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34. Meine Pilgerfahrt nach Lhasa.

Vom Lop-nor aus drang ich im Jahre 1901 zum dritten Male in das Land der hohen Berge ein. Der Sommer hatte gerade mit seinen erstickenden Staubstürmen begonnen, und man sehnte sich hinauf in die frische, reine Luft. Meine große Karawane war eine recht gemischte Gesellschaft. Ich hatte sechzehn mohammedanische Diener aus Ostturkestan, zwei russische und zwei burjätische Kosaken und einen mongolischen Lama aus Urga bei mir; Lebensmittel auf sieben Monate, Zelte, Pelze, Betten, Waffen und Kisten, alles wurde von 39 Kamelen, 45 Pferden und Mauleseln und 60 Eseln getragen. Außerdem hatte ich 60 Schafe zum Schlachten, mehrere Hunde und einen zahmen Hirsch.

siehe Bildunterschrift

Maskierte und musizierende Lamas.

siehe Bildunterschrift

Kloster Taschi-lunpo in Schigatse.

So brach ich zum Hochgebirge auf und überstieg eine Bergkette nach der andern. Oben auf den großen Höhen ist die Luft so dünn, daß man nur schwer atmen kann und die geringste Bewegung Herzklopfen erregt. Daher ermattet eine Karawane sehr schnell, das Weidegras wird immer spärlicher, viele Karawanentiere gehen dabei zugrunde, und man kommt selten mehr als 20 Kilometer an einem Tag vorwärts.

Ich hatte schon vierundvierzig Tagesmärsche geradeaus nach Süden hinter mir, da traf ich die ersten Menschenspuren. Mein Ziel war Lhasa, bis wohin ich noch 480 Kilometer zurückzulegen hatte. Bisher waren alle Europäer, die zu dieser heiligen Stadt vorzudringen versucht hatten, durch tibetische Reiter zum Umkehren gezwungen worden. Die Tibeter sind im Grunde ein gutmütiges, liebenswürdiges Volk, aber sie dulden keine Fremden in ihrem Land; sie haben gehört, daß Indien und Zentralasien von den Weißen erobert worden seien, und fürchten nun, sie könne dasselbe Schicksal treffen. Vor 200 Jahren lebten katholische Missionare in Lhasa, und noch im Jahre 1845 haben die berühmten französischen Geistlichen Huc und Gabet die Stadt besucht. Seitdem aber wurden zwei Europäer bei dem wiederholten Versuch, Lhasa zu erreichen, ermordet, und die übrigen haben unverrichteter Sache wieder umkehren müssen.

Nun wollte ich mein Glück versuchen! Mein Plan war, verkleidet mit zwei Begleitern zu reisen. Der eine war der mongolische Priester, den wir ganz einfach Lama nannten, und der andere der burjätische Kosak Schagdur. Die Burjäten sind mongolischen Stammes, sprechen mongolisch und sind auch Lamaisten. Sie haben schmale, etwas schiefstehende Augen, hervorstehende Backenknochen und fleischige Lippen. Die Tracht ist bei beiden Völkern fast die gleiche: ein Pelz mit langen Ärmeln, ein Gürtel um den Leib, eine Mütze und vorn aufwärtsgebogene Stiefel. Mein Anzug war daher genau ebenso, und alles, was wir an Zelt, Kisten und Proviant mitnahmen, war mongolische Arbeit und mongolischer Herkunft. Was ich an europäischen Sachen unbedingt brauchte, Instrumente, Schreibgerät und Fernglas, wurde sorgfältig in eine Kiste verpackt. Zu meiner Verteidigung dienten zwei russische Gewehre und ein schwedischer Revolver, und von den Karawanentieren sollten mich fünf Maulesel, vier Pferde und unsere beiden bissigsten Hunde, der »Tiger« und »Lilliput«, begleiten. Ich ritt einen prächtigen Schimmel, Schagdur einen großen Gelben und der Lama einen kleinen, gelbgrauen Maulesel. Die Lasttiere wurden von meinen Leuten geführt, und ich ritt hinterdrein. Die beiden ersten Tage begleitete uns noch ein Mohammedaner namens Ordek, der aber nach zwei Tagen wieder ins Hauptquartier zurückkehren sollte, wo die übrige Karawane auf meine Rückkehr wartete.

