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Der Schnee fiel und fiel; er lag auf allen Zweigen und bedeckte alle Pfade. Man konnte nichts mehr sehen vor lauter Schneegestöber. Schon seit mehreren Tagen war es ganz still und wie ausgestorben im Walde.
Nur gegen Abend erhob sich ab und zu ein klagender Ton, wie ein Seufzer, der sich aus vielen hundert Herzen losringt. Und eines Abends erklangen die Stimmen wilder und düsterer denn je zuvor.
Von einer Lichtung weit drinnen im Walde kamen die Rufe, von einem runden mit gewaltigen Felsblöcken umgebenen Platz, der Ura-Kaipas Opferstätte genannt wurde. Zwischen den Felsblöcken stand ein Haufe Sklaven mit brennenden Fackeln in den Händen. Bisweilen kam ein Windstoß dahergesaust, griff die Schneeflocken auf und schleuderte sie hoch hinauf in die Tannenwipfel. Dann fiel der Schein der Kienfackeln einen Augenblick hell auf Ura-Kaipas Hütte in der Mitte des Platzes. Die Hütte war auf allen Seiten mit Menschenschädeln und Steinäxten bekleidet. Die Schädel, die an den erhalten gebliebenen Haaren hingen, klapperten ab und zu im Winde und schlugen gegen die Steinäxte.
Auf einem Stuhl unter der Tür saß ein Mann. Die Sklaven schwangen die Fackeln und schrieen laut auf, so oft sein roter Kopf, sowie das Halsband aus Bärenzähnen, das sich in mehreren Reihen bis auf seine Schultern ausbreitete, im Fackelschein sichtbar wurde. So wie dieser Mann war kein anderer geschmückt; es war Ura-Kaipa. Sein Gesicht war bartlos, aber dichtes Haar umstand seinen Kopf nach allen Seiten, und ebenso stachelig waren die Haare seines Pelzmantels, der aus vielen verschiedenen Fellen zusammengenäht war.
Ura-Kaipa und einige der Ältesten waren eben dabei, eine Opfermahlzeit zu beendigen. Mit einem gewandten Schlag einer kleinen Keule zerbrachen sie die Markknochen, die vor ihnen auf dem Opferstein lagen, und saugten dann das Mark aus. Danach schleuderten sie die Knochen den Sklaven zu, und schließlich warfen sie das Los um ihre Waffen und Schmucksachen.
Der Häuptling dieses Stammes hieß immer Ura-Kaipa. Der Stamm war früher mächtiger gewesen als jetzt, aber das andere Volk, das ringsum in der Gegend wohnte und das wegen seiner prächtigen Waffen das Goldschimmernde genannt wurde, drängte das Ura-Kaipavolk immer tiefer in die Wälder hinein.
Hinter dem Stuhl des Häuptlings stand ein Jüngling mit hellglänzendem Haar. Man sah wohl, daß er kein Verwandter von Ura-Kaipa war, sondern den Goldschimmernden auf der andern Seite des Sees angehörte.
Der Jüngling hieß Karilas. Vor langer Zeit war er eines Tages mit Ura-Kaipa im Walde zusammengetroffen, und die beiden waren Freunde geworden. Damals waren beide Kinder gewesen, obgleich keiner von beiden wußte, wie alt er eigentlich war. Beide konnten nur bis neun zählen; höher als bis neun konnte damals in den Wäldern überhaupt niemand zählen. Die Menschen jener Zeit zählten an ihren Fingern, vergaßen aber dabei den Daumen, mit dem sie zählten. Das Ura-Kaipavolk alterte indes rascher als die andern Völker, und daher kam es, daß der Häuptling nun schon mit dem gebräunten und etwas durchfurchten Gesicht eines Mannes vor seiner Hütte saß, während sein Freund noch immer wie ein halberwachsener schmächtiger Jüngling aussah.
»Karilas, Karilas!« riefen die Ältesten, aber in höhnischem, verächtlichem Tone, denn sie waren neidisch auf ihn wegen aller der Gunstbezeugungen, die der Häuptling ihm erwies. »Warum stehst du da und lässest den Kopf hängen? Komm hieher und wirf das Los wie wir!«
Der Knabe blieb hinter dem Stuhle stehen, ohne sich zu rühren. Da lachten die andern ihn aus.
»Na ja,« fuhren sie fort, »was hast du denn auch, um das du spielen könntest? Du, der Fremde und Elternlose? Vielleicht deine Kleider? Dann müßtest du nackt im Schnee gehen.«
Karilas stieg vor Zorn das Blut in den Kopf, und er trat vor. Er wußte, daß er auf der weiten Welt nichts weiter besaß als sich selbst und Ura-Kaipas Freundschaft.
»Ich setze mich selbst als Sklaven dem, der gewinnt,« sagte er ganz außer sich vor Zorn. »Aber wenn ich gewinne, verlange ich ein Fellkleid nebst Gürtel und Dolch.«
Ura-Kaipa sah ihn vorwurfsvoll an.
»Dann spiele ich gegen dich,« warf er rasch ein, denn er hatte Angst, einer der andern möchte seinen besten Freund zum Sklaven gewinnen.
Zugleich steckte er seine Hand in einen Beutel und zog einen steinernen Würfel heraus, den er vor sich hinwarf. Da lag die rote Seite nach oben, und das bedeutete, daß er gewonnen hatte.
Sogleich ergriffen die Ältesten Karilas bei den Schultern und zwangen ihn vor dem Stuhle nieder, und Ura-Kaipa mußte ihm den Fuß auf den Nacken setzen.
»Wir sind Zeugen, Häuptling!« riefen sie mit unverhohlener Freude. »Jetzt ist der goldschimmernde Fremdling dein Sklave.«
Karilas war es, als scheide ihn ein scharfer Streich von seinem eigenen Körper. Was war er, wenn er nicht einmal mehr der Herr über seinen eigenen Körper war? Sein Zorn hatte sich jetzt gelegt, und nun sah er ein, wie dumm er sich betragen hatte, und der einzige Trost dabei war, daß Ura-Kaipa sein Herr geworden war. Ura-Kaipa stieß einen leisen Seufzer aus, fürchtete sich aber, seine Schwäche zu zeigen.
