubigen Leute von damals sind, die man zu uns herüberschickt, sondern kluge, weltläufige Männer, die ihren Weg machen wollten. Sie vergißt auch, daß es nicht das ganze Deutschland ist, das man hier bei uns kennenlernt. Wir bekommen ja nur Beamte und Militär zu sehen, aber weder ihre Handwerker noch ihre Bauern; gerade die Stände also, in denen das Volkstum immer am festesten sitzt.« Paul sah ihn verwundert an. »Wie du gerecht bist, Papa. Niemand sonst im Elsaß, scheint mir, würde es wagen, so zu reden.«
»Niemand.« Françoise nickte ihm zu. »Papa ist eben Optimist. Ich bin glücklich darüber. Wie oft hat er mich damit erfrischt!«
Pierre lachte laut. »Ich habe mir ein gewisses Deutschtum angeschafft als Beruhigungsmittel für maman.«
»So hatte ich also meinen Mann fast zum Deutschen und meinen Sohn ganz zum Franzosen gemacht,« sagte Françoise leise. Sie stand auf, da man jetzt die Tram von Gérardmer heraufkommen sah. »Man schwatzt so vieles an solchem Wiedersehenstag,« sagte sie und zog sich ihre Ärmel glatt.
Inzwischen war von Gérardmer her ein Omnibus angelangt. Eine Anzahl Leute, meist elsässische Bauern, hatten sich bereits der eben einfahrenden Tram bemächtigt, kletterten auf die Trittbretter, hingen sich an den Wagen, und so waren die Abteile wiederum überfüllt, als die Füeßlis einstiegen.
Drinnen quetschte man sich ineinander, so gut es gehen wollte. Man konnte kaum atmen. Dazu roch es nach Zwiebeln und Schweiß. Die Rosmarinsträußchen der Frauen sandten ihren Duft zwischen Lilien und Münsterkäse hinein. Viele hielten die rundgelben Käseräder uneingewickelt zwischen ihren Knien. Sie brachten sie den französischen Verwandten mit. Pierre und Paul standen. Françoise saß zwischen zwei pfeifenrauchenden, breiten Männern, die sich über sie hinweg damit unterhielten, die Weine aufzuzählen, die sie in Gérardmer in der Brassens Gyß kosten wollten, »denn daheim im Elsaß, bon soir, zitter daß d' Schwowe im Ländle sin, zitter g'rotet d'r Win net mehr rächt.«
Paul hörte zwei jungen Mädchen zu, die sich umfaßt hielten und miteinander wisperten. Die eine hatte eine bunte französische Postkarte gekauft, auf der eine Art fliegender Jeanne d'Arc mit mächtiger Siegesfahne die Fesseln einer knienden Elsässerin löste. In der Schlupfenhaube saß die französische Kokarde. »Le rêve d'Alsace« stand darunter.
Das hübsche Mädel buchstabierte an dem französischen Vers herum, der auf der Fahne stand.
»Fais tomber la chaîne avec ton épée,
o France, en tes gloires drapée.«
»Die Kart' schick i 'm Finele. Meinsch, das wird griengäl vor jalousie, wann's d'r timbre sieht üs'm Frankrich.«
Die andere, feiner und sanfter, nickte still. »Un i schreib' 'm Babbe. 'r het nit mit könne, sin Chef het'm d' permission net gawe.«
»Ah, un was isch das jetzt fir a métier, wo er het?«
»Schriewer isch er bim ditsche gouvernement, z' Stroßburg. Scho meh as zwanzig Johr.«
Die andere schwieg eine Weile. »Er verdient probablement a scheen Gald?«
Sie wartete die Antwort nicht ab. »Kiklons, Madeleine,« rief sie aufgeregt. »Jetz sin m'r driewe. Jetz het's do culottes rouge. Paß uff, 'm erschte piou-pou, wo i gsieh, fall i grad um d'r Hals, tu verras.«
»'s ganze Johr denkt m'r net an so Sach,« sagte eine ältere Frau im Stadtputz, aber mit der Bauernhaube, zu Françoise. »Awer am Quatorze Juillet, do gibt's kei Halt meh, do ziegt's eim ins Frankrich. Sie han eim viel misère g'macht in dere franzeesche Zitt, meh misère, peut-être, als m'r jetz han, wo m'r ditsch sin. Mais que voulez-vous, m'r isch jung g'si sellemol, un isch jetz alt. Sell sucht m'r halt Widder do drüwe, 's Jungsin.«
Françoise hatte sich weit zurückgelehnt. Sie war froh, nicht sprechen zu müssen. Nachdenken wollte sie. Sich klar werden.
Und da gewahrt sie denn, daß eigentlich ihr ganzes bisheriges Leben bestimmt worden ist von jener einen verhängnisvollen Minute an der kleinen steinernen Pforte zu Nancy. Ihre Ehe hat sie geschlossen im Zorn gegen den andern, ihren Sohn zum Nicht-Deutschen erzogen, um keine Gemeinschaft mehr zu haben mit jenem. Immer, bei allen entscheidenden Fragen, ist es der Gedanke an Heinrich Hummel gewesen, der sie geleitet hat.
Nicht etwa, daß sie ihn noch liebte, o nein! Die Vereinigung mit Pierre, anfangs locker und leicht zerreißlich, ist ihr nun längst zum täglich neuen Glück geworden. Ihr Herz ist voll von ihm. Aber da gab es etwas Unvergessenes zwischen ihr und dem Entwichenen. Etwas, das die Erinnerung an ihn fortwährend leidenschaftlich lebendig hielt. Er hatte sie verschmäht. Zum zweitenmal verschmäht.
Das war es. Denn alles erträgt, verzeiht und vergißt die Frau endlich; aber ungehört verdammt zu werden von einem, den sie geliebt hat, und zu dem sie ging als zu einem Liebenden – das vergißt sie nicht. Françoise hat oft gemeint, ersticken und verbrennen zu müssen an all den ungesprochenen Worten. Und dann hat sie angefangen ihm zu schreiben. Das geheime Fach ihres Schreibtisches ist angefüllt mit unabgeschickten Briefen. Sich einmal, ein einziges Mal gegen ihn aussprechen zu können, das wurde zur glühenden Sehnsucht in ihr. Und weil diese Sehnsucht ungestillt bleiben mußte, deshalb hat sie den Mann, der sich schweigend von ihr wandte, nicht vergessen; deshalb hat er ihr Leben beherrscht bis zum heutigen Tage. Heinrich Hummel ist es gewesen, der sie führte, wohin sie nie sonst gegangen wäre. Sein Schatten hat sie ins französische Lager gejagt, hat ihr den Sohn von der Seite gerissen und ihr entfremdet.
Jetzt stieg noch eine Frau ein, prustend vor Eile. Eine dicke Madame, die fast auf Françoises Knie zu sitzen kam, da der eine ihrer Nachbarn höflich aufgestanden war, um Platz zu machen. Die Frau in schwarzseidnem Schleppkleid, Filethandschuhen, Mantille und verschobenem rundem Blumenhut fing sogleich an, mit schallender Stimme zu erzählen. Ihr kleiner Sohn sei in Gérardmer im Hôtel de la Poste angestellt. Er hatte an sie geschrieben, aber malheureusement war es Französisch. Weder sie selber noch irgendeiner in ihrem Dorfe konnte das lesen. Sie bat jetzt Pierre darum, der ihr Vertrauen einzuflößen schien. Pierre nahm die Briefe und las.
Dann reichte er sie Françoise. »Unmöglich dabei ernsthaft zu bleiben,« flüsterte er ihr zu. Es war ein unverfälschtes Elsaß-Französisch, das sie zu sehen bekamen. Sie las.
»Scherarmère Dimange.
