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Vierter Teil

Das diesjährige Osterfest hatte dem Städtchen Thurwiller, das jetzt bereits seit drei Jahrzehnten Thurweiler hieß, nach einem warmen, knospentreibenden Februar wieder Schnee gebracht; einen lockeren, nassen Märzschnee, der tags in der Sonne zerging und einen warmen Duft von Fruchtbarkeit in die Luft schickte. Im Wäldchen blieben Grundlöcher und Bodenfalten noch weiß gefüllt, die Landstraßen aber waren bereits dunkelbreiig, von kleinen Flüssen durchzogen. Und das helle Automobil, das da eben durch das blinde, triefende Grau des kalten Vorfrühlings stieß, war bis hoch hinauf mit Schmutz bespritzt. Dennoch blieben die Leute stehen, grüßten und blickten ihm wohlgefällig nach. Man liebte in der Umgegend Baron Arvède von Meckelen, den Sulzer Schloßbesitzer, der seinen Grund und Umkreis klug in Ordnung hielt, vernünftig wirtschaftete und beriet und nach oben wie unten seinen Platz behauptete. Die Frauen lüfteten ein wenig ihre schützend über den Kopf geschlagenen Röcke, um zu lugen, ob etwa Madame Yvonne hinter den Scheiben zu entdecken wäre, mit ihren noch lichtbraunen Löckchen unter dem schwarzseidenen Kinderkäppchen, deren nußfarbene Augen so herzig dreinschauten, während sie ihr elegantes Französisch, das man nicht verstand, an einen heranschwätzte. Auch nach den vier goldhaarigen Kinderchen hielt man Ausschau. Gewöhnlich saß eins vorn beim Kutscher, und die andern drei purzelten dadrinnen umeinander, wie junge Vögel im Nest. Heute aber sah man rechts neben dem Baron, der in Schildmütze und kariertem Fahrmantel in seiner gewohnten Ecke saß, einen breitschultrigen, älteren Herrn, den man nicht kannte. Man bemerkte beim Vorüberfliegen eine goldene Brille und einen grauen Vollbart, dazu einen lehrhaft gegen die Straße gestreckten Zeigefinger.

Die Leute lachten. »Sicher'n Studierter. Halt en' Schwob.«

»Sie werden eine gute Ernte bekommen, Herr von Meckelen,« sagte drinnen im Wagen der Universitätsprofessor Heinrich Hummel aus Straßburg zu seinem Gastfreunde und wies auf die Kirschbäume am Wege. »Die Knospen, scheint mir, haben nicht gelitten durch den Frost.«

»Wer kann das sagen, Herr Geheimrat. Später Schnee freilich ist gut. Aber für die hiesige Gegend auch gefährlich, wegen der Thurüberschwemmung.«

»Ach ja, die Thur, ich weiß. Sie verändert jedes Jahr ihr Bett.« Dabei kam etwas Horchendes in sein Gesicht. So als höre er irgendwo da draußen einen Ton, eine Melodie, die ihn erinnere. Er rückte seine Brille fester. Seine Augen richteten sich mit dem scharfen Blick des Naturforschers auf die Dünste, die der Thurwald hier heraufschickte, und die, das Gebirge verhüllend, ein dunkleres Grau in den Regennebel hineinmalten.

Arvède von Meckelen merkte mit Erstaunen, wie jugendlich der gelehrte Herr aussehen konnte, wenn er lächelte. Bis jetzt hatte der Baron sich ein wenig gelangweilt mit dem nicht sehr redseligen und etwas steifen Geheimrat. Mit schlechtem Gewissen! Denn er hegte für den Mann, der im Jahre Siebzig seinen Bruder Germain vom Schlachtfelde trug, eine tiefe und dankbare Pietät in seinem Herzen. Und als seine kleine Madame Yvonne ihm eines Morgens mit vor Rührung bebender Stimme aus der Mülhauser Zeitung vorlas, der berühmte Jenenser Bakteriologe Heinrich Hummel sei an die Universität Straßburg gerufen worden, da beschlossen sie beide, den unbekannten Freund aufzusuchen, ihm zu danken, ihn zu sich aufs Land zu laden. »Wir werden mit ihm gemeinschaftlich diesen teuren Toten beweinen,« sagte Yvonne, »der für Deutschland gestorben ist,« und ihr zartes Gesichtchen rötete sich vor Eifer.

Sie waren dann auch wirklich nach Straßburg gefahren und hatten den Professor aufgesucht, der in einem der neu entstehenden Stadtteile, in die sie sonst kaum kamen, in der Nähe des Statthalterpalastes wohnte. Gerade, breite, tadellos saubere Straßen, in denen sie ihre alte, kapriziöse und zugleich feierliche Stadt nicht mehr erkannten. Unglücklicherweise hatten sie den September zu ihrem Besuch gewählt, die »großen Ferien«, von deren Existenz sie nichts wußten. Das Haus war verschlossen. Als Antwort auf die Karten, die sie hinterließen, bekamen sie im November Hummels große offizielle Visitenkarte zugeschickt, auf der ein paar höflich bedauernde Worte standen. Nichts weiter.

Jetzt aber hatten sich seit einiger Zeit mehrere Städte des Elsaß zu einem Kunstbunde zusammengetan, der Konzerte und literarische Vorträge veranstaltete, und dem auch die Meckelens angehörten. Als letzte Vorführung dieses Jahres hatte man Hummel ausersehen. Der Vortrag sollte in Mülhausen stattfinden. Als Hummel die Aufforderung annahm, machten die Meckelens einen zweiten Versuch, sich ihm zu nähern: sie luden ihn ein, auf dem Hin- oder Rückwege ihr Gast zu sein. Zu ihrer Freude nahm er an. Nun war er gestern gekommen, wollte morgen abend abreisen und beunruhigte sie ein wenig durch die hilflose Abgeschlossenheit seines Wesens. Sie hatten nicht bedacht, daß er nun fast schon ein Sechziger war. Nur wenn er, wie eben jetzt, still in sich hineindachte oder, getroffen durch ein Wort, aufsah, bekamen seine Züge Frische. Und wenn er den Hut lüftete, leuchtete die Klugheit seiner Stirne hell über den etwas stubenhaft schlaffen Gesichtszügen.

Sie fuhren eine Weile schweigend. Das Geräusch des Autos erschwerte längere Unterhaltungen. Hummel blickte hinüber nach dem zackigen Gebirge, das sich jetzt zu enthüllen begann. Er dachte daran, daß er vor einem Menschenalter dieselbe Straße hier gewandert war, erwartungsvoll und froh, zwischen Feldbreiten goldenen, buntdurchblühten Korns, und es tat ihm einen Augenblick leid, hierhergekommen zu sein. Man soll nie wieder die Plätze aufsuchen, an denen man jung war. Daß er es dennoch tat, galt einem Wiedersehen mit Victor Hugo. Denn da die Meckelens ihn als Pfleger ihres armen Germain feierten, war ihm eingefallen: weit mehr Grund zur Dankbarkeit habe ja doch er seinem Lebensretter Victor Hugo gegenüber. Er erkundigte sich nach ihm, und es stellte sich heraus, daß er Arvèdes Schwester geheiratet hatte, jenes Kind, dem Martin Balde im Juli Siebzig ins Leben hineingeholfen hatte.

Man sprach mit einer gewissen Zurückhaltung von ihr, und Yvonne vertraute dem Geheimrat an, ihre Schwägerin wäre ihnen ein wenig entfremdet, da sie eigensinnigste Chauvinistin geworden sei.

Wie das gekommen sei, hatte Hummel gefragt.

O, sie sei von Anfang an französischer erzogen worden als die andern Kinder, »Après l'année terrible, vous savez.« Und dann war der General gestorben, gerade als Madeleine, sein Liebling, auf den Wunsch der Mutter in eine deutsche Schule kommen sollte. Nun schickte Frau von Meckelen sie, gleichsam ein Opfer, das sie ihrem toten Manne brachte, nach Frankreich in ein Kloster. So war Madeleine vollends zur Französin geworden. Sie hatte Victor Hugo nur unter der Bedingung geheiratet, daß sie, so oft sie wollte, in Paris leben konnte. Sie kam nur selten nach Thurweiler, Victor Hugo besuchte sie und seine beiden Kinder in Paris, wenn seine Geschäfte es ihm erlaubten.

Geschäfte! Hummel war neugierig auf diesen neuen Victor Hugo. So hatte man denn die Fahrt nach Thurweiler unternommen. Arvède, der auf einem Gute in der Nähe einen Pferdekauf zu machen hatte, wollte den Gast abends bei seinem Schwager wieder abholen.

Sie rüttelten jetzt über Schienen herüber, sahen weißglitzernde gefüllte Wagen, die man ankettete. Auf der Lokomotive standen Männer, deren Kleider, naß, in die Luft hineindampften.

»Die Güterbahn von Thurweiler nach Bollweiler,« erklärte Meckelen auf Hummels fragenden Blick. »Für den Kalitransport.«

»Haben Sie hier auch Kalifunde?«

»Hier hauptsächlich. Die ganze Gegend leidet darunter.«

Hummel hatte auf die letzten Worte nicht geachtet, auch den grimmen Ton nicht bemerkt, in dem der Baron seine Auskunft gab. Ganz eifrig beugte er sich vor, so daß ein Stoß des Autos ihn sein Gleichgewicht verlieren ließ. Das störte ihn nicht. Erfüllt von einem Gedanken, der ihn glücklich machte, nickte er ein paarmal vor sich hin. Dann, ihm Worte gebend, sagte er laut in die Wagengerausche hinein: »Ist es nicht herrlich, daß man gerade hier im Elsaß Kali findet? Im deutschen Elsaß? Deutschland plant ja das Syndikat für Kali. Da muß doch diese Tatsache: nämlich daß man nur in Deutschland Kali findet und nun auch hier, den Elsässern beweisen, wie sehr sie, schon allein geologisch, zu uns gehören? Glauben Sie nicht, daß dieser Umstand, wenn man ihn dem Volke genügend einprägen würde, für die Germanisierung von höchster Bedeutung werden kann?«

Wundervoll blau waren seine Augen dabei. Meckelen zuckte die Achseln. » Quant à moi, ich betrachte sie als Fatalität. Sie verpesten die ganze Gegend,« fuhr er finster fort.

Hummel zog die Luft ein. »Ich rieche nichts.«

Da mußte Meckelen lachen. Er hatte noch sein weiches, blondes Kinderlachen. Plötzlich aber wurde er wieder ernst. Er zeigte nach vorn. Hummel blickte durch das Vorderfenster und erkannte, soweit es der wehende Havelock des Kutschers zuließ, ein hohes, schwarzes Gerüst, das mitten auf dem freien Felde stand.

»Was ist das?« fragte er erstaunt, fast ein wenig beleidigt. Ihm war, als habe man ihm ein hübsches Andenken verdorben. Denn hier in der Nähe mußte der Feldweg gewesen sein, auf dem er damals die beiden jungen Mädchen mit dem groben Bauern beobachtet hatte. »Was ist das?«

»Ein Bohrturm. Da weiter weg sehen Sie noch einen zweiten. Häßlich, gelt? Aber das ist nicht das Schlimmste. Das nicht.« Er sagte nichts mehr, aber in seinem seinen Edelmannsgesicht schien etwas Leidenschaftliches aufzuwachen: Verachtung, Kummer.

Hummel blickte noch immer nach vorwärts auf die Bohrtürme, die man jetzt beide sah, wie sie sich schmutzig und breitbeinig vor die Landschaft stellten. Im weiten Umkreise eine wüste Öde, halmlos, von Salz bereift und zerfressen. Man erkannte Schuttberge, verlassene Schächte, Bohrlöcher, da wo früher Feld gewesen: unfruchtbare Erdschollen, hart, braunrot, die aussahen wie geronnenes und versteinertes Blut, ein paar Kirschbäume ohne Blätter mit dürren, anklagend weggestreckten Ästen. Ein hoher schwarzgestrichener Bretterzaun stand massig und undurchdringlich wie eine Gewitterwolke, die sich gesenkt hatte, vor einem teergeschwärzten Hümpel von Bauhütten und Schuppen.

Arvède von Meckelen hob drohend die geballte Faust. »Ah ces brigands!«

»Sie lieben die Industrie nicht sehr, wie es scheint.«

Arvède machte ein abweisendes Gesicht. »Wir sind ein Bauernvolk, Herr Geheimrat. Unsere Erde ist unsere Heimat. Wenn man auch die uns noch verschandelt, dann, ja dann ... Meinetwegen kann man dann auch türkisch werden.«

Sieh, sieh, der Agrarier, dachte Hummel.

»Aber haben nicht viele Leute ihr Brot durch diese Unternehmungen?« fragte er beschwichtigend.

» Malheureusement. Man lockt uns vom Lande die Knechte weg und macht dann Maschinen aus ihnen. Und diese Arbeit à la prussienne liegt nicht in der Natur unserer Leute. Sie sind es gewöhnt, ein wenig zu verschnaufen, wenn die Lust sie dazu ankommt, zu lachen, zu schwätzen, und es wird ihnen arg schwer, das Maul zu halten, wenn ein Bonmot sie prickelt. Sie kommen wohl auch mal eine halbe Stunde später, als die Uhr es bestimmt. Dafür schaffen sie ein andermal über die Zeit hinüber, wenn's ihnen in den Kopf kommt. Da drüben aber werden sie ausgenutzt, bis sie keinen Tropfen gesundes Blut mehr im Leibe haben. Kommen sie dann aus der Fabrik nach Hause, wollen sie genießen: Kino, Wirtshäuser, die Frauen tun mit. Das Geld geht zum Teufel und die armen Seelen selber hinterdrein. Und dann kommen sie zu uns zurück und wollen wieder Bauernarbeit tun. Als ob sie das noch könnten, geschwächt und anspruchsvoll wie sie sind! Und nun sehen sie erst dies! Vous voyez ces baraques-là?«

Jetzt zog auch Hummel die Stirne kraus. Da wo früher das Pfennigsche Grundstück so einladend und behäbig gelockt hatte mit seinem niederen Fachwerkhause, dem Kuhgeruch und seinen Fruchtbäumen auf Wiesengrund, da sah man jetzt ein paar engbrüstige hohe Mietskasernen, dünnwandig und bereits ein wenig schief in ihrer schlecht getünchten Nacktheit stehen. Der Geheimrat schüttelte mißbilligend den Kopf. »Aber das ist unerhört, die schönen alten Häuser einfach wegzureißen. Ja, konnte man denn das nicht verhindern? Wir haben doch den Verein zur Erhaltung elsässischer Bauwerke?«

Der Baron hatte ein nachsichtiges Lächeln in den schmalen Augen. »Ganz so einfach gehen diese Dinge doch nicht zu behandeln, wie Sie, Herr Geheimrat, sich das vielleicht auf Ihrer behüteten Professoreninsel vorstellen.« Er sah, erschrocken über seine Verwegenheit, dem Gaste ins Gesicht. Der aber sah nur nachdenklich vor sich hin. So fuhr er fort:

»Die Geschichte dieser Häuser ist die Geschichte unserer ganzen Gegend. Vor sechs Jahren noch stand das Gehöft ruhig da. Man bewunderte es niemals, man liebte es, ohne das zu wissen. Eines Tages, un beau jour, findet der propriétaire Kali auf seinem Grundstück und in den Monaten darauf immer mehr Kali, überall. Er zeigt es der Regierung an, man kauft, grabt, wühlt und demoliert. Der Mann verkauft für die unerwartet hohe Bezahlung Stück für Stück von seinem Eigentum und zuletzt das ganze Anwesen an die hiesige Kaligesellschaft. Er wird ein reicher Mann. Übrigens aber macht das gouvernement damit ein schlechtes Geschäft. Denn natürlich hat mein bonhomme, entwurzelt wie er doch nun einmal ist, nichts Eiligeres zu tun, als mit seiner Familie nach Frankreich überzusiedeln und dort sein von den Deutschen erhaltenes Geld als Rentier zu verzehren. Auf dem Rest des Grundstücks aber haben deutsche Bauunternehmer die Cochonnerien aufgerichtet, die Sie da sehen. Enfin que faire?«

»Und wer bewohnt die Häuser?«

»Zugezogene Leute. Angestellte der Fabriken, Agenten, que sais-je, der ganze Troß von Spekulanten und von traditionslosem Gesindel, das zu solch modernem Betrieb nun einmal gehört. Moderner Betrieb,« wiederholte er, Er sah zart und bekümmert aus, wie er da in seiner Ecke saß und klagte.

