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Umfang und volle Bedeutung dessen, was geschehen war, stieg vor Ange erst in den nachfolgenden Tagen auf. Auch die Reue blieb nicht aus, aber Ange erstickte diese Regung. Ein Mensch, der für seine Überzeugung kämpft, für den giebt's kein Rechts und kein Links. Nur ein einziger gerader Pfad ist vorgezeichnet. So war es auch hier. Sprach ihr Herz zu gunsten Tibets, so verwischte doch ihr stolzes, beleidigtes Gefühl wieder die versöhnlichen Regungen. Das waren keine bloßen Worte gewesen, die sie einst in Frankfurt gesprochen und deren Inhalt sie ihm später so oft wiederholt hatte. Sie wollte, sie mußte den Weg gehen, welchen sie ihm bezeichnet hatte. Ihr besseres Ich, ihr Ehrgefühl hatten gesprochen, und diesen mußte sie folgen.

Vielleicht – es mochte sein – hatte sie die Dinge zu sehr auf die Spitze getrieben, ließ ihrem verletzten Stolze zu sehr die Zügel schießen. Aber lag nicht gerade in dieser Form, ihr Erleichterungen zu verschaffen, etwas von jener leis spöttelnden Bevormundung, welcher sie sich entziehen, zu der sie gerade Teut Recht und Veranlassung hatte nehmen wollen? – – So blieb in ihr haften, wogegen sich doch im Grunde ihr Herz und ihr Verstand auflehnten, und sie tötete die mahnende Stimme ihres Innern, die ihr sogar zurannte, daß ihre Handlungsweise gegen Tibet den Grundsätzen hochherziger Gesinnung schon deshalb nicht entsprach, weil sie ihn – sie mußte es eingestehen – zugleich schuldlos für die Enttäuschungen ihrer Liebe hatte büßen lassen.

Schon am nächsten Tage traf ein vollkommen geschäftlich gehaltenes Schreiben von Tibet ein, in welchem er die genaueren Angaben machte über alles, was seither seiner Sorge anvertraut gewesen war und jetzt Ange allein obliegen sollte. Insbesondere machte er ihr über ihre Geldangelegenheiten Mitteilung und gab in höflich gemessener Form Ratschläge, indem er auf den bisher von ihm beobachteten Gebrauch hinwies. Um sie vor ferneren Enttäuschungen zu bewahren, bekannte er in diesem Briefe, welche Ausgaben er ohne ihr Zuthun bestritten hatte, und fügte endlich hinzu, daß er im Auftrage des Barons von Teut gehandelt habe. Eine Angabe über die Höhe derjenigen Summe, mit welcher letzterer für Ange eingetreten war, gab er aber nicht, und sie beeilte sich deshalb – unter welchen Empfindungen ist leicht zu bemessen – ihn schriftlich zu ersuchen, ihr sofort darüber eine Nachricht zukommen zu lassen. Am Schluß des Tibetschen Briefes hieß es:

»Frau Gräfin werden über die Zwischenfälle heute nicht anders, aber ruhiger denken, das ist meine sehnliche Hoffnung. Und da auch ich den Dingen nach der gestrigen Unterredung mit veränderten Ansichten gegenüberstehe, so mag es mir mit Rücksicht auf die jahrelangen Beziehungen, die ich zu der Frau Gräfin pflegen durfte und in deren Verlauf die gnädige Frau mir so oft ein Lob und ein freundliches Wort zu erteilen geruhten, gestattet sein, zu sagen: daß ich tief bereue und stets wiederkehren werde, sobald mich die Frau Gräfin rufen. Wenn diesem Rufe hinzugefügt sein wird, daß die Frau Gräfin mir vergeben haben – ich bitte Gott, daß dieser Tag mir noch einmal werden wird – , dann bin ich entschädigt für alles, was auch mir Schweres, Ernstes und Sorgenvolles in meinem Leben begegnete und das mich doch nicht hinderte, meine höchste Lebensaufgabe darin zu erkennen, der Frau Gräfin und Ihrer Familie ein bescheidener, wahrer, wenn auch in den Mitteln häufig irrender Freund zu sein.

Ich bitte gehorsamst, die gräflichen Kinder grüßen zu wollen, denen ich nicht einmal ein Lebewohl sagen konnte u.s.w.«

Ange las diesen Brief in tiefster Bewegung. Was hätte sie darum gegeben, wenn die Dinge, die sich enthüllt hatten, nicht geschehen wären.

