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»Wohl der Residenz, deren Schloß keine Schattenseite hat«, sagt in Glaßbrenners »Schützenplatz« Madame Pote, als ihr Gatte Roderich, an der »Stechbahn« stehend und auf die große Sonnenfläche des Schloßplatzes deutend, stöhnt: »Dadrüber wech bei eenundzwanzich Jrad Mittagshitze in Schatten … Nee, deß dadavor der Majistrat nich sorjt, det det Schloß keen'n Schatten nich wirft, det is unverzeihlich«.
Politik wie Politik – wahr ist's schon, daß es um das Schloß herum viel Sonne gibt. Und damals und bis in meine Kindertage stand an der Stechbahn noch nicht einmal das schattenspendende »Rote Schloß«, und wo heute das ungefüge Nationaldenkmal protzt, an der »Schloßfreiheit«, war nur eine kleine, baufällige Häuserzeile mit echt berlinischen Merkwürdigkeiten: die Konditorei Helms, Kramläden mit Berliner Andenken …
Wie ich da so gegenüber der Stechbahnecke Ausschau halte gleich dem weiland Knopfmacher und Bürger Roderich Pote, merke ich erst, wieviel sich doch hier herum in dem halben Jahrhundert geändert hat.
Zwar manch charakteristischer Zug im Bilde ist noch unverwischt: die kleinen Häuschen am Schloßplatz, die sich wie Küken um die Glucke drängen, der eckige, rote Turm des Rathauses, das Museum und natürlich das Schloß selbst im Mittelpunkt des Bildes. Dann aber die Wilhelminische Zuckerbäckerei ringsumher: das theatralische Gewirr des Nationaldenkmals, der leise humoristisch wirkende Schloßbrunnen und der in übelstem Tragantbäckerstil erbaute neue Dom haben seine edle, imponierende Größe nicht zu zerstören vermocht.
Gleich das mächtige Portal hier an der Westseite, von dem Gotländer Eosander, Eosander v. Göthe nennen sie ihn deshalb, dem Triumphbogen des Kaisers Septimus Severus in Rom nachgebildet, hat Macht. Ganz stilecht schaut graues Mauerwerk durch das stattliche, schmiedeeiserne Tor, und der Drachentöter Michael steht wundervoll mitten im Bilde. Nun einen Blick vorauf: vorn die Brücke mit den Marmorfiguren, zur Linken das Zeughaus in Rokoko-Renaissance mit seiner grünen Lichthofkuppel, das Lustgartenwäldchen, das hellenisch edle Alte Museum mit seiner Säulenhalle und seinen Statuen – das ist schon was, ein Stück deutscher Kunstgeschichte, und so klingt es denn auch rings umher von den besten Namen auf: Schlüter und Eosander (Schloß), Stüler und Schadow (Schloßkuppel), Schlüter und Hitzig (Zeughaus), Schinkel (Museum und Schloßbrücke).
Aber dann wieder der Raschdorffsche Dom, der ist bitter oder richtiger süßlich, ganz und gar Tragant, ganz im Stil der Weihnachtszuckerbäckereien von ehedem. Bei Faßbender an der Schloßfreiheit, stand noch lange im Fenster solch weißzuckerner, arg verstaubter St. Michael. Uebrigens wurden die Berliner Konditoren zu Anfang des vorigen Jahrhunderts eigens für diese Zuckerwerkkünsteleien auf der Kunstakademie zu Plastikern ausgebildet und durften sich dann »akademische Künstler« nennen. Weydes, des »Hogarths unter den Konditoren«, Tragantfiguren haben sogar in E. Th. A. Hoffmanns »Abenteuer der Silvesternacht« ewiges Leben von Dichters Gnaden gewonnen.