Je suis maintenant dans mon médier peudi pordier et garson dofisse en même tams, dans l'hôtel de la Poste. J'ai vain francs par moi et le casquète de pordier et de bons bésés pour longle.
de queure Rémond.«
Françoise übersetzte:
»Gérardmer Sonntag.
Ich bin jetzt in meinem Amte kleiner Portier und Laufbursche zugleich im Hôtel de la Poste. Ich habe jetzt zwanzig Franken im Monat und die Portiersmütze und gute Küsse für den Onkel.
Von Herzen Raimund.«
Der zweite Brief war so:
»Mes chèrs parents.
Je suis maintenant très sein et j'apprend très. J'espère que vous êtes aussi sein. Fait donc des chaucaula si je viens. J'aime les. Fait donc.
Votre honoré R.«
»Meine lieben Eltern. Ich bin jetzt sehr gesund und ich lerne sehr. Ich hoffe, daß Ihr auch gesund seid. Macht doch Schokolade, wenn ich komme. Ich liebe sie. Macht doch.
Euer geehrter R.«
Und der dritte:
»Chèrs parents.
Les souliers ne sont pas raison, parce que je me suis surmarché le pied. Je ne peux pas apprendre, jusque je peux marcher. J'ai feu dans la chambre et und bouteille de lit. Lucien n'a pas une et n'a pas feu. Moi, j'ai. Envoie moi du Zantihanniskumfitüre.
De queure R.«
»Liebe Eltern. Die Schuhe sind nicht recht, weil ich mir den Fuß überlaufen habe. Ich kann nicht lernen, bis ich gehen kann. Ich habe Feuer im Zimmer und eine Bettflasche. Lucien hat keine und hat auch kein Feuer. Ich, ich habe. Schickt mir Sankt-Johannis-Konfitüre.
Von Herzen R.«
»A arg scheen Schriewes,« sagte Françoise und gab der Dicken ihren Brief zurück. »Awer besser wär's halt doch, er tät Euch Elsässer-Ditsch schriewe. Gell?«
»Abah, i freu mi au so scho gnue, wann i's au net verstand. Franzeesch isch nowler. Wenn einer Franzeesch kann, isch'r un petit monsieur.« Sie glänzte vor Stolz. » Merci vielmol, madame.« Und der Brief verschwand wieder in der Pompadour.
In Tournemer und Longemer stiegen viele aus, die Füeßlis konnten nebeneinander sitzen. Erst jetzt auch konnte man aus dem Fenster sehen und die sanfte Romantik der Schluchten und Berge, die farbige Schönheit der Seen genießen.
»Wie reizend diese französischen Provinzstädtchen sind,« sagte Françoise. »Glaubt man nicht, die Zeit sei über ihnen still gestanden?«
Paul nickte. »Sie liegen da und schlafen und warten auf Paris. Das tun sie alle hier in Frankreich.«
»Es liegt etwas angenehm Träges über ihnen,« sagte Pierre, »das einem gefällt, wenn man aus der deutschen Regsamkeit kommt. Und wieder in sie zurückkehrt,« fügte er hinzu. Er lächelte wie entschuldigend. »Ich kann es nicht leugnen, man entwöhnt sich drüben bei uns ein wenig des behaglichen laisser aller. Man kann's kaum noch.«
»Das konntest du gewiß niemals,« meinte Françoise, und es klang halb wie Neckerei, halb wie Lob. Sie sah dabei auf Paul, der lässig und elegant neben dem breiten, bürgerlich wirkenden Pierre saß.
Am kleinen Bahnhof in Gérardmer warteten Armand und Hortense Dugirard. Françoise fiel es auf, wie ungleich die zwei waren. Wie aus verschiedenen Zonen. Hortense ganz in Schwarz, herbe, mager, streng, erschien weit größer als Armand, der verblüffend seinem Vater ähnlich geworden war, in hellem Vormittagsröckchen, rundbäuchig mit schwarzgefärbtem Schnurrbart und braunen, lustigen Augen. Er winkte mit beiden Händen, ganz Liebenswürdigkeit und Eifer, sagte jedem etwas Leichtes, Verbindliches, behauptete, Françoise werde immer jünger, und umspann den ganzen kleinen Trupp mit lebhaftem Gerede.
»Aux Français de coeur,« rief der kleine Laufbursche vom Gyß und steckte den Ankömmlingen seine Menüzettel zu. »Fir die, wo im Herze franzeesch bliewe sin.«
»Potage de république et boeuf à l'Alsacien,« las Pierre lachend vor.
Hortense nahm das fast übel. »Sie müssen doch fühlen, wie gut es gemeint ist, Monsieur Füeßli.« Sie zeigte an die Tür der Brasserie, an der sie eben vorüberkamen, die in großen Lettern ein elsässisches Gedicht trug:
»Dr Gyß hat si extra Müh genumme,
wil viel Elsässer annekumme.
Er sorgt, daß sie ihr Leid vergasse
dur Müsik, Tanz, Trinke un Asse.
A güeter Tropfe Bier un Win,
a finer Immis owedrin
un billig, 's isch fascht nit zu sage,
kann m'r derfille sich d'r Mage.
A einz'ger Tag franzeesche Freid
langt für a ganz Johr Schwoweleid,«
Andächtig standen die Elsässer umher und lasen. Einige drängten sogleich hinein; die Stunde des Mittagessens, das sie heute »déjeuner« nannten, hatte geschlagen. Andere zogen ihre Gesichter zum Ernst. Sie legten jetzt erst ihren, das ganze Jahr über sauber weggepackten Patriotismus an wie ein Festkleid und verlangten danach ihn spazieren zu führen.
Armand Dugirard machte auf sie aufmerksam. »Sieht man ihnen nicht das ›Gemüt‹ in jedem Schritte an? Niemals könnte man diese Leute für richtige Franzosen halten.« Er warf einen schnellen Blick auf Hortense, die mit ihrer Schwester voranging und ihn nicht hören konnte. »Sie verstehen sich nicht zu amüsieren. Entweder sie essen und trinken, oder sie beten an. Sehen Sie nur« – er wies auf eine Gruppe Kolmarer Bürger, die nachdenklich bei den Kanonen standen, die vor dem Hôtel de la Poste unter den uralten, knorrigen Linden aufgefahren waren – »sind sie nicht wie Leidtragende bei einem Begräbnis?«
Auch die anderen sahen nun hinüber. Wirklich fiel das Halbdutzend schweigender Männer deutlich heraus aus der Art der Einheimischen und der aus Frankreich Gekommenen. In ihrem rührend steifen Anstand, ihrem schwerfälligen Ernst sprach sich das Bewußtsein aus, eine heilige Handlung zu begehen. Wagte sich ein derblustiges Wort hervor, wurde es gleich wieder unterdrückt.
»Quel drôle sérieux,« sagte Armand wieder. Er ging auf sie zu. »Dites donc, messieurs, vous allez prendre racine là-bas?«
Sie grüßten ihn ernsthaft, ohne zu antworten. Da ging er lachend weiter.
»Was mich betrifft,« sagte Paul zu seinem Onkel, »ich finde, Ihr Fest bekommt einen prachtvoll pathetischen Einschlag durch den Besuch dieser Elsässer.«
»Ästhet du,« sagte Vater Pierre.
Paul wandte sich noch einmal zurück. Er hatte einen Augenblick wirklich Lust, sich den Ernsten dahinten zuzugesellen.
»Wollen wir jetzt die Käserei sehen?« fragte Armand Dugirard.