Hummel betrachtete ihn mit Sympathie. Ihm selber war die moderne Industrie mit all ihrem Geräusch, ihrer Hast und ihrem Haften an der Materie zum mindesten gleichgültig, oft störend gewesen. Er verachtete sie ein bißchen. Wie er alles ein bißchen verachtete, was nicht Wissenschaft war.

»Wenn Sie hier schon klagen,« sagte er, »dann dürfen Sie nicht nach Berlin gehen. Ich war einmal da. Freilich ist es jetzt schon eine Weile her. Damals, gerade ehe ich den Ruf nach Straßburg erhielt, bekam ich nämlich auch eine Anfrage nach Berlin. Ich war dort, mir die Verhältnisse anzusehen, zwei Tage, dann hatte ich genug. Moderner Betrieb, wie Sie sagen. Man kann in Berlin nicht denken. Jeder füllt sich seinen Tag voll Lärm und Anstrengung, weit über seine Kräfte, und nachts, genau wie Ihre Arbeiter hier, stürzen sie sich in das Vergnügen. Wieder eine Arbeit. Zeit hat niemand. Auf den Straßen hört man kein anderes Wort als Geld und wieder Geld. Das war noch die Gründerzeit, wissen Sie. Jetzt, scheint mir, ist sie ins Elsaß geraten.«

»Ja, wir bekommen den reinen Amerikanismus her. Alles was Geschmack und Tradition ist, wird überflutet davon. Nur neu soll alles sein. Billig und rasch. C'est le cas.«

»Ganz recht, die Leute kennen keine Werte mehr, nur noch Zahlen.«

»Keine Werte mehr,« wiederholte Meckelen feinschmeckerisch, » voilà ce que vous avez bien dit, monsieur. Als Knabe fühlte ich mich unglücklich und zerrissen,« sagte er dann leise, den Kopf gesenkt, »der Tod meines armen Bruders hat mich in eine Tätigkeit hineingesetzt. Ich habs zu schaffen und spüre, daß ich Kraft habe. Da sollen mir nun nicht Maschinen kommen und Bureaus und mich ersetzen wollen, cela jamais!« Er klopfte heftig mit dem Fuße auf im Wagen.

»Der menschliche Geist ist auch schaffend,« sagte der Professor.

Arvède achtete des Einwurfs nicht. Er fuhr leidenschaftlich fort, kurze Sätze herauszustoßen: »Ich bin zufrieden geworden auf eigenem Grund und Boden. Die Heimaterde hat Heilkraft. Freizügigkeit ist plebejisch.«

»Wo der Materialismus beginnt, da tritt der Sport an Stelle der geistigen Arbeit.«

Die beiden Männer sahen sich wohlgefällig an, während sie noch eine Weile so aneinander vorbeiredeten, ähnliche Worte gebrauchend und ganz Verschiedenes darunter verstehend. Sie glaubten sich einig.

Zuletzt schwiegen sie. Jeder hing seinen Gedanken nach. Hummel blickte auf den kleinen Drei-Wagen-Zug, der eben an ihnen vorbeifuhr. Ihm kam auf einmal der Milchwagen in den Sinn, auf dem er in verstohlener Morgenfrühe zwischen klappernden Blechkannen gesessen hatte. Den Gesang der Fabrikmädchen hörte er wieder, sah den Zug der französischen Soldaten, die aus der Garnison ausrückten. Wie lange, lange war das her. Er hatte nie mehr daran gedacht. Jetzt sah er prüfend auf die Pappeln, um deren enggefaßte Glieder eine eben durchbrechende fahle Sonne flimmernde Linien zog, so daß sie sich vom feuchtbraunen Tale abhoben wie bleigefaßte, blasse Stücke eines Glasgemäldes. Er erinnerte sich, wie dicht belaubt und goldumzogen er sie damals vor sich gesehen hatte. Und nun tauchte auch der braune Kirchturm vor ihm auf, einen Augenblick später sah er das Städtchen selber, das, weit über die grüne Schüssel seiner Wallwiesen herübergeflossen, sich in wohlgeordneten Straßen heranzog. Alle Häuser gleich hoch mit Ziegeldächern und gleichen geraden Schornsteinen. Seitwärts endeten die glitzernden Schienenstränge an einem kleinen Bahnhof, mit Telegraphen- und Telephondrähten auf seinem Dach.

Der Geheimrat schob seine Decke beiseite. »Ich möchte hier aussteigen und zu Fuß gehen. Ihr Weg zweigt, wie ich glaube, hier ab, und« – er zog die Uhr – »es ist auch gerade die gewohnte Stunde meines Nachmittagsspazierganges.«

»Sie werden sich ermüden.«

Aber Hummel drückte einfach den pneumatischen Ball, so daß der Chauffeur hielt. Unerwartet rasch war er draußen, nahm mit energischer Bewegung seinen Schirm unter dem Verdeck hervor und reichte seinem Wirt die Hand. »Auf Wiedersehen also.«

»Da Sie es wollen, Herr Geheimrat, auf Wiedersehen dann in der Villa Schlotterbach. Der neuen,« fügte er hinzu und machte beschreibende Bewegungen mit den Armen. Aber das Geräusch des Autos, das sich wieder in Bewegung setzte, verschlang seine Worte.

 

Mit kräftigen Schritten wanderte Heinrich Hummel nun zum Städtchen hinunter und kam bald zu den neuen Häusergevierten, die mit ihrem abgeteilten Gartenstückchen Arbeiter- oder Beamtenwohnungen zu sein schienen. Die Straßen, die sich diesen Bauanlagen anschlossen, waren nur erst abgesteckt, trotzdem trugen sie an Holzschildern bereits ihre Namen: »Hohenzollernstraße«, »Wilhelmstraße«, Friedrich-Wilhelm Straße«, »Kaiserweg«. Mitten im Kahlen stand eine Bretterbude mit rotem Vorhang, der sich im Winde blähte. »Kinematograph« stand mit großen, aus elektrischen Lämpchen gebildeten Buchstaben über dem Holzdach.

Hummel schüttelte den Kopf. Nichts erinnerte mehr an Thurweiler. Man konnte glauben, in einem Großstadtvorort zu sein.

»Ist es noch weit zur Villa von Herrn Schlotterbach?« fragte er einen mürrisch aussehenden Mann, der ihm entgegenkam, die Pfeife im Munde, in Bluse und Schirmmütze, in einem dicken, fettigen Notizbuche blätterte und Zahlen murmelte. Der Angeredete sah ihn feindlich an. »Moi entendre seulement Français.« Er sah mit Verwunderung, daß der deutsche Herr mit der goldenen Brille lachte, übers ganze Gesicht. Hummel erinnerte sich des alten Weibleins, das er damals hier, vielleicht an derselben Stelle, in seinem besten Französisch angeredet hatte und das ihm erwiderte: »I verstand nur Elsasser Ditsch.«

Tempora mutantur.

»Der Herr sind fremd im Ort?«

Der Geheimrat blickte sich um. Ein schmaler, jüdisch aussehender junger Mensch in deutscher Soldatenuniform, mit elegant aufgezwirbeltem Schnurrbart stand vor ihm.

»Die Häuseranlage hier ist neu?« fragte Hummel. Das Gesicht des jungen Mannes kam ihm bekannt vor. Der Jüngling schlug die Hacken zusammen. »Ganz neu, mein Herr. Die Beamten vom Zuchthause wohnen da. Alles tadellos geregelt.«

»Die Beamten? Ja, ist denn kein Militär mehr in der Stadt? Kein Wachtkommando?«

Der Jüngling wirbelte sein Schurrbärtchen. »Der Herr meint vielleicht, weil er mich in Uniform sieht? Aber ich bin nur auf Urlaub hier. Ich diene mein Jahr in Straßburg ab. Die Familie freut sich, wenn man sie wieder einmal besucht,« setzte er herablassend hinzu.

»Also kein Militär mehr,« wiederholte Hummel fast bestürzt. Die roten, lustig marschierenden Hosen auf der Zuchthausmauer waren ihm unzertrennlich von Thurwiller. Er gab sie ungern her. Aber es waren ja doch nicht rote mehr gewesen, jetzt, sondern dunkle. Natürlich!

Der Freiwillige hatte inzwischen geläufig in Druckschriftsprache auseinandergesetzt, früher habe es in der Tat hier einmal Militär gegeben, aber da wäre immer Streit geworden mit den Arbeitern. Jetzt dagegen sei alles geregelt. Tadellos.

»Und die Runden um die Mauer?«

O das sei nicht mehr nötig. Ein Netz von elektrischen Drähten, in denen die Gefangenen hängen blieben, wenn sie den geringsten Fluchtversuch machten. Tadellos.

Hummel suchte immer noch nach der fatalen Ähnlichkeit. Er hatte sich zum Gehen gewendet, der Bursche begleitete ihn wie sein Diener, immer ein paar Schritte zurückbleibend, seiner Ansprache gewärtig.

»Das ist die Post,« sagte er, da keine Frage erfolgte, von selber.

Es war ein banales, aber von blauen Glyzinien umranktes einstöckiges Häuschen. »Alles mit elektrischem Licht,« berichtete der Allzugefällige. »O, Herr Treumann, der Postvorsteher macht sein Metier gut. Er ist aus Westpreußen. Das gibt manchen Spaß, wenn er Elsässisch spricht. Zu Anfang freilich hatte er viel Ärger. Er verstand die Leute nicht und sie ihn nicht. Als er dann aber heiratete – seine Frau war Elsässerin – da gehörte er auf einmal ins Land. Er hat in eine sehr gute Familie geheiratet, o sehr reich. Die Schlotterbachs aus der Fabrik dahinten. Damals war es noch keine Aktiengesellschaft. Aber die Besitzer zogen im Jahrs Siebzig nach Frankreich – que voulez-vous? Sie waren sehr unzufrieden, als Mademoiselle Virginie sich in den lustigen deutschen Monsieur Treumann verliebte. Aber niemand kann ihm gram sein. Er trägt favoris à la Guillaume Premier. Trotzdem ist er ein Mann, der zu lachen versteht. Er singt Euch die lustigsten Lieder. Und bei Hochzeiten und Kindstaufen tanzt er wie der Jüngste. Mademoiselle Charlotte, seine Tochter, kann es nicht besser. Da steht sie gerade am Fenster oben, sehen Sie? Une jeune fille bien faite. Und welche reiche chevelure

Hummel, von dem Schwatzenden deutlich abgewendet, hörte interessierter zu, als er zeigen wollte. Virginie Schlotterbach! Wie aus einem Nebel tauchte ihr Name vor ihm auf. Er sah sich wieder im Boudoir von Madame Schlotterbach. Sie am Kamin in ihrem Spitzenkleide mit gelben Rosetten. Die Arme vorgestreckt wie eine Puppe. »Vous allez bien, papa?« Und dann hatte sie versucht, ihm ihre Tochter Virginie zur Ehe anzupreisen.

Er lächelte. Dinge und Menschen, von denen er nicht geahnt hatte, daß in seiner Seele noch irgendein Abdruck von ihnen bewahrt lag, bekamen neue Melodie für ihn, seitdem er wieder hier war. Keine laute, störende Melodie, sondern eine, auf die man Lust hatte noch ein wenig zu hören. Ganz vorsichtig dachte er nun auch den Namen: Françoise. Seit Jahrzehnten hatte er das vermieden. Zuletzt schon gar nicht mehr zu vermeiden brauchen. Ihr Bild war ganz verwelkt. Nur daß ihm manchmal, mitten aus dem Schlaf heraus, eine heiße Scham aufstieg, von der er sich nicht klar machte, woher sie kam. Ganz selten aber geschah es, daß er wußte: er hätte sie nicht stehen lassen sollen wie eine Bettlerin, damals in Nancy vor der Steintür.

Heute dachte er das wieder, aber ruhig, ganz erinnerungsmäßig, genau so wie an die Landschaft hier dachte und an den Sommer, da er sie zum ersten Male durchschritt.

Der Freiwillige hatte sich inzwischen umgewendet. Drüben auf der andern Seite der Straße wurde eben ein Möbelwagen abgeladen. Hummel bemerkte schändliche Fabrikmöbel, die man ins Haus trug. Der Jüngling aber schien entzückt. »Unser neuer Arzt wohnt da,« erklärte er, »o, ein feiner Herr. Er hat eine Narbe im Gesicht, einen Schmiß nennt er es. Er hat auch einen Studentenring und ein kleines buntes Abzeichen über der Weste zu tragen. Alles von seinem Studentenkorps. Er ist sehr stolz darauf. Und nichts gefällt ihm hier. Eben läßt er sich Möbel aus Berlin kommen, aus einer großen Fabrik. Alles grüner Plüsch. Sehen Sie, das ist der Sofaumbau. Und gleich Vasen dazu.«

»Ich danke Ihnen,« sagte Hummel, ihn unhöflich verabschiedend. Er wandte sich jetzt zur Ill-Brücke. Das Rathaus wollte er wiedersehen und dann in die Kirchgasse einbiegen, nach dem Teil hinter der Stadt, in dem nach Meckelens Beschreibung Victor Hugos neue Villa stand. Aber der Urlauber, der sich langweilen mochte, war ihm nachgegangen. »Da rechts ist das Zuchthaus, sehen Sie, mein Herr. Man hat alles vergrößert. Auch eine protestantische Kirche befindet sich im Vorderhofe. Es gibt jetzt viele Protestanten in Thurweiler. Ah, der Herr betrachtet das Rathaus. Sehr schön, nicht wahr? Wollen Sie's nicht innen besichtigen? Der Ratsschreiber ist mein guter Freund. Er läßt uns eintreten.«

»O ich kenne ihn.« Der Geheimrat spähte nach dem Fenster hinauf, wo damals der Silberkopf herabzuschimmern pflegte, wie aus Ewigkeiten stammend und in Ewigkeiten hinüberlebend. »Ich kenne Père Anselme,« sagte er noch einmal.

»Der alte Sartorius? O, der ist lange, lange tot. Ein ulkiger Patron. Na, etwas mehr versteht unser Monsieur Justin doch.«

»Justin? Gab es nicht einen Pachthof in der Umgegend, der so hieß? In der Nähe von Sulz, glaube ich.« Er wußte selbst nicht, wie ihm diese alten Namen wiederkamen.

»Der Herr hat recht. Der Bauer aus Sulz war der Vater unseres jetzigen Ratsschreibers. Die Mutter lebt mit ihm zusammen hier. Eine fromme Frau. Beide sind sie fromm. Katholisch bis dort hinaus. Der Curé steht gut mit ihnen.«

»So, also der Sohn vom Justin.« Hummel war stehengeblieben. Er blickte auf das Zipfelmützendach des »Lustigen Bruders«, der jetzt, gelb angestrichen, reinlicher und heller als früher aussah. Dann ging er über die Brücke. Der Beflissene blieb fest an seiner Seite. »Wenn ich dem Herrn noch weiter zu Diensten sein kann. Hier bin ich zu Hause. Der Herr kann eintreten, wenn er irgend etwas bedarf.« Er zeigte auf ein großes Ladenfenster, in dem Schinken, Konservenbüchsen aller Art, Wurst, geräucherte Fische, Käse und Schwarzbrot ausgestellt waren. An den Scheiben hingen bunte Plakate für Maggi, Knorr-Suppen und sonstige Surrogate.

Hummel betrachtete das Schild: »Leo Zerff« stand da in großen Buchstaben. Sollte das der alias Napoleon Cerf alias Hirsch sein?

Zerff junior fuhr fort: »O ja, es gehörte Mut dazu für meinen Vater, hier ein solches Geschäft aufzumachen. Die Elsässer, Sie wissen, essen des Abends ihre Suppe und ihre warmen kleinen Gerichte.« Er legte einen leichten Ton der Verachtung in diese Worte. »Die Deutschen waren unglücklich, als sie herkamen. Kein Aufschnitt für ihr Abendbrot. Nichts als Knoblauchwurst und nasses weißes Brot. Kein Tee, kaum gutes Vier. Da hat Papa gründlich Abhilfe geschaffen mit seiner ›Zerfelatwurst‹.« Er kicherte über seinen Witz.