Im Weitergehen über den Schloßplatz – Herrgott, da steht ja noch immer die »Urania-Säule« mit ihren so »neckischen« Laubfröschen und dem andern Zeugs daran … Was hat dieser erste öffentliche Wetterprophet mit seiner Unzahl von bunkernden Instrumenten nicht seinerzeit für ein Aufsehen in Berlin erregt! Man pilgerte zu ihm, um zu sehen, ob's für die sonntägliche Landpartie gutes Wetter gäbe, oder um sein eigenes Barometer (von Obenaus oder gar Petitpierre) damit zu vergleichen, so wie man seine Uhr – vor Erschaffung der Normaluhren am Spittelmarkt und Potsdamer Platz – nach der allgemeinem Dogma zufolge »totsicher« richtig gehenden, am alten Akademie-Gebäude, Unter den Linden, richtete. Und heute kräht kein Hahn mehr nach dem schmutzigen Dinge, dem längst irgendwie sein innerer Wert, seine blanken Siebensächelchen abhanden gekommen sind. Im Weitergehen, am Marstall vorbei, der in meinen Kindertagen vielmehr nach einem Mährenstall aussah und … roch als heute, dafür aber auch wertvolle Pferde barg – die Prunkwagen zu den großen Hoffestlichkeiten nicht zu vergessen! – anstatt bloßer Mengen bedruckten Papiers, aus denen ja jede und selbst die Berliner Stadt-Bibliothek besteht, im Weitergehen schweift der Blick spreeauf zu dem Bleisoldatenfestungsbau am Mühlendamm. Die alten Mühlengebäude, wennschon schwärzlich und gewiß nicht schön, dazu die sprudelnden, schäumenden Schleusen und Wehre, die kleinen Häuschen der alten Burgstraße, das wirkte doch entschieden malerischer. Diese Mühlen gehörten übrigens noch zu des alten Fritzen Zeiten der Krone und nicht der Stadt, und eben finde ich in einem alten Buch eine famose Illustration dazu.
Stand da am Mühlendamm ein Haus, so einem gewissen Hans Zander gehörte und einen »Erckner« nebst Gewölbe besaß, die »der Erckner ganz, das Gewölbe aber etwas« auf des Amtes Grund und Boden standen. Für diesen Erker mußte, nebenbei bemerkt, Zander dem Amt als Steuer jährlich ein Pfund Pfeffer bezahlen. Vor dem Gewölbe hatte nun Jakob Winckeler einen »Schraen« (Schrägen), auf dem er Käse feilhielt. Weil aber Winckeler die Steuern nicht zahlte, ließ ihm eines Tages der Magistrat »von der Schraen 8 Kehse hinwegnehmen«. Diese welterschütternde Begebenheit der Pfändung von acht »alten Männern« führte zu einem Prozeß, der mit sehr viel Papier und Tinte »Dat. 12. Febr. anno 1642« zuungunsten des Berliner Magistrats entschieden wurde. O tempora, o mores!
Ja, was waren das doch noch für Zeiten, möchte man auch seufzen, wenn man jetzt die Blicke die Burgstraße entlangspazieren läßt. Da stand zur Rechten an der Ecke der Königstraße die »Alte Post«, einst ein Wartenbergsches Palais, von Schlüter erbaut, nachmals das Berliner Postgebäude: vom Potsdamer Tor bis hierher fuhr Theodor Körner, wie er nach Hause schrieb, 1811 noch »über eine Stunde«. In meiner Jugend war da ein lustiger Durchgang und eine berühmte Kneipe, mit Tischen im Freien. Das Haus an der andern Ecke, noch heute das Abbild des soliden älteren Berliner Kaufmannshauses, war ursprünglich Burglehen und mußte später, wie Brendicke erwähnt, »bei einem Ueberfalle des Schlosses einen Mann mit Gewehr zur Defension auf das Schloß entsenden«. Ein paar Schritte weiter, Nr. 15, ist das »Molliussche Haus« mit dem kleinen halben Freitreppchen, auf das sich der alte Fritz, als er noch ein junger Kronprinz war, einmal vor einem wütenden – Ochsen rettete, weshalb Friedrich Wilhelm IV., der ja trotz allem nicht ohne Humor war, auf Ersuchen des Hausbesitzers verfügte, der Kellerhals solle erhalten bleiben. Dann Nr. 16 das Hotel zum »König von Portugal«, heute nur noch eine literarische Reminiszenz an Lessings »Minna von Barnhelm«, die hier spielt, und das mit geistigen Gaben nicht gerade übermäßig gesegnete Bauernpaar Swart und Witt aus Reuters »Reis' nah Belligen«, das den einstens reich galonierten und betreßten Portier des Hotels für den portugiesischen König hielt.
