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Wer kennt nicht Freiligraths berühmten »Löwenritt«? »Wüstenkönig ist der Löwe« beginnt das farbenglühende Sprachgemälde, und nun schildert es:
»Sieh, dann schreitet majestätisch durch die Wüste die Giraffe,
Daß mit der Lagune trüben Fluten sie die heiße, schlaffe
Zunge kühle; lechzend eilt sie durch der Wüste nackte Strecken,
Kniend schlürft sie langen Halses aus dem schlammgefüllten Becken …«
Und weiter malt der phantasievolle Dichter, wie der Löwe die Überraschte anspringt und ihr die Zähne ins Genick schlägt; mit »dem dumpfen Schrei des Schmerzes« springt die Giraffe auf und muß den Löwen bis an den Saum der Wüste als Reiter tragen, ehe sie verendet. »Ihrem Zuge folgt der Geier, krächzend schwirrt er durch die Lüfte …«
Wundervolle Bilder alles, aber nicht eines wirklich geschaut; alle nur, wie man so sagt, »aus der Tiefe des Gemüts« am Schreibtisch ersonnen und, vom Standpunkt des Naturforschers gesehen, falsch. Die Dichter und die Naturwissenschaft, das ist überhaupt ein betrübliches Kapitel; über Freiligraths »Löwenritt« vollends könnte man eine ganze Abhandlung schreiben. Um bei der Schilderung der Giraffe zu bleiben und nur die wesentlichsten Irrtümer zu zeigen: Lagunen (d. h. Strandseen) gibt es in der Wüste nicht. Das Trinkbedürfnis der Giraffe ist außerordentlich gering; die Feuchtigkeit der frischen Blätter und jungen Schosse genügt ihr meist. Wenn sie aber wirklich trinkt, so kniet sie nicht nieder, sondern spreizt die Vorderfüße grätschend so weit auseinander, bis der lange Hals mit dem Kopfe den Boden erreicht. Wenn ein Löwe die Giraffe überfällt, wird er sich beeilen, dem Tiere die Nackenwirbel zu durchbeißen und es so zu töten. Sonst könnte ihn die Giraffe, gegen Bäume rennend, leicht wieder abstreifen. Noch kein Mensch hat je einen Schrei der Giraffe, nicht einmal den »dumpfen des Schmerzes« gehört; denn die Giraffe ist merkwürdigerweise so gut wie stumm – nur junge Tiere sollen bisweilen leise blöken. Daß der Geier diesem nächtlichen Überfalle »krächzend durch die Lüfte schwirrend« folge, ist undenkbar; denn der Geier ist ein Tagraubvogel. Würden wir nicht alle lachen, bemerkt Zell hierzu vergleichend, wenn jemand zur Nachtzeit in den Straßen Berlins die Sperlinge umherfliegen ließe? –
Kamelpardel – Camçlop?rdalis – haben die Griechen und Römer das Tier benannt, in dem sie ein Gemisch von Kamel und Panther sahen. Den »Langhals« – S?r-aphé – hießen es die alten Ägypter, die es auf ihren Denkmälern des öfteren dargestellt haben, und mißverstehend haben die Araber später daraus ihr » Serâfe«, d. h. die »Liebliche«, die »Anmutige« gemacht, welches Wort sich dann schließlich in unser »Gir?ffe« wandelte. Größere Gegensätze hat die Natur wohl in keiner Tiergestalt vereinigt wie in dieser, die aus allen gewohnten Formen heraustritt. Kamel und Leopard, Pferd und Hirsch, Rind und Esel, sie scheinen alle Pate gestanden zu haben bei der Schöpfung der Giraffe, deren Formen man mit Masius zierlich-kolossale, unsymmetrisch-symmetrische nennen kann, und deren Wesen eine ähnlich paradoxe Mischung aus Steifheit und Grazie, Koketterie und Würde, Arglosigkeit und mißtrauendem Spürsinn vereint. Der Kopf, zumal das »ungemein sanfte« Auge, für sich betrachtet, hat zweifellos etwas gewinnend Liebenswürdiges, etwas kindlich Zutuliches und zugleich Melancholisches, und die orientalischen Dichter haben die Augen der Giraffe ungezählte Male besungen. Wenn man diesen Kopf dann aber auf dem unsagbar langen Halse wippend balancieren sieht, verschwindet das Anmutige völlig und macht der Groteske Platz. Eine schreitende und vollends eine flüchtende Giraffe erinnert in ihren rhythmisch ruckenden Bewegungen ganz an jene hölzernen Kinderspielzeugvögel, deren Hals und Schwanz durch Fäden und eine Kugel daran zu taktmäßigem Auf- und Niederklappen gebracht werden, und die einst auf dem Berliner Jahrmarkt der Budenbesitzer mit dem Verse anpries: »Vorne Pickt er, hinten nickt er.«