Man hatte gefrühstückt und war ins Billardzimmer gegangen, den Kaffee zu nehmen. Die Herren trieben lässig auf dem grünen Billardtuch die Bälle aufeinander, hin und wieder zu ihren Tassen zurückkehrend, die Damen saßen mit Handarbeiten am Fenster. Désirées Töchterchen hatte soeben ihre »Cloche du monastère« beendet und kehrte zu dem Kamintischchen zurück, um mit ihrem Bruder ein Bilderbuch zu besehen, das Françoise ihnen mitgebracht hatte. Lustige elsässische Bilder, denen der Verleger für die neueste Auflage statt der elsässischen Verschen mit ihren naiven Reimen französische Worte beigegeben hatte. Paul lehnte am Billard und verteidigte seinen Maupassant gegen die Angriffe von Tante Hortense, die des Dichters Unsittlichkeit leidenschaftlich bekämpfte.
»Die Unmoral kann niemals schön sein, mein Lieber, denn die Kunst soll ...«
»Wollen wir nicht jetzt meine Käserei besichtigen?« fragte der Hausherr wieder.
Hortense fuhr auf. »Mais c'est dégoûtant ça.« Sie wurde rot, da sie sich von ihrer Heftigkeit übermannt sah, und begann nervös zu lachen. »Nein wirklich, Monsieur Dugirard kennt nichts mehr als seinen Käse. Und seine Kühe sind ihm wichtiger als das ganze übrige Frankreich.«
»Sie halten also selber Kühe?« fragte Pierre freundlich, so auf die Seite des Mißhandelten tretend.
»O, nur einige.« Zutraulich wie ein Kind trat er zu ihm heran. »Die andern Kühe sind mir nur tributpflichtig. Sie gehören den Leuten im Dorfe.«
Hortense zuckte die Achseln. Sie hatte sich erhoben und machte ein paar rasche, ungeduldige Schritte ins Zimmer hinein. »Wir wollten doch die Wasserspiele am See besuchen, denke ich, und nachher das Konzert im Kasino. Glaubst du, unsere Gäste sind hierhergekommen, um sauren Käsedunst zu riechen?«
Sie ging zu den Kindern. »Habt ihr eure Aufgaben beendet? Nun gut.« Sie nahm das Bilderbuch und betrachtete es mit verschlossener Miene. Dann legte sie es beiseite. »Spielt lieber Karten, Kinder. Sie sind dieses Derbe und Bunte nicht gewöhnt,« sagte sie entschuldigend zu Françoise. In Wahrheit, aber das wußte sie selbst nicht klar, tat es ihr weh, die Reime, an denen sie sich als Kind gefreut, so verwandelt zu sehen.
Die andern hatten sich inzwischen mit Armand auf den Weg gemacht. Hinter dem Haus über einen wundgetretenen Rasen dem Wäldchen zuschreitend, kam man zu einer Anzahl Holzbaracken, noch ganz hell, wie nackt in der Sonne stehend. Ein scharfer Geruch drang daraus hervor. Armand blieb stehen und zog laut die Luft ein. »Kräftig, nicht wahr? Das ist der Laab, der die Sauermilchkäse faulen läßt.« Eine Zärtlichkeit sprach aus seiner Stimme. Seine Nase blähte sich.
Drinnen war ein gelbliches Halbdunkel. Die Fenster, oben angebracht, alle geöffnet und mit durchsichtigem Stoff verhangen.
»Es ist wegen der Fliegen. Sie fallen in Massen in die Kessel und verlangen in der gerinnenden Milch, der caillebote, unter der Presse zerstampft zu werden.« Er ging umher und strahlte vor Eifer, sprach ein paar Worte mit den Mädchen, die die Kessel säuberten oder die Milch seihten. »Jetzt kommen wir in die eigentliche fromagerie. Ich versuche eine neue Sorte. Sie gleicht dem Brie, ist aber kräftiger. Die Temperatur ist, sehen Sie, von großer Wichtigkeit. Ich denke seit langem daran, mir eine Dampfheizung anlegen zu lassen, aber Madame wünscht es nicht. So behelfen wir uns immer noch mit dem freien Feuer oder den kupfernen Kesseln da. Man muß mit dem Fahrenheit messen. Zehn bis zwanzig Grad, je nach der Sorte. Hier ist das Orléans zum Färben. In fünfzehn oder zwanzig Minuten gerinnt die Milch, in der noch die Molke ist.« Er ließ sich einen Holzlöffel reichen, schöpfte und gab den Gästen zu kosten. »Dann mischt man und füllt ab. Dann kommt die Knetmaschine. Ein kräftiges Tier, nicht wahr? Dann werden die Käse gesalzen und müssen reifen. Manche preßt man in die Form. Hier sind die Käsebretter, auf denen sie aufgereiht liegen. Ich kann oft stundenlang dastehen und sie betrachten.«
»Wie er jung ist, nicht wahr?« sagte Pierre gefällig.
Armand errötete vor Vergnügen. »O, man ist durchaus noch nicht zu Ende. Selbst wenn man nicht mehr Offizier ist. Ich gebe nicht so viel auf diese Ehre, nicht so viel.« Und er schnipste in der Richtung des Hauses zu, in dem Hortenses schwarzes Kleid sich zwischen den Blumen der Veranda bewegte.
»Man ist immer zufrieden, wenn man arbeitet,« sagte Françoise schnell.
»Das ist wahr. Sehen Sie diese kleinen runden Käse, sie sind meine Rekruten. Ich kommandiere sie. O, ich kenne jeden einzelnen, so ähnlich sie sich scheinen. Man hat genau das gleiche Vergnügen an ihnen wie an den lebendigen Soldaten. Und die gleiche Mühe.« In diesem Augenblick fiel ihm ein kleiner Bleistift aus der Tasche und bohrte sich in eins der Käschen ein. Armand zog ihn sorgfältig heraus. »Sie sind verwundet, caporal?« Und er spielte weiter. »Ihr da, ihr andern, he, was sehe ich, ihr erschreckt vor einem toten Mann? Voilà une belle affaire! Irgendeiner muß doch wohl einmal eine solche Pflaume bekommen von Zeit zu Zeit. Das ist der Krieg.«
Paul lachte herzlich. Er kannte diese Anfälle von Bubenalbernheit hinter dem Rücken der Tante. Dugirard aber ging umher, schwankend und gebläht wie ein berauschter Hahn und sang:
»C'est moi, p'tit gos' de gosse,
qui avait voulu faire la noce.«
Bedeutsam um sich blickend, wiederholte er den Refrain:
»Reprends ton petit môm' de môme,
je suis dans mon royaume«.
Françoise sah zu Boden. Ihr tat der Schwager leid, der den Narren machte, um sich nicht bedauern zu lassen. Sie hatte nicht gewußt, daß sein militärisches Mißgeschick ihm noch immer so schmerzhaft sei, und sie warf es in Gedanken Hortense vor, daß sie durch ihre Verachtung diese Wunde immer offen hielt.
»Was ist das?« fragte Paul, der sich langweilte. Er nahm ein gelbes, bastartiges Büschel vom Wandnagel.
»Das? O, das ist eine Marotte meines Melkers. Wir haben die schönsten neuesten Siebe, aber Monsieur Albert hier« – er machte eine Art vorstellende Handbewegung nach einem breiten, graubärtigen Manne hin, der in blauer Bluse am Milchkessel stand und die Temperatur maß – »Monsieur Albert läßt es sich nicht nehmen, die Milch durch solches Gewächs hindurchzuseihen. Siebenmoß nennen sie's bei ihm im Elsaß, nicht wahr, Albert?«
Albert schob die Pfeife, die er kalt rauchte, im Mund zurecht. Er lächelte nur, aber in diesem Lächeln lag eine sonderbare Melancholie. Die müde Herablassung eines Erwachsenen, der Kinder spielen läßt. Es war ein vorgeschrittener Fünfziger mit blauen, seltsam harten Augen. Alles an ihm kräftig und fast nordisch zusammengeschlossen.