»Steh auf,« sagte er, »und stelle dich unter die Sklaven!«
An diesem Abend sprach der Häuptling nicht mehr viel. Aber der Schnee fiel noch immer lautlos herab, und spät in der Nacht versammelten sich die Ältesten wieder um den Opferstein.
»Wir haben Beschwörungen angewendet und Opfer dargebracht,« knurrten sie, »und doch hört es nicht auf zu schneien. Obgleich der Frühling im Anzug ist und die Nächte kürzer werden, türmt sich der Schnee auf allen Seiten hoch wie eine Mauer auf. Körnig und lose wie er ist, trägt er nicht einmal ein paar Schneeschuhe, und wir können nicht auf die Jagd gehen. Die Sklaven hungern, und bald findet sich nicht ein einziger dürrer Stecken mehr, mit dem man das Feuer in der Hütte unterhalten könnte. Dies ist kein Land für Menschen. Sonne, Sonne, hast du uns verlassen? Kehrst du nie wieder zu uns zurück?«
Ura-Kaipa hob die Arme auf.
»Nein, dies ist kein Land für Menschen,« wiederholte er. »Sonne, hast du dich im Tale der Schatten unter dem Erdenrund verborgen und schickst uns nur noch grauen Nebel anstatt des hellen Tageslichts? Über uns sind keine Sterne mehr, überall ist nur noch wirbelnder Schnee. Eistod, Hungertod, jetzt nahst du uns!«
Als die Sklaven die Klage des Häuptlings vernahmen, zertraten sie ihre Fackeln und riefen auch: »Sonne, Sonne, hast du uns verlassen?«
»Du mußt es mit noch einem Opfer versuchen, Ura-Kaipa!« riefen die Ältesten. »Aber dann mußt du den schönsten und vornehmsten von deinen Sklaven auswählen. Und das ist Karilas. Wir aber wollen indessen Späher auf den Berg schicken, die sollen ausschauen, ob die Sonne noch nicht kommt.«
Ura-Kaipa schwieg; aber er wendete sich ab, als die Opferbräute mit Karilas daherkamen und ihn auf dem Steine ausstreckten. Dann nahmen sie zwei Stöcke und legten sie zu seinen beiden Seiten. Dicht und fest wurden ihm Hände und Füße gefesselt, so daß an jedem der Stöcke eine Hand und ein Fuß angebunden waren. Diese Opferbräute waren sehr alte Weiber mit gekrümmten Rücken. Wie alle andern trugen auch sie Fellkleider, die bei ihnen aber keine Haare hatten, sondern mit schwarzen und weißen Ringen und Strichen bemalt waren. Jetzt stach die vornehmste von ihnen Karilas mit einem Steinmesser in die Schulter, aber so leicht, daß nur an der Spitze des Feuersteins ein paar Tropfen Blut hingen.
Ura-Kaipa empfing das Messer aus ihren Händen und trat dann mit den Ältesten in die Hütte. Hier war der Boden mit vollständig rein gescheuerten Steinplatten belegt, denn nichts verachtete das Ura-Kaipavolk mehr als Erde. Die Hände des Häuptlings durften niemals mit Erde in Berührung kommen, und keiner vom ganzen Volke wollte die Erde bearbeiten.
»Wie könnten wir, die wir jagen, fischen und die Sonne anbeten, den Erdenstaub ehren? Er besteht aus vermoderten Tieren und Pflanzen, und deshalb ist er unrein,« pflegten sie zu sagen.
In der Mitte der Hütte war ein Fell über den heiligen Brunnen gebreitet. Ura-Kaipa rollte ehrfurchtsvoll das Fell zur Seite und leuchtete mit einem brennenden Kienspan hinunter. In der anderen Hand hielt er das Messer mit den Blutstropfen. Eine kalte feuchte Luft schlug ihm entgegen; die Ältesten schauderten und wichen zurück.
»Siehst du ihn?« flüsterten sie. »Siehst du den Donnerkeil, den das Himmelsfeuer dem Riesen nachgeworfen hat, um dem Ura-Kaipavolk zu helfen?«
»Ich sehe ihn,« antwortete der Häuptling und beugte sich tiefer über den Brunnen. Drunten im Wasser unterschied er einen Felsblock, der die Form eines Hammers hatte und so groß wie ein zusammengekauerter Wolf war.
»Wenn er das Auge aufmacht, begehrt er Blut,« flüsterten die Ältesten weiter.
Ura-Kaipa schwang die Fackel, um zu sehen, ob es in dem Schaftloch, das mitten in dem Felsblock herausgehauen war, glänze. Aber kein Glanz wollte dort aufleuchten, alles blieb dunkel.
Der Häuptling atmete leichter, denn er dachte an seinen Freund draußen auf dem Opfersteine.
»Der Donnerkeil schläft,« sagte er. »Aber morgen früh.«
»Morgen, morgen!« wiederholten die Ältesten; und dann zerstreuten sie sich in die andern Hütten außerhalb des Steinrings. Noch eine Weile umsprangen die Hunde winselnd und heulend das Lager, aber schließlich krochen sie auch zu den Menschen in die Hütten hinein.
Karilas lag noch immer auf dem Stein, ohne sich rühren zu können. Der Schnee legte sich immer höher auf seine Brust und auf seinen ganzen Körper. Er häufte sich zu beiden Seiten seines Kopfes an, bedeckte ihm die Stirne, die Augen und den Mund.
Jetzt trat eine von den Opferbräuten wieder heran. Sie strich ihm den Schnee vom Gesicht und ließ den Lichtschein ihrer Fackel auf ihn fallen. Karilas empfand ihr Tun als eine Barmherzigkeit und dachte, ihre Hand sei weich und gut wie die einer mitleidigen Mutter. Aber als sie nach einem langen Zwischenraum abermals herbeikam und Karilas den Kopf ein wenig drehte, ihr in die Augen zu sehen, funkelten diese boshaft wie die eines raubgierigen Nachtvogels, und Karilas ließ rasch die Lider wieder sinken.
