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Als Frau Malin Großmutter wurde.

Der alte Bankbeamte hatte sein ganzes Leben lang gestrebt und gearbeitet, auf der Schulbank und am Pulte, als Knabe und als Mann. Er hatte denn auch sich, seine Frau und seine Maria bisher so ziemlich versorgen können. Die Familie war allerdings nicht größer, aber die Gesellschaft, in deren Dienst er arbeitete, gehörte ebenfalls nicht zu den großen und konnte ihm nicht mehr als 2000 Mark Jahresgehalt geben. Diese respektable Summe erhielt man sogar erst nach zehnjähriger, redlicher Dienstleistung und nachdem zwei Generalversammlungen in endlos langen Sitzungen darüber beraten hatten.

Nun, Herr Gott, es reichte ja auch, wenn man drei Mittage in der Woche Strömling aß und Maria vier Winter denselben Hut trug. »Dieses Jahr nehme ich vorn eine Stahlspange und setze die Feder nach links«, sagte die Frau Sekretair dann wohl mit einem kleinen Seufzer, wenn sie andere Frauen mit neuen, modernen Kopfbedeckungen gehen sah. »Mach' es so, liebe Alte«, antwortete er, »die Feder ist Nebensache, wenn nur das Herz auf dem rechten Fleck sitzt.«

Es mag wunderlich klingen, aber doch gibt es auf der Welt zuträglichere Dinge, als in der nicht ganz reinen Komptoirluft ein Menschenleben lang über einem Schreibpult zu sitzen. Der Sekretair begann zu kränkeln und schwand zusehends dahin, obgleich die Gesellschaft ihm ein neues Pultwachstuch und eine neue Hanfmatte unter den Schreibstuhl ohne Rücksicht auf die Kosten gestiftet hatte und er sich also nicht erkälten konnte.

Der Arzt schüttelte den Kopf und sprach von Kreuznach.

»Lieber Herr Doktor, das liegt ja wohl oben in Dalekarlien?« sagte Frau Malin. Sie war nur Mamsell bei Barons in Stjerninge gewesen und hatte gerade nicht übermäßig viel gelernt. Aber als sie hörte, daß es sogar weit außer Landes läge, da erschrack sie zuerst sehr, dann aber versuchte sie doch ihren Mann zu überzeugen, daß die Reise durchaus notwendig sei.

Der Sekretair wollte nicht. Er hatte kein Geld und keine Lust, sich und die Seinen durch Schuldenmachen zu ruinieren.

Der Doktor meinte, nun sei man im Januar und würde für den Sekretair nichts Ordentliches gethan, so wäre er nächste Weihnachten so mausetot, wie nur möglich.

Die Gesellschaft bot ihm Urlaub an und wollte ihm dafür nur die Hälfte des Gehaltes abziehen, und der eine Direktor war sogar erbötig, ihm das Geld – zu sechs Prozent und gegen bombensichere Bürgschaft – vorzuschießen. Aber der Sekretair war eigensinnig. Er wollte lieber schuldenfrei in der Heimat sterben und Frau Malin die Lebensversicherung unverkürzt lassen, als sich durch eine Reise in's Ausland an den Bettelstab bringen. Der Arzt prophezeite seinen Tod noch feierlicher; der Sekretair ging nach wie vor auf's Comptoir, rechnete, schrieb, machte seinen Abschluß im Februar, und zu Johannis – war er gesund.

»Eine höchst unbegreifliche Krisis!« sagte der Arzt.

Es war gar keine Krisis. Frau Malin hatte freilich nicht gewußt, wo Kreuznach liegt, dazu war sie zu unwissend, aber den Weg des Gebetes zu Ihm, in dessen Händen allein Leben und Tod, Kraft und Hülfe liegt, kannte sie dafür um so besser.