Paul betrachtete ihn nachdenklich. Der Mann kam ihm bekannt vor. »Sind Sie nicht –« Er errötete plötzlich. Ihm war eingefallen, wen er vor sich hatte. Er hatte einmal in den Ferien einen Onkel Füeßli im Münstertal besucht, der dort eine Spinnerei besaß. Dort war viel davon die Rede. Der Förster sei unbeliebt, er sei Renegat. Das Wort, und wie der Onkel es aussprach, machte tiefen Eindruck auf den kleinen Paul. Ein andermal sah er den scheuen blonden Försterbuben, dem die Lehrerssöhne Steine nachwarfen. Dann einmal sah er den Förster selber, wie er stattlich mit Jagdtasche und Knüttel durch die Wälder ging. Und sah ihn ein paar Tage später vor der Schultüre stehen und auf sein kleines Mädchen warten. Als das Kind herauskam, feuerrot und verängstigt, nahm er es wortlos finster beim Händchen und zog es mit sich fort, viel zu schnell für das trippelnde und schnaufende kleine Ding. Blitzschnell fuhr Paul das alles durch die Phantasie.
Der Melker war eine Weile anscheinend ruhig vor seinem Milchbottich geblieben. Langsam quollen ihm zwei Zickzacklinien auf an den Schläfen, blau in seinem Gesicht, das im Widerschein der Holzplanken totenhaft gelb erschien. Plötzlich drehte er sich mit einem Ruck um, machte ein paar Schritte und stellte sich breitbeinig, wie drohend vor Paul auf.
»D'r Herr het racht, 's isch der Albert Schmelzle üs'm Münschtertal, d'r renégat, wo d' uniforme des eaux et forêts trage het un sich d'rno von de Prussiens als Förschter iewernemme het losse. 'm Herre isch's probablement zuwidder, daß i leb, un daß i gar widderum franzeesch worde bin? Hein? Daß i net kapütt gange bin an miner Schand? Jage mi doch widder üse vo do, stecke mi in d' prison.« Beide Hände vorgestreckt, fast schreiend stand er da, ganz außer sich.
Armand Dugirard machte eine verlegene, beschwichtigende Bewegung. »Niemand denkt daran. Albert.« Ihm war der Auftritt peinlich unbequem. Gerade jetzt, da er einmal Zuhörer gefunden hatte.
Pierre ergriff das Thermometer, das der Melker hatte in den Bottich gleiten lassen. »Wieviel Grad?« fragte er.
»Achtzehn,« gab der Melker mechanisch zurück. Aber seine Stimme war heiser, er bebte.
Paul gab dem Melker die Hand. »Ich habe Sie nicht ärgern wollen, Monsieur Schmelzle.«
Aber der Wütende hielt ihn am Rock. »Nein, Ihr sollt mi Sach höre, mon cas.« Er senkte einen Augenblick den Kopf wie um nachzudenken. »D' Prussiens sin kumme,« sagte er dann, »si han mi g'frogt, oui ou non, ja oder nein. Die wo nein g'sait han, sin furtg'jagt worde, et alors que faire? I han drei Kinder g'ha, messieurs, madame, deux fils un a Maidele, jetz sin's numme noch zwei, 's isch a fin scheen Dingele g'si, 's Margrittle.« Er lachte plötzlich auf, sah sich um und redete weiter. »Sellemol sin's drei g'si. Das wachst, ça pousse, ça veut vivre, messieurs. I ha in Frankrich a neu engagement g'sucht, jo, bon soir! Se han mi vertröschtet, i soll widderkumme in zwei Monat, in sechs. O, ces messieurs de l'administration française, die han Zitt in ihre bureaux. Awer fir so Litt wie mir, – sechs Monat ohne payement, c'est mourir de faim, tout simplement. D'rno han i mi g'frogt, ob réellement die devoirs von 'm citoyen größere importance han als die devoirs von 'm Familienvatter.« Er schwieg einen Augenblick, die Augen gesenkt, daß die Lider hell und unheimlich in dem braunen Gesicht standen.
»I han mine Wälder arg gern g'ha,« fing er wieder an, »i hätt's schier net könne iewers Herz bringe, sie zu verlosse. D'r Babbe isch Melker g'si in Metzeral, d'Muetter hat au noch g'lebt un – eh bien, ich han mi dezidiert do in d' Nocherschaft z'kumme un han die franzeesche Wälder iewernumme uf Rechnung vom ditsche gouvernement, je suis resté, i bin bliewe.« Er steckte beide Hände in die Taschen und richtete sich trotzig auf.
»Wir verstehen Euch ganz gut, Monsieur Schmelzle,« sagte Pierre beschwichtigend, »wir haben's gradso gemacht.«
Der Melker machte eine abwehrende Bewegung, »'s isch net 's glieche, Monsieur, net's glieche. Monsieur hat net Dienscht g'numme bi de Schwowe, Monsieur isch net renégat worde, Monsieur hat's net notwendig g'ha.« Er lachte wieder auf. »Z'erscht 's isch alles guet gange, 's gitt iewerall rechtschaffene Litt, même parmi les Allemands». M'r het sich ne z'beklage g'ha, 's isch wohr. Iewer d'Ditsche net, awer –« Seine Stimme nahm plötzlich etwas Wildes an, das erschreckte. »Awer d'Elsasser! Wie d'Wölf sin se um mich ummeg'schliche. Mache han se m'r jo nix könne, mir salwer, – awer mine arme Kinder! Daß se ewe net verhungere, dofir han i sorge könne, daß se ihne awer 's Lawe verleidt han mit ihrem Haß und ihrer Verfolgung – d'rgege han i nix mache könne, i han's halt üshalte müsse. Awer uf d' letscht – mi Maidele isch ins Wasser gange um das!«
Er schrie es heraus, daß die Planken bebten. »Se han's in d'r Tod g'jagt, ces messieurs, ces lâches!« – er suchte ein schrecklicheres Wort – »ces Alsaciens!« brüllte er endlich heraus. Er schüttelte beide Fäuste gegen das Gebirge hin. Man hörte seinen keuchenden Atem.
»D'rno han i mei Sach ufpackt un bin ins Frankrich kumme,« sagte er dann still, wie gleichgültig. »I han's métier vom Babbe aag'fange.«
»Und Ihre Söhne?« fragte Pierre.
»'s sin Ditsche g'si. Ihr Vatter isch jo d'r employé g'si vom ditsche gouvernement. Awer d'rno – se han's net üshalte könne mit aller Fiendschaft um se umme. Se sin furtg'loffe in d' légion d'étrangers. No, un wenn einer vo dort z'ruckkummt, so hört er d'r Kuckuck nimme lang rufe. Hinter dem kann m'r Ame sage, sell weiß m'r jo.« Seine Augen sahen jetzt geradeaus, hart, trocken, wie zu Ende geweint.
Paul trat wieder zu ihm heran. Er war erschüttert und sich selber gram darüber, denn er liebte die Selbstbeherrschung. Er sah auf seine Mutter, die still weinte, auf Onkel Armand, der gepeinigt mit dem Fuße wippte, und hörte dem Vater zu, der mit dem Melker darüber sprach, wie man ihm vielleicht seine Söhne aus der Fremdenlegion lösen könne. Und er gelobte sich selbst, sich niemals hineinzwingen zu lassen in das grauenhafte Märtyrertum inmitten des derben, schweren und fanatisierten Elsaßvolkes. Elastisch reckte er sich auf.
Ernsthaft und schweigend verließen sie alle die Baracke.
» Oh non, monsieur, mir sin jo alle zwei Alsaciens,« sagte der Melker, als ihm Pierre ein »pourboire« für die Besichtigung in die Hand drücken wollte ...