Er versuchte nachzudenken, aber seine Gedanken stießen unaufhörlich auf etwas Weißes und Undurchdringliches wie gegen eine Schneemauer. Und das kam daher, daß er nichts von der Welt draußen wußte. Weiter als neun Jahre zurück und neun Jahre voraus konnte er nicht denken, dann war alles zu Ende. Und auch nicht mehr als neun Tagereisen nach allen Seiten, dann war die Welt zu Ende. Dann gab es nichts mehr. Und mitten in dieser kleinen, engen Welt, die voller Schneeflocken war, lag er selbst jetzt auf dem Opferstein allein und verlassen, und überdies verlassen auch von seinem Freunde.
»Nein, hier können keine Menschen leben,« schluchzte er.
Er wurde schläfrig, denn die Schneedecke wirkte nicht mehr erkältend, jetzt fühlte er im Gegenteil eine angenehme Wärme in allen Gliedern.
Und er dachte: »Noch ist es lange, sehr lange bis zum Morgen, wo mein hilfloser Körper von Messern aus Feuerstein zerfetzt werden soll.«
Nachdem er dann wieder eine gute Weile so dagelegen hatte, fragte er sich im Halbschlaf, warum die Opferbraut nicht wieder herbeikomme und ihm übers Gesicht streiche; sie wäre ja immerhin noch ein lebendes Geschöpf, mit dem er dadurch in Berührung käme. Er versuchte die Lieder zu heben, aber sie waren zusammengefroren, und es tat ihm weh, als er sie öffnete.
Er wußte nicht mehr, wo er war. Das grauweiße Geflimmer der Schneeflocken war verschwunden, und unzählige Sterne funkelten hell und klar an der dunklen Decke, die sich wie ein Zelt hoch über der Erde ausbreitete. Weiter unten über dem Walde leuchteten die Himmelslichter, von einem rötlichen Dunst umflossen bleicher und matter.
»Das sind die Augen meiner Vorfahren, die freundlich auf mich herabschauen,« dachte Karilas. »Dies muß der Tod sein, da alles so schön ist. Nun bist du tot, armer Karilas. Vielleicht war es das beste für dich. Und doch möchte ich über dich weinen, daß du, der du noch so jung warst, nicht länger leben durftest. Aber« – seine Lippen verzogen sich höhnisch – »nun stehen die abscheulichen Opferbräute morgen früh mit ihren Messern da!«
Er verwunderte sich nur, daß er hören konnte, wie die Sklaven ins Freie traten und einander riefen. Auch Ura-Kaipa trat heraus, und jetzt begann eine seltsame feierliche Musik. Mit unglaublicher Schnelligkeit ließen die Sklaven ihre Finger auf kleinen Trommeln spielen, das klang, wie wenn der Wind daherrauscht, immer lauter tönt und schließlich in Sturm übergeht. Alle standen nach derselben Seite gewendet, und alle schauten unverwandt auf denselben Punkt. Jetzt erhob sich über dem Horizont langsam eine glutrote Helle, und zwei lange Strahlen fielen unter die schneebedeckten Tannen. Die ersehnte Sonne – endlich ging sie an einem hellen Himmel auf! Von Süden her kam ein Zug Wildgänse dahergeflogen, und deren Brüste glühten von dem Scheine unter ihnen wie Feuer.
Karilas war so steif gefroren, daß er gar nicht fühlte, wie ihm die Opferbräute Hände und Füße von den Fesseln befreiten. Erst als sie ihm in die Ohren schrieen, begriff er, daß er wirklich noch am Leben war.
»Deine Leiden haben heute nacht die Sonne gerührt,« sagten sie. »Nun brauchen wir dein Blut nicht zu vergießen. Setze dich unter die Sklaven und lerne arbeiten.«
Nach so viel in Angst verbrachten Tagen machten sich die Sklaven mit Freuden wieder an die Arbeit. Hei, wie sie vonstatten ging! Aber man gönnte sich mitten im Eifer auch wieder Ruhe. Es gab ein Sprichwort, das lautete: »Wir haben Zeit.«
Einige brannten Töpfe aus Ton, die sie ganz hübsch mit Strichen und Punkten verzierten. Die Töpfe waren unten rund und konnten nicht stehen, aber das sollten sie auch nicht, sie wurden an Lederriemen in den Hütten aufgehängt. Einige tränkten Holzgefäße mit Harz, die dadurch so dicht wurden, daß man Wasser in ihnen holen konnte. Wieder andere gerbten Häute, die ganz weich wurden und als Kleider angenehm zu tragen waren. Die Frauen rissen getrocknete Tiersehnen zu Fäden auseinander, holten dann aus Knochen verfertigte Nadeln herbei und begannen zu nähen; sie machten auch wirklich gleichmäßige, schöne Stiche.
Aber die meisten Männer saßen im Kreise herum und schlugen mit Feldsteinen auf Stücke aus Feuerstein. Splitter um Splitter fiel ab, bis ein Messer, eine Axt oder eine Speerspitze daraus geformt war. Dann sammelten sie die Splitter zusammen und setzten sie als Spitzen auf ihre Pfeile. Alle ihre Waffen und Werkzeuge waren aus Stein oder Knochen verfertigt, und die Steinäxte waren ihr Stolz.
Karilas setzte sich ganz unten zwischen die Sklaven, die die schwerste Arbeit hatten. Diese verfertigten Streitäxte für Ura-Kaipa. Wurde ein Sklave schließlich so geschickt, daß der Häuptling die von ihm verfertigte Streitaxt als Schmuck in seiner Hütte aufhängte, dann schenkte er ihm zur Belohnung wohl auch die Freiheit. Und das wußte Karilas.
Die hier Arbeitenden waren fast lauter alte Sklaven. Einer von ihnen war jetzt eben während der Hungertage gestorben, und seine Axt, schon zurecht gehauen und geschärft, lag noch da. Nur das Schaftloch in der Mitte fehlte noch. Karilas setzte sich auf den Boden und nahm die Axt zwischen seine Kniee. Der Alte, der neben ihm saß, den die andern Sikauge nannten, zeigte ihm, was er tun mußte.
»Es ist bald gelernt,« sagte er, »und wir haben Zeit. Man muß nur einen Rohrknochen als Bohrer auf die Axt ansetzen und ihn dann rasch, rasch zwischen den Händen drehen.«
Karilas befestigte oben an dem Rohrknochen einen Stein, damit das Bohren kräftiger wirke.