Der Sekretair hatte nur drei Lebensideale: seine Malin, eine hübsche, fehlerfreie Ziffernreihe und eine Pfeife Kalmarrose nach Tische. Als er sich verheirathet hatte, entsagte er seiner Pfeife noch nicht. Doch als Klein-Maria geboren war, nahm er sie stets auf den Schoß, sobald er seine Strömlinge gegessen hatte und von der Pfeife war keine Rede mehr.

»Nun habe ich sie gestopft, Papa!« sagte Frau Malin.

»Wo denkst Du hin? Soll ich das Kind mit dem Tabaksrauch krank machen?« antwortete der Sekretair, und von dieser Zeit an rauchte er nur noch eine Sonntagspfeife und einmal im Jahre, wenn die Revisoren kamen, eine Zehnpfennigcigarre.

Als die Sekretairin zu Weihnachten gründlich rein machte, fand sie auf seinem Schreibtische eine lange, äußerst verwickelte Berechnung, die ihr vollkommen unverständlich war; doch am Rande stand geschrieben: Drei Pfeifen täglich macht in 365 Tagen 45 Kronen in's Sparkassenbuch der Kleinen.

Frau Malin wollte keine weiteren Überredungskünste versuchen und gewann es über sich, von dieser Entdeckung nichts verlauten zu lassen. Doch wenn sie nun ihren Andreas nach Tisch so mit der Kleinen auf dem Schoße sitzen sah und wahrnahm, wie seine Unterlippe an der linken Seite, wo die Pfeife fünfzehn Jahre lang im Mundwinkel gesessen hatte, ein wenig heruntergezogen war, da fühlte sie, wie die neuen Herzensfibern, die das Kindchen immer dichter einspannen, sie und ihren Andreas noch fester verknüpften.

Mia wuchs mit der Zeit auf, wurde gut und niedlich, ging in die Schule und lernte so viel, daß sie mit ihren unaufhörlichen Fragen Mama schier in Verlegenheit setzte. Aber gar manche wuchsen so in der Stadt heran, unter andern eine entsetzliche Menge Buben, die natürlich alle auf's Gymnasium sollten, und so kann man sich nicht wundern, daß schließlich ein Extraordinarius erforderlich wurde.

Dieser »besondere« Lehrer kam mit Universitätsschulden, Seehundsfellkoffer, Schnurrbart, Henri quatre und den treuherzigsten, blauen Augen, die man sich nur denken konnte. Und als er Mia mit diesen Augen ansah, da meinte er, sie sei auch etwas ganz besonderes, und beide überfiel eine der Liebeskrankheiten, die sich weder durch augenblickliche Armut, noch durch die Aussicht auf künftige Strömlingsmahlzeiten heilen lassen.

Der Sekretair war ein viel zu bescheidener, ergebener Mann, um sich den elementaren Naturkräften zu widersetzen, und als der junge Mann mit seiner Absicht herausrückte, bekam er Mia, die die Alten neunzehn Jahre lang geliebt und behütet, für die sie gesorgt und gedarbt hatten ... Und der Magister hatte sie erst vor fünf Monaten kennen gelernt! ... Ja, wir Männer haben es gut! Froh und sorglos gehen wir an den Fensterreihen vorbei. Kleine Nähtische, zierliche, weiße Finger, die sich hinter den hübschen, reinen Gardinen fleißig mit einer Handarbeit beschäftigen, junge strahlende Augen, sinnbetörende Stirnlöckchen, alles das sehen wir durch die hellen Scheiben. Alles dies wächst heran, wird behütet, geliebt und verzogen und für uns allein, und beliebt es uns, dann zu erscheinen und uns anzubieten, so nehmen wir den Alten ihr alles. Sie bleiben allein und müssen sich hinfort mit dem zweiten – bald dem dritten – Platz in dem Herzen ihres Lieblings begnügen.