»Wie ihr lange bleibt,« sagte Hortense, »und ihr seht ganz verstimmt aus. Habe ich euch nicht prophezeit, er würde euch langweilen? Für die Wasserspiele ist es nun zu spät geworden,« fuhr sie fort. »Ich habe die Kinder mit Louison hingeschickt. Schade, ich hätte gern ihre Freude dabei mit angesehen.« Sie blickte dabei verdrießlich auf Armand. Der aber, sich geschützt und gestützt fühlend durch die Gäste, summte vor sich hin:
Reprends ton petit môm' de môme,
je suis dans mon royaume.«
Er war wieder vollkommen vergnügt.
Man beschloß, ins Kasino zu gehen zum Konzert.
Der Kasinogarten war dicht gefüllt. Auf dem Platz zwischen dem Musikpavillon und dem Gesellschaftshause saß die elegante Welt: Schloßdamen, Deputierte, Kokotten, Offiziere, Beamte, ehrbare Bürgerfrauen. Die Frauen in ihren weißen Holzstühlen waren sich trotz der verschiedenen Toiletten ähnlich durch die Gleichmäßigkeit ihrer Haltung. Alle hatten sie das rechte Bein über das linke Knie gelegt, so daß unter den dunkleren Oberröcken die Schaumwellen buntfarbiger Volants hervorbrausten. Dazwischen stand das Bein in durchsichtigem schwarzem Spitzenstrumpf. Alle machten sie es so. Denn die Provinz wagt nichts Eigenes. Sie bezieht von Paris die Eleganz von vor einigen Wochen aus ihren Modejournalen, denen sie religiös gehorsam nachfolgt. Die Herren, jetzt in Zylinder und schwarzen Röcken mit viel weißer Wäsche, beugten sich über die in ihren hoch hinaufreichenden Schnürleibern sehr gerade aufgerichteten, steifen Oberkörper ihrer Damen. Man schwatzte. Wie das Ticken von vielen, vielen kleinen Uhren klang es rhythmisch und rasch unter den roten Schattenschirmen der Zelte hervor. Dicht neben dieser Gesellschaft, oft am selben Tisch mit ihr saßen die Handwerker des Städtchens mit ihrem Besuch, Frauen ohne Hüte, Männer im Filzhut. An einem großen runden Tische prall in der Sonne sah man ganze Blumenbeete voll Fähnchen und Kokarden. Sie steckten auf den Hüten der Männer, auf den Schleifen der Frauen, sie wehten und leuchteten, sie brannten exotisch in dem starken Licht des Nachmittags. Es waren die Elsässer, die sich dort zusammengefunden hatten, viele in Landestracht. Hell blickten die Gesichter der jungen Mädchen unter den schwarzen Flügelhauben und runden Blumenhüten hervor. Verkrümmte Bäuerlein waren da mit ungeheurem violettem Regenschirm, Frauen in weiten Jacken mit eng anliegenden Samthäubchen, ein paar immerwährend essende Kinder an ihren Rockfalten. Jetzt waren sie alle lustig. Sie lachten geräuschvoll, hatten Weinkrüge vor sich stehen und schmausten ihre mitgebrachten Vorräte, die sie aus buntkarierten Tüchern hervorzogen. Die gerade aßen, waren stumm, wichtig, wie bei einer schweren Arbeit. Und die Umsitzenden achteten ihr Schweigen.
Zwei andere Elsaßtische waren noch da, Bürger mit ihren Frauen und Töchtern, Kaufleute, Lehrer, Gastwirte, Fabrikangestellte. Bei ihnen ging es gehaltener zu und stiller. Viel frische Jugend auch hier und viele nasse Mutteraugen, die beim Wiedersehen mit dem Sohne schon wieder um den Abschied weinten.
Pierre trat mit Paul einen Augenblick an solchen Tisch heran. Paul hatte den Eindruck, der Vater wolle ihn seinen Landsleuten vorstellen. Er begrüßte einen Winzer, den er kannte. »G'rotet's?« Der Winzer, eben noch von Lachen über irgendeinen Witz geschüttelt, zog ein Jammergesicht.
»Wie soll's g'rote? Vous savez, Monsieur Füeßli, sitther, daß m'r net meh zum Frankrich g'höre, sitther g'rotet d'r Win nimmeh.«
» Vous croyez, monsieur? Awer grad Ihr, les vignerons, in d'r alte Zitt han Ihr doch noch allewil d' concurrence vom Frankrich g'ha – pas vrai?« Der Alte lächelte verschmitzt. » Vous avez raison, racht han Ihr, Monsieur Füeßli. Ça ne va pas trop mal.«
Paul sah den Alten sitzen, der die Fahne geküßt hatte. Er ging auf ihn zu. Ob es ihm nicht zu viel würde, die Reise zu machen in seinem Alter?
» Je crois ben qu'non, monsieur, un bon Alsacien comme moi!«
»Sprechen Sie nur Elsässisch mit mir,« sagte Paul, weil das Männchen seine Worte suchte, erhielt aber stolz zur Antwort: »Je Vrançais, je ne boufoir allemang.« Dann aber fuhr er dennoch auf deutsch fort: Viel könne er freilich jetzt nicht mehr tun, die campagne in Afrika hätte ihn allzusehr ausgesogen, und die kleine Pension, die er von Frankreich beziehe, könne ihn nicht ernähren. »Awer, Dieu merci, fufzeh Mark han i noch d'rzu de ces cochons de Ditsche. I bin do vordem postillon g'si, driewe in Bollwiller.«
»Ah so, nun, dann habt Ihr's ja gut, Ihr nehmt von beiden!« Er war plötzlich abgekühlt.
Das Männchen nickte. » Que voulez-vous, m'r mueß lawe.«
»Sind denn gar keine elsässischen Honoratioren hier?« fragte Paul den Vater.
»Ja freilich, aber sie mischen sich zwischen die Franzosen und bemühen sich, möglichst wenig abzustechen von ihnen.«
Sie horchten nun ein wenig an den bezelteten Tischen umher. Dort sprach man von Toiletten. Ein Herr, dessen Dialekt ihn als Elsässer bezeichnete, meinte, man dürfe nur Engländer als Schneider haben, nur sie verständen ihre Kunden pariserisch anzuziehen.
»Es ist nicht bequem zu reisen,« sagte ein Herr zu einer Dame, »aber man erfährt etwas.«
»Wozu? Es ist nie angenehm zu erfahren, daß man etwas nicht weiß.«
Zwei Damen versuchten eine Kollekte anzubringen für ihre Armen. Man sprach von einer Trauung, der man beiwohnen wollte, von der Mitgift der Braut, der Karriere des Bräutigams.
Mitten in ein graziöses Potpourri herein klang jetzt abscheuliche Blechmusik. Ein Zug kam heran, etwa dreißig Blondköpfe mit blau-weiß-roten Wedeln und Fähnchen. Alle französisch gekleidet mit Käppi, Gamaschen und runden Kragen, den »Revanchemänteln«. Ihnen voran ging ein Geistlicher. Sie kamen aus Kolmar und gehörten dem unter deutschem Schütze stehenden Katholischen Jünglingsverein an. Der Geistliche, ein Blasser mit fanatischen Augen, sah sich befriedigt um. »Nous voilà enfin en France,« sagte er. Die Knaben nickten gehorsam. Es waren Kinder von elf bis siebzehn Jahren, die, wenn sie sich unbeobachtet meinten, geläufig Deutsch miteinander redeten, »Ces jeune patriots«, nannte sie der Geistliche trotzdem. Einige Damen gingen ihm entgegen und begrüßten den Trupp mit Händeklatschen. Der Geistliche dankte. Dann breitete er vor ihnen in einer kleinen Rede seine Hoffnungen und Absichten aus für das Elsaß. Die französische Sprache müsse wieder als herrschende in den Volksschulen eingeführt werden, damit es für die Knaben leichter sei, in den vornehmen Familien des Elsaß ihr Brot zu finden, deren Kultur ja rein französisch sei. Die Mädchen könnten dann als Bonnen hinübergehen nach Frankreich. Sie seien beliebt dort, weil sie billiger und gewissenhafter wären als die Franzosen.