»Und er selbst befindet sich sicher dabei am besten,« sagte Hummel ironisch.

»Tadellos. Die Arbeiter lassen etwas draufgehen nach Feierabend. Samstag kann man nicht genug Kaviar schaffen. Man kann ihn billig geben. Papa kauft havarierten. Sie schmecken es nicht, wenn er ein bißchen ranzig ist. Die deutschen Direktoren übrigens auch nicht,« fügte er vertraulich hinzu, sich einen Augenblick vergessend.

Hummel lüftete verabschiedend den Hut und ging. Napoleon Cerf! Er mußte lachen. Blanche de la Quine fiel ihm ein. Wie sie an dem Morgen nach dem Gewitter neben dem faden Gesellen gestanden hatte.

Versunken, vergessen.

Sein zudringlicher Begleiter war endlich verschwunden. Hummel stellte sich mitten auf den Kirchplatz, freute sich wieder des still geschlossenen Gevierts und sah auf das Rathaus. Ja, das war unverändert. Heiter und fest wie seit Jahrhunderten begrenzte es den Platz, ein sicherer Maßstab für seine kleinen, steinernen Nachkommen ringsum.

Manch unruhiges, dünnwandiges und elend zusammengemörteltes Geschöpf war unter denen. Hummel suchte die frühere Post. Das Häuschen stand noch, aber es war ein Kramladen darin errichtet. An Stelle der fleckigen französischen Kaserne stand eine reinliche deutsche Mädchenschule. Die Apotheke drüben aber war noch da, ihr Schaufenster vergrößert, die rot und giftig grün gefüllten Glasbassins leuchteten herüber wie ehemals, und auch das Schild mit der goldenen Hummel streckte sich wie früher vom Hause ab. Er ging über den Platz, weil ihm die Schrift verändert schien. Ja, da stand deutlich: »Zur deutschen Hummel«, darunter in viel größeren Buchstaben: »Inhaber Charles Amstoutz«.

Der Geheimrat mußte erst eine ganze Weile nachdenken, bis er begriff: dies sei der kleine blonde Schmutzfink aus der Post, der illegitime Sprößling des Monsieur de la Quine. Er hätte seiner, selbst verwelschten Sippe einen legaleren Nachfolger gewünscht.

Von einer gewissen Neugier getrieben, näherte er sich dem Gitter, wobei er aus dem halbgeöffneten Fenster des Drogenstübchens einen erinnerungsreichen Geruch von getrockneten Kamillen und Nelkenöl an sich heranströmen fühlte. Das Haus hatte nach dem Garten zu eine Glasveranda erhalten, in der ein Petroleumöfchen glühte. Hummel sah da eine alte dicke Dame sitzen, in schwarzem, weitem, etwas unordentlich zusammengeknöpftem Hauskleid, auf dem Kopfe ein schwarzes Netz mit Seidenrüsche, halb Hut, halb Haube. Tante Amélie? Wahrhaftig. Da war ja auch die alte Garnwinde, wie ein umgekehrtes Schirmgestell, auf jeder Spitze ein Püppchen. Die dicke alte Frau wickelte graue Baumwolle. Jetzt rollte ihr das große Knäuel zu Boden. Sie bückte sich es aufzuheben, und Hummel entdeckte unter dem schwarzen Hut einen großen, gelb glänzenden Chignon. Nun wurde ihm alles klar. Die Bourdons waren ja natürlich längst tot, und hier wohnte nun die »schöne« Célestine mit ihrem Sohne zusammen.

Der Geheimrat wühlte unbarmherzig seinen Bart schief. Ein ganzes Kaleidoskop von Figuren war ihm aufgetaucht, schoß zusammen und auseinander und formte bunte Schaubilder für ihn.

Wie ihm das alles imponiert hatte damals! Er kam sich weise vor und weltklug geworden.

Er ging weiter. Alles wie damals: Die Madames in Bettjacken und weißen Hauben lagen zum Fenster hinaus und schwatzten, eine neue Generation struppiger Pinscher kläffte ihm nach. Es roch nach Kohlsuppe und Zwiebeln. Bunte Wäschefetzen trockneten in den Seitenschlupfen der Häuser, man trat mitten auf dem Pflaster auf Gemüseabfälle, scheuwildernde Katzen strichen umher, Pantoffeln klapperten, unförmige Frauen schalten mit rauhen, tiefen Stimmen gegeneinander. Rotznäschen stolperten umher. Aber man bemerkte doch eine gewisse neue Anlage zu Regelmäßigkeit, Ordnung und Reinlichkeit: Regentonnen standen unter den singenden Dachrinnen. Die Fensterscheiben waren blank, hatten saubere Gardinen ins Zimmer hinein, die Bänke vor den Häusern waren hell angestrichen. Ein paar nett gekleidete Schulmädchen gingen vorbei. Sie schauten nur flüchtig nach ihm um. Man schien an Fremde gewöhnt zu sein im neuen Thurweiler.

Am Ende der Straße angelangt, bog er zu den Wiesen ein, hinter denen die Schlotterbachsche Fabrik stand. Er entsann sich gut des Weges und der streitenden Weiber, die hier dahergestampft waren: »Uese mit, üse mit«. Und deutlich sah er das verängstigte Gesicht seines armen Onkels vor sich.

Nun hörte er auch schon Fabriklärm, Hammern und Surren. Er sah die Gebäude – ein breiter Komplex jetzt: Maschinenhäuser, Elektrizitätsanlagen. Von der Wiese, die damals voll weißer hoher Sternblumen und spielender Kinder gewesen ist, war kein Halm mehr zu erblicken. Alles rundum schwarz von Kohlenbergen. Kein Strauch, kein Baum in der Nähe. Und der Park? das Wohnhaus? Der Geheimrat wandte sich hin und zurück. Er putzte seine Brille. Er ging näher zur Fabrik. Das große Tor war geschlossen. Der Hof dahinter ganz leer. Nur der Portier, ein mächtiger Ostpreuße, kam aus seinem Wachhäuschen und erkundigte sich nach dem Begehr des Herrn. Hummel fragte nach der Villa. Der Mann, der verdrießlich schien, zeigte mit dem Arm weit weg. Er war verschwunden, ohne weitere Auskunft zu geben.

So ging denn Hummel ziellos vorwärts die neue Straße entlang, in der ein paar helle Backsteinhäuser standen, aus deren Laden es nach Schuhwichse und Apfelsinen roch; im Schaufensterchen standen Bonbons und Zahnbürsten, Tabakspfeifen, Kleiderstoffe, schwarze Johannisbrotschoten und Arbeitswerkzeuge.

Hier irgendwo in der Nähe mußte der Schlupfweg eingemündet haben, auf dem der kleine Victor Hugo ihn geführt hatte. Wie hübsch der Junge gewesen ist, wie begeistert! Da am Fluß im Röhricht ist damals ein Volk Rebhühner aufgeflogen, jetzt stand da eine Arbeiterkantine. Man roch Schnaps und Tabak und hörte ein Grammophon mit Tenorstimme quäken: »Mein Herz, das ist ein Bienenhaus«. Eine starke Frau trat aus der Türe und grüßte neugierig. Sie hatte die Brust, die sich gewaltig und fest vorwölbte, mit großen Stopfnadeln besteckt, von deren einer ein langer, grauwollener Faden wehte. Auf diesen Faden mußte der Geheimrat starren. Er beunruhigte ihn.

Wo die Schlotterbachsche Villa sei, fragte er dann, er finde sich nicht mehr zurecht.

Die Frau zeigte ihre stark gelichteten großen Zähne. Die Villa bei der Fabrik? O ja, da habe früher einmal eine gestanden, aber die sei weggerissen. Jetzt war ja der große Kalistollen da, wo sie gestanden hatte.

»Und Herr Victor Hugo Schlotterbach?«

Ah oui, der Herr Direktor wohne dahinten. Sie wies gegen den Illwald hin. »Ein prachtvolles Château. O, Monsieur hat es dazu. Monsieur ist reich.«

Eben im Begriff wieder umzukehren und in den kleinen Seitenweg einzubiegen, der gegen den Wald führte, blieb Hummel noch einmal stehen. Ihm entgegen schritt ein sonderbarer Zug. Man sah zuerst nur einen jungen Mann im Strohhut und hellen Anzug, der mit steifen Armen langsam, den Kopf wie ekstatisch mit geschlossenen Augen emporgehalten, herankam. Irgend etwas Lebendiges bewegte sich auf wunderliche Weise über seiner Brust, wie eine Schlange, die sich aufbäumt, oder, jetzt sah man's deutlicher, ein Zweig, den man stößt. Hinter dem jungen Manne kamen Herren in Stadttracht, aufmerksam und vorsichtig nachschleichend. Dann ein paar Bürger und Frauen. Der vorderste der städtisch Gekleideten – er trug Gehrock und Zylinder – hielt eine im Winde flatternde Landkarte, in die er sich mit Bleistift Notizen machte.

Die Art, wie der kleine Zug herankam, hatte etwas Feierliches und zugleich Komisches, die Leute benahmen sich halb lachend, halb achtungsvoll, so wie man den Produktionen eines Seiltänzers folgt. Jetzt erkannte Hummel auch, was sich da so seltsam bewegt hatte und nun, steil gestreckt, ruhig von dem Manne abstand: eins Art Zweig oder Gerte. Und er begriff, daß er einen jener Wünschelrutenmänner vor sich hatte, die den Boden auf Wasser, Gold, Metalle aller Art und hier wahrscheinlich auf Kali untersuchen zu können behaupten.

»Humbug,« sagte er grimmig vor sich hin und ließ den Zug an sich vorbei. Er sah noch, wie aus dem Fabrikgebäude ein hoher, gut gewachsener Herr mit langem, grauem Vollbart heraustrat, der von allen ehrerbietig begrüßt wurde, mit dem Rutenträger ein paar Worte sprach, aus dunkeln Augen prüfend um sich blickte, die Kinder wegwies, die sich herandrängten, und dann mit dem Zuge weiterging. Es hatte etwas Frisches, Festes in der Art gelegen, wie er sich bewegte.

Die Kinder kamen jetzt lärmend zurück. Sie begannen auf einem der Bauplätze zu spielen, an dem vor einer großen Kalkgrube verlockend Holztrümmer und Ziegelsteine lagen. Fast alle waren sie blond und blauäugig, sahen gesund aus und machten einen ungeheuren Lärm. Ein Schwarzäugiger mit vollem, braunem Haar, etwa siebenjährig, wurde soeben von einer alten Magd heimgeholt, deren nicht sehr geistvolles Gesicht von großen Sommerflecken getigert war. Er riß sich los, um weiter zu spielen. Hummel hörte ihn mit einer lieben Stimme der Alten schmeicheln, die denn auch nachzugeben schien. »Awer numme, bis daß i d'Eier g'holt han.«

Der Geheimrat hatte den kleinen Pfad beschritten, der hocheingebuscht an der Ill entlang führte. Über dem noch kahlen Gesträuch sah man nun Gärtnereien, Glasdächer und strohbedeckte Frühbeete. Ein langes Beet voll Chrysanthemen in wundervollen Farben. Dann kamen Warmwasseranlagen, Remisen, Kutscherhaus und Ställe. Hinter einem dichten Schutzgebüsch von Tannen und Lebensbäumen begann der große herrschaftliche Park.

Hummel ging am Gitter hin, sah die schöne, noch etwas neue Anlage, eine Flora, eine Faunsbüste, Springbrunnen, Gartenhäuschen, Marmorbänke, dann kam das Portal, schmiedeeisern mit goldenen Ranken, dahinter die Villa, hell, in prächtigem Barockstil. Auf gelbem Sand geschlängelte Kieswege, an Rabattenbeeten vorbei ging es zur Freitreppe. Ein galonierter, geschmeidiger Diener, der Französisch sprach, öffnete und fragte nach des Fremden Wünschen.

»Reden Sie nicht Deutsch?« fuhr Hummel ihn an. Er war irgendwie in schlechte Laune geraten. »Wir sind hier in Deutschland.«

Der Diener lächelte überlegen höflich und nahm mit einer untadeligen Verbeugung die Karte auf einem silbernen Tellerchen entgegen.

Das Vestibül, in dem Hummel wartete, sah ziemlich prunkhaft aus: Marmorwände, eine bronzene Mohrin am Treppengeländer, die eine Schale voll Blumen hielt, eine sehr hübsche Kammerzofe in Musselinschürze und koketter Haarschleife lief mit klappernden Absätzen die Treppe herab und knixte graziös vor dem Fremden.

Hummel wurde hinaufgeführt nach dem Salon, der mit roten Damasttapeten und viel Gold einen deutlich ausgesprochenen Eindruck von Pracht machte, durch den mit Gaze verhüllten Kronleuchter aber und die Schutzdecken über den Sesseln sehr ungemütlich aussah. Hummel betrachtete das große Ölgemälde, das da hing, ein Werk von Besnard. Es stellte eine zarte Blondine dar mit ihrem Töchterchen, wie zerfließend in Schleiern. Das Kind hatte große, erwachsene Augen und einen Kirschenmund. Sicher ein Porträt von Victor Hugos Frau und seinem Kind.

Er betrachtete das Bild noch, als ein eleganter Herr eintrat mit kleiner Vorderperücke und blond gefärbtem Schnurrbart, gepflegt bis zur Geckenhaftigkeit. Er hatte einen etwas steifen Gang. Als er jetzt auf den Besucher zutrat und lächelte, war es ein Gespenst von »Schlotterbach fils«, unheimlich gemischt mit den Allüren von Madame Schlotterbach. Jetzt streckte er, ein wenig theatralisch, beide Arme vor, »Ah quel surprise, quelle joie. Quel honneur pour moi,« verbesserte er sich schalkhaft, wobei auf eine wehmütige Weise das Knabenlächeln Victor Hugos zum Vorschein kam.

Hummel betrachtete ihn ernsthaft und gründlich, mit jenem unbestechlich beharrlichen Blick, wie Naturforscher, Maler und Kinder ihn haben. Als aber Victor Hugo sich jetzt mit geschickt verhehltem Hinken in Bewegung setzte, um den Gast in sein Arbeitszimmer zu führen, wo es wärmer sei als hier im Salon, da während der Abwesenheit von Madame hier nicht geheizt werde, fiel Hummels Blick auf das elegant gestiefelte künstliche Bein, und es stieg eine warme Empfindung in ihm auf.

»Ich bin gekommen Ihnen zu danken,« begann er und errötete vor Eifer und in einem Gefühl von Unbeholfenheit.

»Sie haben mir das Leben gerettet. Ich weiß eigentlich erst jetzt – – Ihr Herr Schwager hat mir erzählt –«

Direktor Schlotterbach machte eine liebenswürdig abwehrende Bewegung. »O, mein Herr, kein Verdienst könnte hoch genug sein, daß ihm der Besuch eines so sehr berühmten Gelehrten nicht Belohnung wäre.«

Hummel wußte zu seinem Ärger nichts darauf zu erwidern. Auch ließ ihm der gewandte Hausherr keine Zeit. Er versicherte in vielen Worten, Madame Schlotterbach würde untröstlich sein, aber sie sei zu einer Kusine nach Paris gefahren, deren Sohn die erste Kommunion mache. »Madame Schlotterbach ist nur selten in Thurweiler, sie kann die Luft hier nicht vertragen.«

Man war jetzt im Arbeitskabinett angelangt, einem schmalen, mit geschnitzten, dunkeln Möbeln reich besetzten Zimmer. Man saß am Kamin, in dem frische Scheite glühten, man rauchte. Hummel wollte wieder von seinem Dank beginnen, aber sein Wirt verscheuchte ihm die Anfangsworte mit der gleichen weltmännisch leichten Bewegung von vorhin. »Sie sind sehr gütig, mein Herr, und ich hoffe wirklich, der Himmel wird es mir einmal auf der Avoir-Seite anrechnen, daß ich eine Leuchte der Wissenschaft vor der degradierenden Bekanntschaft mit einem derben Bauernknüttel bewahrt habe.« Er sprach ein suchendes Deutsch von leicht ironischer Färbung. »Das Leben hat Humor,« sagte er dann ernster, und die Flamme des Kamins gab seinem Gesicht eine lebensvollere Färbung, »es hat mir aus einer verbrecherischen Nachlässigkeit ein Verdienst machen wollen, voilà ce qui est bizarre

»Eine verbrecherische Nachlässigkeit? Wie meinen Sie das?«

»Ich hatte ein wenig mein Vaterland verraten. Simplement.« Er strich sich vorsichtig über das dünne Nackenhaar.