Viele Mongolen pilgern alljährlich in großen, bewaffneten Karawanen zur heiligen Stadt, um dem Dalai-Lama zu huldigen und sich seinen Segen und den des Taschi-Lama zu holen. Die Pilgerstraße dieser mongolischen Wallfahrer wollte ich demnach erreichen; denn es gab keine andere Möglichkeit, als unter solcher Verkleidung nach Lhasa zu gelangen.

Am 27. Juli hatte ich das Hauptquartier verlassen, und die Zurückbleibenden waren überzeugt, daß sie mich nie wiedersehen würden! Während des ersten Tages hatten wir nichts Lebendiges gesehen, und auch am zweiten Tag waren wir unbehindert 40 Kilometer weit geritten. Dann hatten wir unser Lager auf offenem Gelände an zwei Seen aufgeschlagen; nur im Südosten erhoben sich einige kleine Hügel, in deren Nähe die Tiere weideten. Ördek sollte sie in der Nacht bewachen, damit wir drei anderen ausschlafen konnten. Wenn er wieder fort war, fiel uns selbst ja diese Aufgabe zu.

Zunächst verbesserte ich nun meine Verkleidung. Mein Kopf wurde rasiert, bis er wie eine Billardkugel glänzte. Nur die Augenbrauen durften sitzen bleiben. Dann schmierte mir der Lama den Kopf mit Fett, Ruß und brauner Farbe ein, und als ich mich hinterher in einem kleinen Handspiegel besah, erkannte ich mich selbst nicht mehr; auf jeden Fall aber hatte ich eine gewisse Ähnlichkeit mit meinen beiden lamaistischen Dienern erhalten.

Am Nachmittag hatte sich Nordweststurm erhoben, und wir waren daher früh in unser kleines, dünnes Zelt gekrochen, wo wir ruhig einschliefen. Es war um Mitternacht, als sich Ördek in unser Zelt schlich und mir mit bebender Stimme mitteilte, draußen seien Räuber aufgetaucht. »Zwischen den hintersten Pferden bewegte sich ein Schatten!« Wir griffen zu den Waffen und eilten hinaus. Der Sturm wütete noch immer, und der Mond schien bleich aus zerrissenen Wolken heraus. In der Luft heulte und stöhnte es wie gewöhnlich in Tibet. Aber wir kamen zu spät. Auf dem Hügelkamm konnten wir noch eben drei Reiter unterscheiden, die zwei ledige Pferde vor sich herjagten: das eine war mein geliebter Schimmel, das andere Schagdurs Gelber. Schagdur schickte ihnen eine Kugel nach; aber sie hatte weiter keine Wirkung, als die Räuber zur Eile anzutreiben.

»Herr, laß uns die Schurken verfolgen«, rief Schagdur.

Ich war nicht weniger wütend als er, zwang mich aber zur Ruhe. »Das nützt nichts, mit unseren müden Pferden holen wir sie nicht ein.«

»Dann laß mich und Ördek sie verfolgen.«

»Bedenke doch,« erwiderte ich, »daß sie das Land weit besser kennen als wir! Sie reiten Nacht und Tag und folgen den Bächen, um ihre Fährte zu verwischen. Im besten Fall dauert es zwei Tage, bis ihr sie erreicht, und vielleicht lauern um uns her noch mehr solche Diebe. Wir wollen lieber aufpassen, daß wir nicht auch unsere übrigen Tiere noch verlieren.«

Die Nacht war dunkel, und aus dem Schlafen wurde nun nichts mehr. Wir ließen uns an dem kleinen Kohlenfeuer nieder, kochten Reis und Tee und zündeten unsere Pfeifen an. Als die Sonne aufging, waren wir zum Aufbruch bereit. Wir hatten die Spuren untersucht und gefunden, daß sich die Diebe gegen den Wind an uns herangeschlichen hatten und so der Aufmerksamkeit der Hunde entgangen waren. Einer von ihnen war in einer Regenfurche dicht an unsere grasenden Pferde herangekrochen und hatte sie durch plötzliches Aufspringen nach der dem Wind abgewandten Seite hingescheucht, wo sie ein berittener Räuber in Empfang nahm und vor sich herjagte. Der Dritte hatte mit seinem Pferd und dem seines Kameraden gewartet, und dann waren auch diese beiden davongeeilt. Gewiß hatten sie uns schon den ganzen Tag umlauert. Vielleicht wußten sie schon, daß wir aus meinem Hauptquartier kamen, und wie leicht konnten sie also eine Warnung nach Lhasa senden!