Inzwischen waren Hortense und Françoise mit Armand wieder herangekommen. Sie hatten vergeblich nach einem freien Tisch gesucht.
Armand schielte verlangend hinüber nach dem Gesellschaftshause. »Dort spielt man Roulette.« Paul erklärte sich bereit, mit ihm hineinzugehen, und Hortense redete Pierre zu, gleichfalls von der Partie zu sein. »Dugirard verspielt sonst am Ende Frau und Enkel,« sagte sie.
Die Schwestern spazierten unterdes im kleinen Kurpark, dessen steife Anlagen, in denen bereits die Holzgerüste für das abendliche Feuerwerk standen, den kalten Eindruck einer Bühne bei Tageslicht machten und der alternden Hortense mit ihrer heftigen, an herbstliches Stürmen erinnernden patriotischen Erregung den nur allzu passenden Hintergrund gaben.
»Nun, ist es schön, wieder im Vaterland zu sein?« fragte sie beständig. »Habt ihr wirklich immer noch nicht genug von der barschen Formlosigkeit bei euch da drüben? Ich begreife nicht, wie man leben kann in einer Luft mit ›ihnen‹. Ich könnte es nicht.«
»Wir leben nicht mit ihnen,« sagte Françoise abweisend, »wir atmen unsere besondere Luft à nous.«
Eine Pause entstand.
Ein Kätzchen lief über den Weg. Françoise nahm es auf und streichelte an ihm herum. Es war, als wecke die Gegenwart der harten, strengen Schwester ein Bedürfnis nach Anmut und Hätscheln in ihr. Hortense, in irgendeinem dunkeln und bittern Bewußtsein dieses Vorganges, wurde rot. Es machte sie alt.
»Nun, und wie findest du Paul?« fing sie endlich an. »Du hast ihn lange nicht gesehen.«
»Sehr lange nicht.«
»Ist er nicht reizend? Ein vollkommener Gentleman.«
»Ja, ich glaube, das ist er.«
»Aber nicht genug Patriot, nicht wahr? Das ist es, was du sagen willst.«
Françoise fing plötzlich an zu weinen. »Ich wollte, ich hatte Paul niemals von mir gegeben. Er ist mir ganz fremd geworden, ganz unverständlich. Ich hätte ihn den Umgang seines Vaters genießen lassen sollen.«
Hortense sah sie mißbilligend an. »In der Tat, du hast nicht viel Gleichmäßigkeit in deinen Ansichten, meine Liebe.«
»Ich hätte ihn nicht fortgeben sollen,« wiederholte Françoise. »Nun ist er im Begriff ein Mensch zu werden ohne Heimat, ohne Charakter.«
»Aber, Unglückliche! Er wäre heute Prussien, dein Sohn!«
»Er wäre ein Elsässer. Wie sein Vater.«
»Ah, du willst sagen, einer, der in Behaglichkeit lebt, quand-même.«
» Quand-même! Und ich fange an zu glauben, es wäre meine Aufgabe gewesen, Liebe für die Heimat in Pauls Herz zu säen. Das hätte ihm einen Halt gegeben.«
Hortense riß sich los vom Arme der Schwester. In maßlosem Zorn warf sie die Hände hoch wie eine Frau aus dem Volke. »Säe du Liebe,« rief sie heiser, »ich aber, ich will Haß säen, Haß, Haß!« Es klang wie Rabengekrächz.
Françoise schauderte. Alles in ihr war wirr und wund. »Gehen wir hinein,« bat sie. Sie sehnte sich nach Pierre.
Sie hatten sich auf ihrem Rundgang der Rückseite des Gesellschaftshauses genähert, das sich nun hell und schloßartig vor ihnen erhob. Aus den Fenstern klang unablässiges Rufen. Jetzt verstand man: »A vos jeux, messieurs, tous vainqueurs, tous vainqueurs.«
»Armand wird gewiß schön viel verspielt haben,« sagte Hortense in gewöhnlichem Tone.
Die beiden Frauen traten ein. Der große, dunkel tapezierte Raum schien ihnen, die von draußen kamen, fast dämmerig, etwas Schwimmendes, Wiegendes, Zwitscherndes umgab sie plötzlich, warmes Duften parfümierter Menschen, seidnes Knistern, ein angenehm erregendes Klirren von Geld, ein Reiben und Rollen, dazu, gleichsam als fester Rhythmus, wieder das eintönige: »A vos jeux, messieurs, tous vainqueurs, tous vainqueurs.«
Eben jetzt als ironischer Schlußrefrain ein lauteres: »Rien ne va plus.«
Die Schwestern traten naher. Man sah jetzt genau den großen Roulettetisch, um den sich die Menschen drängten, dunkle, eifrige Silhouetten, die gegen das Fenster standen. Andere, die das Licht traf, farbig und blitzend vor Eleganz. Die Damen nahmen seltsame und hübsche Stellungen ein, sich biegend, die Arme ausstreckend, sich mit eingezogenem Leib vorbeugend, so daß sie ihre Brust, ihre kleinen Hände zeigen konnten. Ihre Toiletten, in diesem Jahre mehr für Gehen und Stehen als fürs Sitzen erdacht, kamen zur Schau und entwickelten sich. Wechselten sie den Platz, so preßten sie den Kleiderrock, ihn mit voller Hand fassend, ein wenig an die Hüfte, ihm so mehr Kürze zum Ausschreiten gebend, den zierlichen Seidenschuh zu Gesicht gestellt. Zudem gab ihnen das Spiel, das hier nicht die verzehrenden, lebenvergiftenden Leidenschaften der gewerbsmäßigen Spielhöllen zeigte, sondern mehr als gesellschaftliches Vergnügen betrieben wurde, Gelegenheit, sich naiv beutelustig zu äußern und dabei einen Schimmer jener Brutalität zu zeigen, oft vielleicht auch nur zu erheucheln, der die Männer reizt, ihnen erotische Ideenverbindungen bringt.
Die Männer selber gefielen sich meist in gelassener Haltung, zeigten sich überlegen, erfahren, als Führer und Ratgeber, gaben ihren Damen kleine Winke, kleine Tricks, redeten System.
»Sind wir nicht töricht, uns mit patriotischen Fragen zu quälen?« sagte Hortense bitter. »Sieh diese hier! Kann man sich vorstellen, daß einer dieser Menschen weint, Sorgen hat, hungrig ist oder verzweifelt? Alle sind rosig, alle lächeln. Sie gehen, als könnten sie ebensogut fliegen, wenn sie wollten, alle Schwere scheint aufgehoben. Man kann sich einen Augenblick einbilden, man sei nur dazu da, sich schön anzuziehen und zu gefallen. Das tut gut.« Sie legte wie ermüdet die Hand an die Stirn.
Françoise betrachtete sie mit scheuem Mitleid. In diesem Augenblick kam Paul heran und begrüßte sie. Er spiele nicht mehr, habe gewonnen, verloren und schließlich wieder seinen Einsatz zurückgewonnen. Nun schaue er zu. Auch Pierre beteiligte sich nicht mehr. Armand Dugirard setze für ihn weiter.
Sie sahen die beiden. Pierre ruhig, nicht ganz interessiert, Armand mit gerötetem Gesicht. Paul führte seine beiden Damen zur Baronin Flèche, die neben dem Rollstuhl ihres Mannes stand, der eifrig mitspielte.