»Ihr früheres Vaterland, meinen Sie?«

Schlotterbach schwieg.

Hummel hatte die Füße gegen das Kamingitter gestreckt, die Wärme stieg wohlig in seinen Gliedern empor. Die Zigarre war ausgezeichnet, der Sessel bequem, das mit altgoldener Seide verhangene Licht der Deckenlampen wohltuend, er wünschte keine Veränderung seiner Lage für eine Weile. So dämpfte er denn bedachtsam seine eigene Stoßkraft, wollte weder forschen noch bekehren. Er begann von der Fabrik zu sprechen und von den Vergrößerungen, die er bemerkt hatte.

Es stellte sich heraus, daß Victor Hugo eigentlich nur dem Namen nach und mit einer Anzahl Aktien noch bei dem Unternehmen beteiligt war. Der wirkliche Träger der Geschäfte sei Monsieur Füeßli, der Mann von Françoise Balde.

Er wisse darum, antwortete Hummel. Beide Männer sahen in die Flammen, in denen sich glühende Gebilde bogen, neigten und schwärzten.

Schlotterbach seufzte. »Ah ja, die Jugend, das ist weit. Mais monsieur n'a pas changé,« fügte er höflich hinzu. »Man würde Monsieur einen Vierziger schätzen.«

Hummel antwortete nicht. Er verstand überhaupt nur zu reden, nicht zu plaudern, und fühlte keine Verpflichtung zur Erwiderung von Phrasen.

Schlotterbach hatte inzwischen den Feuerhaken ergriffen und stocherte in den Scheiten. Die Zofe trat ein mit Wein und Gebäck. Sie strich mit deutlicher Vertraulichkeit um den Hausherrn herum und betrachtete den schweigenden Gast, der keine Fühlung zu ihr nahm, mit mokanter Miene.

Als sie gegangen war, erkundigte sich Hummel nach dem Rutenmanne, den er beobachtet hatte. Eine Möglichkeit solcher Feststellungen lasse sich wissenschaftlich nicht unbedingt leugnen, meinte er. Aber die Handhabung sei durchaus laienhaft und lasse alle Irrtümer zu.

Schlotterbach zuckte die Achseln. Alle solche mystischen Dinge seien ihm gleichgültig, er beschäftige sich jetzt nicht mit ihnen, habe die Zeit nicht dazu, überhaupt sei er zu der Einsicht gekommen, daß man am besten sich nur um das Nächste und Notwendigste kümmern solle. »Mit Enthusiasmus und schönen Idealen, wie man sie in der Jugend liebt, kommt man nicht weiter. Als Knabe freilich – man ist ein kleiner Unbesonnener, der nicht überlegt, der seinem Bedürfnis zu lieben und zu bewundern nachgibt.«

»Und später bereut man dann?« Hummel sah ihn mit klaren Augen an. Sollte das eine Absage sein an ihn?

»C'est loin,« wiederholte Schlotterbach nachdenklich. Er starrte auf den weichen roten Widerschein des Burgunderglases, der über dem Marmortischchen zitterte.

»Sie dichten nicht mehr?« fragte Hummel nach einer Pause.

Schlotterbach sah auf, noch die zarte Spur eines Traumes in den Augen. »Dichten, o dafür bleibt keine Zeit, kein Kopf, es paßt nicht für einen Geschäftsmann.«

»Sie haben also jetzt Geschmack gefunden an der praktischen Arbeit?«

Schlotterbach zuckte wieder mit den Schultern. »Was wollen Sie? Ich habe meiner Tochter eine gute Mitgift zu schaffen, das genügt mir. O man verliert nicht seinen Tag, können Sie mir glauben, selbst wenn man auf der Erde bleibt mit seinen Gedanken. Und dafür sorgen schon die täglichen embêtements. Man hat viel Ärger mit der Bevölkerung. Allein nur die Mühe mit den expropriations, die nötig sind, um die wichtigsten Ausgrabungen zu machen. Niemand will etwas von seinem Besitz hergeben. Umsonst, daß ich selbst das Beispiel gab dazu. Die Proprietärs hangen an ihren miserablen Hütten, die über ihnen zusammenfallen. Und die Gesellschaft zahlt gut. Sie könnten ziehen, wohin sie wollen, niemand hält sie,«

»Die Leute lieben eben ihre Erinnerungen.«

»Ach, unsere. Erinnerungen, Monsieur, sie stecken nicht in unsern Häusern und Möbeln, hélas, ils se trouvent dans nos coeurs.« Er schlug sich auf die Brust.

Hummel sah ihn scharf an. »Sie haben keinen Sohn, Herr Schlotterbach?«

»Nein, glücklicherweise. Sie verstehen« –er streifte langsam die Asche seiner Zigarre in die Kupferschale, seine Finger zitterten – »Sie werden verstehen, Monsieur, ein Sohn bedeutet für uns Elsässer immer: den Konflikt.«

»Ein Konflikt, dessen Lösung klar gegeben ist, Herr Schlotterbach.«

»Pour vous, monsieur, pas pour nous.«

Hummel sprang auf. »Mir scheint wirklich. Sie waren ein besserer Deutscher, als Sie noch Franzose waren.«

Dem Elsässer schoß das Blut in die Wangen. Er meinte den Ton wiederzuerkennen, den er am meisten haßte, den Ton des anmaßenden Siegers dem Besiegten gegenüber, dem er Gesetz, auch für sein intimstes Leben, diktieren zu dürfen glaubt. »Man hat nicht aufgehört Frankreich zu lieben, Herr Geheimrat,« erwiderte er fast zischend, »weil sich eines Tages, vor mehr als dreißig Jahren, eine Anzahl Männer vor eine Landkarte gesetzt und einen Strich gezogen haben. Die Grenzen des Herzens« – wieder streckte er mit Pathos den rechten Arm aus – »die Grenzen des Herzens lassen sich nicht gebieten.« Die Röte wich aus seinem Gesicht, die Stimmanstrengung schien ihm wohlgetan zu haben.

»Hm,« machte Hummel verbissen. Er erhob sich. »Dann also« – er machte eine kurze harte Verbeugung, und ohne ein Wort hinzuzufügen ging er mit lauten Schritten zur Türe hinaus, die Treppe hinunter. Im Vestibül angelangt, hörte er Victor Hugos nachziehenden Gang im oberen Korridor, riß, ehe der herbeistürzende Diener ihm helfen konnte, Hut und Schirm vom Riegel und lief wie vor etwas durchaus Widerwärtigem die Freitreppe hinunter durch den Garten. Trotz seiner Wut und Aufregung bückte er sich draußen an der Rabatte, eine gelbe Pflanze zu betrachten, die ihm in dieser Jahreszeit und Klimazone als ungewöhnlich auffiel.

Auf der Straße blieb er stehen und ordnete seinen Atem. »Diese Elsässer! diese Elsässer!« sagte er fast weinend. Er fühlte sich beleidigt und beraubt, so als habe man ihm ein kostbares Eigentum, das er sich in einer Vitrine bewahrt, zerbrochen oder entwendet. Mit bebenden Lippen ging er weiter, dem Fabrikgeräusch folgend, das schwach bis hierher drang, sich mit jedem Schritt vor ihm verstärkte, dann zu einzelnem Gelärme auseinanderfiel und ihn führte. Dazu rief ihm das aufgewühlte Blut beständig Töne in die Ohren, Schreie von Tieren oder Menschen, zuletzt immer deutlicher als die Stimme eines Kindes erkennbar. Dazwischen rief jemand, ob Weib oder Mann, ließ sich nicht unterscheiden, laut um Hilfe.

Hummel spürte im allgemeinen keine starken Impulse des Zugreifens in sich, da aber das Schreien und die Rufe andauerten, setzte er sich rascher in Bewegung, nachzusehen, was es gebe. Er rückte sich die Brille fester und machte große Schritte, lief so über das Ödfeld an den leeren Arbeiterschuppen vorbei, hinter denen etwas dampfte. Bald sah er: es war die große Kalkgrube. Davor tanzte etwas Kleines, Helles, ein Kind. Es machte hohe Sprünge, von denen man nicht gewußt hatte, daß ein menschliches Wesen sie machen konnte, und die umso sonderbarer erschienen, als sie, von Schreien begleitet, in ein wie behextes Drehen ausarteten. Neben dem satanisch hüpfenden Kinde stand eine alte Frau und bewegte gleichfalls laut schreiend sinnlos die Arme. Er erkannte jetzt die Sommerfleckige und das braunlockige Bübchen von vorhin, sah auch eins große Gartengießkanne und verstand, daß der Kleine den ungelöschten Kalk zum Sieden gebracht und sich dabei verletzt hatte.

Das Kind, da es ihn kommen sah, hatte mit seinem schauderhaften Gespringe und sogar mit Schreien aufgehört.

»Was gibt es denn?« fragte Hummel, »hat er sich verbrannt?«

Die Alte, an die er sich wandte, fing an in aufgeregtem Elsaß-Deutsch zu erklären. Gespielt habe es, das Martinle, und dann sei es mit dem Fuß, ja mit dem ganzen Fuß sei es hineingetreten in die Kalkgrube. Dann fuhr sie fort, mit rostiger und brüchiger Stimme Heilsprüchs zu singen.

»Dreimal an de Galge g'hängt,
steckele uffe, Steckele abe,
biß d'r Katz d'r Wadel a –«

Hummel war an das Kind herangetreten, das ihm jetzt vertrauensvoll sein Beinchen entgegenstreckte, und hatte begonnen, den halb verzunderten kleinen Knöpfschuh mit seinem Taschenmesser vollends wegzuschneiden. Das Kind schluchzte still. Mit geöffnetem Mäulchen seufzte es nur klanglos und rhythmisch auf, wie der Krampf der Schmerzen es stieß, wobei es jedesmal seine großen, ganz mit Tränen gefüllten, unbeschreiblich glänzenden schwarzen Augen auf den Fremden richtete, der, ohne den Knaben anzusehen, an ihm hantierte. Nur als auf Anweisung des Professors die Alte ihm das nun nackte Füßchen mit dem kalten Wasser der Gießkanne abspülte, begann der Kleine wieder sein Geschrei, das die Alte durch ein neues Sprüchlein zu beschwichtigen suchte:

»Hopsa, Kindele, hopsassa,
kumm', w'r wolle danze,
nimm e Stickele Käs' 'n Brot,
steck's in dine Ranze,«

wobei sie ihre Hände wie tanzend grotesk bewegte.

Inzwischen waren die Arbeiter aus dem Fabriktor herausgekommen, Männer und Frauen. Sie stellten sich an die Kalkgrube, fragten und gaben Rat: Weiße Liliensalbe sei das Beste. Und geriebene Kartoffeln auflegen. Auch Spinnwebe oder Schafsmist tue Wunder.

Hummel schickte einen Halbwüchsigen nach der Apotheke, er solle Leinöl holen; dann schrieb er in sein Notizbuch ein Rezept, unterzeichnete es, riß das Blatt aus und gab es dem Burschen mit, zugleich den ungefähren Geldbetrag. Darauf entfernte er sich rasch. Er liebte Ansammlungen nicht. Und hatte nun genug von seinem Samaritertum.

Recht eigentlich in Flucht jagte ihn eine Bemerkung, die er erwischte. Man müsse es dem Babbe sagen, hatte einer der Arbeiter gemeint, und die Alte darauf erwidert: Monsieur Füeßli sei nicht mehr in der Fabrik, er sei mit den Herren aus Berlin nach dem Spitalwäldchen gegangen.

Monsieur Füeßli! Unwillkürlich eilig ging er seinen Weg zurück, als habe er ein Ziel, das nach ihm verlange. In Wahrheit wußte er nicht, wohin. Er war es nicht mehr gewöhnt, Zeit zu haben. Seit Jahren hatte er sich seinen Tag streng eingeteilt, um ihm möglichst viele Leistungen zu entlocken. Im Hause hielt seine Nichte jede Störung seiner Gewohnheiten fern. Ihre Kinder sah er kaum, vielleicht wußte er nicht einmal, wie alt sie seien. Sogar das Verhältnis zu seinen Zuhörern und Schülern hatte etwas Programmäßiges, Unpersönliches bekommen. Wirklich nahe stand ihm keiner.

Am fernsten aber stand er doch sich selber. Er beschäftigte sich niemals mit sich selbst und dachte nicht viel über sein eigenes Leben nach. So war es ihm auch, als er nach Straßburg kam, nicht eingefallen, den Bindestrich zu machen zwischen dem Elsaß, das er zufällig nun bewohnte, und jenem Elsaß, das einmal das Erlebnis seiner Jugend gewesen war.

Diese Reise tat das jetzt für ihn.

Und so wußte er plötzlich, während er aufs Geratewohl, die Straße kreuzend, in den Wallweg einbog, daß Meckelen ihm von einem kleinen Nachgeborenen gesprochen hatte, das bei den Füeßlis noch im Jahre der Silbernen Hochzeit erschienen sei. Diesem »Silberkinde« also war er jetzt begegnet.

Er öffnete seinen Rock ein wenig. Zerstreut lächelte er in die staubige Wärme hinein, blickte an der Zuchthausmauer in die Höhe und sah, daß Zerff recht hatte. Statt der naiven Soldätlein, deren rote Hosen malerisch und fast lustig gewirkt hatten, gab es jetzt da oben blitzende und grausame Drahte.

Natürlich praktischer! Man sparte an Personal! Aber wieder war es ihm, als sei ihm etwas weggestohlen worden.

Die Pappeln am Kanal waren gestutzt. Man sah über ihre rauhen Reiser herüber die kahle, frisch erhöhte Mauer. Das Wasser des Grabens war schwarz und gering, die Tür der Leichenkapelle stand offen. Am Wall dagegen war alles freundlich. Hübsche gärtnerische Anlagen, ein runder Aussichtsplatz mit Banken, zu dem sich die Armengarten gepflegt und gerade hinaufzogen. Ein paar der uralten »Remparthäuser« aber standen noch. Schief und zerfallen mit blinden Fenstern, von Balken und Eisenstützen gehalten, schienen sie kaum mehr bewohnt. Ganz wenige Türen hingen noch in den Angeln. Hummel trat näher: »Madame Groff, Schampre à louwée«, stand am Schildchen des Holzzauns. Ein abgerissener rostiger Klingeldraht hing in die Luft.

Er kam nun in den »Süßen Winkel«. Alles geordneter und sauberer als früher. Die Misthaufen fest geformt mit Abflußkanälchen neben sich. Durch die runden Hoftore sah man geschäftige Leute. Ein blindes Pferd drehte irgendeine Mahlmaschine im Kreise. Hatte früher hier nicht einmal ein weißer Pfau gesessen?

In diesem Augenblicke schoß ein halbgeschorenes Hammelchen in wilder Flucht an ihm vorbei, von einem Mann gefolgt, der fluchte. Er sah Hummel und zog sogleich ein mürrisches Gesicht. »Excusez.« Beim Vorbeirennen schubste er ihn ein wenig in die Gosse. »Drecksäckl, Luder,« schimpfte er dabei. Man konnte das auf Tier oder Mensch beziehen. Hummel wunderte sich über sich selbst, daß er friedfertig blieb. Früher wäre das wohl anders gewesen. Ein Bild erhob sich vor ihm: Sturm und Regen. Ein langer junger Mensch im Nachthemd. Einen flatternden weißen Schal um den Kopf, der einer Rotte Betrunkener kriegerisch nachjagte.

»Ja, ja, man wird alt!« Aber er empfand das jetzt als Behaglichkeit.

Wieder in der Hauptstraße, ging er nun schon ganz gewohnheitsmäßig an den Häusern vorüber, die er heute so oft gesehen hatte. Förmlich heimatlich kam ihm das vor: die weißen Oleander, die Pinscher, die Madames. Vor dem Renaissanceerker der »Krone« blieb er stehen. Er beschloß hineinzugehen und den Baron dort zu erwarten. Er faßte nach seiner Brusttasche. Für alle Fälle hatte er die Korrektur seiner neuen Arbeit über die Erreger des Flecktyphus mitgebracht. Nun fühlte er sich geborgen.