Ördek war außer sich vor Wut, daß er nun zu Fuß die zwei Tagereisen weite Strecke zurückgehen sollte. Wie ich später erfuhr, wagte er nicht, denselben Weg einzuschlagen, sondern schlich sich wie eine Wildkatze in allen möglichen Rinnen weiter und sehnte sich am Tag nach der Dunkelheit; aber wenn es dunkel wurde, packte ihn die Angst noch stärker, und in jedem Steinblock sah er einen lauernden Spitzbuben. Zwei Wildesel machten ihn beinahe verrückt vor Furcht, so daß er sich in einer Schlucht wie ein Igel zusammenkauerte, um dann in atemlosem Lauf seinen Weg fortzusetzen. Als er schließlich in dunkler Nacht im Hauptquartier anlangte, glaubte zum Überfluß der Nachtwächter, der Ankömmling gehöre nicht zu ihnen, und legte auf ihn an. Da rief nun Ördek und winkte mit der Hand, und als er endlich wieder in seinem Zelt war, schlief er achtundvierzig Stunden hintereinander!

Wir drei Pilger ritten nun nach Südosten und schlugen 40 Kilometer weiter das Zelt an einem Bach auf. Unsere Rollen waren so verteilt, daß Schagdur als der vornehmste gelten sollte; mich hatten meine Leute wie einen gewöhnlichen Maultiertreiber zu behandeln. Ich durfte mit dem Kosaken nun nicht mehr russisch sprechen, sondern nur mongolisch; der Lama war schon seit langer Zeit mein Lehrer in dieser Sprache gewesen. Am Nachmittag schlief ich bis 8 Uhr, und als ich erwachte, waren meine beiden Kameraden in größter Angst; sie hatten drei tibetische Reiter erblickt, die uns von weitem beobachtet hatten. Wir mußten also jeden Augenblick einen neuen Überfall erwarten.

Wir teilten nun die Nacht in drei Wachen, von 9 Uhr bis Mitternacht, von 12 bis 3 Uhr und von 3 bis 6 Uhr; ich übernahm die erste und der Lama die letzte Wache. Die Tiere wurden vor dem Zelt angepflockt, und vor und hinter dem Zelt lagen die Hunde.

Meine erste Nachtwache begann. Ich ging zwischen unseren beiden Hunden hin und her, und sie heulten jedesmal vor Freude, wenn ich sie streichelte. Wie finster war diese Nacht in Tibet und wie endlos lang waren die Stunden! Der Himmel überzog sich mit schwarzen, durch zuckende Blitze erhellten Wolken, und der Regen strömte in Sturzbächen herab. Er trommelte auf der mongolischen Kasserolle, die draußen am Feuer stehen geblieben war. Hin und wieder suchte ich Schutz in der Zelttür, aber sobald die Hunde knurrten, eilte ich wieder hinaus. Jetzt tropfte es nicht mehr, sondern es strömte von meinem Pelz herab.

So wurde es Mitternacht, aber Schagdur schlief so fest, daß ich es nicht übers Herz brachte, ihn zu wecken. Eben hatte ich beschlossen, seine Wache um eine halbe Stunde abzukürzen, als die beiden Hunde wütend zu bellen begannen. Der Lama erwachte und stürmte ins Freie, wir schlichen mit unseren Waffen nach der verdächtigen Stelle hin und hörten Pferdegetrappel, das sich auf dem durchweichten Boden entfernte. Dann war wieder alles still, und die Hunde bellten nicht mehr. Nun weckte ich Schagdur und legte mich in meinem nassen Pelz schlafen.

Unter bleischwerem Himmel ritten wir am nächsten Tag weiter. Menschen oder Nomadenzelte zeigten sich nicht, wohl aber zahlreiche Spuren von Schafherden und Yaks und alte Lagerstätten. Jetzt vergrößerte sich täglich die Gefahr, mit Menschen zusammenzutreffen, und von Tag zu Tag stieg meine Spannung, wie die Tibeter uns drei aufnehmen würden.