Der Blick aufs jenseitige Ufer entschädigt uns: diese letzten Türme und Türmchen, Dächer und Erker der einstigen Kurfürstenburg Friedrichs des Eisenzahns, zumal der »grüne Hut«, der behäbig dickliche, runde Turm, 15. und 16. Jahrhundert, sind eine Augenweide. Und malerisch ist auch der Blick spreeabwärts: die schwingen breitenden, grünen Adler der Friedrichsbrücke, die byzantinisch-maurisch goldgenetzte Kuppel der Synagoge, die bescheidenen Backsteintürmchen zur Linken und meinetwegen dazu die bläßliche Patina des Doms, ja, auch zur Rechten, nur wenig aus der Häuserzeile hervortretend, der Hitzigsche Mammonstempel mit den seltsamen »Börseanern« (Städtesymbole u.s.f.) darauf.
Laßt uns in die Kaiser-Wilhelm-Straße und Heiligegeiststraße einbiegen. Da stehen noch ein paar alte Häuschen mit absonderlichem Fassadenschmuck, zumal Nr. 36 und vor allem 38 mit dem berühmten "Neidkopf". Seine Entstehung führt das Volk auf den burschikosen und manchmal einen Harun al Raschid spielenden Soldatenkönig zurück. Der König wollte, so erzählt die Berliner Sage, die auf den wachsenden Wohlstand des hier wohnenden, jungen Meisters neidische Frau des reichen Goldschmieds gegenüber dadurch strafen … Das ist aber auch alles, was hier noch aus vergangenen Tagen stammt.
Nicht viel besser steht es um die Erinnerungen der Spandauer Straße. Im Eckhause Nr. 33 – das alte Haus trug die Nummer 68 – wohnten Lessing und Moses Mendelssohn, der berühmte Philosoph und Großvater Felix Mendelssohn-Bartholdys. Nr. 40 ist die alte Apotheke »Zum weißen Schwan«, darin Theodor Fontane Lehrling und Provisor war. Gegenüber, die efeuumsponnene Heiligegeistkapelle, Gotik des 13. Jahrhunderts, ist wieder große Kunst und Geschichte, und das Ganze, einst vom »Spandauer Tor« geschlossen, ein idyllischer Winkel geblieben. Denn ein Mäuerlein vorauf mit grünen Bäumen, die alt-erneute Garnisonkirche mit ihrer putzlustigen Wetterfahne (der friderizianische Adler und der Gardestern ohne Füllung) und ein stattliches Haus aus derselben Zeit schließen den Prospekt. Freilich: der modern-wuchtige Bau der Handelshochschule, der das Kapellchen gleichsam zur Seite schubst, paßt dazu wie die Faust aufs Auge.
Es ist ein eigenartiges Gefühl, sich Goethe in diesen Straßen wandelnd vorzustellen. Frisch gebackener Weimarscher »Geheimer Legationsrat«, war der Dichter des »Götz«, des »Werther« und »Clavigo« am 15. Mai 1778 mit Karl August nach Berlin gekommen: die Kriegsvorbereitungen, die Friedrich der Große damals gegen Oesterreich traf, hatten dem Weimarer Herzog »Unruhe« gemacht, und sein »Kriegsgefühl erwachte«. So hatten sich die beiden Freunde denn kurz entschlossen aufgemacht und waren über Leipzig, Dessau, Wörlitz und Potsdam nach Berlin gefahren. Otto Pniower hat jetzt diese Berliner Reise Goethes in einem reizenden Buche geschildert, und daraus erfahren wir, daß Goethe sogar an der Fischerbrücke war, die Wollmanufaktur Wegelys (s. S. 25) zu betrachten, daß er in der Nikolaikirche weilte, um Spalding predigen zu hören. Goethe selbst hat wortkarg, wie er sich damals auch in der Berliner Gesellschaft gab, in seinem Tagebuch nur Schlagwörter (»Kastellan ein Flegel« heißt es vom Besuche in Sanssouci beispielshalber) und Namen notiert. Und ein Name fehlt sogar in diesem Tagebuch: der Moses Mendelssohns. Der über Goethes Fehde mit dem spießigen Nicolai erbitterte Philosoph nahm den Besuch des Dichters nämlich nicht an! In einem Briefe an Frau von Stein allem steht etwas von den Eindrücken, die Goethe damals von dem Leben Berlins empfing: »Es ist ein schön Gefühl, an der Quelle des Kriegs zu sitzen in dem Augenblick, da sie überzustrudeln droht. Und die Pracht der Königsstadt und Leben und Ordnung und Ueberfluß, – das wäre nichts ohne die tausend Pferde, Wagen, Geschütz, Zurüstungen; es wimmelt von allem. Wenn ich nur gut erzählen könnte von dem großen Uhrwerk, das sich vor einem treibt. Von der Bewegung der Puppen kann man auf die verborgenen Räder, besonders auf die große, alte Walze, gezeichnet, mit (ihren) tausend Stiften schließen, die diese Melodien eine nach der andern hervorbringt«.