»Wenn es mir gelingt, eine Häuptlingsaxt herzustellen und frei zu werden, darf ich wieder neben Ura-Kaipa stehen,« dachte er und ließ den Bohrer schnurren.
Als er eine Weile so fortgearbeitet hatte, konnte er noch nicht die geringste Vertiefung in der Axt entdecken, nur einen kleinen weißgekratzten Ring.
»Du mußt fleißig Wasser und Sand auf die Axt tun,« rief ihm Sikauge zu. »Der scharfe Sand, der bohrt.«
Karilas folgte dem Rat; aber allmählich brannten ihm die Handflächen, und der Schmerz verbreitete sich immer weiter die Arme hinauf.
»Nun habe ich schon einen ganzen halben Tag fortgearbeitet,« stieß er schließlich müde hervor, »und doch ist die Axt noch nicht durchgebohrt. Sieh her, ich habe von beiden Seiten gebohrt. Aber das Loch geht nicht durch.«
»Einen halben Tag!« rief Sikauge, der runde schwärzliche Wülste in den Händen hatte, daß sie fast aussahen wie Hundepfoten. »Wir haben Zeit. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich schon dabei bin, den Schaft meiner Streitaxt für Ura-Kaipa zu verzieren.«
Karilas schwieg, aber als der Abend herankam, fragte er Sikauge: »Glaubst du, daß du nun bald mit deiner Streitaxt fertig bist?«
»Zwei Jahre dauert es zum allerwenigsten noch,« antwortete der Alte. »Wenn mein einer Arm nicht allmählich lahm würde, wäre es nicht schlimm, so aber weiß ich nicht, ob ich jemals mit der Axt fertig werde. Wenn dies nicht geschieht, dann habe ich mich umsonst gequält. Dann werde ich nie ein freier Mann. Aber du, du bist jung und kannst es schon erreichen, so du Geduld hast.«
Am nächsten Tag waren Karilas Arme ganz steif, und er saß vor seiner Axt, ohne sie anzurühren. Die Ältesten gingen umher, die Arbeit der Sklaven zu überwachen, und als sie zu Karilas kamen, wurden sie zornig.
»Du taugst nicht viel, Sklave!« schrieen sie ihn an. Und sie hoben Erde auf und warfen ihn damit, um ihm ihre Verachtung zu zeigen. Sie bebten am ganzen Leibe und ballten drohend die Hände gegen ihn.
Da liefen ein paar Sklaven herbei und rissen ihnen die Mützen ab. Die Ältesten hatten nämlich oben auf dem kahlen Schädel einen kleinen Haarschopf, der über einem in ihre Hirnschale gebohrtes Loch zusammengebunden war. Ein solches Loch wurde hoch in Ehren gehalten, denn es kam nur den Vornehmsten des Volkes zu. Durch dieses Loch konnten die schädlichen Dünste entweichen, und wenn man einmal tot war, konnte das Sonnenlicht hineindringen und den Geist aufsaugen.
Die Ältesten klopften auf den Haarschopf, ließen die bösen Geister heraus und waren dann wieder beruhigt.
»Häuptling,« sagten sie, während ihnen die Sklaven die Mützen wieder aufsetzten, »du mußt Karilas die große Probe machen lassen.«
Da ließen die Arbeitenden ihre Werkzeuge fallen, denn sie wußten nur allzu gut, daß es allen schlecht gegangen war, die zu der großen Probe verurteilt worden waren.
»Auch das verlangt ihr von mir,« erwiderte Ura-Kaipa, der unter der Tür seiner Hütte stand. »Nun wohl, Karilas, deine Arme sind schwach und unnützlich, warum sollten wir dich da kleiden und ernähren? Zeige mir, ob dein Verstand stärker ist als dein Körper. Kannst du Ura-Kaipas Reichtum messen, dann darfst du leben. Alsdann hast du die große Prüfung glücklich bestanden. Kannst du Ura-Kaipas Schätze berechnen? Kannst du mir sagen, wie viele Steinäxte in meiner Wohnung hängen?«
Karilas trat rasch vor, nahm neun Steinäxte von der Wand und legte sie auf einen Haufen. Die Sklaven brachen in lautes Lachen aus.
»Ja, so weit können wir auch rechnen. Aber weiter, weiter! Wie geht es nun weiter?«
Karilas stand einen Augenblick unschlüssig da, dann nahm er wieder neun Äxte herunter und legte sie auf einen neuen Haufen.
Die Sklaven und die Ältesten schüttelten die Köpfe und konnten nicht begreifen, was er wollte. Aber er machte immer weiter, nahm die Äxte herunter und legte immer neun auf einen Haufen, bis es neun Haufen waren.
»Das kann gelten,« riefen die Ältesten; »aber im Opferhaus hängen auch noch viele Äxte.«
Jetzt nahm Karilas die letzten zwei Äxte von der Wand und legte sie neben sich. Unschlüssig zögerte er einen Augenblick. Plötzlich klärte sich ihm das Rätsel, und fröhlich rief er aus:
»Ura-Kaipa, du hast neun mal neun Äxte und zwei darüber!«
Ein Raunen der Bewunderung ging durch die Reihe der Sklaven, und Ura-Kaipa zeichnete mit aufgehobenem Finger in die Luft einen Hammer, das Zeichen des Blitzstrahls, und sagte:
»Bis zu diesem Tage sind Ura-Kaipas Steinäxte für unzählbar gehalten worden; aber ich habe diesem Jüngling schon lange angemerkt, daß die Goldschimmernden auf der andern Seite des Sees hohe Talente haben, die uns versagt sind. Einem solchen Sklaven das Leben zu nehmen, wäre ein großer Schaden für uns.«
Der Schnee begann zu schmelzen. Als das Eis verschwand, kamen Kauffahrer daher. Die Schiffe mit Feuer- und Bernstein beladen, ruderten sie die Flüsse herauf, um Pelzwerk dafür einzutauschen. Grimmig und wild waren sie anzuschauen, und nachts lagerten sie sich drunten am Seeufer um ihre Feuer.