Auch am 31. Juli hielt der strömende Regen an. Wir folgten einem deutlich erkennbaren, ausgetretenen Weg, den vor kurzem eine Yakherde getrieben worden war. Nach einer Weile kamen wir sogar an einer Schar tangutischer Pilger vorbei, die 50 Yaks, 3 Pferde und 3 Hunde hatten, die von Tiger und Lilliput tüchtig gezaust wurden. Die Tanguten sind ein Nomadenvolk im nordöstlichen Tibet, und jeder zweite von ihnen ist ein Räuber! Doch kamen wir glücklich an ihnen vorbei und lagerten nun zum erstenmal in der Nähe eines tibetischen Nomadenzelts, das einen jungen Mann und zwei Frauen beherbergte.

Während der Lama sich mit diesen in ein Gespräch einließ, kam der Besitzer des Zeltes und war nicht wenig erstaunt, einen Gast bei sich zu sehen. Dann begleitete er den Lama zu meinem Zelt und setzte sich vor dem Eingang auf den nassen Boden nieder. Unser Besuch hieß Sampo Singi und war der schmutzigste Kerl, den ich in meinem ganzen Leben gesehen habe. Aus seinen verfilzten Haarsträhnen tropfte das Regenwasser auf einen zerlumpten Mantel; er trug Friesstiefel, aber keine Hosen, ein Kleidungsstück, das fast alle Tibeter als überflüssig betrachten. Es mußte recht erfrischend sein, sich so hosenlos auf einen durchnäßten Sattel zu setzen. Sampo Singi schneuzte sich mit den Fingern so laut, daß es widerhallte, und so oft, daß ich mich fragte, ob das etwa zum guten Ton gehöre. Ich folgte daher seinem Beispiel, und er war nicht im geringsten erstaunt. Dann besah er sich unsere Sachen und gab alle Auskunft, die wir nur wünschten; nach Lhasa seien es noch acht Tagereisen. Als er uns fragte, ob wir Pfeffer in unseren Schnupftabak zu streuen pflegten, lachten wir ihn aus, und um seine Würde zu wahren, schnauzte Schagdur mich an: »Sitz nicht hier und gaffe, Bengel, geh und treibe die Pferde zusammen!« Ich eilte sofort zu den Tieren und hatte alle Hände voll zu tun, bis ich sie glücklich beim Lager hatte.

Dank der Nachbarschaft der Nomaden, die auch bissige Hunde und Waffen hatten, verlief die Nacht ruhig, und früh am Morgen machte uns Sampo Singi in Begleitung eines anderen Tibeters und einer Frau abermals eine Visite. Wir hatten sie gebeten, uns Eßwaren zu verkaufen, und sie brachten allerlei gute Dinge: ein Schaf, ein großes Stück Fett, einen Napf saure Milch, eine Holzschüssel mit geriebenem Käse, eine Kanne frische Milch und einen großen Klumpen buttergelber Sahne. Nun sollten wir bezahlen. Aber unsere Reisekasse bestand aus chinesischen Silberstücken, die nach Gewicht bewertet und stets auf einer kleinen Wage gewogen werden. Sampo Singi wollte aber nur Geld aus Lhasa nehmen, und das hatten wir nicht. Zum Glück aber hatte ich in Turkestan zwei Ballen blauen chinesischen Seidenzeugs gekauft; eine Bahn dieses Stoffes ersetzt alles Silber. Die Tibeter wurden ganz närrisch, als sie die Seide rascheln hörten, und nach dem üblichen Feilschen einigten wir uns zu gegenseitiger Zufriedenheit.

Das Schaf wurde also geschlachtet, einige fette Stücke über dem Feuer geröstet, und nach einem tüchtigen Frühstück sagten wir den Tibetern Lebewohl. Noch immer strömte der Regen, als wir talabwärts weiterritten und das rechte Ufer eines Flusses erreichten, der so breit war, daß sein anderes Ufer im Regennebel verschwand. Vier seiner zwanzig Arme waren jeder ein ordentlicher Fluß. Aber der tapfere kleine Lama ritt ohne Zögern in die reißende, schmutziggraue Strömung hinein, und wir folgten. Für mich war die Gefahr nicht allzugroß, denn ich kann schwimmen, aber meine beiden Leute konnten es nicht, und der Fluß war vom Regen der letzten Tage so ungeheuer angeschwollen, daß nach meiner Berechnung in jeder Sekunde 250 Kubikmeter Wasser durch sein Bett strömten!