Die Giraffe ( Camçlop?rdalis Gir?ffa) bildet mit mehreren geographischen Formen eine besondere Familie der Paarzeher ( Artiod?ctyla), und zwar der Wiederkäuer ( Rumin?ntia). Mit dem Okapi (s. S.245) verwandt, war die Giraffe in Urwelttagen (Pliozän) von Südosteuropa über Vorderindien bis China verbreitet; heut ist sie, immer mehr von sinnloser Ausrottung bedroht, auf die riesigen Steppen Ostafrikas von Nubien, dem ägyptischen Sudan und Abessinien im Norden bis zum Kaplande im Süden, hier nur noch in der Kalahari häufiger, beschränkt. Man hat die Giraffen im System als abschüssige Tiere ( Deve´xa) zu charakterisieren versucht. In der Tat ist das Abschüssige des Rumpfes neben dem langen Halse wohl das Auffälligste im Bau des Giraffenkörpers. Es kommt derart zustande, daß der ungemein lange Hals – der Kopf ragt oft fünf bis sechs Meter über dem Erdboden – kräftig entwickelter Muskeln bedarf. Diese wiederum bedingen große Ansatzflächen, und deshalb sind die nach hinten abgehenden, sogenannten Dornfortsätze der ersten Rückenwirbel besonders stark entwickelt und verlängert. Dadurch wird der Rumpf in seinem vorderen Teil beträchtlich erhöht, der hintere aber erscheint daneben niedrig, die Rückenlinie also stark abfallend, abschüssig, obschon Vorder- und Hinterbeine fast gleichlang sind. Über die Entstehung des auffallend langen Halses hat die Wissenschaft mancherlei Ansichten ausgesprochen. Die berühmteste Lehrmeinung rührt von dem geistvollen französischen Naturforscher und Naturphilosophen Jean Baptiste Lamarck (1744-1829) her, den wir als den eigentlichen Begründer der Abstammungslehre (Deszende´nztheorie) und als Vorläufer Darwins betrachten müssen. Lamarck sah in dem Gebrauch oder Nichtgebrauch eines Organs einen wesentlichen Anstoß zur Umwandlung und Umbildung des ganzen Organismus. Ein Beispiel, wie das zu verstehen ist. Jeder weiß, daß sich unsre Muskeln durch das Turnen, gewisse Sportübungen und dergleichen kräftiger entwickeln, indem durch solche ständige Übung mehr Blut zu jenen Teilen strömt und sie besser ernährt. Die Muskelfasern, aus denen sie bestehen, nehmen an Menge zu und werden viel leistungsfähiger. Andernfalls schwindet das Muskelgewebe, das die Muskelfasern bilden, und wird beträchtlich weniger leistungsfähig, wenn wir, z. B. durch längere Krankheit an das Bett gefesselt, unsre Beinmuskeln nicht gebrauchen; solch ein Kranker muß erst wieder gehen lernen, d. h. seine Muskeln stärken, daß sie das Körpergewicht wieder tragen können. Wenn nun jemand (wie in unserm ersten Beispiele) seine Muskeln ständig übt, und wenn er die so gewonnene Stärkung der Muskulatur auf seine Kinder vererbt, diese wieder die Muskeln in der gleichen Weise üben und ausbilden und das Ergebnis auf ihre Nachkommen durch Vererbung übertragen, so können allmählich Menschen mit besonders kräftigen Muskelanlagen und dadurch bedingten, abgeänderten Eigenschaften auch der übrigen Körperteile (der Knochen, des Herzens usw.) entstehen. Auf die Giraffe seine Theorie anwendend, folgerte Lamarck so: Ursprünglich waren die Giraffen im Körperbau und zumal der Halslänge von den andern ihnen verwandten Wiederkäuern nicht wesentlich verschieden, nur etwas höher gestellt. Als ihnen auf den gewohnten Weideplätzen aber in den zahlreichen andern Grasfressern immer mehr Nebenbuhler im Kampfe um die Nahrung erwuchsen, begannen sie von ihrer verhältnismäßig höheren Körpergestalt Nutzen zu ziehen und das Laub größerer Bäume abzuweiden. Dabei mußten sie den Hals höher und höher recken, ihn also ständig