Die drei standen eine ganze Weile da und beobachteten. Der erste Eindruck von Heiterkeit, den die Damen beim Eintreten gehabt hatten, verstärkte sich noch, als man die Gaskronleuchter anzündete. Die Stimmen brausten lauter auf, das Lachen wurde übermütiger. Das Geld klirrte heftiger.
In diesem Augenblick flammte drüben ein aus farbigen Leuchtkugeln gebildetes, riesengroßes »R F« in der Luft, sich im kleinen See wiederholend. Zugleich begann das Orchester die ersten Takte der Marseillaise, heroisch, aufreizend. Aus dem Roulettesaal, wo eben eine Runde beendigt war, drängte man ins Freie. Man wollte die programmäßige Sensation genießen. Draußen hatten sich alle Gäste erhoben. Wie mit einem Schlage. Die Männer nahmen die Hüte ab. Und als jetzt der Tenorist an die Rampe trat, die bereit gehaltene Fahne schwenkend und mit sonorer, leicht vibrierender Stimme begann: »Allons, enfants de la patrie, le jour de gloire est arrivé,« da ging ein Rauschen und Brausen der Begeisterung durch das Publikum. Man sang mit, man jauchzte. Die eleganten Damen wurden auf Stühle gehoben, um besser das Schauspiel genießen zu können. Mit ihren fein behandschuhten Händen taktierten sie lachend über der singenden Menge. Zuletzt aber wurden auch sie von dem prachtvollen Rhythmus dieser Hymne mitgerissen, und zusammen mit den andern stimmten sie in die Wiederholung des Refrains ein: »Aux armes, citoyens.«
Neben Paul stand der dunkelhaarige Bleiche, der am Morgen in Gérardmer so inbrünstig sein »bleu, blanc, rouge« geflüstert hatte. Er sang mit. Länger als alle. Jedesmal wenn der Vers zu Ende war, hörte man noch seine heisere, von Schluchzen fast erstickte Stimme, ein nachhinkendes »Enfants de la patrie« wiederholend.
Als der Gesang beendet war, stiegen die ersten Flammengarben in die Luft. Baron de la Flèche klatschte zierlich Beifall. »Reizend arrangiert, das muß man sagen.«
Unmittelbar nach der Marseillaise hörte man heftiges Läuten. Ein Diener ging umher und kündete die Tram nach der Schlucht an. An den Tischen der Elsässer begann hastiges Einpacken und der Lärm betäubend laut gesprochener Abschiedsworte, Höflichkeitsphrasen, mit bäuerlicher Feierlichkeit und Gewissenhaftigkeit hervorgeschrien, donnerten daher. Die Frauen suchten und bündelten, die Männer tranken ihre Gläser aus, die Kinder weinten. Alle schwatzten zugleich. »Zitt fir heim,« holte man und »écrivez-moi« und »au revoir à l'année prochaine«.
Rasch, ohne Anmut und Würde, machten sie sich davon.
Pierre sah ihnen nach. »Sie haben's eilig genug, ins Elsaß zurückzukommen, und welche Klagen hat man heute nicht von ihnen gehört! Gar so unglücklich, wie sie behaupten, müssen sie sich also doch wohl nicht fühlen da in ihrem Deutschland.«
Paul trat lebhaft heran. »Nicht jeden Tag, Papa! O, ich verstehe das gut. Der Alltag laßt sie eben mittrotten ohne Gedanken, bis wieder der Quatorze Juillet herannaht mit seinen lustigen und aufreizenden Melodien und seiner Marseillaise. Dann erheben sich die Ruhigen und Lässigen, dann beginnen sie ein erregtes Traumleben, dann irren sie umher unter den lustigen, leichtmütig feiernden ›Brüdern‹ und geben mit ihrer alemannischen Ernsthaftigkeit den pathetischen Einschlag zum leichten, schimmernden Gewebe des französischen Nationalfestes. So ist es.«
Er hatte, inmitten der aufhorchenden Elsässer stehend, gesprochen, die Arme rednerisch bewegt. Ein lautes »vive« ringsum erwiderte ihm. Auch die Franzosen schlugen beifällig die Hände zusammen. Man drängte sich um Françoise und beglückwünschte sie wegen ihres Sohnes.
Ein plötzlicher Regenguß störte die Szene und machte alle fliehen. Große, warme Tropfen stürzten nieder. Ohne viel Abschiednehmen stob alles auseinander. Das Kasinogebäude war schnell überfüllt von Schutzsuchenden. Armand schlug vor, dort im Speisesaal das Diner zu nehmen, aber Hortense widersprach, da sie schon zu Hause alles habe richten lassen. Auch Françoise war froh, aus dem Gewühle und Gelärme herauszukommen. So schickte man denn zur Villa um Regenschirme und ging dann durch den herrlich duftenden Abend nach Haus.
Françoise ging, eng mit Paul zusammengeschmiegt, der seine Zigarre angezündet hatte und heiter auf sie einschwatzte. »Wenn ich sie so sehe, diese braven Leute, diese Elsässer, wird mir ganz froh zumute. Wie naiv sie noch sind. Ganz aus einem Stück, ohne alles Raffinement.«
»Du findest?« sagte Françoise sanft. Sie war nicht ganz seiner Meinung, aber sie hütete sich, die beruhigende Melodie dieser Äußerungen zu unterbrechen, die ihr wundervoll gut taten.
Paul fing an von Paris zu sprechen, wie fade es auf die Dauer sei, ewig Neues zu erleben. Immer neue Erregungen sich abwechseln zu lassen. »Im Augenblick noch, ja, vielleicht, ich bin ja noch jung, aber wieviel würdiger lebt ihr doch da in der Provinz, Papa und du. Du mußt mir viel von euch erzählen. Und trägst du noch des Morgens deine reizenden kleinen Spitzentücher? Später, wenn ich erspart habe, kaufe ich mir eine Hütte auf dem Lande und okuliere Rosen. Ich träume davon. Paris degoutiert mich manchmal.«
Françoise lächelte beglückt. »Du mußt dich verheiraten, Paul. Und weißt du, es wäre mir solche Beruhigung, wenn du keine Pariserin zur Frau nehmen würdest. Am liebsten eine Elsässerin. Das wäre ein festeres Band zwischen uns und dir da in der Fremde, und die Elsässerinnen sind vortreffliche Hausfrauen.«
»Ich weiß das,« sagte er galant.
»Nein, wirklich. Sie sind in mancher Beziehung auch gebildeter als die Französinnen. Namentlich in der letzten Zeit fängt das an. Sie wollen nicht zurückstehen darin gegen die Deutschen. Und sonst – wie heiter sind sie, wie vernünftig, gesund, und was für prächtige Mütter.« Und nun kam sie mit ihrem kleinen Plan hervor. Sie wollte morgen mit ihm einen Ausflug nach Epinal hinüber machen. Madame Treumann, die einstige Virginie Schlotterbach, würde dort sein mit ihrer Tochter. »Sie hat gegen den Willen der Eltern geheiratet, einen Deutschen, der Postvorsteher ist in Thurwiller. Aber die Tochter ist reizend, noch ganz jung, kaum Sechzehn, sehr gut erzogen, mit herrlichem blondem Haar. Und ihr Vermögen von der Mutter, ich habe mich erkundigt, wird einmal beträchtlich sein. Man gibt ihr die Hälfte bereits bei der Verheiratung. Willst du?« fragte sie zuletzt.
Paul lächelte. Er sah sich auf dem Lande in einem blühenden großen Garten stehen, neben ihm eine hübsche, junge, blonde Frau, die ihn liebte.
»Nun wohl, machen wir morgen den Ausflug nach Epinal,« sagte er fröhlich.
Françoise atmete tief auf. Sie hatte ihren Sohn wiedergewonnen.