In die Neue Friedrichstraße biegend – schön ist die Sicht über die Brücke hinweg auf die klassisch strengen Museumsbauten mit ihren Bogen und Säulen – und dann zur Rechten in die Rosenstraße – die seltsam spitz sich schließende Heidereutergasse mit dem alten Judenbethaus wird von dem Grün des Doms überhöht – fällt unser Blick auf die Marienkirche, die hier, halb seitlich gesehen, mit der Kette von Bäumchen darum, ein liebenswürdiges Bild abgibt. Immer stattlicher wächst sie empor, löst sich von der Umgebung und zeigt sich endlich als schlichteste Gotik des 13. Jahrhunderts: wie sie so schmucklos dasteht, das satte, reiche Grün des »Neuen Markts« in harmonischem Kontrast dazu, vielleicht eine der schönsten Berliner Kirchen. Darum liest man auch im »Berliner Baedeker« darüber: »Eine im Aeußeren ungemein nüchterne Kirche«. Das steinerne Kreuz davor hat seine Geschichte. Es ist ein Sühnemal, das die Berliner setzen mußten, weil sie den Probst Nikolaus von Bernau 1323 vor der Kirche erschlugen, als er sie überreden wollte, sich Rudolf, dem Herzog von Sachsen, zu unterwerfen. Für diese Tat belegte Papst Innocenz VI. die Bürger mit dem Banne, den er erst nach reichlichem Sühnegeld wieder von ihnen nahm. Architektonisch reizvoll ist besonders die Seite nach dem Marienkirchhof hin, auch solch ein stiller Winkel, der wie vom Leben vergessen erscheint.
Der Neue Markt mit dem Lutherdenkmal ruft die bittere Erinnerung an eine Tat des Irrwahns wach: hier war die alte Richtstätte, und hier wurden einmal 36 Juden verbrannt, weil sie die Brunnen vergiftet hätten. Das Denkmal ist gewiß wirkungsvoll, für mein Empfinden doch aber auch Theater, wie beinahe alle aus der Wilhelminischen Aera. Und so hat sich denn auch der Volkswitz mannigfach daran geübt. Ueber keines hier um das Schloß herum aber hat er die Lauge seines Spottes so reichlich ergossen, wie über den auf dem Schloßplatz stehenden »Aegirbrunnen« das »Forckenbecken« (Max von Forckenbeck hieß der damalige Berliner Oberbürgermeister, und Neptuns Dreizack ist die berlinisch-märkische Forke oder Mistgabel). Der alte Meergreis ist ewig »berauscht« und hat unverkennbar »drei Zacken«. Auf dem »Ausgußbecken« oben turnen lauter »jrüne Jungens« herum, und darum »grient« Neptun auch so. Das Meisterstück aber, das Begas hier vollbracht, das sind die vier Frauensleute, die den ganzen Tag – »den Rand halten«.
Nee, nee – der gute Goethe hat schon recht: mit den Berlinern ist nicht gut Kirschen essen; sie sind und bleiben eine »verwegene Nation«.