Beim Eintreten in den hallenden Steinflur gab er dem Hausknecht den Befehl, nach der Villa Schlotterbach zu telephonieren, Baron Meckelen möge den Herrn Geheimrat in der »Krone« abholen.

Die breite Wendeltreppe gemächlich hinaufspazierend, fand sich Hummel vor der geöffneten Tür zum großen Gastzimmer. Zu seinem Mißbehagen sah er eine gedeckte Tafel, Blumensträuße, Weinflaschen und Leute, die Französisch sprachen. Die zierliche kleine Mamsell, die bediente, kam mit wippenden Röcken und klappernden Absätzen auf ihn zu: Monsieur sei vielleicht ungestörter nebenan im Erkerzimmer? Sie schloß das spitze Holztürchen auf, öffnete ein Fenster, weil es drinnen ein wenig muffig roch, deckte schnell mit leichten, hübschen Bewegungen ein Tischchen und stellte es vor den Gast hin, der im Erker Platz genommen hatte. Er entsann sich, daß damals hier die schöne »Kronen«-Wirtin mit einer Handarbeit gesessen hatte, als er mit Bourdon vorüberging. Auf der »altdeutsch« verzierten Weinkarte aber, die man ihm reichte, stand ein neuer Name, und der Erker hatte funkelnagelneue Butzenscheiben erhalten. Der Geheimrat bestellte sich Tee, und während das Mädchen die Tasse aufstellte und das künstliche Sträußchen vom Schanktischchen herübersetzte, erzählte sie wichtig, es sei ein Brautpaar drinnen, papa, maman und die beiden andern Herren en qualité de témoins. Der eine Monsieur Treumann, der Postvorsteher, der andere der Pharmacien Charles Amstoutz. »Grad eben haben sie uff'm Rathaus den contrat gemacht, dreiundneunzigtausend Francs Aussteuer, monsieur!« Ihr stumpfnasiges Gesicht wurde ehrfürchtig und fromm. »Dreiundneunzigtausend Francs, c'est chic!« Sie seufzte.

Er erfuhr dann noch, die Braut sei die Tochter eines reichen Holzhändlers aus der Gebweiler Gegend. Der Bräutigam war der Doktor, der der Post gegenüber wohnte. »Ein Prussien,« fügte sie hinzu, und es lag ein gewisses Mitleid in ihren Worten.

»Sie möchten also nicht mit der Braut tauschen, Fräulein?«

»O, quant à ça, welsch oder deutsch, sell wär mir au fond egal.«

»Margritle, Margritle,« rief man aus dem Nebenzimmer. Sie flog wie von ihrem weißen Schürzchen gesegelt hinaus. Hummel zog jetzt sein Manuskript aus der Tasche. Im Erker war es noch hell, sogar ein Sonnenstrahl fiel schräg und gelb auf seine Blätter. Und schnell war Thurweiler und Elsaß vor dem Gelehrten versunken. Er las und korrigierte, dachte nach und träumte. Jedes völkische Sonderinteresse hatte seinen Sinn für ihn verloren. Nur an die Menschheit, die leidet, dachte er in diesen Augenblicken und an die Wissenschaft, die ihr zu helfen bereit ist. Er gründete in Gedanken wundervoll eingerichtete Institute für Forschung und Heilungen, leitete Ströme von Gold hindurch, von allen Seiten auf ihn zufließend. Wenn man doch einen Hebel wüßte, eine Gewalt, einen Befehl, dem alle gehorchten, so daß man die Menschen zwänge, Geld und Kräfte herzugeben für solche Zwecke. Nur ein paar einzige Monate lang! Er dachte sich ein großes Aufgebot. Jeder ließ seine eigene Arbeit und ging an die Stelle, an die man ihn zum Wohl der Allgemeinheit hinberief. Eine Abgabe vom Vermögen plante er, eine Beschränkung des persönlichen Genießens und Bereicherns aller irgend Vermöglichen. Und das alles dann zusammengerafft, um, wissenschaftliche Untersuchungen und Experimente zu fördern, Mittel herzustellen, die, so teuer sie seien, der großen Masse der Kranken ohne Unterschied zugänglich gemacht werden könnten. Erst sollte einmal der körperliche Mensch auf einen gesunden Zustand gebracht werden, weitere körperlich Gesunde erschaffen und so den Grund zu gesunden, graden Gedanken legen, zu einem Leben frei von der Qual unnatürlicher Bedürfnisse und Nöte.

Wer aber hatte den Zauberstab, der die Geldbeutel öffnen und über Parteihader, Bequemlichkeit und Lauheit herüber eine Einheit der Willigen schaffen konnte, ein Instrument der Macht? Seine Stirne, blaß und leuchtend unter solchen Gedanken, machte sein Gesicht schön.

Die Türe wurde ehrfurchtslos aufgestoßen. Laut sprechend und lachend kamen ein paar Herren herein. »Donnerwetter, das Nest hat ja ein ganz anständiges Gasthaus. Na denn mal her mit dem Schlampanjer. Hier muß es doch massenhaft geschmuggelten französischen Champagner geben? Was?«

Es waren die städtischen Herren vom Fabrikhof vorhin. Berliner, der Sprache nach. Ein dünner Vornehmer, der vor Langeweile zu sterben schien und empört war, daß es hier so kalt sei. Er sprach leise und langsam, wie diktierend. Habe er gewußt, daß kein Auto hier an der Bahn wäre und nicht einmal Droschken, dann hätte er die Schose überhaupt nicht mitgemacht. Ein Überernährter war da, seltsam beweglich, der die Unterhaltung führte, und ein Stiller, Fleißiger, derselbe, der sich vorhin auf der Landkarte Notizen gemacht hatte. Er schrieb auch jetzt in sein Buch und murmelte Zahlen vor sich hin, kurzsichtig, ohne Haar, im Gesicht etwas Geierhaftes. Wahrscheinlich war er weit jünger als die fünfzig Jahre, die er zeigte.

Hummel drehte den Leuten den Rücken zu. Er war aus seiner Welt herausgerissen. Zerstreut trank er seinen Tee und las die Zeitung, die er gestern aus Straßburg mitgebracht und nur flüchtig angesehen hatte.

Die Herren unten im Saal hörten keinen Augenblick auf, sich zu unterhalten. »Meine Frau, meine Frau,« sagte der eine immer. Es war der Langsame und Dünne. Der Dicke schrie beständig wie erbost. Selbst als er nur erzählte, wie billig er seine Spazierstockkrücke erhalten habe, klang es, als ob er sich mit jemandem zanke. Der mit dem Notizbuche rief nach einem »Zeitungsmenschen« zum Fenster hinaus, hatte aber keinen Erfolg, weil er irrtümlich den Postboten anrief. Man sprach während des Essens von anderem Essen, das man hier oder da in anderen Städten gegessen hatte. Dazwischen von Preisen. »Können Sie jetzt billig haben, wenn Sie sich beeilen.«

Hummel kroch ganz in sich zusammen. Er goß sich sogar Arrak in seinen Tee.

Jetzt fingen die Vier an – offenbar bildeten sie eine Art Kommission – über den Rutengänger zu schimpfen, der sie irgendwie in ihren Hoffnungen enttäuscht hatte. Der Dicke räsonnierte und lachte sogleich aus voller Kehle. Zuletzt begriff Hummel: der Rutengänger sei mit unbeweglicher Rute an einem Schacht vorbeigegangen, an dem stand: »Außer Betrieb.« Füeßli hätte den Herren dann gesagt, daß dies der ergiebigste Schacht des ganzen Unternehmens sei und nur augenblicklich wegen Sicherungsarbeiten geschlossen. »Übrigens famoser Kerl, der Füeßli,« sagte der Fleißige. »Versteht was von der Schose.« Er hatte eine hohe, heisere Stimme, in der auf eine unangenehme Weise Energie schwang.

Zuletzt sprach man nur noch von Berlin. Man rühmte alles: die Sauberkeit, Ordnung, Schnelligkeit der Verkehrsmittel, die Kinos und das Nachtleben in der Friedrichstraße und Tauentzienstraße. Man schien den gelehrten stummen Rücken des Mannes da im Erker recht als eine Aufforderung zu empfinden, saftige Männeranekdoten zu erzählen. Ganz schnell, wie man Waren aufzählt oder Ziffern nennt. Der Dicke sah nach der Uhr. Er schalt, daß man ihn hier seine Zeit versäumen lasse. Er müsse morgen früh zur Sitzung und habe noch einen langen Bericht zu schreiben dafür. Der Dünne fragte mit schleppender Stimme, was denn dabei sei. Bis dahin werde er noch lange fertig. »Sie haben ja noch die ganze Nacht vor sich.«

Unwillkürlich hatte sich Hummel umgesehen. »Die ganze Nacht noch vor sich,« das war echt Berlinisch.

Im Nebenzimmer war schon eine ganze Weile Klavier gespielt worden. Ein weicher, huscheliger Anschlag.

»Hört, hört.« Der Dicke ging zur Tür und öffnete sie vorsichtig. »Ah, France, ma France,« hörte man, »loin de toi je me meurs.«

»Die Kerls machen Chauvinismus. Zum Rollen.« Er öffnete die Türe weiter. Gerade begann eine männlichere Stimme. Man sah einen breiten, etwas runden Rücken, der sich nach dem Takte einer neubeginnenden lustigen Melodie vor und zurück bewegte. Es war eine französische Deklamation. Harmlos unanständig, mit festem deutschem Akzent gesprochen. »Embrasse moi, Ninette.« Man lachte drinnen und draußen.

»Zum Rollen,« sagte der Dicke wieder ernsthaft.

Das Margritle kam, die Teller abzunehmen. Sie schloß dabei wie unabsichtlich die Türe wieder. »D'r Monsieur Treumann singt,« sagte sie zu dem Fleißigen. »Der Herr Postvorsteher. Er ist alleweil gespaßig und so ein guter Herr. Er kennt eben die Leute hier in Thurweiler. Wenn er jetzt nicht gesungen hätt', dann hätte der schönste Krawall angefangen.«

»Krawall? Na, das wäre doch mal ein bißchen Abwechslung gewesen.«

»Der Herr hat schon recht, certainement, mais voyez-vous, dann muß der Kronewirt am End' wieder blechen, wie letzthin am Sonntag von Karneval. Wir hatten hier eine Reunion vom Cercle Alsacien.«

»Kenn' ich nich, was ist denn das auf deutsch?«

»Ein Verein, wissen Sie, Monsieur, den die jungen studierten Herren in Straßburg haben. Eh bien, da haben sie eben wieder mal die Marseillaise gesungen, und das erlaubt das gouvernement natürlich nicht. O, und hier in Thurweiler hat's auch noch Leute, so von den älteren, wenn die den Wein im Kopf spüren, dann werden die Fensterläden zugemacht, und dann geht's los mit der Marseillaise. Sehen Sie, der Vater von der Hochzeiterin dadrin, der ist auch noch so einer. Aber wenn der Herr Treumann dabei ist, so hat's keine Gefahr. Er sagt ihnen seine Späße, und dabei vergessen sie die Marseillaise.«

Hummel rief das Mädchen heran, um zu zahlen. Der Aufenthalt hier wurde ihm unerträglich. Er hatte sich bereits erhoben, als dicht neben dem Erker sich eine Tapetentüre öffnete, die er bisher nicht bemerkt hatte, und die nach der Privatwohnung des Wirts führen mochte. Die Wirtin selber, eine junge, blasse Frau mit geziertem, zusammengezogenem Munde, erschien, um zu sagen, der Herr Maire wünsche Monsieur zu sprechen. Unwillkürlich erwartete Hummel, Balde eintreten zu sehen. Er erhob sich. Vor ihm stand der hochgewachsene kräftige Mann, der vorhin aus dem Fabrikgebäude dem Rutengänger entgegengetreten war, Pierre Füeßli. Da er jetzt den Hut abnahm, war sein Haar leicht gewellt, noch voll und von einem bläulichen Grau, gegen das sein bläßlich braunes Gesicht südländisch hervorstach. Dabei hatte aber der ganze Typus etwas Alemannisch-Treuherziges.

Er nannte seinen Namen: »Füeßli.«

Hummel forschte betroffen in das zwar sympathische, ihm aber ganz fremde Gesicht hinein.

»Madame Füeßli schickt mich zu Ihnen, Herr Geheimrat,« sagte der Ankömmling, und seine Stimme klang befangen. »Wir haben Ihren Namen auf dem Rezept gelesen, das Sie die Menschenfreundlichkeit hatten unserm Söhnchen zu verschreiben.«

Hummel verbeugte sich. Er zeigte mechanisch auf den Sessel neben seinem eigenen. Eine Pause entstand. »Wie geht es dem Kinde?« fragte Hummel endlich gemessen, »hat es noch Schmerzen?«

»Er findet sich jetzt besser. Madame Füeßli ist zur Hälfte Arzt, sie hat die leichte Hand ihres Vaters. Sie erinnern sich an Monsieur Balde?«

»Vollkommen. Ich habe den alten Herrn sehr verehrt.«

»Er verdiente es von Ihnen verehrt zu werden, Monsieur, ein seltener Mann. Ich wollte, das Elsaß hätte mehr von seiner Art.«

Nun war man wieder fertig. Der Geheimrat wartete. Es machte ihm jetzt eine kleine Freude zu sehen, daß der andere sich mühte.

»Madame Füeßli hat mir aufgetragen,« fing der Maire wieder an, »ihr Gelegenheit zu geben, Monsieur persönlich ihren Dank aussprechen zu dürfen. Sie würde sehr glücklich sein, wenn Monsieur mich zu ihr begleiten wollte.«

Hummel sah nach der Uhr. »Sehr liebenswürdig, aber ich erwarte – – Baron von Meckelen wollte hier in der ›Krone‹ mit mir zusammentreffen.«

»O, wenn es nur das ist! Der Baron ist häufig unser Gast. Er wird nichts dagegen haben, sein Rendezvous mit Ihnen in unser Haus zu verlegen. Aber Monsieur muß entscheiden. Ich will nicht hartnäckig erscheinen.«

Hummel schwankte. »Ich müßte dann zu Herrn Schlotterbach telephonieren. Der Baron wollte mich anfänglich dort – – Ich würde mich natürlich freuen, bei dieser Gelegenheit allerlei alte Erinnerungen – –« Er wußte durchaus nicht weiter.

Da sah ihn der bärtige, große Mann da vor ihm mitten aus seinem tadellos korrekten Benehmen heraus treuherzig an. »Grad das mein' ich. Man kann doch nicht so beieinander vorbeilaufen! Gelt?«

Hummel stieß mit seinen Fingern unruhig in seinem Bart umher. »Gehen wir also, wenn Sie meinen.«

Weiter wurde lange kein Wort gewechselt. Man nahm jetzt nicht den Weg durch den großen Saal, sondern ging durch die Privatwohnung des Wirts, ein behagliches, bürgerliches Zimmer, in dem ein Kanarienvogel schmetterte, die Nebentreppe herunter und durch Hof und Garten wieder nach vorn auf die Straße«

»Sie sind Maire hier wie Ihr Schwiegervater es damals war, Herr Füeßli?« fragte der Geheimrat endlich.

»Ja, seit etwa zehn Jahren. Vor mir hatte übrigens Ihr Verwandter das Amt, Monsieur Camille Bourdon.«

»Ah, wirklich? Ich dachte nicht, daß er dazu passen würde.«

»O, er hat uns durch die Zeiten des Regimewechsels gut hindurchgebracht, gerade er. Es war ganz gut, in solcher Zeit einen Mann an der Spitze zu haben, der sich in den beiden Sprachen gleichmäßig freundlich auszudrücken suchte.«

»Also zweizüngig!« Sein ganzes ungebrochenes Temperament grollte in diesen Worten.

