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Sven Peter hatte, um bei der Wahrheit zu bleiben, sehr dunkle Begriffe von dem Worte »Vaterland«. In seinen Knabenjahren, so um 1850 herum, waren die Volksschulen noch nicht, was sie jetzt sind. Man las, mit Ausnahme des Schulzen und des Reichstagsabgeordneten, keine Zeitungen in Bauernhäusern, und damals gab es noch keinen Palm und keinen Strindberg, die das Volk durch ihre Schmutzschriften das Vaterland von der schlechten Seite kennen lehrten. Aber Sven Peter wußte, daß das Land, in dem seines Vaters Häuslerei lag, Schweden war und daß der König Oskar der Erste hieß. Schwedens Fahne war gelb und blau, das hatte er auf Ränneslätt gesehen, jener großen Ebene, wo die Grenadiere stampften, daß der Boden zitterte, und mit den Büchsenkolben aufstießen, daß man glaubte, der Tag des Jüngsten Gerichts bräche herein. Auf jener großen Ebene, wo die Generale und Obristen und Käck, der für Skantebro diente, um die Wette ritten, so daß man nur Himmel und Pferdefüße sah.
Wie schon oft, war wieder einmal eine schwere Zeit für das arme Smaland. Seit lange vor Johannis stand die Sonne wie ein glühender Kupferkessel am Himmel und weder Morgen- noch Abendtau fiel auf die dünnen, verkümmerten Strohhalme, die sich mühsam durch die dichten, heißen Steine des Ackers emporgezwängt hatten. Die Brotnahrung war schon seit Weihnachten zu Ende, denn in der Häuslerei waren zu viel Esser. Sven Peter mußte in die Welt hinaus.
In brennender Junihitze saß er in seiner steifen, dicken Kleidung von grobem Wollenzeug und einem großen, wollenen Halstuch zwei Mal um den magern, braunen Hals gebunden, saß und aß seine Abschiedsmahlzeit in Kartoffeln und saurer Milch auf der alten, glatten Holzbank. –
Am andern Ende der Bank lagen die großen Zwillingsschafe der Familie. Ihre Füße waren mit den Strumpfbändern der Mutter zusammengebunden, und die Mutter schnitt und schnitt in den üppigen Pelz der Zwillingsschafe und weinte, wenn sie Sven Peter ansah, der nun in die Welt hinaus sollte. Und wenn die Schafe strampelten und mit den Köpfen auf den Tisch schlugen, ging die saure Milch in der Blechschüssel in richtigen Wogen auf und nieder.
Es war schon reichlich spät zur Schafschur; doch als sie im Frühling herausgelassen wurden, waren sie so mager gewesen, daß die Mutter sie nicht zu scheeren gewagt hatte.
Es war recht frühzeitig, Sven Peter in die Welt zu schicken, doch draußen auf der Bank krochen noch vier Stück herum, die noch zarter waren als er und sich von dem schlechten Korn am Abhang ernähren mußten, dessen Halme so bleich und dünn und verkümmert aussahen, als hätte man sie mit der Zange aus der Erde gezogen.
Der Vater war früh Morgens auf Tagelohn gegangen. Seine Abschiedsrede war nicht lang. »Nun, lebe wohl, mein Junge! Die Stiefeln mußt Du im Sack auf dem Rücken tragen!« Das war Alles. Aber die Mütter gleichen sich alle, ob nun ihre Thränen in ein Battisttaschentuch oder auf eine alte Bank fallen. Mutter Kaijsa legte die Schafe auf den Fußboden, zog Sven Peter in ihre Arme und sagte: »Gott sei mit dir! Magst Du nicht noch das Bißchen Milch essen, das noch in der Schüssel ist?«
Und so zog er denn nach Süden mit sechzehn Schillingen in der Westentasche und seinen Alltagskleidern in einem Bündel auf dem Rücken.