Als wir die halbe Breite des Flusses hinter uns hatten, rasteten wir ein Weilchen auf einer Schlammbank, von wo aus weder das rechte noch das linke Ufer durch den Regenschleier zu sehen waren. Das strömende Wasser rechts und links verwirrte so, daß man fast glaubte, die kleine Sandbank treibe mit unheimlicher Geschwindigkeit flußabwärts.

Nun ging der Lama mit seinem Maulesel wieder in das Wasser hinein; aber er war noch nicht zehn Schritte weit, da ging die Flut dem Maulesel schon bis an die Schwanzwurzel. Der Lama führte aber auch das Maultier mit meinem wichtigsten Gepäck, zwei Fellkisten, die, solange das Wasser nicht eingedrungen war, wie Korkkissen wirkten. Dadurch verloren die Füße des Tieres plötzlich ihren Halt, und von der Strömung mitgerissen, verschwand es flußabwärts im Regen. Aber der Maulesel wußte sich zu helfen. In der Nähe des linken Ufers konnte er wieder Grund fassen, er stemmte die Hufe fest auf den Boden und kletterte aus dem Wasser heraus. Die beiden Kisten saßen noch richtig auf seinem Rücken, jetzt allerdings ganz voll Wasser.

Der Lama setzte seinen Weg fort, unbekümmert darum, ob das Wasser um seinen Sattel schäumte, und ich erwartete jeden Augenblick, ihn dieselbe Reise antreten zu sehen wie der Maulesel. Aber dem Mutigen gehört die Welt, und zuletzt lag nur noch ein Arm von 30 Meter Breite vor uns. Meine beiden Begleiter ritten schon zum Ufer hinaus, während ich noch im Fluß war. Aber da ich mir nicht gemerkt hatte, wo sie gelandet waren, geriet ich zu weit nach rechts. Mit jedem Schritt sank das Pferd tiefer, das Wasser ging mir über die Stiefelschäfte, dann bis ans Knie und bis über den Sattel; nur Kopf und Hals des Pferdes waren noch in den schäumenden Wellen sichtbar. Der Lama und Schagdur schrien wie besessen, um mir die Furt zu zeigen, aber ich hörte nichts in dem betäubenden Rauschen. Nun stieg mir die Flut bis an die Hüften, und ich öffnete schon den Pelz, um ihn auszuziehen und so leichter schwimmen zu können – in demselben Augenblick verlor mein Pferd den Grund unter den Füßen und wurde von der Strömung ergriffen. Unwillkürlich packte ich seine Mähne, und das war das beste, was ich tun konnte, denn es faßte gleich wieder festen Fuß und drängte sich nun in heftigen Wendungen den Uferwall hinauf.

Nach diesem unfreiwilligen Bad ritten wir weiter. Es quatschte in meinen Stiefeln und tropfte aus den Ecken der Kisten, und unser heutiges Lager war erbärmlich. Keinen trockenen Faden auf dem Leib, immer noch Regen, und kaum denkbar, ein Feuer anzuzünden! Schließlich gelang es doch, ein rauchendes Dungfeuer in Brand zu bringen. Aber in dieser Nacht schüttelte ich Schagdur ohne Erbarmen aus dem Schlaf, als meine Wache vorüber war, und kroch ins Zelt!

Am 2. August legten wir nur 25 Kilometer zurück. Die Straße war nun deutlich sichtbar und recht breit. An der einen Böschung lagerte eine große Teekarawane, und fünfundzwanzig Männer saßen um ein Feuer herum, während ihre dreihundert Jaks weideten. Die Teeballen waren in gewaltigen Haufen aufgestapelt; es war chinesischer Tee von keiner besonderen Sorte und in Würfel gepreßt, die Ähnlichkeit mit Ziegelsteinen haben. Daher heißt er auch Ziegeltee. Jeder Würfel ist in rotes Papier gewickelt und etwa zwanzig werden, mit einem Strick umschnürt, in einen Lederbeutel gefüllt.

Als wir an der Karawane vorbeiritten, traten mehrere Männer an uns heran und taten allerlei freche, zudringliche Fragen. Sie waren bewaffnet, sahen wie Räuber aus und machten uns den Vorschlag, wir sollten uns ihnen auf der Reise südwärts nach Schigatse anschließen. Dafür bedankten wir uns aber schön. Mein Hund »Tiger« setzte seinen tibetischen Verwandten unterdes so heftig zu, daß die Tibeter selbst dabei Angst bekamen und schließlich auch dachten, es sei wohl am besten, wenn jeder für sich bleibe.