Eines Abends trat Ura-Kaipa ganz allein zu Karilas und führte ihn mit sich fort; schweigend ging es dem Strande zu.
»Der Jüngling ist das einzige, an dem mein Herz hängt,« dachte Ura-Kaipa schwermütig. »Ich kann es nicht länger ertragen, meinen besten Freund als Sklaven zu haben, denn es ist mir verboten, mit einem solchen freundliche Worte zu wechseln. Aber ich kann nicht täglich solch eine Last auf mich nehmen.« Laut aber sagte er: »Es wird mir schwer, mich in dem Halbdunkel unter den Bäumen zurechtzufinden, ich muß mich deshalb auf deinen Arm stützen, Karilas.«
Als Karilas die Hand des Freundes auf seinem Arm fühlte, schlug sein Herz mit freudigen Schlägen. In diesem Augenblick hätte er gerne sein Leben für Ura-Kaipa hingegeben.
»Geh rascher!« befahl der Häuptling, um den eigenen inneren Streit ein Ende zu machen. »Deine Rechenkunst ist mir von keinem Nutzen, aber die Kauffahrer können so einen Sklaven wohl brauchen.«
Die Kauffahrer saßen auf einer Truhe, die sie sorgfältig bewachten. In dieser führten sie etwas mit sich, das überaus kostbar war und daß sie nur dem reichsten Manne auf der andern Seite des Sees zu verkaufen pflegten.
Als Ura-Kaipa merkte, daß sie ihn erkannten, sagte er: »Arm ist der, der keinen Sklaven hat, denn er muß alles selbst tun. Aber wer Sklaven hat, dem wird alles so getan, wie er es haben will. Hier biete ich euch meinen besten Sklaven an zum Tausch für etwas von dem, was ihr hier in der Truhe habt.«
»Und wenn du mit vier Sklaven ankämest,« antworteten die Kauffahrer, »so genügte das nicht für diesen Handel. Doch deine Freundschaft Ura-Kaipa ist uns auch etwas wert, und so wollen wir auf den Tausch eingehen.«
Sie hoben den Deckel der Truhe ein wenig auf, aber nur gerade soviel, daß sie das herausnehmen konnten, wonach sie suchten.
Es klirrte gegen den Rand der Truhe, und es blinkte dabei, als hätten die Männer mitten in der Sommernacht ein Stück von der Sonne zwischen den Fingern. Es war Kupfer und Zinn, das zu einer Bronzebarre zusammengeschmolzen worden war.
Karilas fühlte, daß der Freund seinen Arm loßließ. Einsam und verkauft stand er nun da. Er wendete den Kopf ein wenig, um Ura-Kaipa solange wie möglich nachzuschauen. Der Häuptling war schon auf dem Heimweg und blinzelte das Tauschstück an, das er fortgesetzt zwischen den Fingern drehte. Aber als er die höchsten Felsen erreicht hatte, hielt er von Gewissensbissen gepeinigt an und schleuderte das Stück Sonne ins Wasser hinab. Niemand sollte glauben dürfen, daß er Karilas um schnöden Gewinnes willen verkauft habe. Mit gesenktem Kopf und mutlosen Schritten verschwand er dann zwischen den Bäumen.
Als es Tag wurde und die Nebel sich verzogen, waren die Kauffahrer mit ihrem neugekauften Sklaven schon draußen auf der Flut. Einer von ihnen tauchte die Hand ins Wasser und rieb sie an der verkohlten Seite des mit Feuer ausgehöhlten Einbaums. Dann rieb er Karilas damit tüchtig Haar und Gesicht und Hals, bis er über und über rußig und schwarz war.
»Das goldschimmernde Volk kauft keinen von seinem eigenen Stamm als Sklaven,« sagten die verschlagenen Kaufleute zueinander; »aber jetzt können wir den Sklaven leicht verkaufen und überdies mit gutem Gewinn, denn jetzt sieht er aus, als sei er vom Ura-Kaipavolk.«
Karilas schaute nach dem andern Strande hinüber, wo er als kleiner Junge gelebt, den er aber seither fast vergessen hatte. Goldenes Sommerlicht lag über den Kornfeldern und den Getreidehaufen bei den Höfen, die wohlhabend unter heiligen Eschenbäumen hervorblinkten. Die mit Lehm beworfenen Häuser waren rund und hatten spitzige Dächer. Es wimmelte von Menschen dort, und Karilas fuhr jäh zusammen, von etwas erregt, das er sofort wieder erkannte. Es war der Klang der erzenen Luren. Das Volk feierte eben ein Fest am Strande; Speerspitzen und Streitäxte leuchteten wie glühende Sonnenstrahlen, denn alles bestand aus schimmerndem Erz. Die Kleider dieser Leute waren aus weichem, weißem Wollstoff hergestellt und mit gelben Kanten und mit Schmuckgegenständen besetzt. Die größten ehernen Buckeln waren mit dunkelglänzendem Harz eingelegt. Die Frauen trugen einen hohen Halsschmuck aus Bronzeringen, und ihr reiches Haar war mit Hornkämmen aufgesteckt und wurde durch Netze aus wollenen Fäden zusammengehalten.
Ein Wagen, zu dessen beiden Seiten zum Tode verurteilte Kriegsgefangene schritten, kam dahergefahren. Die Kauffahrer zogen ihren Einbaum ans Land und boten auf der Stelle Karilas für die Schar der für das Opfer Bestimmten an. Unter drohenden Schlägen mit ihren Dolchen verboten sie ihm zu sprechen und zeigten dem Volke, daß er eine ebenso dunkle Haut wie der ganze Ura-Kaipastamm hatte.
Zwei bekränzte Mädchen warfen ihm rasch ein Hemd aus feinster Wolle über und stellten ihn unter die Todgeweihten am Wagen. Dieser wurde von zwei weißen Fersen mit prächtigem, blutrotem, bronzebeschlagenem Geschirr gezogen. Vorn auf der Deichsel hing ein Bild des Sonnenrades mit seinen vier gekreuzten Speichen. Auf dem Wagen war ein verschlossenes Zelt aus Kuhhäuten. Darin wurde das Abbild des Erdgeistes gefahren, denn die Goldschimmernden verachteten nicht die Erde wie Ura-Kaipas Jäger und Fischer, sondern nannten sie den Gatten der Sonne.