Plötzlich lag ihr Leben vor ihr wie eine endlos zu durchschreitende Wüste, und doch fühlte sie jetzt schon, daß sie erlahmte. Ihr Herz erbebte, obgleich sie kaum den Fuß über die Grenzen gesetzt hatte. Aber sie raffte sich auf zum ernsten Tagewerk, und ruhige Überlegung gewann die Oberhand.

Ange begann zu rechnen. Zum erstenmal in ihrem Leben beschäftigte sich Ange von Clairefort mit Zahlen. Bis spät in die Nacht, wenn die Kinder schon schliefen, schrieb und summierte sie, stellte fest und strich wieder aus, fügte hinzu und kürzte von neuem. Und sie ward gewahr, was jedem sich offenbart, der mit diesen unerbittlichen Ausrufungs- und Fragezeichen zu kämpfen hat. Auch ihr erschienen alle Einnahmeposten wie Quecksilberkügelchen, die man fassen zu können wähnt, und die dann plötzlich in bisher unsichtbare Poren verschwinden, während die Ausgabesummen zudringlich emporschießen, wachsen und sich vermehren.

Als Ange zum erstenmal alles zusammengestellt hatte und, glücklich aufatmend, zu dem Resultat gelangt war, es werde gehen, da fiel ihr plötzlich ein, daß Schulgeld und Steuern noch fehlten, daß der Feuerung für den Winter, ihrer eigenen Garderobe, der Abzahlung an Teut nicht gedacht sei, daß die unvorhergesehenen Ausgaben – und sei's auch nur eine Gabe der Wohlthätigkeit – nicht mit vorgesehen wären.

Nun ging's abermals ans Rechnen, aber die Zahlen waren wenig biegsam und trotzten allem Beschönigen. Und mit diesem Unvorhergesehenen war's nicht einmal am Ende! Wenn – wenn – Krankheit kam? Arzt, Apotheker – das Vielerlei, was zu einer sorgfältigen Pflege gehört! Ange sann und plante. Wo konnte noch gespart werden? Gab's nicht einen Posten, der überflüssig erschien? – Nein, nein! – Und wenn sie nun selbst krank ward, wenn sie gar – Was wurde aus den Kindern? Konnte sie nicht sterben? War's nicht erste, vornehmste Pflicht, an diesen Fall zu denken? Mußte sie nicht ihr Leben versichern? – Aber woher nehmen? Da fiel's wieder wie Regenschauer auf ihre Seele, da raunte ihr eine fürchterlich nüchterne Stimme zu, daß selbst der beste, ehrlichste Anfang doch nur ein schlechtes Ende haben könne. Sie vermochte mit ihrem kleinen Zinskapital nicht alles zu bestreiten. Es war unmöglich, unmöglich!

Aber Ange erstarkte in ihrem Pflichtgefühl und in ihrer Liebe zu den Kindern und beschloß zu handeln. Sie schrieb an den Direktor des Gymnasiums und bat um Nachlaß des Schulgeldes, indem sie begründete, worauf sie schon einmal hingedeutet hatte. Wegen einer Ermäßigung der Steuern befragte sie an einem der kommenden Tage ihren Nachbar um Rat. Sie empfand keine Scham dabei, während sie doch ehedem schon gezittert hatte, ihr Diener könne bemerken, daß ihr das Geld zur Reise fehle. Sie schüttelte verwundert den Kopf, als sie dieser Zeit gedachte; ja, sie begriff heute nicht, daß ihr das Eingeständnis ihrer bedrängten Lage jemals schwer geworden sei.

Und nun begann in der Folge der wirkliche Lebenskampf. Welche Auseinandersetzungen mit den Kindern, wenn sie nach alter Gewohnheit irgend etwas begehrten, das ihnen die Laune eingab!

»Nein, nein!« sagte Ange.

»Weshalb nicht, Mama?«

»Weil ich es nicht will; weil es überflüssig ist.«

Die kleine Ange, bisher ohne eine Entbehrung, schielte dann wohl zum Einholen eines beipflichtenden Lächelns wegen dieser unerwarteten Worte zu den älteren Geschwistern hinüber. Aber sie fand kein Echo für ihren kindlichen Unverstand. Jene fühlten mit ihrem Instinkt, daß die Sache durchaus nichts Komisches habe.



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