Pierre schwieg. »Ich weiß,« sagte er dann ernst. »Die eingewanderten Deutschen werfen uns immer Unaufrichtigkeit vor. Sie beklagen sich, wenn wir sie nicht in unsere Intimität hineinsehen lassen, oder wenn wir aus Höflichkeit zu ihnen so reden, wie sie es wünschen. Und tags darauf vielleicht kommen unsere Verwandten aus Frankreich zu Besuch; was Wunder, wenn man ihnen, die in Rage geraten, wenn sie eine Pickelhaube sehen, und Ohrenschmerzen spüren, wenn sie deutsch angeredet werden, die Berührung mit seinen deutschen Freunden erspart, sie vielleicht gar vor ihnen verleugnet? Wir sind nicht zu beneiden, glauben Sie mir. Und es ist nicht schwer für einen Elsässer, seinen festen Charakter zu verlieren und zwischen den zwei Feuern, die auf uns gerichtet sind, nach jeder Seite hin zu schmelzen.«

»Ja, ja, ich weiß, man hat ja neuerdings auch die schöne Phrase von der elsässischen Doppelkultur aufgebracht. Ich muß gestehen, ich kann mir nichts Rechtes darunter vorstellen.«

Der Maire hatte eine unbestimmte Handbewegung. »Pubertätserscheinungen, beim Volke wie beim Einzelnen. Wir sind alle ein wenig an dieser Klippe vorbeigesegelt. Und wenn Sie jetzt Baron Arvède sehen, werden Sie nicht glauben, daß er einmal am Zwiespalt seiner Doppelnationalität fast zugrunde gegangen wäre.« Hummel nickte. Françoise hatte ihm damals von ihrer Begegnung mit dem Knaben im Thurwalde geschrieben. Und er kam sich einen Augenblick verwoben vor und verstrickt in das Leben dieser Personen, an die er ein Menschenalter lang überhaupt nicht mehr gedacht hatte.

»Und Ihr Schwager Schlotterbach?« fragte er dann. »Mir scheint, er ist gescheitert an dieser Klippe, von der Sie sprechen. Ich hätte nie gedacht, daß ein Mann, der in seiner Jugend so viel Verständnis für Deutschlands Größe hatte, ein so eigensinniger Chauvinist werden könnte.«

Füeßli zuckte die Achseln. »Mein guter Schwager liebt es, sein Glück immer dort zu sehen, wo er gerade nicht ist. Man nennt diese Leute Idealisten. Wir andern Prosaischen sind weniger Guck-in-die-Luft-Menschen, wir sehen auf unsere Füße. Dabei bog er mit freundlicher Bewegung dem Fremden einen feuchten Zweig zurück, der an seinen Hut streifte.

»Und da zu Ihren Füßen, was sehen Sie da?« Schon ein paarmal waren sie, von gleichem Impulse getrieben, vor dem Gitter des Balde-Hauses wieder umgekehrt und von neuem die Klostergasse zurückgegangen. Auch jetzt machten sie es so. Unvermittelt begann Füeßli wieder: »Sehen Sie, Herr Geheimrat, das Elsaß hat noch nie das Glück gehabt, eine Staatsform organisch aus seinem Volkstum herauswachsen zu sehen, malheureusement. Immer ist sie ihm von dem Staate, dem es gerade angehörte, oktroyiert worden. 1870 waren wir einfach ein Departement von Frankreich. Man wünschte sich bei uns die freie Republik. Frankreich hat die Republik erhalten, wir aber gehören zu Deutschland, voilà. Einen Volksstaat haben wir gewollt, einen Beamtenstaat haben wir erhalten, und würde jetzt Elsaß-Lothringen von Deutschland eine Verfassung geschenkt bekommen, so würde den Inhalt dieser deutschnationalen Verfassung wiederum nur eine Bevölkerung bilden, die noch kein inneres Verhältnis zu ihrer Staatsform gefunden hat. Was uns fehlt, ist das gemeinsame politische Gemütserlebnis mit unserer Heimatsregierung, mit Deutschland. Ein Erlebnis, wie Elsaß es mit Frankreich durch die Revolution hatte.« Hummel sah ihn überrascht an. »Ein gemeinsames Gemütserlebnis!« Der Gedanke überraschte ihn. Stumm lächelte er vor sich hin, sich immer mehr in den begonnenen Gedankengang vertiefend.

Pierre fuhr fort. »Von diesem gemeinsamen Gemütserlebnis aber sind wir noch weit, weit entfernt; denn Ihre Regierung – Sie verzeihen mir? – macht es manchmal wie das Kind im selbstgepflanzten Gärtchen, das immerfort neugierig an seinen jungen Setzlingen rupft, um zu sehen, ob sie schon Wurzeln treiben. Man kann von uns nicht verlangen, daß wir mit Emphase die ›Wacht am Rhein‹ singen. Aber wir wehren uns ebenso gegen die Franzosen, die verlangen, man solle immerfort Revanche schreien.«

»So, tun Sie das? Wehren Sie sich? Das wäre ja sehr schön!« Er ging rasch und böse neben dem Gatten von Françoise her. Wozu eigentlich war er mit ihm gekommen? Er sann auf eine Ausrede, wieder umzukehren. Und nun fiel es ihm auch schwer aufs Herz, daß er der Frau gegenübertreten sollte, die ihn verlassen und die er beleidigt hatte. Er liebte es nicht, sich in Lagen zu begeben, die er nicht beherrschte. Dieser gegenüber fühlte er sich hilflos. Er vermochte nicht sich vorzustellen, was Françoise sagen würde, was er ihr erwidern.

Die Klostergasse, in der sie jetzt gingen, baumdunkel und von einer feuchten Wärme erfüllt, machte ihm fast Furcht. Er suchte nach einem Wort, das ihm zu entschlüpfen erlaubte.

»Also Sie fühlen sich hier alle schlecht behandelt von den Deutschen?« fragte er schließlich zänkisch.

»Das, o nein, wir haben im Gegenteil unsere Freude und unser Behagen an Invalidenversicherung, Krankenkasse, Wasserklosetts, Elektrizität, gut schließenden Fenstern und Türen und sprechen daneben seelenvergnügt« – er machte eine spöttisch-schalkhafte Bewegung mit der Hand – »unser angestammtes Französisch. Aber« – wieder waren sie an der Gittertüre angelangt – »wir sollten längst bei Madame Füeßli sein, und statt dessen führe ich Sie hier im Dunkeln umher und langweile Sie mit meinen Bemerkungen. Verzeihen Sie mir.« Hummel antwortete steif. »Es hat mich sehr interessiert, einen Elsässer über diese Dinge zu hören. Heute habe ich nun in Baron von Meckelen, Herrn Schlotterbach und Ihnen, Herr Maire, die Vertreter dreier typischer Berufe kennengelernt.«

Er steckt uns in sein Herbarium, dachte Füeßli belustigt. Dieses Zusammentreffen mit dem Manne, dem Françoises erste Liebe gehört hatte, war längst ein Wunsch von ihm gewesen. Vor allem, weil er den Kern des Schattens kennen wollte, mit dem er einst so schwer zu kämpfen gehabt. Mit Befangenheit und aufgeregter Neugier war er in der »Krone« eingetreten. Das Feine, Kindliche und fast Hüllenlose aber dieser Seele, wie es aus jeder Äußerung und jedem Blick hervorleuchtete, dazu die edle Form der Gelehrtenstirn, die über dem schon etwas erschlafften Gesicht sich fest und klar erhob, alles das gab ihm einen neuen Menschen, der gar keine Verbindung für ihn hatte mit dem Heinrich Hummel, den er sich unwillkürlich immer noch jung und fordernd vorgestellt hatte. Und jetzt, da er ihn auf einer kleinen Lächerlichkeit zu ertappen meinte, war er ihm geradezu lieb geworden...

Inzwischen saß Françoise Füeßli am Bett des kleinen Martin, der unter ihren geschickt lindernden Mitteln und beruhigenden Händen jäh eingeschlafen war. In seiner kleinen Faust aber hielt er ein paar ihrer warmen Finger gefangen, so daß sie in unbequemer Haltung dem Schneeschlagen lauschte, das aus der Küche herüberdrang. Man bereitete für den Gast. Hausfraulich überdachte sie noch einmal ihr eilig verfestlichtes Nachtessen und betrachtete dann zärtlich des Kindes verwühlte Locken, den dunklen Wimperstrich der Lider, die erhitzten Bäckchen. Ein gelblich verhülltes Lämpchen brannte auf der Kommode und warf ein mondhaft stilles Licht über das hübsche neue Bronzebett, in dem der Knabe lag, daß das Gegitter märchenhaft floß und gleißte. Pierre hatte, als das »Silberkind« in Aussicht war, darauf bestanden, es nach neuesten hygienischen Grundsätzen zu betten und zu pflegen. Keine Wiege und später nicht Pauls altes Kinderbettchen, das mit Batist und Schleifchen aufgeputzt zu werden verlangte. Françoise vermißte anfangs das Zarte und ein wenig Sentimentale ihrer früheren Kinderstube, dann aber hatte sie sich an die saubere Übersichtigkeit gewöhnt, an die kalten Bäder für den Kleinen, die kurzen Strümpfchen. Sie war stolz auf sein abgehärtetes braunes und sehniges Körperchen und konnte ihn sich jetzt gar nicht mehr anders denken als in seinem Matrosenkittelchen mit freier Brust. Freilich trennte sie die deutschen Schiffsabzeichen von Mütze und Ärmel und stickte Phantasieblumen hinein, der Bub aber bewahrte sich die deutschen Abzeichen und spielte damit Marine. Sie ließ ihn gewähren. Ebenso wenn er weinte, weil er keine deutschen Buchstaben lernen wollte, und trotzig schwieg, wenn ihn jemand deutsch anredete. Auch als er vor einem Jahre zur Schule kam, blieb das so, bis er auf einmal von deutschen Verschen und Liedern überfloß. So sehr, daß er seine kleinen Kusinen aus Mülhausen verachtete, die nur Französisch zu plappern verstanden. In dieser deutschen Phase befand er sich noch heute. Die Veranlassung dazu war seine Schwärmerei für den deutschen Lehrer, dem er für die Botanikstunde die schönsten Pflanzen herbeischleppte, deren Hauptwert darin bestand, daß man sie mit Mühe und Gefahr aus Sumpfwiesen zwischen Felssteinen, Erdlöchern und Stachelpflanzen herausreißen konnte. Auch der Sturz in die Kalkgrube war eine Folge seines wissenschaftlichen Eifers gewesen. Er wollte die Löschbarkeit des Kalks prüfen und vor dem Lehrer damit Beachtung finden.

Françoise war nicht weichlich mit ihm. Sie dachte mehr an seine Freude als an ihre Angst bei allen seinen Unternehmungen. So trug sein kleiner Körper und sein Anzug immer Risse und Flecke. Paul war in diesem Alter bereits ein kleiner eleganter Herr gewesen. Ihm gegenüber wäre die Mutter vielleicht auch eitler gewesen. Martin erst hatte ihr wirkliche Muttergefühle geschenkt. Vor diesem Spätling vergaß sie oft alle Erziehungsvorurteile und wollte nur genießen. Und wie er nun größer wurde, empfanden Pierre und sie eine sonderbare Dankbarkeit gegen ihn, daß er sie mit der neuen Generation verband, zu der sie sonst keine Fühlung mehr gesucht hatten. Um seinetwillen machten sie sich horchend und willig für das neue Elsaß. Sie sahen sich um.

Vielen ererbten und sorgfältig gepflegten Groll sahen sie da. Aber dieser Groll war sonderbar mit unwillkürlichem Deutschtum gemischt. Die jüngere Generation der Elsässer war politisch gleichgültig, hatte nur die ernste Absicht, als Individuum irgendwie voranzukommen, angenehm zu leben. An ein Wieder-französisch-werden glaubte keiner recht, so viele auch sich mit dieser Idee drapierten oder sie als unterhaltendes Spielzeug benutzten.

Als Gegengewicht gegen diese Bestrebungen hatte die deutsche Presse begonnen, sich mit dem anerkannt Guten der deutschelsässischen Vorzeit zu beschäftigen: Gottfried von Straßburg, die Mystiker, Gutenberg. Man wollte damit die gemeinsame Vergangenheit gegen die französische ausspielen, einen Treffpunkt schaffen für die schönen Geister beider Seiten. Eine elsässische Rundschau wurde gegründet, Jahrbücher, die sich den alten elsässischen Volkssitten widmeten und Beiträge von elsässischen Laien wie deutschen Gelehrten vereinigten.

Hier fand sich Françoise am leichtesten ein. Sie nahm Père Anselmes liebes Buch vor, das nach dem schwer leserlichen Manuskript in unwürdiger Form erschienen war, und ergänzte für eine neue Auflage nach dem nunmehr geordneten und gesichteten Archiv die Lücken. Ihr Onkel Eusèbe Blanc, der jetzt als Universitätslehrer in Straßburg lebte, verschaffte ihr aus den dortigen Bibliotheken, was sie brauchte. Sie saß im Rathause und las in den alten Büchern. Und dabei fand sie ein Deutschland wieder, wie sie es geliebt hatte. Das Deutschland des Mittelalters und der Romantik. Père Anselmes Deutschland.

Aber die Wirkung dieses Wiederfindens war keine germanisierende bei ihr. Im Gegenteil. Denn indem sie die gründliche handwerkliche Sicherheit und tiefe Innerlichkeit des mittelalterlichen Deutschen mit dem verglich, was sie heute um sich sah, oder die seelische Vertiefung der »Gottesfreunde« mit dem materiellen Gehaben rundum, ergriff sie eine böse Verachtung; zugleich aber der brennende Wunsch einer leidenschaftlichen Mütterlichkeit: ihr Sohn möge es sein, der dazu beitrüge, im Elsässer wieder dies alte schöne Menschentum aufzuwecken. Ja – und ihr wurde heiß und weit bei dem Gedanken – in den Deutschen selber.

Françoise stand auf. Der Kleine hatte ihre Hand losgelassen. Sie sah nach der Uhr. Dann ging sie langsam vor den großen Spiegel und betrachtete sich. Würde Heinrich Hummel sie sehr alt finden? Sie zupfte die Spitzen ihres Jabots voller und ging in ihr Schlafzimmer nebenan, sich das Haar frisch zu ordnen. Schließlich vertauschte sie auch ihr Kleid mit einem besseren. Dabei spürte sie, daß sie Herzklopfen hatte. Sie trat ans Fenster, das über das Vorplatzgitter hinüber nach der Klostergasse sah. Sie wartete.

Der Gedanke eines Wiedersehens mit Hummel war ihr nicht neu. Seitdem sie ihn in Straßburg wußte, hatte sie, wenn sie dort Besuche oder Besorgungen machte, an jeder Straßenkreuzung eine Begegnung erwartet, sich überlegt, ob man sich grüßen, ansprechen, versöhnen würde. Es war ja so ewig lange her, daß man einander wehgetan. Seitdem sie Martin hatte, war diese Vergangenheit ihr gleichgültig geworden, wie sie glaubte. Jetzt spürte sie mit Staunen und Verdruß, daß sie erregt war. Und als sie jetzt die Gittertüre gehen hörte, streckte sie abwehrend beide Hände aus. Darüber aber mußte sie lachen. Noch einmal blickte sie nach dem Bübchen, dann ging sie mit glühendem Kopf und eiskalten Händen hinüber ins Besuchszimmer, sehr unzufrieden mit sich selber. Unwillkürlich strich sie sich kurz vor der Türe die Hüften schlanker.

Als sie in den Salon kam, standen sie schon da: Pierre und ein völlig Fremder; ein deutscher Geheimrat mit Brille, grauem Bart und nicht ganz gut sitzendem, dunklem Rock. Eine tiefe, köstliche Beruhigung kam über Françoise. Mit anmutiger Bewegung streckte sie dem Fremden, der sich zweimal schweigend vor ihr verneigte, die Hand hin, die er behutsam nahm und hielt, ohne viel damit anzufangen.

Françoise dankte ihm in fließend wohlgeordneten Worten für seinen Beistand bei Martin und berichtete, daß es dem Kinde gut gehe. Wenn der Kleine jetzt nicht schlafe, würde er dem fremden Onkel Doktor sicher gern selber gedankt haben. Dann fügte sie in leichtem Ton hinzu, sie freue sich darauf, recht viel von ihm zu hören.

Pierre stand dabei und hatte eine gute, wie beschützende Geste nach dem Geheimrat hin, die Françoise belustigend vorkam. Allerhand nichtsnutzige Instinkte kamen in ihr auf und ließen sie hochmütig lächeln. Pierre sah sie an. »Nicht doch, nicht doch,« schien er zu sagen.