Am nächsten Morgen trieb die sonderbare Karawane an uns vorüber. Das war eine andere Gesellschaft als die prächtigen Kamelkarawanen in Persien und Turkestan! Aber militärische Ordnung hielten sie, und die Männer gingen pfeifend und kurze, gellende Rufe ausstoßend neben ihren Tieren her. Zehn Kerle trugen Flinten auf dem Rücken und alle waren barhäuptig, braungebrannt und schmutzig. An diesem Tag blieben wir in unserm Lager, um unsere Sachen zu trocknen, und der Lama malte mir noch einmal den Kopf bis auf den Hals hinunter und auch in die Ohren hinein. Jetzt näherte sich die Entscheidung! Die Erwartung einer Gefahr ist stets viel schlimmer als die Gefahr selbst.

Am 4. August begegnete uns wieder eine Karawane von etwa hundert Yaks, aber ihre bewaffneten Treiber hielten uns für gewöhnliche Pilger und kümmerten sich nicht um uns. Dann ritten wir an mehreren Zelten vorüber, und jenseits eines Passes bemerkte ich, daß die Zelte wie schwarze Punkte umhergestreut lagen, an einer Stelle vierzehn nebeneinander. Nun war ich also mitten auf der großen Landstraße nach Lhasa!

Am nächsten Tag zählten wir in einem offenen, ebenen Tal zwölf Zelte, und in der Dämmerung kamen drei Tibeter auf uns zu. Unser Lama war der einzige, der Tibetisch verstand, und redete mit ihnen. Als er dann aber zu mir kam, war er außer sich vor Angst: einer der Drei, ein Häuptling, hatte ihm gesagt, Yakjäger im Norden hätten die Nachricht geschickt, daß eine große europäische Karawane heranziehe! Er argwöhne daher, daß einer von uns ein Weißer sei, und befehle uns energisch, hier auf dieser Stelle zu bleiben!

So waren wir also Gefangene der Tibeter und erwarteten voller Unruhe den nächsten Morgen, wo sich unser Schicksal entscheiden mußte. An den Feuern der Tibeter sahen wir, daß sie während der Nacht unser Zelt bewachten in der Furcht, daß wir Reißaus nehmen könnten.

Am Tag darauf nun kamen mehrere Gruppen zu uns, vornehme Häuptlinge und gewöhnliche Nomaden, und alle befahlen uns, wenn uns das Leben lieb sei, hier zu bleiben, bis der Gouverneur der Provinz anlange! Dabei taten sie alles mögliche, um uns Schrecken einzujagen; Reiterscharen sprengten in geschlossener Reihe auf unser Zelt los, als ob sie uns mit einem Schlag in Grund und Boden stampfen wollten. Wir dachten aber nicht daran, uns wie tolle Hunde niederschießen zu lassen, sondern hielten unsere geladenen Flinten bereit. Sobald die Reiter zu uns herangestürmt waren, schwangen sie ihre Säbel und Lanzen über den Kopf und stießen dabei ein wildes Geheul aus, machten dann aber eine schnelle Wendung nach rechts oder links. Dieses kriegerische Manöver wurde mehrere Male wiederholt.

Während der nächsten Tage benahmen sie sich friedlicher, ja wir standen zuletzt mit den meisten unserer Nachbarn auf ganz vertrautem Fuß. Sie besuchten uns ununterbrochen, schenkten uns Milch, Butter und Fett und krochen bei Regen ganz ruhig in unser Zelt hinein, wo wir kaum selber Platz hatten. »Der Dalai-Lama habe befohlen, man dürfe uns kein Leid zufügen«, erzählten sie, und wir sahen auch täglich reitende Boten auf den nach Lhasa und dem Dorf des Gouverneurs führenden Straßen kommen und gehen. Wo unsere sieben Last- und Reittiere waren, wußten wir nicht, aber ich hatte den Tibetern erklärt, daß sie für unsere Tiere verantwortlich seien, da sie uns wider unsern Willen hier zurückhielten.