üben. So wurden die Halsmuskeln stärker, die Rückenwirbel höher und länger; der ganze Hals wurde durch reichlichere Blutzufuhr besser ernährt und nahm an Umfang, Länge und Stärke zu. Indem solche Anlage und solch jedesmal nur geringer Zuwachs von Generation auf Generation vererbt wurde und sich häufte, entstand endlich in Jahrtausende währender Umbildung und Ausbildung der riesige Giraffenhals. Lamarcks Theorie gibt so eine gute, bis heute noch nicht durch Besseres ersetzte Vorstellungsmöglichkeit der Entwicklung. Dieser zwei bis drei Meter lange Hals trägt nun einen verhältnismäßig kleinen, langgestreckten Kopf, der auf der Stirn zwei kurze, von Haut überzogene Knochenzapfen zeigt. Bei einzelnen Giraffenformen findet sich vor diesen beiden Knochenzapfen noch ein dritter, etwa pyramidenförmiger Stirnhöcker. Von den Augen sprachen wir schon; sie tragen sehr weit und sind wohl der am besten ausgebildete Sinn des Tieres. Die sehr beweglichen, großen Ohren erinnern an die der Rinder. Sehr eigenartig ist das Gebiß, das typische der Wiederkäuer: im Oberkiefer fehlen nämlich die Schneidezähne und der waffenmäßige Eckzahn, welcher Mangel bei allen Wiederkäuern durch Gehörn- oder Geweihbildung ausgeglichen wird. Die Zunge ist sehr lang, schmal, fast wurmförmig und grauschwarz gefärbt. Die Giraffe bedient sich ihrer, um Blätter und kleine Zweige, sie umschlingend, wie mit einer Hand abzurupfen und ins Maul zu schieben, wo sie dann in der bei allen Wiederkäuern zu beobachtenden, seitlichen Verschiebung der Kiefer mit den Mahlzähnen zerschrotet werden. Der Hals ist seitlich stark zusammengedrückt und hinten mit einem kurzen Haarkamm geschmückt. Auch der vergleichsweise kurze (2,25 Meter), hochgestellte (3 Meter Schulterhöhe) Rumpf erscheint nach hinten zu gleichsam zusammengedrückt, ist jedenfalls an der Brust viel breiter als an den Hinterschenkeln. Die Beine sind verhältnismäßig zierlich, die Beugegelenke der Vorderläufe wie beim Kamele durch eine nackte Schwiele geschützt. Die beiden Zehen an Vorder- und Hinterbeinen stecken in sehr festen, zierlichen, schwarzgrauen Hufen. In weichem oder sandigem Boden drücken sich diese mit ihrer länglichen Doppelform bei dem Gewicht des Tieres – die Giraffe erreicht eine Schwere von zehn Zentner – tief ein und hinterlassen so eine sehr charakteristische Fährte. Der meterlange Schwanz endet in eine schwarze, grobhaarige Quaste; in der Erregung bewegt ihn das Tier sehr lebhaft. So spricht Schillings mehrfach davon, daß die Giraffe beim Erblicken des Menschen, oder sobald ihr Argwohn erwacht, ganz auffällig mit dem Schwanze wedle. Auch beim Fliehen ist der Schwanz in lebhafter Bewegung oder wird gekrümmt auf den Rücken geworfen. Zell kommt deshalb zu der Vermutung, daß sich die Giraffen, die ja, wie schon betont wurde, stumm sind, durch das Schwanzwedeln Zeichen geben und bis zu gewissem Grade untereinander verständigen können. Selbstverständlich dient der Schwanz in jedem Falle zum Verjagen der lästigen Insekten, von denen die Giraffe besonders heimgesucht wird, obschon das Fell sehr stark, in getrocknetem Zustand noch fingerdick ist. Die in der Nähe so auffällige Pantherfärbung des Fells – dunklere oder hellere, rostbraune, ganz dicht stehende Flecken auf sandfarbenem, an der Unterseite weißlichem Untergrunde – ist doch bei größerer Entfernung ein guter Schutz, wie die Beobachter der freilebenden Tiere allgemein berichten. In Mimosenwäldern, deren Blätter und Zweige eine bevorzugte Nahrung der Giraffe sind, heben sich die Tiere von der fahlen, dornigen Umgebung nur wenig ab. Besonders wirksam ist dieser Schutz aber des Nachts und in der Dämmerung, also wenn die Giraffen, die als Herdentiere tagsüber nichts zu fürchten haben, von den Raubtieren bedroht sind.