Wie es ihm in Straßburg gefalle? fragte Françoise, und es sei schade, daß das Wetter nicht besser sei. Hummel hatte bisher nur das Notwendigste geantwortet, karg, wie verbissen. Er war zerstreut eingetreten, hatte weniger an Françoise gedacht als an ihren Mann, der ihm interessant geworden war in der kurzen Zeit. Dann aber sah er sie. Mit der hohen Frisur, die sich steil über der Stirn erhob, erschien sie größer als früher. Ihr silberblondes Haar, unmerklich ergrauend, stand metallisch ab gegen ihr von der Gesundheit der Frauenreife kräftig getöntes Gesicht. Sie hatte etwas Majestätisches bekommen in Haltung und Gestalt.

Wie eine Marquise, dachte Hummel überrascht. Mit zufriedener Gründlichkeit betrachtete er sie. Die Erlesenheit ihrer Erscheinung gab ihm vor sich selber die Rechtfertigung dafür, daß diese Frau ihn einmal sehr glücklich und sehr unglücklich gemacht hatte. Aufmerksam, als gälte es Art und Klasse eines Naturwerkes zu bestimmen, folgte sein Blick der noch immer strengen Linie ihrer Arme, die sich unter dem engen Ärmel rein abzeichnete, hob sich wieder zu ihrem Gesicht, um sich, wie vervollständigend, dann auf Pierre zu richten. Der blaue jünglinghafte Strahl, den der Ergraute dabei emporschickte, verwirrte Françoise einen Augenblick. Sie verlor von neuem ihre Sicherheit. Und als sich jetzt ihr Mann, vertraut wie zu einem Verbündeten, zu dem Besucher wandte, der ihm ebenso vertraulich antwortete, kam ein merkwürdiges Gefühl der Eifersucht über sie. Sie sah von einem zum andern, fühlte sich ausgeschlossen, beiseite geschoben, fast vernachlässigt. Und spürte es dabei gar nicht, daß der gute Geheimrat sich noch einmal kopfüber in sie verliebt hatte.

Françoise hatte sich niedergelassen und war wieder aufgestanden, noch ehe die beiden Herren sich über ihre Plätze vor ihr schlüssig geworden waren. »Vielleicht unterhält es Monsieur Hummel, die Bilder zu sehen, die seine Tante Amélie mir vor dem Verkauf des ›Bourdon d'or‹ geschenkt hat?« Sie zeigte auf ein paar viereckig gerahmte Pastellbildchen, die in der breiten braunen Türnische hingen: Jules Bourdon und der tolle Hummel. »O, ich habe noch etwas anderes aus der Pharmacie,« sagte sie. »Den neuen Besitzer interessierte es nicht. Da kaufte Monsieur Füeßli es ihm ab für mich.« Sie wies auf ein altes braunes Kästchen, das auf dem schön gemaserten Zierschränkchen stand. Pierre ging auf ihren Wink heran, ein Uhrwerk schnurrte ein wenig, und auf einmal – Françoise hatte die Hände erhoben, um Stillschweigen zu gebieten – hörte man das seine alte Stimmchen des Spieldöschens »Mich fliehen alle Freuden« singen.

»Die alte Zeit,« sagte Hummel lächelnd. Seine Augen wurden blank vor Bewegung, aber er nahm sich zusammen. »Wie schön, daß Sie sich hier so mit alten Erinnerungen umgeben, gnädige Frau,« sagte er verbindlich.

»O ja« – sie hatte jetzt Lust ihn zu quälen – »es ist das beste Mittel, ihnen zu entgehen, Monsieur Hummel. Sie wissen, die Bilder, die man in die Stuben hängt, sieht man gar nicht mehr. Sie sind nur der gewohnte Fleck da an der Wand.«

»Ah bah, Erinnerungen,« rief Pierre dazwischen, und Françoise bemerkte mit Staunen, daß er ein wenig lärmend sprach, so als ob er sich völlig unter den Seinen fühlte. »Vorerst schaffen wir uns noch neue, ehe wir darangehen, die alten zu sammeln. Wir haben nicht wie Sie, Herr Geheimrat, wissenschaftliche Werke zu schaffen für die Zukunft. Unsere Zukunft aber, das ist unser kleiner Bub da oben, und der wird uns noch genug Nüsse zu knacken aufgeben. Sieht er nit grad so aus, der Lausbub?« Aus seinen schmalen Augen glänzte eine ungeheure Vaterfreude. »Ein reizendes Kind,« sagte Hummel aufs Geratewohl. Der Knabe hatte ihm flüchtig gefallen. Wie er aussah, hätte er in diesem Augenblick schon nicht mehr zu sagen gewußt.

»Haben Sie sich gut im Elsaß eingelebt?« fragte Françoise konventionell.

Hummel antwortete in gleicher Weise.

»Und Madame Hummel?« fragte sie tastend.

»Ihr ist es wohl schwerer geworden. Meine Nichte stammt aus Ostpreußen und aus einer Offiziersfamilie.«

Eine Nichte also, keine Frau! Françoises Gesicht war plötzlich ganz hell geworden.

Hummel fuhr fort: »Alle ihre Gewohnheiten sind streng preußisch. Es empört sie, wenn man sie in den Kaufläden französisch anredet, und sie behauptet, man fordere den Deutschen doppelte Preise ab. Ihre Mädchen läßt sie sich aus Königsberg kommen. Die hiesigen wären alle Trinkerinnen.«

Françoise lachte. Sie stand auf. »Der Baron läßt sich erwarten,« sagte sie heiter. »Täuschen wir unsere Ungeduld, indem wir ein wenig in den Garten gehen. Der Mond scheint.«

»Der Mond scheint,« wiederholte Hummel. Und in seinem Munde bekam der kleine Satz einen Klang von Poesie, vielleicht Erinnerung. Françoise mußte gegen ihren Willen auf einmal daran denken, daß sie diesen Mann da einmal unsinnig gern gehabt hatte. Ohne aufzusehen, ließ sie sich von Pierre in einen schönen, rotseidenen Schal wickeln, den er herbeigeholt hatte. Hummel stand dabei und sah ernsthaft zu.

Im Garten war es lau und dunstig. Eine Feuchtigkeit, die duftete. Françoise ging voran. Die Blicke beider Männer folgten ihr, wie sie langsam und rhythmisch vor ihnen her dem Mond entgegenschritt, den Kopf emporgerichtet, schweigend, wie nachtwandlerisch.

»Wie sich das verändert hat,« rief plötzlich Hummel erschrocken. Erst jetzt hatte er bemerkt, daß die prachtvollen Kastanien der Allee gestutzt und von den Jahren völlig verkrümmt waren. Böse, feucht und schwarz standen sie da. »Alles verändert,« wiederholte er fast vorwurfsvoll. Françoise sah ihn lächelnd an. Und in ihrer Stimme, die sich gegen Rührung wehrte, klang es wie Schadenfreude, als sie sagte: »Nichts bleibt bestehen, Herr Geheimrat, nichts kommt wieder.«

Pierre hatte wieder seine gute, schützende Bewegung zu Hummel hinüber. »Das hat der Brand gemacht,« sagte er dann. »Er hat die schöne Allee verwüstet.« Er redete weiter: »Im Sommer, wenn die Zweige voll Blätter sind, scheinen sie ganz jung; sie blühen; gerade wie Kerzen stehen die weißen Trauben in die Luft. Aber jetzt, nein, hierher müssen Sie sich stellen, so daß Sie auch die Silhouetten auf dem Boden sehen können.«

Hummel gehorchte und betrachtete nun bald die krausen Äste selber, bald ihr wunderliches Abbild auf dem Kiesrondell, an das sie nun gelangt waren; dasselbe, in dem einst Luciles Hängematte geschaukelt hatte inmitten friedlicher Blütenbüsche.

Jetzt hier schien alles Kampf, Haß und Aufruhr. Aufgebäumte Leiber streckten sich zueinander, verknäulten sich und schickten wie hilferufend kraftlose Arme aus. Lange Spinnenbeine griffen in die Luft. Spitze Zungen bleckten sich wütend entgegen, Schuppenbeine mit grauenhaft gekrampften Zehen traten hilflos flehenden Baumweibern auf Brüste und Hüften. Vom Mondlicht gigantisch verzerrt und wie sich regend, malte sich diese phantastische Gigantomachie auf dem hellen Kiesboden. Hummel wagte kaum zu treten zwischen den Gespenstern. Er sah auf Françoise, die schweigend dastand, ihr Schal blutrot über der steingrauen feinen Wolle des Kleides. Der starr in sich versenkte Ausdruck, mit dem sie auf die Tiersilhouetten auf ihren Füßen blickte, löste in dem erregten Gelehrten eine mythologische Vorstellung aus. »Kirke,« sagte er halblaut.

Pierre hatte es gehört und lachte frisch. »Und ich der Bär? meinen Sie.«

»Ich jedenfalls die Eule,« fügte Hummel gewandt und heiter ein. Er hatte in Françoises Miene gesehen, daß sie ihm aus irgendwelchem Grunde nicht mehr böse war.

Und wirklich hatte seine Äußerung eben sie von aller Unsicherheit erlöst. Denn sie war Frau genug, es zu genießen, daß er sie neu bewunderte, und daß sie sich nicht gegen seine Verachtung zu wehren hatte. Viel eher sogar ihn müßte sie beschützen. Damit war eine tief mütterliche Empfindung in ihr erwacht für ihn.

»Mein kleiner Sohn hat sich gefürchtet, als er zum erstenmal beim Mondenschein hier stand,« sagte sie zu Hummel, und es lag in ihrer Stimme ein Ton, als bringe sie ihm mit dieser kleinen intimen Erwähnung ihres Kindes eine Kostbarkeit dar.

Auch er fühlte es so und sah sie dankbar an.

Françoise lächelte erwidernd. Und weil sie froh war, nahm sie im Schatten Pierres Hand und strich darüber hin. Pierre nahm die warme Hand und drückte sie. Auch ihm war lastenlos zumute. Er, der alles, was seine Frau anging, begriff, fühlte, daß sie jetzt Hummel wieder gern hätte. Er strich sich seinen Bart. Nun kam ja noch alles in schönste Ordnung. Denn nun erst würde sie ganz fertig sein mit dieser Vergangenheitsgeschichte.

Und jetzt tat er etwas, das bei einem andern komisch gewirkt hätte. »Wollt ihr euch nicht einmal aussprechen?« sagte er und griff in der Dunkelheit nach beider Händen, wie um sie ineinander zu legen. »Es ist doch so gut, sich einmal auszusprechen.« Damit ließ er die Hände wieder fallen und ging mit Schritten, die auf dem Kiesweg laut knirschten, zum Hause zurück.

Die beiden standen allein.

Hummel beeilte sich, keine Stille eintreten zu lassen. »Ich bin so froh, Ihren Herrn Gemahl kennengelernt zu haben.«

Und Françoise als Antwort darauf: »Wie gut Sie zu unserm Bubi waren.«

»Sie haben gewiß Kinder sehr gern?« fragte sie nach einem Weilchen.

»O das – ich habe das eigentlich noch nicht bemerkt. Um die Kinder meiner Nichte kümmere ich mich wohl nicht sehr. Ich weiß kaum, wie sie aussehen. Ich habe immer so wenig Zeit,« fügte er entschuldigend hinzu und fing an zu lachen dabei.

Auch Françoise lachte.

Danach sagten sie sich nichts mehr. Aber sie hatten das Gefühl, sich endlich einmal gründlich ausgesprochen zu haben miteinander, so wie Pierre ihnen das aufgetragen hatte.

Und so war es wirklich. Denn nun wußten sie das einzig Wichtige voneinander, nämlich daß sie versöhnt seien, und daß sie fortan nur Gutes voneinander denken wollten. So kehrten sie denn um und gingen Pierre Füeßli nach ins Haus hinein.

Als sie im Hausflur standen, kam gerade Meckelens Auto vorgefahren. Es gab ein heiteres Willkommen. Bald läutete der Gong, man ging zu Tisch.

Es war der alte schwere Eichentisch, die alten schweren, hochlehnigen Stühle, die Hummel sah. Er erkannte sie wieder. Aber eine neue hellere Tapete war da und elektrisches Licht. Viele grüne Pflanzen standen am Fenster, blühende Kamelien, Kakteen, eine Zimmerlinde, die aussah wie durchsonnt. Beim Essen meinte Hummel, die Form des Silberzeugs sei ihm bekannt, und ganz bestimmt erinnerte er sich der Jagdszenen des Porzellans und des alten schönen Schliffmusters der Kristallbowle, die auf dem Eckbüfett stand. Als das Mädchen jetzt den Silberschrank öffnete, erkannte er den alten Duft von Silberputzpulver und Veilchen, der ihm damals entgegenschlug.

Françoise bot ihm Salat. »Sie müssen die Löffel halten, sie sind etwas schwer.«

»Wie Ihr Nußknacker damals.«

Sie lächelten alle beide. Dann sprach man wieder von dem Brand und zählte die Dinge auf, die man nicht hatte retten können. Arvède beklagte namentlich das Schreiblädchen von Frau Balde, das er sehr geliebt hätte. Es habe ausgesehen wie ein Spinett. Innen eine Menge geheimnisvoller Fächer, die immer voller Briefschaften, steckten. Er kannte noch alle Figuren, die darauf standen: die Venus mit ihren Tauben, die Porzellanköpfe, dahinter die große Perlmuttermuschel, auf der die Kreuzigung eingraviert war. Er erzählte, wie er an diesem Schreibtischchen mit Victor Hugo zusammen gestanden und wie sie alle drei das Schriftstück für das Lyzeum verfaßt hatten. »Ja ja, Victor Hugo.« Er sah lächelnd auf Hummel.

Der wurde rot wie ein Knabe. »Sie müssen mir verzeihen, wenn ich Ihren Schwager beleidigt habe, aber –«

Arvède schüttelte den Kopf. »Sie haben seine ganze Achtung davongetragen, Herr Geheimrat, und er läßt Sie durch mich um Entschuldigung bitten wegen seiner Bitterkeiten. Die Vergangenheit, Sie begreifen, ist für ihn das rote Tuch, das ihn zu stoßen zwingt. Er liebt sie immer noch ein wenig, seine deutschfreundliche Zeit, aber er ist trotz seiner gespielten Nüchternheit zu sehr Idealist, um das Land zu verleumden, das seiner Meinung nach jetzt ein leidendes ist.«

»Idealist? Sie drücken das sehr geschickt aus, Herr Baron, und sehr menschenfreundlich. Wirklich sehr geschickt.«

Vielleicht hätte das Gespräch, selbst hier an Françoises Tisch, eine gewisse Heftigkeit angenommen, wenn sich nicht in diesem Augenblick die Tür zum Kinderzimmer aufgetan hätte und eine kleine, weiße Gestalt hineingehumpelt wäre, schlaftrunken, wie taumelnd, geradeswegs auf Hummel zu, und ihm auf den Schoß fiel.

Alle lachten. »Mais Martin,« rief seine Mutter, »qu'est-ce qui te prend?«

Das Kind sah einen Augenblick wie erstaunt um sich, dann beschämt schlang es beide Ärmchen um Hummels Hals und versteckte sein Gesicht an seiner Brust. Hummel hielt ganz still. Die aufrechtstehenden heißen Löckchen kitzelten ihn am Munde, an der Wange. Er rührte sich nicht. Es war ihm wunderlich, den weichen, schlanken Körper auf seinen Knien zu fühlen. Er, dem seit Jahrzehnten kein Mensch mehr körperlich nahe gekommen war.

Vater Pierre war aufgestanden, faßte verliebt und mahnend den kleinen Kerl um die Taille, ihn fortzutragen. »Es ist ein Naturkind, ce marmot, man muß ihn schelten.«

Aber Martin ließ sich nicht stören. Er bog den Kopf zurück und studierte ernsthaft Hummels Züge. »Hast du einen Hund?« fragte er endlich.

»Einen Hund? Nein, mein Junge.«

»Ich will dir Boppele schenken,« entschied der Kleine. Dann ließ er sich hinaustragen.

»Boppele!« Arvède lachte bis zu Tränen. Er erklärte, Boppele sei ein Scheusal. Eine Rassensammlung vollständigster Art. Das Kind habe die Mißgestalt auf der Straße gefunden und liebte nun das Tier mit Schwärmerei.