Was weiter! Wir müssen's ja einst mit Zinsen bezahlen, wenn unsere eigenen groß sind, und dann denken wir vielleicht mit ganz anderen Gedanken an die Alten, denen wir selbst den Sonnenschein ihres Heims geraubt haben, ohne dabei etwas anderes als unsere eigene, jubelnde Freude zu empfinden. Der Magister erhielt eine Anstellung an einem anderen Gymnasium, so weit fort, daß es 23 Mark 75 Pfennige kostete, wenn man dritter Klasse dorthin reisen wollte. Das Sparkassengeld wurde erhoben, Konfekt und Muskat Lunel gekauft, ein Kistchen Revisionscigarren besorgt, und Mia trug den Brautkranz in den weichen, braunen Locken.

»Papa, wir wollen es uns erlauben, wir müssen doch Mia's Heim sehen«, sagte Frau Malin vier Wochen nach der Hochzeit.

»Wir können es jetzt nicht, Mama. Hin und zurück würde es uns mit den allernotwendigsten Extraausgaben an 100 Mark kosten«, seufzte Papa.

Nun kamen liebevolle, lange Briefe; Briefe, die dem Gezwitscher aus einem neuerbauten Vogelnest glichen, wenn der Frühling in unserem Norden Einkehr gehalten hat. Die drei kleinen Zimmer waren auch gar zu reizend. Mama sollte nur einmal sehen, wie die Stickereien, die Tante Anna zur Hochzeit geschenkt hatte, die Korbstühle in der guten Stube zierten und wie hübsch sich der rote Sophabezug in Adolf's Zimmer machte. Und erst die Küche! Alles hinge geputzt an seinem Haken und Riegel, genau so, wie Mia es bei Mama gelernt hatte. Den Kaffee brenne sie gleich für die ganze Woche und verwahre ihn dann in der verschließbaren Blechbüchse, damit das Mädchen nichts davon mausen könnte. Dort wären die Mädchen ebenso hinter dem Kaffee her wie daheim. Ob sie die neumodische Sodaart zur Wäsche nähme? Nein, das thäte sie nicht. Die Wäsche würde freilich schön weiß davon, aber Mia meinte doch, es müsse dem Gewebe auf die Dauer schaden. Ach, wenn doch Mama kommen und Mia's Leinenschrank sehen könnte!

Später wurden die Briefe ein wenig ängstlich. Mia hätte jetzt zu gern selbst mit Mama gesprochen. Es gab so Manches, was sich brieflich nicht mitteilen ließ, worüber man wirklich nicht schreiben konnte. Es war doch eigentlich schrecklich eng; nur drei Stuben und Küche. Jetzt ging es ja noch, aber für später wäre ein wenig mehr Raum doch sehr erwünscht. Ob Mama noch Mia's kleine Wagendecke hätte?

Ein paar Monate darauf kam eine Depesche:

»Sekretair Stenqvist
Westköping.

Heute Mittag, 12 Uhr, wohlgestaltetes Mädchen. Mia nach Umständen wohl. Sehnt sich sehr nach Euch.

Adolf.«

Als Papa vom Comptoir kam und ihr die Depesche überreichte, zitterten Mutter Malin's kurze, dicke Finger so, daß das Papier ganz zerknittert wurde. Sie vermochte kaum zu sprechen, sie umarmte nur ihren Mann, sah ihm fragend in's Auge und flüsterte: »Andreas?«

»Ja, Malin, wir reisen mit dem Abendzuge; ich habe mir schon Urlaub verschafft.«

*

In der Etagenthür stand Frau Svensson, fett und mundfertig und behauptete, es ginge auf keinen Fall an, die junge Frau zu stören.

»Sie Frauenzimmer, mein Name ist Malin Stenqvist«, sagte die kleine grauhaarige Dame im grünseidenen Umhang und schob sie energisch bei Seite.

Da wurde Frau Svensson eitel Sonnenschein und meinte, nichts könnte der jungen Frau wohl heilsamer sein, als dieser liebe Besuch. Sie wollte sie nur erst ein wenig vorbereiten. Zu große Freude könnte auch schaden.

Der alte Sekretair stand draußen und fühlte sein Herz klopfen. So schnell hatte es nicht wieder gepocht, seit damals, als er um Mama anhielt. Er sah sehr gerührt aus, der Alte!