Die Todgeweihten fuhren den Wagen eine Strecke in das Schilf hinein und wuschen ihn da zuerst ehrfurchtsvoll ab. Dann durfte einer nach dem andern von den Todgeweihten einen Zipfel des Zelttuches lüften. Dies war allen andern Lebenden streng verboten, und sobald der Gefangene einen Blick auf den Erdgeist geworfen hatte, mußte er sterben.
Karilas war der letzte. Er zog die schwere Kuhhaut auf die Seite, aber es war ganz dunkel in dem Zelt. Es war ihm, als sehe er zwei starre und übermenschlich große Augen auf sich gerichtet. Vor Entsetzen gelähmt blieb Karilas regungslos stehen. Da bog eine der Kranzjungfrauen die Wasserlilien auseinander und trat zu ihm. Mild und schwesterlich gab sie ihm den eiskalten Todeskuß auf beide Augen, so daß er sie schließen mußte. Dann drückte sie ihn unters Wasser hinunter, stellte sich ihm auf die Brust, und ringsumher ertönte ein düsterer Gesang.
Aber als eine kleine Weile vergangen war, winkte sie eifrig, man solle schweigen. Sie bückte sich nieder, so daß sie Karilas, der auf dem Sandboden lag, deutlich sehen konnte.
»Hört auf, hört auf!« gebot sie. »An dem Wagen des Erdgeistes ist ein großes Wunder geschehen. Hier haben wir einen Ura-Kaipa-Sklaven ins Wasser versenkt, und er war so schmutzig und schwarz, daß es mir widerstrebte, seine Augen mit dem Todeskusse auszulöschen. Und jetzt leuchtet sein Haar im Wasser, und er ist wie einer der unsrigen. Aber von uns Freigeborenen darf niemand als Sklave geopfert werden, und doch hat er das Gesicht des Erdgeistes gesehen.«
»Er ist der einzige von uns Lebenden, der es gesehen hat!« riefen die Männer in der Runde, und ihre Waffen klirrten, während sie sich demütig vor Karilas beugten. »Da nun vor kurzem unser Häuptling in seinem Grabhügel beigesetzt worden ist, soll das sicherlich ein Zeichen sein, daß der verwandelte Jüngling unser Häuptling werden soll, der uns zu neuen Siegen gegen das Ura-Kaipavolk führen wird. Hier ist das Ackerfeld knapp geworden, aber auf der andern Seite des Sees gibt es weite Täler, die urbar gemacht werden können.«
Das Mädchen richtete jetzt Karilas auf und führte ihn zurück auf die Wiese. Aber Karilas fühlte sich halbtot.
Er hatte in die starren Augen des Erdgeistes geschaut, hatte zweimal dem Tod ins Angesicht gesehen, und als er jetzt zu sprechen begann, redete er die Sprache eines weisen, ernsten Mannes.
Nun entstand Leben und Bewegung in den reichen Dörfern, denn überall rüstete man zur Heerfahrt. Schon früh am Morgen riefen die Luren, und das gelbe Metall der Kauffahrer hatte reißenden Absatz. Geschickte Arbeiter stellten Formen aus Lehm her, in die sie die geschmolzene Bronze gossen. Wenn sie dann die Formen zerschlugen, lagen die prächtigsten Waffen schon so gut wie vollendet vor ihnen.
»Nimm, was dir zukommt, Häuptling,« sagten sie und reichten Karilas das beste von allem. »Jetzt gibt es Helme und Schwerter auf der Welt. Der Helm und das Schwert für den Streiter, der Pflug und die Hacke für den Handwerker!«
Indessen herrschte Stille und Schweigen in Ura-Kaipas Lager. Er selbst schloß sich in seine Hütte ein, in düstere Gedanken versunken, schwer geplagt davon, daß er jeden Tag das Sonnenrad von neuem über das Himmelszelt hinrollen sehen mußte.
Die Ältesten traten bei ihm ein, stellten sich um seinen Stuhl her und klopften ihm auf die Scheitellocke.
»Entschlage dich deiner Schwermut,« baten sie ihn, »und ergötze dich mit uns! Wir haben Zeit. Entblöße das Loch auf deinem Kopfe und laß die bösen Dämpfe entfliehen!«
Ura-Kaipa aber wendete sich der Wand zu und preßte die Hände auf die Brust; sein braunes Gesicht war mager und hart geworden.
»Ura-Kaipas Kummer könnt ihr nicht heilen,« flüsterte er. »Ein Sohn des goldschimmernden Volkes ist sein Freund gewesen. Obgleich Karilas kaum mehr als ein Kind war, wußte er doch schon viel mehr als wir, und er war edler und vornehmer als alle andern. Er erzählte Ura-Kaipa von seinem Stamme, so daß dieser sich schämen mußte und die Sehnsucht von neuem in seiner Brust erwachte. Und diesen Knaben haben wir zum Sklaven gemacht. Geht, holet Erde und streut es mir aufs Haupt, damit ich unrein sei!«
Plötzlich sprang er auf, riß ein kleines Steinmesser an sich und barg es unter seinem Gürtel.
»Uns zur Strafe war Karilas zu uns gekommen,« fuhr er fort, »uns zur Strafe, weil wir träge wurden und Tonkrüge brannten und unser eigenes Feuer hatten. Ehemals streiften unsere Stammesgenossen mit dem Bogen umher und hatten oft kaum ein Zelt zum Schlafen. Und wo sie hinkamen, brachten sie auf den größten und seltsamst geformten Steinen blutige Opfer dar.«
»Ja, das taten sie,« erwiderten die Ältesten. »Tief drinnen in den Felsenklüften, hoch oben an den jähen Bergwänden und draußen auf den Äckern des goldschimmernden Volkes, überall standen die moosbewachsenen steinernen Götter.«
»Und nachts loderten dort die Opferfeuer,« flüsterte Ura-Kaipa, »und kein Fremder wagte sich ihnen zu nahen. Ja, das war damals. Ura-Kaipa will nicht länger bei euch wohnen. Er zieht in die Wälder hinaus, sich sein Nachtlager unter den Schneewehen zu graben, wie es seine Väter einst von den Wölfen gelernt haben. Und wenn er in sternenhellen Nächten im Schnee liegt, wird er sein jetziges Gelübde nicht vergessen. Er wird Karilas hassen und sich an dem rächen, der ihm seinen Frieden geraubt hat.«
Mit einem gellenden Schrei stürzte er zur Hütte hinaus und eilte unter den Bäumen dahin. Zusammengeduckt rannte er davon, so schnell wie nur Spuckgeister und das Ura-Kaipavolk laufen konnten.