Françoises Gesicht war ganz in Lächeln getaucht. »Ich hätte nie gedacht, daß er sich davon trennen würde.«

Jetzt ist sie nicht mehr Kirke, sondern Madonna, dachte Hummel. Nach den sonderbaren Gesetzen, in denen die Liebe der Gealterten sich bewegt, trug der zarte, schaumige Wohlgeschmack der Nachspeise, die er dabei aß, noch einen besonderen Reiz zu seinem Gefühl hinzu. Er fühlte sich liebend und liebte sich um dieses Liebens willen, das er sich längst nicht mehr zugetraut hätte, freute sich, daß diese Liebe ohne Qual war, nur ein ungeheures Wohlerbitten für Françoise und die Ihren. So löffelte er denn seine Zitronenspeise zwischen den Geweihen eines gemalten Hirsches heraus und wußte auf einmal wieder die Welt voll guter Dinge.

Man sprach von Martins Zukunft. Füeßli meinte, er solle Ingenieur werden. Damit komme man jetzt im Elsaß am weitesten. Françoise wünschte, ihn studieren zu lassen. Kunstgeschichte. Schon jetzt sitze er stundenlang vor einem alten Kunstatlas und versuche, die Figuren nachzuzeichnen. Arvède schlug vor, man möge ihn, wenn er die Schule hinter sich habe, als Volontär zu ihm hinausgeben, und Hummel sagte, er passe sicher zum Arzt, da er sich des leidenden Hundes so treu angenommen habe.

So wollte jeder ihn in seinem Handwerk unterbringen.

Im Fumoir gab es Kaffee, Zigarren und Liköre. Hummel betrachtete sich die in Glasschränken verwahrten Bücher: alte französische Klassiker, einige Bände Shakespeare, Schiller und Goethe, schöne Ausgaben von Sophokles und Euripides. Er fand alte Bekannte darunter aus dem früheren Bibliothekzimmer, daneben ein Schränkchen moderner Literatur: Baudelaire, Verlaine, Huysmans, Mallarmé, Heine, Stefan George und einen Band Gottfried Keller. Hummel nahm ihn ahnungslos in die Hand. Eine Seite schlug sich auf: »In einem Gärtlein, wo du weißt.« Eine Blutwelle stieg ihm ins Gesicht. Er erinnerte sich. Hastig stellte er das Buch zurück. »Ah, da sind auch französische Schulbücher,« sagte er dann scheinbar interessiert und bückte sich zum unteren Fach des Schrankes.

»Ja, die sind noch von Paul, unserm Ältesten.«

Die Unterhaltung wandte sich auf Paul. Françoise beklagte mit Heftigkeit, daß man immer noch seine französischen Söhne nur in Frankreich sehen dürfe. Von Jahr zu Jahr erwarte man vergebens die Aufhebung dieses Ausnahmegesetzes. Sie erzählte, daß Paul verheiratet sei und zwei nette Kinder habe. Seine Frau war eine geborene Baronin Flèche, »eine Stieftochter der kleinen Berthe de la Quine«, erklärte sie, die Hummel damals hier vor dem Laden des Bäcker-Nazi getroffen habe. Es war das erstemal, daß sie ihn geradezu an die Vergangenheit erinnerte, und sie lächelten sich beide an wie einverständlich.

Pierre und Arvède hatten sich zurückgezogen in das Zimmer des Hausherrn. Sie wollten einige Kreisgeschäfte miteinander bereden. Hummel blieb bei Françoise, die sich an ein zierliches Nähtischchen gesetzt hatte, die Augen auf eine Handarbeit gesenkt.

Hummel ging im Zimmer umher wie suchend. »Hatten Sie hier nicht früher einen schönen alten Kupferstich, der die Stadt Thurwiller darstellte, wie sie im vierzehnten Jahrhundert war? Ich hatte ihn so gern mit seiner bunten Übermalung.«

»Der Kupferstich?« Sie erhob sich ein wenig und griff hinter sich, wo auf dem Fenstertritt eine bunt bemalte Schachtel stand, die sie empornahm und auf ihre Knie setzte. Im Bewußtsein, daß sie unter anderen Andenken auch Hummels erste Briefe enthalte, zögerte sie einen Augenblick, schloß aber dennoch auf und reichte ihm das Kupferblatt, nach dem er gefragt hatte, rahmenlos und mit ein paar gelben Flecken an der Seite. Es sei beim Brande angesengt, sagte sie. »Aber kennen Sie noch diese Handschrift?« Sie gab ihm einen mit französischen Worten eng beschriebenen Zettel, der Spuren von Zerknitterung aufwies. Er dachte nach. »Der Ratsschreiber?«

Sie nickte. Er las.

»Und so gleicht denn unser armes Elsaß so recht eigentlich jenen alten Pergamenten, die man Palimpseste nennt, auf denen die alte gotische Schrift mit lateinischer übermalt wurde, bis es endlich einer kundigen Hand gelang, die verborgene Schrift wieder zu Licht zu fördern.

Damit dieses Wunder auch bei uns geschehe, müßte aber schon der liebe Herrgott selber herunterkommen und ein großes Wecken blasen.«

Dann las er auch die Unterschrift: »Gespräch beim Besuch des jungen Deutschen, am 10. Juli 1870.«

»Eigentlich gehört der Zettel also Ihnen,« sagte Françoise lachend, »aber ich habe ihn gestohlen, ganz einfach gestohlen und behalten.«

Nie war sie ihm reizender erschienen als in diesem Augenblick. Sie saß wie überschwemmt von Licht mit ihrer hellen Stickerei unter der Lampe, ein Körbchen mit bunten Seidenknäueln, Scherchen und Schächtelchen um sich herum. Das erinnerte ihn plötzlich an seine Mutter, bei der er abends manchmal gesessen hatte, wenn sie nähte. Die Vergangenheiten mischten sich vor ihm, er unterschied nicht mehr recht zwischen ihnen.

Was habe ich nun eigentlich an ihm geliebt? dachte Françoise inzwischen. War es das Kindliche und Gute in seinem Wesen? Der blaue Blick, der strahlen konnte? Seine Jugend? Seine Liebe für sie? Jedenfalls war es vorbei damit, und dafür war sie ihm besonders gut in diesem Augenblick.

Hummel fing wieder von Martin an. Er wußte keine andere Form, in der er Françoise seinen Zustand der Ergebenheit und Anhänglichkeit klarmachen konnte.

Wirklich begann sie denn auch zu erzählen. Er erfuhr, das Kind sei, während Paul natürlich Katholik war, protestantisch getauft wie sein Vater und seine Großmutter. »Ich wünschte es, um ihn seinem Vater ganz nahezubringen. Und dann – der Einfluß der katholischen Geistlichkeit ist sehr groß in den Familien, die zu ihrer Kirche gehören. Ihr beständiges Wühlen gegen Deutschland würde unserem Kinde mehr Zwiespalt gebracht haben, als ein Elsässer ohnehin schon zu ertragen hat.« »Sie werden ihn also keinesfalls an Frankreich geben?« »O, nichts weniger als das. Wir möchten« – Sie unterbrach sich und hob den Finger. Aus der Küche unten drang ein eintöniger Zwiegesang, aus dem die Zischlaute scharf hervorsausten. Man verstand deutlich die Worte:

»Je suis Alsacienne,
tue es Alsacien
nous sommes Alsaciennes,
vous êtes Alsaciens –«

Immer wiederholt.

»Kein sehr geistreiches Lied,« sagte Françoise. »Aber es sagt das, was ich mir für Martin wünsche. Unseren ältesten Sohn haben wir an Frankreich verloren. Ich habe manchmal Angst, daß wir unseren jüngsten an Deutschland verlieren könnten.«

»Verlieren? Meiner Meinung nach wäre es dann einfach zu Hause.«

Sie sah ihn gütig an. »Wie wenig Sie doch eigentlich verändert sind!«

»Und Sie nicht im geringsten.«

Sie lachte auf. »O, o, die französisch galante Art im Elsaß scheint ein wenig abgefärbt zu haben?«

Er wollte sich verteidigen, irgend etwas Leichtes sagen. Während er aber noch darüber nachdachte, hörte man draußen einen immer wiederholten rauhen Ruf: »Vive la France«, dazwischen Lachen von allerlei Leuten und Pantoffelschurren. Hummel fuhr auf. »Was ist das?«

Auch Füeßli und Meckelen waren hereingekommen. »O, nichts von Bedeutung,« sagten die. »Beunruhigen Sie sich nicht, Herr Geheimrat, nur Jean Groff ist es, der da draußen lärmt. Er braucht wahrscheinlich wieder eine Schlafstelle.«

»Jean Groff?« Hummel dachte nach. »Kann das derselbe sein, der hier im Jahre Siebzig den Garten begoß? Der Stammvater des Süßen Winkels? Er war damals schon sehr bejahrt.«

»Derselbe. Er ist bereits ein Achtziger und immer noch ein großer Farceur.«

Arvède erzählte dann, der Mann habe in den ersten Jahren nach dem Kriege, wenn seine Frau ihm mitten im kalten Winter einmal wieder die eheliche Türe vor der Nase zuschloß, das Mittel gefunden, sich Nachtquartier zu schaffen. Er tat sich eine blau-weiß-rote Kravatte um, ging vor die Häuser der Behörden und schrie: »Vive la France«. Dann sperrte man ihn ein, und er war zufrieden. »Zu seinem Unglück läßt man seit vielen Jahren die Leute schreien, was sie mögen. Trotzdem versucht er es immer wieder. Es ist seine Art zu betteln.«

»Und sein Häuschen? Ich habe das Schild noch eben gelesen.«

»Das Häuschen gehört seiner Enkelin, bei der er in Pflege ist. Aber« – Arvède senkte aus Respekt vor Madame Füeßli die Stimme – »sie hat an den zugezogenen Deutschen Schlafgäste, die ihr lieber sind als ihr alter Papa. Er muß ihnen oft Platz machen.«

Pierre kam lachend zurück. Er habe den Alten für eine Nacht oben in der Bodenkammer unterbringen lassen.

»Also doch wieder!« Françoise drohte ihm mit dem Schlüssel, den sie aus dem Körbchen nahm, um für den Strolch Bettwäsche herauszugeben.

Als sie gegangen war, fühlte Hummel plötzlich Müdigkeit. Auch Arvède gähnte verstohlen. Die Abschiedsstunde war da.

»Werden Sie mich einmal in Straßburg besuchen?« fragte Hummel, als Einleitung zum Aufbruch, »Sie und Ihre Frau Gemahlin?«

»Gewiß, wenn Sie glauben, daß wir Madame Hummel willkommen sind? Sie verkehrt nur mit Deutschen, wie Sie mir sagten?«

»O, meine Nichte richtet sich natürlich ganz nach meinen Wünschen««

»Natürlich, aber immerhin...«

Hummel schwieg. Er fühlte, Füeßli hatte recht mit seinem Bedenken für Straßburg. In der Stadt floß Scheidewasser zwischen Elsässern und Altdeutschen, mehr als hier auf dem Lande. Dennoch wandte er sich jetzt an Françoise, die wieder eintrat. »Wir verabreden soeben Ihren Erwiderungsbesuch bei mir in Straßburg. Wann kommen Sie?«

Es hatte ihn nun doch eine plötzliche Ungeduld befallen. Ihm schien, er habe viel zu viel Zeit verloren, ehe er diese Hand fassen durfte, die sich ihm ebenso freundschaftlich entgegenstreckte, und die er unbewußt ganz vorsichtig drückte. Er begriff nicht mehr, daß er so lange an Françoise nicht einmal mehr gedacht hatte. »Wann kommen Sie?« wiederholte er dringender.

Sie zog ihre Hand zurück. »Genießen wir vorerst recht herzlich die Erinnerung an die paar Stunden heute.«

»Aber warum nicht sie wiederholen?«

Françoise lächelte frauenhaft überlegen. »Nichts wiederholt sich im Leben, nichts kehrt wieder.« Es waren ihre Worte von vorhin, die sie ihm zurückrief.

»Wir bringen Ihnen unseren Sohn nach Straßburg, wenn er aus der Schule ist,« sagte Pierre, dem der Geheimrat leid tat.

Françoise trat ganz mütterlich zu ihm. »Zeit lassen, Herr Geheimrat, Zeit lassen.« Sie sagte es ganz in dem gleichen Tonfall, in dem Pierre die Worte früher ausgesprochen hatte. Und gab Hummel damit, ohne es zu wissen, die Unmöglichkeit, das Paar getrennt zu denken.

Während Meckelen sich mit den Autolichtern beschäftigte, die er anstecken wollte, und Pierre ihm die Streichhölzer brachte, beugte Françoise sich anmutig vor und küßte den Jugendfreund auf beide Wangen, ein sachter Hauch, der ihm allen Trübsinn nahm. Einen Augenblick dachte er daran, ihre Hand zu küssen, aber er wußte sich ungeschickt, fast spöttisch aussehend bei solcher Gelegenheit. So drückte er nur ihre schmalen Finger in den seinen. »Ich danke für alles.« Und wiederholte dieselben Worte mit gleichem Händeschütteln gegen Pierre.

Als der Geheimrat mit Pierre und Arvède die Treppe hinunterging, hatte er ein Gefühl tiefer, köstlicher Erleichterung. Schon jetzt genoß er diesen Besuch in Thurweiler wie eine schöne Episode. Nun war sie abgeschlossen. Ein Wort aus seinem neuen Aufsatz, das er lange gesucht hatte, stand klar und gut eingefügt vor seiner Vorstellung. Das machte ihn froh.

Ein paar Hin- und Herrufe noch, ein Winken, das Auto fauchte davon.

»Reizende Leute, die Füeßlis,« sagte Arvède gähnend und zog dem Gaste die Decke höher hinauf.

Beide sprachen lange nichts.

»Ich schäme mich, wie wenig ich weiß von dem Treiben der elsässischen Jugend,« sagte Hummel plötzlich.

Meckelen, im Einschlafen begriffen, fuhr erstaunt auf. Der Professor war doch unverwüstlich.

Aber Hummel, fast schwatzhaft geworden, fuhr fort: »Als ich damals von Thurwiller fort ging, hier diesen selben Weg, den wir jetzt fahren, in der Dunkelheit auf einem Milchwagen, heimlich wie auf dem Schub, da habe ich dem Städtchen bei meinem Abschied zugerufen: ›Ich komme wieder, zu erobern was mein ist.‹ Ich hatte damals, heute kann ich es wohl sagen, mir Hoffnung gemacht, einmal hier heimisch zu werden. Nun ist es anders geworden. Zurückgekommen ins Elsaß bin ich ja, aber nur gemächlich wie ein Erbe. Trotzdem – hatte ich nicht am Ende recht damals? Müßte ich nicht jetzt – Sie kennen wohl das Wort von Goethe – endlich anfangen, auch zu erwerben, was ich ererbt habe, um es wirklich zu besitzen? Daran denke ich in diesem Augenblick.«

Der Alte redet wie im Rausch, dachte Arvède wieder, der Bocksbeutler ist ihm zu Kopf gestiegen.

»Und noch eins wird mir klar,« sagte Hummel wieder: »Paßt das Goethewort, das ich eben zitierte, nicht auf uns Deutsche hier überhaupt? Müßten wir nicht dieses Land uns erst erwerben, das wir eroberten?«

Der Baron nickte wohlgefällig. »Schön wäre das, Herr Geheimrat. Und manches wäre besser geworden, wenn man hier in deutschen Kreisen so gedacht hätte.«

Hummel hörte nicht auf ihn. »Ich werde mir das elsässische Volkstheater ansehen,« fuhr er begeistert fort. »Ich werde mir die ›Elsässische Rundschau‹ halten und die ›Revue alsacienne‹. Die jungen elsässischen Studenten will ich in mein Haus ziehen, die Kinder meiner Nichte sollen Umgang haben mit den elsässischen Kindern, nicht nur mit Militär- und Beamtenfamilien. Ich will mich umsehen von heute ab, will nicht länger sitzen auf meiner Professoreninsel.« Er sah nach dem Mond empor, der hochmütig mit ihnen ging.

»Famos, famos,« sagte Meckelen. Und im stillen fügte er hinzu: Diese Deutschen sind doch unberechenbar. Kommt jetzt aus diesem berühmten alten Geheimrat noch einmal der studentische Schwärmer herausgaloppiert, der ewige, unzerstörbare Idealist, der echte Deutsche.

Und es fiel ihm ein, daß ja auch er von diesem ewig unzerstörbaren deutschen Idealistenblut in seinen Adern trug.


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