In Schonen waren die Felder grüner, das Korn dichter und die Bauern dicker, aber leider hatten sie keine Lust, einen kleinen, ausgehungerten Smalandsjungen in Lohn und Brot zu nehmen. Hirtenknaben hatten sie selber. Und so wanderte und wanderte Sven Peter, bis er nach Malmö kam, aber auch dort konnte man einen Burschen nicht brauchen, der, als er um Arbeit bat, keine weiteren Empfehlungen hatte, als zwei große, hellblaue Augen, in denen Thränen funkelten.
Schließlich fand sich ein feiner Herr, der Sven Peter eine ordentliche Mahlzeit mit Kalbsbraten und Kartoffeln gab und ihn mit einer halben Stiege anderer kleiner, magerer, sonnenverbrannter Jungen nach einem Gute in Seeland schickte. Es war viele Jahre, bevor die große, jährliche Auswanderung schwedischer Dienstmädchen nach Dänemark begann, und Sven Peter glaubte, er müsse bis Amerika reisen.
Auf dem großen Gute hatte er es nicht zum Besten. Die Burschen erhielten zu wenig und schlechtes Essen, mußten des Nachts im Kuhstall liegen und wurden vom Morgen bis zum Abend auf den Rübenfeldern härter zur Arbeit angetrieben, als die Tiere. Eines Tages, als die Sonne heiß schien und ihm die Hacke zu schwer wurde, kroch Sven Peter in einen trockenen Graben und schlummerte ein wenig. Er erwachte von dem Gefühle, daß man ein Fuder Holz auf seinen Rücken würfe. Aber es war nur des Verwalters Stock, und der flog auf und nieder, auf und nieder, bis Sven Peter beinahe zerbrochen und halb tot geschlagen sich schließlich blutend in seinen Stallwinkel schleppte.
In der Nacht erhob er sich mit schmerzenden Gliedern, raffte seine Lumpen zusammen und lief fort, als gälte es sein Leben zu retten, lief ohne Rast und Ruh, wie eben nur ein armer, magerer, geängstigter, smaländischer Tagelöhnerjunge laufen kann, lief, bis er sich plötzlich zwischen vielen tausend Häusern und Straßen befand und die Stadt wieder erkannte, in der er mit dem Dampfboot von Malmö gelandet war.
Weinend wankte er durch die Straßen. Er hatte keinen Sinn für die Merkwürdigkeiten der Stadt, er suchte nur ängstlich nach einem einzigen, freundlichen Gesichte, aber alle sahen so fremd und stolz aus und hatten es so eilig, daß er sie nicht anzureden wagte. Doch was glänzt dort auf dem Dache im Sonnenschein? Gelb und blau steigt es aus der Dachluke empor; blau und gelb legt es sich um eine lange Stange, wenn der Wind ruht.
O, das ist die Fahne von Ränneslätt!
Und ohne Besinnung, wie wenn ein gehetztes Wild sich in's Wasser stürzt, stürmt Sven Peter von der Straße in das Haus, die Treppen hinauf, in ein prächtiges Zimmer, umfaßt die Kniee eines feinen Herrn und schluchzt:
»Sind Sie von Ränneslätt, so helfen sie mir um Jesu Willen!«
Der feine Herr war nun zwar nicht gerade von Ränneslätt, aber er war schwedisch-norwegischer Generalkonsul in Kopenhagen. Er hatte die schwedische Flagge aufgezogen, weil ein königlicher Namenstag war, und er beschützte seinen armen, kleinen Landsmann, der halb unbewußt unter vaterländischer Flagge Schutz gesucht hatte, auf das beste.
Von diesem Augenblicke an wurde Sven Peter die Fahne teuer; das blaugelbe Zeug hatte in ihm eine Ahnung von dem erweckt, was Heimat und Vaterland sind, und als er nach einigen Jahren als Ausgelooster auf Ränneslätt exerzierte, ging er zu einem wohlwollenden Rittmeister, den er kannte, und bat, ob er nicht für einen Bauernhof, der einen Soldaten stellen muß, reiten könne. Reiten unter den blaugelben Fahnen, für König und Vaterland, an Stelle des alten Käck aus Skantebro, der bald ausgedient hatte. Und so erhielt er Nr. 57 und eine Büdnerei und ein Pferd und eine neue Uniform. Käck sollte er heißen nach dem alten Käck, und keck sah Sven Peter aus, wie er mit seinem großen Schnurrbart und wohlgebürsteten Dolman auf seinem Braunen Kläm mitten im Carré hielt, und wenn es in sausender Fahrt über die Haide ging, daß die Erdschollen flogen und die Bauern, die sich einen Feiertag gemacht hatten, um ihre Pferde zu sehen, vor Angst erbleichten.