Frau Malin war auch gerührt, aber ihre Augen gebrauchte sie doch. Nein, wie reizend war Mia's beste Stube! Aber Kinder sind und bleiben Kinder; da legte Mia sich nun auf einige Wochen in's Bett und vergaß anzuordnen, daß die Möbel zugedeckt werden müßten. Bei solchem Wirrwar! Das moosgrüne Zeug war doch so empfindlich! Also das war nun das Dienstmädchen. Nun ja, sie sieht recht nett aus, das Kind!

»Was in aller Welt hast Du da auf der Untertasse, Kind? Das geht nicht an; den Spiegel darfst Du nicht mit Pommeranzbranntwein polieren! Doppeltdestillierter gehört dazu, aber nimm Du nur Essig, das wird am klarsten. Ja, sieh mich nur an, ich bin die Mutter der Frau, mußt Du wissen.«

Frau Svensson öffnete die Thür der Schlafstube mit einer so großartigen Handbewegung, als wären es die Flügelthüren des Weißen Saales an einem Hofballabende.

Drinnen lag Mia's liebes Köpfchen auf weißen, spitzenbesetzten Kissen. Mit dem Myrthenkranz in den reichen Locken und den Orangeblüten an der Brust war sie eine liebliche Erscheinung gewesen, doch jetzt war sie es noch viel mehr, meinte Mutter Malin.

Es liegt immer etwas Eigentümliches in der ersten Umarmung zwischen Mutter und Großmutter. Grenzenlose Liebe, Freude sondergleichen liegt darin. Aber nicht diese beiden allein: auch das Gefühl, als treten Mutter und Tochter einander durch die überstandene Gefahr und die Schmerzen noch näher; das Kind wird jetzt ebenfalls in die Mysterien der Mutterliebe eingeweiht, es hat den Ritterschlag des hehrsten Gefühls empfangen und kann dadurch nun auch voll und ganz verstehen, was es seiner eigenen Mutter ist.

»Drücke sie nicht tot, Mama! Laß mich auch – hm – die Sonne blendet so – laß mich auch Mia begrüßen«, stammelte der alte Vater.

Hinter ihnen stand der junge Magister mit der Kleinen auf dem Arm; ein Bischen verlegen sah er aus, aber seine Augen strahlten vor jubelnder Vaterfreude.

»Guten Tag, Großpapa und Großmama«, sagte er.

Der Sekretair wandte sich um, und im Nu drängten sich alle um die Kleine. Dies stimmte ja wie seine eigenen Contoabschlüsse, und die kleine Folionummer lag in den Windeln und zeigte deutliches Mißvergnügen über die Anstalten, die doch augenscheinlich nur zu ihrer eigenen Bequemlichkeit getroffen worden waren.

»Darf ich sehen, wem sie ähnlich sieht? Mia's Augen, meine Nase, aber die überhängende Unterlippe hat sie von Andres. O, Adolf, sei nicht betrübt. Dir sieht sie auch ähnlich«, meinte Frau Malin.

Frau Svensson ging hinaus in den Salon und wischte sich die Augen. Dazu glaubte sie sich verpflichtet, denn sie hatte selbst eine Tochter, die sich zu Mariä Himmelfahrt mit einem Faßbinder aus Gothenburg verheiraten wollte.

Frau Malin nahm die Kleine auf ihre fleischigen Arme und wiegte sich mit geübter Bewegung sachte hin und her, so daß der grünseidene Umhang, den sie abzunehmen vergessen hatte, leise knisterte.

Die Kleine war nun ganz still und lächelte. Ich weiß wohl, daß verständige Leute nichts auf solches Säuglingslächeln geben, weil es ihrer Meinung nach nur durch eine minder poetische Muskelzusammenziehung hervorgerufen wird; doch ich glaube bestimmt, daß die Kleine Großmama anlächeln wollte, und Großmama glaubte es mit mir.

 


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