Die Giraffe bewohnt weniger die Steppe als vielmehr lichte Buschwälder. Gewöhnlich äst sie in kleineren Rudeln. »Wenn ich der Giraffe gedenke,« schildert Schillings, »tauchen mir wie Schatten die seltsam hin und her wogenden Riesengestalten unsres Tiers im dornigen Pori (Buschgrassteppe), im sonnendurchglühten Buschwalde oder auf freier Boga (Grassteppe) weit hinten am Horizonte auf. Sie verschwinden zwischen Bäumen und Buschwerk oder gehen vollkommen in ihrer Umgebung auf. Sie schwanken über die busch- und baumlosen Ebenen dahin und scheinen wie so manches unerreichbar. Wie riesige Bäume am Horizont aufragend, in Herden den Buschwald oder das Pori durchpolternd,, vielleicht neugierig und in ungeschlachten Bewegungen sich in Herden dem Lager nähernd, umspielt von der wundersamen Äquatorsonne, schemenhaft in der sonnendurchfluteten Steppe weit am Horizonte verschwindend, unerwartet und plötzlich mitten im Mischwalde in einzelnen alten, einsiedlerisch lebenden Bullen auftauchend – stets werden auf solche Weise dem afrikanischen Jäger unvergeßliche Eindrücke zuteil.« Höchst eigentümlich, schildert unser Gewährsmann an andrer Stelle, ist der Anblick eines flüchtenden Giraffenrudels. Ihre Flucht pflegt in schrägen Reihen vor sich zu gehen, auf dürrem, hartem Steppenboden unter vernehmlichem Poltern. Das ganze ungeheure Gebäude des Tiers (das im Passe läuft, die Beine einer Körperseite immer zugleich aufsetzt und galoppiert) schwankt beträchtlich hin und her; der Anblick mehrerer flüchtiger Giraffen erinnert an schwankende Masten auf bewegter Wasserfläche. Wieder in Schritt verfallend, »verhofft« das Tier von Zeit zu Zeit, den mächtigen Kopf hin und her wendend, und langsam, Schritt für Schritt, ein Bein vors andre in eigentümlich ziehender charakteristischer Weise setzend. Der Hauptfeind der Giraffe ist außer dem Menschen der Löwe. Aber das Raubtier dürfte sich, wie Schillings urteilt, nur zu zweien oder im Rudel an Giraffen heranwagen; der furchtbare Schlag der langen Läufe kann auch einen Löwen im Schach halten. Mit solchem Ausschlagen fechten die Männchen ihre Kämpfe um die Weibchen aus, verteidigt die Mutter das Junge.
Gejagt wird die Giraffe von den Eingeborenen Afrikas sowohl wegen ihres Wildbrets als wegen des Fells. Man erlegt sie im Anschleichen mit vergifteten Pfeilen, oder hetzt sie mit Hilfe von Kamelen und Pferden oder fängt sie endlich in Fallgruben. Fonck berichtet nach eigener Erfahrung, daß sich von dem Fleische einer Giraffe eine Karawane von hundert Mann unter Zugabe von etwas Pflanzenkost eine Woche lang ernähren kann. Aus dem Fell machen die Eingeborenen Gefäße, die Europäer Peitschen, Treibriemen und dergleichen. Lebend gefangene werden von den europäischen Tiergärten sehr hoch bezahlt: so kostete das Giraffenpaar des Berliner Zoologischen Gartens im Jahre 1900 nicht weniger als 30 000 Mark. Als nach Jahrhunderten im Jahre 1827 wieder die ersten Giraffen nach Europa gebracht wurden, kam in Paris sofort eine Mode » à la girafe« auf, bei der man das Hinterhaar in großen Schleifen auf dem Scheitel aufsteckte. Originell ist es, daß man in den europäischen Kolonien Afrikas überall, wo Giraffen vorkommen, die Telegraphenmasten besonders hoch machen mußte, weil sonst die Tiere gegen die Drähte stoßen.