Und so ritt er dreißig Jahre auf dem Manöverfelde, und ein Pferd nach dem andern wurde dienstuntüchtig und mußte für Nr. 57 Skantebro ausgeschossen werden, aber Käck war noch immer munter. Das erste war Kläm. Es wurde mit siebzehn Jahren steif und kam zu einem Brauer in Jönköping. Dann kam der liebe Fuchs, der sich in Bornaps großem Park das Bein brach, und da weinte Käck beinahe ebenso sehr, wie damals, als sein kleiner Knabe am Scharlachfieber draufging. Und nun war es sein alter, grauer Kalle, und er glaubte wohl, daß er mit ihm zusammen ausgedient haben würde.
Es ging mit den beiden, mit Kalle und mit Käck zu Ende. Grau und etwas steifbeinig waren sie beide. »Was heißt das, Käck? Du sitzest ja so schwerfällig auf?« hatte der Rittmeister schon im vorigen Jahre gesagt. Als er beim letzten Manöver als Ordonnanz ritt, lachte der Fahnjunker und fragte: »Ist das Käck oder Kalle, der anfängt, alt zu werden?«
Der alte Husar schwieg, biß sich stolz in seinen grauen Schnurrbart und sah auf die blaugelbe Fahne. Bald würde auch sie, die ihn einst unter ihren Schutz genommen hatte, ihn von sich stoßen, weil er zu alt war, um ihr mit Ehren zu dienen. Er sah auf seinen blau-gelben Dolman, bald würde er kräftigere und jüngere Glieder umschließen, die ein blitzschnelles »Aufgesessen!« befolgen konnten und nicht bei einem gestreckten Galopp zitterten.
Der Tag der Generalmusterung kam. Steif und geputzt wie immer erhielt Käck seinen Abschied und die Verdienstmedaille, blickte starr vor sich nieder auf Kalle's Mähne und fühlte seine Augenlider zucken, als der General ihm einige freundliche Worte sagte. Ihm, dem alten Husaren, der brav gedient und »blank« im Strafbuche hatte.
Als man in's Lager zurückgeritten war, kam der Gastwirt, der Kalle gekauft hatte, und schrie: »Her mit dem Gaul!« Da brach es los, und nachdem er dem alten Kameraden zum Abschied leise über die Lenden gestrichen hatte, ging Käck auf's Feld hinaus und weinte wie ein Kind und große Tropfen fielen auf seinen Dolman, den blau-gelben.
Froher, junger Husar! Wenn das Regiment auf dem Marsche ist, wenn die Fahne weht und die Hörner an der Spitze schmettern, wenn die jungen Pferde den Birkenhainen »guten Morgen« zuschnaufen, wenn die Muskeln sich anspannen und die Brust sich mit jener kecken, übermütigen Freude erfüllt, die ein richtiger Mann sonst nur empfindet, wenn er ein geliebtes Weib sein nennt, ein schaukelndes Deck unter seinen Füßen fühlt, ein blankes Schwert schwingt oder einen tüchtigen Gaul zwischen den Beinen hat – dann sieh auch einmal nach der Seite des Weges hin, und dann wirst du vielleicht eine gefurchte Wange, einen weißen Schnurrbart über dem Holzzaun erblicken und zwei alte schwache Augen deinem stolzen Ritte folgen sehen.
Das ist der alte Husar. Er liebt es, mit seinen trüben Augen seiner alten Schwadron bis zur nächsten Wegkrümmung zu folgen, vielleicht zum letzten Male, und mit bebenden Lippen murmelt er ein Lebewohl für Schwedens stolze Fahne ... die blau-gelbe.