Am 9. August kam endlich Leben in die Sache. In einiger Entfernung von uns wuchs ein ganzes Zeltdorf aus dem Boden hervor und, von einigen Reitern begleitet, stellte sich ein mongolischer Dolmetscher in unserm Zelt ein, der uns folgendermaßen anredete:

»Der Statthalter Kamba Bombo ist hier und befiehlt euch, heute zu einem Gastmahl in sein Zelt zu kommen.«

»Grüßt Kamba Bombo,« antwortete ich, »aber sagt ihm, daß man vorher einen Besuch macht, wenn man jemand zu einem Gastmahl einladet!«

»Ihr müßt kommen,« fuhr der Dolmetscher fort, »ein gebratenes Schaf steht in der Mitte des Zeltes, und Schalen mit geröstetem Mehl und Tee. Er erwartet euch.«

»Wir gehen keinen Schritt aus dem Lager. Will Kamba Bombo uns sehen, so mag er herkommen!«

»Wenn ihr mir nicht folgt, so kann ich mich vor dem Statthalter nicht rechtfertigen. Er ist Tag und Nacht gereist, um euch zu sprechen. Ich bitte euch, mitzukommen.«

»Hat Kamba Bombo uns etwas zu sagen,« so schloß ich die Unterredung, »so ist er uns willkommen. Wir wollen nichts von ihm, sondern nur als friedliche Pilger nach Lhasa reisen.«

Zwei Stunden später kamen die Tibeter in einer langen, schwarzen Reihe angeritten, in ihrer Mitte der Gouverneur auf einem großen, weißen Maulesel. Sein Gefolge bestand aus Beamten, Offizieren und Geistlichen in roten und blauen Mänteln, mit Flinten, Säbeln und Lanzen, und mit Turbanen oder hellen Hüten auf dem Kopf. Sie ritten auf silberbeschlagenen Sätteln, und die ganze Truppe sah aus, als handele es sich um einen Feldzug gegen einen feindlichen Stamm!

Als sie angelangt waren, wurden auf dem Boden Teppiche und Kissen ausgebreitet, und auf diesen nahm Kamba Bombo Platz. Nun ging ich auf ihn zu und bat ihn, in unser schlechtes Zelt zu treten, wo er sich auf den Ehrenplatz, einen Maissack, setzte. Er mochte wohl vierzig Jahre alt sein und sah jovial, aber durchtrieben, auch bleich und angegriffen aus. Als er seinen weiten, roten Mantel und seinen Baschlik ablegte, stand er in einem außerordentlich feinen Anzug aus gelber chinesischer Seide da, und seine Stiefel waren von grünem Samt.

Nun begann die Unterhaltung, und wie! Jeder von uns tat sein Möglichstes, den andern totzureden. Aber das Ende vom Lied war die Erklärung, man würde uns, ganz gleichgültig, wer wir seien, den Hals abschneiden, wenn wir auch nur noch einen Schritt in der Richtung nach Lhasa machten! Wir wehrten uns zwar noch an diesem und dem nächsten Tag gegen diesen Beschluß, aber alles half nichts, und wir mußten der Übermacht weichen. –

»Sind Sie so bange vor mir,« fragte ich Kamba Bombo, »daß Sie mit solch einer Schar zu meinem Zelt kommen?«

»Nein,« antwortete er, »aber ich weiß, daß Sie ein vornehmer Herr sind, und ich habe Befehl aus Lhasa, Ihnen die gleichen Ehren zu erweisen, wie den höchsten Beamten unseres Landes.«

So kehrte ich denn nach meiner unterbrochenen Pilgerfahrt nach Lhasa auf endlosen Wegen durch das Land Tibet wieder zurück zum Hauptquartier. Kamba Bombo sahen wir nicht wieder, aber die Unsrigen traf ich im besten Wohlergehen.

Als sich drei Jahre später die Engländer mit indischen Truppen und Maschinengewehren gewaltsam den Weg nach Lhasa bahnten und dabei Tausende niederschossen, soll Kamba Bombo einer der Gefallenen gewesen sein. Das tat mir außerordentlich leid. Wohl hatte er meine Pläne durchkreuzt, aber höflich und liebenswürdig, und er hatte nur seine Pflicht getan, entsprechend dem Befehl des Dalai-Lama. Auch hatten wir uns als die besten Freunde getrennt, ich hatte ihm chinesischen Stoff geschenkt, und er verehrte mir als Ersatz für die gestohlenen Pferde zwei schöne Schimmel. Außerdem hatte er uns mit Proviant für die ganze Rückreise versehen. Unter den vielen tausend Asiaten, mit denen ich in Berührung gekommen bin, war er einer der trefflichsten.


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