Ein bräutlicher Schimmer lag über ihrem Gesicht, als sie sich mit den andern im Eßsaal zu Tisch setzte.
Pierre sah sie forschend an. Sie nickte ihm zu. Da schenkte er sich ein gutes Glas voll Wein, wurde vergnügt und ein wenig lärmend, so daß Hortense die schmalen Brauen in die Höhe zog. Aber Françoise sah voll stiller Zärtlichkeit zu ihm hinüber. Sie hörte aus seinem geräuschvollen Lachen heraus, wie sehr ihre Traurigkeit vorhin ihn bedrückt hatte. Wie undankbar war ich, dachte sie. Eine glückliche Frau, eine glückliche Mutter, und in einigen Jahren vielleicht werde ich ein Enkelkind in meinen Armen halten. Ihre schwarzen Augen träumten ins Ferne.
Das Stubenmädchen kam herein und brachte ein Telegramm. Sie reichte es Armand, der es rasch aufriß und dann, weitsichtig, wie er war, nach seiner Brille schickte.
»Lassen Sie sehen, von wem es ist!« fragte Hortense.
Er wehrte wichtig und kokett ab. »O nein, man kann nie wissen. Ein Kavalier muß verschwiegen sein.« Er hielt das Blatt von ihr weg, so daß sie nur die Rückseite sah. Françoise, die neben ihm saß, blickte unwillkürlich hin und sah die Unterschrift: »Lucile«. Aha, von seiner Schwester, dachte sie. Uninteressiert wandte sie sich wieder dem Gespräch mit Paul und Hortense zu, die über die Schriftstellerin Marcelle Tynaire stritten. Es ging um das Buch »La maison du péché«, von dem Françoise fand, es sei ohne Tiefe und trotz aller Schilderung der Leidenschaft kühl. Paul, ohne den Roman gelesen zu haben, war voll Lob dafür. Die Verfasserin sei zur Akademie vorgeschlagen worden, ihres Geschlechtes wegen aber nicht angenommen.
Hortense flammte auf. »Ah, also auch sie ein Opfer des Mangels an Revolutionsgeist bei unserer Generation.«
Pierre verhielt sich schweigend. Er liebte die moderne französische Literatur nicht, hatte übrigens auch keine Zeit zum Lesen.
Armand hatte inzwischen seine Brille bekommen. »O, es ist gar nicht an mich,« sagte er enttäuscht. »Und ich, der ich mir schon ausmalte –« Er reichte das Telegramm an Paul, ihm vertraulich lebemännisch mit der Hand hinüberwinkend.
Paul war rasch aufgestanden und mit dem Telegramm ans Fenster getreten, obgleich es dort finsterer war als unter der Gasflamme. So, den übrigen den Rücken zudrehend, las er Luciles paar Worte: »Mon mari est parti, venez.«
»Wie schade das ist,« sagte er, zum Tisch zurückkommend. »Ich muß heute nacht noch fort. Es handelt sich um einen Prozeß, der – – «
Françoise hatte die Stirn gesenkt. Ihr Kopf dröhnte, als sei plötzlich ein ungeheurer widriger Lärm um sie herum entstanden. Sie schabte mit ihrem Löffelchen hin und her auf ihrem Teller, daß bald die lächelnden Köpfe des galanten Schäferpaares daraus hervorschauten, bald die Lämmchen. Unaufhörlich malte sie dieselben paar Buchstaben hin, die den Namen »Lucile« bildeten. Immer neu.
Armand hatte inzwischen den indicateur herbeigeholt. Er war um Paul geschäftig, als könne so ein Teil von dessen gutem Glück auch auf ihn fallen. Er nickte ihm ein paarmal zu. Wir Männer, nicht wahr? Hortense war voll Eifer, packte Früchte ein und kleine Kuchen für unterwegs und wollte wissen, ob er Aussicht habe zu plädieren.
Pierre hatte inzwischen ruhig seinen Wein ausgetrunken. »Und sie hat nicht Zeit bis übermorgen, diese Reise?« fragte er jetzt mit dröhnender Stimme. Er hatte Françoises verzweifeltes Gesicht bemerkt.
Hortense fuhr herum. »Übermorgen? Was denken Sie? Wenn sein Beruf es doch von ihm fordert.« Und zu Françoise sagte sie: »Man darf nicht zu weich sein, meine Liebe.«
Paul trat zu seiner Mutter heran und umarmte sie. » Pauvre petite maman, ich bin sehr traurig. Aber was wollt ihr – die Geschäfte!«
Françoise starrte ihn an. Armand, die Uhr in der Hand, riß ihn fort. »Beeile dich, du wirst deinen Zug verfehlen. Das Auto wartet draußen. O, keine Ursache zum Dank. Wir Männer helfen einander.« Er klopfte ihm väterlich den Rücken. Einen Augenblick des Durcheinanderredens, Ratschlägegebens, Hin- und Herlaufen mit Mantel, Mütze und Tasche, dann war Paul verschwunden. Die Herren gingen ins Rauchzimmer, Françoise hatte sich in den Erker gesetzt. Sie hätte beinahe aufgelacht, weil alles so ungereimt war. So viel unnützer Gram und so viel unnütze Freude!
Hortense trat zu ihr. Ihre trockene Hand strich zart über die weiche Wange der Schwester. »Wie du an ihm hängst, Françoise. Aber es ist nicht klug, so zu lieben. Man fordert Glück für sich, wenn man liebt. Und wir sind nicht zum Glücklichsein auf der Welt, wir Frauen von heute. Wir müssen handeln.«
In diesem Augenblick kam Pierres frisches, gutes Lachen hereingelärmt. Françoise fuhr zusammen. Dann aber lächelte sie. Ein tiefes Bewußtsein seiner Treue und Zärtlichkeit kam über sie. Sie erhob sich und trat in die Türe. Da, ohne sie zu sehen, fühlte er ihr Kommen. »Bisch müd, Maidele? Soll i dir singe: Schlof, Kindele, schlof?« Er schien zu lachen. Françoise aber sah den Blick warmen Erbarmens, den er auf sie richtete, und er rührte sie grenzenlos.
In ihrem Zimmer angekommen, war Pierre schweigend um sie bemüht. Seine starken Hände zogen ihr geschickt und zart die Nadeln aus dem Haar. Er half ihr das Kleid ablegen und in den weichen, hellen Seidenschlafrock schlüpfen, in dem sie weiß und schlank aussah wie eine junge Frau.
»Müetterle!« Er streichelte sie.
Sie fiel ihm um den Hals. »Wir haben ihn verloren, Pierre, wir haben unsern Sohn verloren.«
»Ah bah, a rachter Elsasser Büe, der kummt scho vo salwer z'ruck, et tu sais, il revientil à lui-même.«
»Aber sie verderben ihn mir, sie machen mir ihn schlecht, diese Lucile – – «
»Kei Idee, bime rachte Elsasser Bus schabt das nix.«
Sie hörte kaum darauf. »Zwei einsame alte Leut' sind wir nunmehr.«
»Meinsch?« Er stellte sich drollig unternehmend vor sie hin. »Man ist noch kein Greis, Madame.«
Sie mußte lachen. Zärtlich zupfte sie ihn an seinem dichten, jetzt leicht ergrauenden Bart. »Sie haben recht, Monsieur. Und die paar weißen Fäden da, cela vouz va à merveille.«
»Und du, Françoise?« Er faßte sie bei den Schultern und hielt sie wie ein Kunstwerk, das man betrachtet, steif von sich ab. Dann plötzlich sie an sich heranziehend, nahm er sie heiß in die Arme.
»Nein, wir sind jung, jung,« sagte er laut und zuversichtlich. »Und wir lieben uns zwei. Grad so wie am Anfang.«
»O viel, viel besser,« flüsterte sie, weich und hingegeben an seiner Brust.