Eines Tages im Spätsommer näherte sich das goldschimmernde Volk in seinen spitzen Fellbooten. Es sah fast aus, als hätte sich ein Streifen Land vom jenseitigen Ufer losgelöst und komme nun über das Wasser dahergeschwommen, so groß war die Menge der Fahrzeuge. Ura-Kaipas Sklaven, die sich nie hätten träumen lassen, daß ein solcher Sonnenglanz von Menschen ausgehen könnte, kletterten erschrocken in die Wipfel der Kiefern hinauf. Was ihnen am meisten Furcht einjagte, waren aber doch die kraushaarigen Hunde, die aus dem ersten Boot ans Land sprangen und in einem dichten Haufen umherrannten. Sobald einer anhielt, hielt auch gleich das ganze Rudel an. Aber sie bellten nicht wie Hunde, sondern ihre Stimmen klangen wie das Weinen von Kindern.
Sikauge stand allein noch auf dem Platze und brüstete sich mit seinem Mut.
»Das sind weder Hunde, noch kleine in Hundefelle eingenähte Kinder,« sagte er, »sondern diese Tiere nennt man Schafe.«
Bei einem nächtlichen Fischstechen hatte er sich einmal verirrt und war an den jenseitigen Strand geraten, wo er mehrere Tage gefangen gehalten worden war, und dadurch hatte er die Haustiere dort drüben kennen gelernt. Aber während er noch sprach, sprang eine zottige Bestie aus dem Boot heraus und versetzte ihm einen gewaltigen Stoß, daß er froh war, als er rasch noch einen Zweig erwischte, an dem er auf einen Baum klettern konnte.
»Das war ein Bock,« stöhnte er, »das dem Gott der Herden und dem Gott des Donners geweihte Tier.«
Aus dem nächsten Boot kletterten schwerfällig und mühsam zwei borstige Trolle, die schnaubend die Rüssel auf den Boden hängten und davonstürzten.
»Was sind das für schamlose dicke Hexen, die sich nicht schämen, die Erde mit dem Gesicht aufzuwühlen?« riefen die Sklaven.
Aber Sikauge berichtete: »Diese Hexen werden Schweine genannt und von den goldschimmernden Helden hoch in Ehren gehalten.«
»Ja, so entsetzlich sind diese Menschen,« fügte er hinzu, »trotzdem sie aus Sommerwolken verfertigte Kleider und aus Sonnenstücken geschmiedete Waffen haben.«
Die Sklaven meinten, nun sei es genug; aber da landete das dritte Boot, und hinter diesem schwammen zwei Ungeheuer, die man für Elche hätte halten können, wenn sie nicht brandrot gewesen und ihre Hörner nicht schmal und schlank wie polierte Bogen gewunden gewesen wären. Als sie an den um ihre Hörner gebundenen Lederschnüren daher geführt wurden, öffneten sie weit das Maul, und ihr Brüllen klang wie die tiefste Streitlur, die man hören konnte.
»Das sind Kühe,« sagte Sikauge, »und sie werden dort drüben von allen Tieren am heiligsten gehalten. Wenn ein Häuptling stirbt, wird er in eine Kuhhaut gewickelt. Ja, was gäbe es wohl, das dieses Volk nicht in Ehren hielte, von der Sonne an bis zum nackten Erdreich herab!«
»Nur Euch nicht,« sagte Karilas, der jetzt auch an Land gestiegen war.
Alle Boote waren allmählich zwischen die Felsen hineingestoßen worden. Aus den Schleudern der Sklaven prasselte ein Steinregen hernieder, aber die Streiter deckten sich mit ihren Schilden, und als die Sklaven sahen, daß sie nichts ausrichteten, stellten sie das Schießen ein.
Zuerst erkannten sie Karilas nicht wieder, als er jetzt mit dem Schild über dem Helm näher kam. Sie meinten, alle vom andern Ufer seien sich vollständig gleich; doch plötzlich erkannten sie ihn an der Stimme. Und Karilas trat noch näher auf sie zu.
»Mich, den Freigeborenen, habt ihr unter die Sklaven gesetzt,« sagte er. »Jetzt aber bin ich der, der euch zu Sklaven macht, und von nun an sollt ihr im Schweiß eures Angesichts die Erde bebauen. Aber einen werde ich schonen. Mit ihm will ich die Herrschaft über euch teilen, denn er ist mir einst sehr teuer gewesen. Wo ist Ura-Kaipa?«
Die Sklaven wagten nicht zu antworten.
Da begriff Karilas, daß Ura-Kaipa nicht mehr hier weilte. Mit gesenktem Kopf wanderte er durch das saftige Gras dem Tale zu. Die Streiter hatten schon ihre Waffen weggeworfen und waren eben dabei, die Kühe vor den Pflug zu spannen. Vor die scharfe Pflugschar legten die Kranzjungfrauen ein Fladenbrot, das zur Erlangung einer guten Ernte zuallererst durchschnitten werden mußte. Karilas ergriff den Pflug, und die Kühe zogen an. Und mit tiefem Ernst, langsam und feierlich wurde die erste Furche durch Ura-Kaipas blutgetränkte Opferstätte gezogen.
Es knisterte und krachte im Haselgebüsch. Dort stand Ura-Kaipa im Hinterhalt, das Messer in der Hand. Es war blank gerieben und frisch geschliffen, an seinem Schaft saß nur noch ein kleines Stück Feuerstein. Mit einem Satze, wie ihn ein Eichhorn macht, warf Ura-Kaipa sich auf Karilas und stieß mit seinem Messer nach dessen Hals.
»Du Verhaßter!« röchelte er. »Du Verhaßter!«
Karilas schwankte zurück, doch in der Zwischenzeit war er gewachsen und stärker geworden. Mit festem Griff umfaßte er Ura-Kaipa und hob ihn hoch empor, um ihn zu Boden zu schmettern. Aber da fühlte er, daß der frühere Häuptling so schwach und von Hunger so ausgemergelt war, daß er ihm schon halb tot in den Armen lag, und mitleidig legte er ihn neben der eben gezogenen Furche nieder.
»Es ist dir schlecht gegangen in der Wildnis,« sagte er und reichte ihm ein Stück des zerspaltenen Brotes »Iß von der Frucht des Feldes.«
Aber Ura-Kaipa wendete sich verächtlich ab.
Nun setzte sich Karilas neben ihn nieder, nahm Ura-Kaipas Kopf zwischen die Kniee und strich ihm freundlich über die erstarrten Runzeln; doch Ura-Kaipas Augen waren starr und unverwandt auf die steinernen Götter gerichtet. Und da begriff Karilas, daß Ura-Kaipa tot war.
»Das Waldvolk hier pflegt seinen Häuptling in der Hütte zu begraben, in der er gelebt hat,« sagte Karilas. »Diesem hier aber sollt ihr nach unserer Sitte eine mächtige Gruft bauen, und dann laßt ihn in Frieden ruhen.«
Der Pflug fuhr weiter und zog Furchen in einem weiten Kreis um den Opferplatz her, der dadurch in Besitz genommen wurde.
Während dieses vor sich ging, und auch noch mehrere Tage nachher, schlug etwas weiter entfernt ein Meißel klirrend gegen die Felswand. Ein tüchtiger Künstler aus Karilas Gefolge stellte hier auf dem Felsen dar, wie alles bei der Eroberung der Opferstätte zugegangen war. Die lange Reihe der Boote war zu sehen und die Streiter und die ausgeschifften Haustiere. Aber noch verstand niemand ein Wort oder einen Namen zu zeichnen. Nur das Ereignis selbst sollte also verewigt werden. Jeder konnte die Bilder auf der Felsplatte sehen, und dann mochte er sie sich deuten, wie er es selbst am richtigsten fand.
Nun mußten die Sklaven einige von den Steinblöcken, die im Kreis um die Opferstätte standen, zusammenwälzen. Hierauf wurde ein länglicher Felsblock als Dach und Opferstein darüber gelegt und ringsum Erde und Geröll aufgeworfen.
Nachdem die Grabkammer fertig war, wagten sich die Ältesten, die sich bisher im Walde versteckt gehalten hatten, wieder herbei. Diese trugen Ura-Kaipa in die Grabkammer hinein und setzten ihn dort mit dem Rücken gegen die Wand nieder. Zwischen seinen Füßen wurde ein Feuer angezündet und ein Kessel mit Wasser darüber gehängt. Dann setzten sich die Ältesten vor ihren toten Häuptling nieder, um das Abschiedsmahl mit ihm zu halten. Die Opferbräute standen draußen auf der Grabkammer und wiegten den Felsblock, der das Dach bildete, sachte hin und her; er war mit Absicht so angebracht, daß es in der Grabkammer sang und klang, sobald er in schaukelnde Bewegung gebracht wurde. In den Stein war eine Menge kleiner Vertiefungen eingemeißelt, die mit Fett angestrichen und mit brennendem Harz gefüllt wurden.
Die vielen kleinen Flammen flackerten mit hohen schmalen Zungen, und hinter dem Felsen ging der Mond auf, aber doch ohne eigentlich zu leuchten, denn es war helle Sommernacht.
Unten an dem Hügel, wo die Kranzjungfrauen das frischgemähte Gras zu einem weichen Lager zusammengerecht hatten, lag Karilas mit seinen Streitern. Die ehernen Helme glänzten an den Baumzweigen, und die Skalden schlugen kräftig die Saiten zu ihren Liedern. Wenn sie sich dazwischen auf ihre Harfe stützten, um etwas auszuruhen, tönte von dem Begräbnismahl aus der Grabkammer lautes Getöse zu ihnen herüber.
»Du ißt nicht, Ura-Kaipa, du trinkst nicht!« riefen die Ältesten drinnen. »Du sprichst nicht mit deinen Gästen. Haben wir dich nicht erst vorhin auf deinen Stuhl gehoben, daß der letzte Sonnenstrahl durch die Öffnung auf deinen Kopf fallen und dir den Geist aussaugen konnte? Haben wir dir nicht neue Kleider gegeben und Schüsseln mit Speise, sowie Waffen um dich her gestellt, daß du nicht nackt und mit leeren Händen dastehen mußt, wenn du in einer Nacht einmal auf die Jagd gehen möchtest?«
Während sie also sprachen, zerschlugen sie die tönernen Schüsseln, aus denen sie gegessen hatten. Die Scherben krachten unter ihren Füßen, als sie jetzt die Grabkammer verließen und den Eingang hinter sich zudeckten.
»Du hast jetzt an anderes zu denken, und du hast ja gute Weile,« fuhren sie fort. »Jetzt sitzest du da drinnen und überlegst dir, woher es einst gekommen ist, das siegreiche Volk, das den Sonnenschein in seinen Waffen aufgefangen und bewahrt hat. Ja, wir verstehen wohl, Ura-Kaipa, daß du allein sein willst.«
Aber drinnen bei dem Toten brannte noch immer das Feuer unter dem Kessel, und sein Schein drang durch die Ritzen zwischen den obersten Steinen.
»Woher wir einst kamen?« wiederholte Karilas und streckte wie fragend die Hände aus, eine gen Osten, eine gen Westen. »Ihr Skalden, welcher von euch kann Ura-Kaipa Antwort geben? Welcher kann das Rätsel lösen? Seit undenklichen Zeiten haben wir da gewohnt, und allmählich lernten wir es, uns goldschimmernde Waffen anzufertigen. Aber das weiß ich, ihr Skalden, daß keine einzige von euern Wandersagen je von einer so holden und hellen Sommernacht, wie dieser hier, zu berichten weiß, und hier werden wir uns ein Land für Menschen schaffen.«