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Wenn eine Japanerin auf der Reise von Schläfrigkeit übermannt wird und sich nicht niederlegen kann, hebt sie ihren linken Arm und beschattet mit dem wallenden Ärmel ihr Antlitz, ehe sie einzunicken beginnt.
In diesem Waggon zweiter Klasse sitzen jetzt drei schlummernde Frauen in einer Reihe. Alle haben sie ihr Antlitz mit dem linken Ärmel bedeckt, und sie wiegen sich beim Schaukeln des Zuges wie Lotosblumen im leisen Winde.
Dieser Gebrauch des linken Ärmels ist entweder bewußt oder instinktiv – wahrscheinlich instinktiv, da die rechte Hand am besten dazu dient, sich im Falle einer plötzlichen Erschütterung zu stützen, anzuhalten oder anzuklammern.
Der Anblick ist zugleich hübsch und drollig, aber vorwiegend hübsch, weil er ein Beispiel jener Anmut gibt, mit der die vornehme Japanerin alles tut, immer in der zierlichsten und unauffälligsten Weise. Aber er ist auch pathetisch, denn die Stellung ist auch die des Kummers, und manchmal auch die des müden Gebets. Und all dies aus dem anerzogenen, eingewurzelten Pflichtgefühl, der Welt nur ein glückliches Gesicht zu zeigen ... Dies erinnert mich an ein Erlebnis: Ein langjähriger Diener meines Hauses schien mir der glücklichste der Sterblichen. Sprach man ihn an, so lachte er freudig, bei der Arbeit sah er immer frohgemut drein, kurz, er schien nichts von den kleinen Sorgen des Daseins zu wissen. Aber eines Tages hatte ich Gelegenheit, ihn zu beobachten, als er sich ganz allein glaubte, und sein unbeherrschtes Antlitz erschreckte mich. Das waren nicht die Züge, die ich zu sehen gewohnt war, harte Linien des Grams und Zornes waren darin eingegraben und ließen es um vierzig Jahre älter erscheinen. Ich räusperte mich, um mich bemerkbar zu machen – allsogleich glättete sich das Antlitz, sänftigte sich und leuchtete auf, wie durch ein Wunder der Verjüngung. In der Tat, ein Wunder unablässiger selbstverleugnender Beherrschung.
Die hölzernen Fensterläden in meinem kleinen Hotelzimmer sind weit geöffnet. Allsogleich malt die Sonne durch goldschimmerndes Gezweig den scharf umrissenen Schatten eines Pflaumenbaumes auf meinen Shōji ...
Kein sterblicher Künstler, nicht einmal ein japanischer, könnte diese Silhouette übertreffen. In Dunkelblau gegen den leuchtenden Glanz sich abzeichnend, zeigt das wundersame Bild bald schwächere, bald stärkere Töne, je nach der wechselnden Entfernung der unsichtbaren Zweige draußen. Und es zieht mir durch den Sinn, ob nicht vielleicht die Verwendung des Papiers zu Beleuchtungszwecken Einfluß auf die japanische Kunst genommen haben mag.
Bei Nacht sieht ein japanisches Haus, in dem nur die Shōjis geschlossen sind, wie eine große Papierlaterne aus, eine Laterna magica, die bewegliche huschende Schatten nach innen wirft, statt nach außen. Bei Tage kommen die Schatten auf dem Shōji bloß von außen; aber sie mögen früh bei Sonnenaufgang sehr wunderbar sein, wenn ihre Strahlen, wie in diesem Augenblick, sich über einen zierlichen Gartenraum ergießen.
Es liegt sicherlich nichts Unglaubhaftes in jener alten griechischen Sage, die den Ursprung der Kunst in dem ersten ungelenken Versuch findet, den Schattenriß des geliebten Wesens auf eine Mauer hinzuwerfen. Sehr wahrscheinlich hat das Kunstgefühl, wie alles Gefühl des Übersinnlichen, seinen ersten Ursprung in dem Studium der Schatten. Aber die Schatten auf Shōjis sind so wundersam, daß sie geeignet sind, den Schlüssel für gewisse japanische, keineswegs primitive, vielmehr über alle Parallele entwickelte Zeichenfähigkeiten zu geben, die sonst kaum zu erklären wären. Natürlich muß man auch die Besonderheit des japanischen Papiers in Betracht ziehen, das Schatten besser aufnimmt, als irgend eine Glasscheibe, ebenso auch den Charakter der Schatten selbst. So würde zum Beispiel die abendländische Vegetation kaum so anmutige Silhouetten darbieten, wie die der japanischen Gartenbäume, die durch jahrhundertelange zärtliche Sorgfalt dazu gebracht wurden, so schön auszusehen, als es die Natur nur irgend erlaubt. Ich wünschte, das Papier meines Shōji hätte mit der Empfindlichkeit einer photographischen Platte jenen köstlichen Lichteffekt festgehalten, den die Strahlen der Sonne hervorzauberten. Denn ach, schon hat das Zerstörungswerk angefangen: schon beginnt die Silhouette sich zu verlängern.
Von allen eigenartig schönen Dingen in Japan sind die schönsten die Anstiege zu den hochgelegenen Andachts- und Ruheorten, die Wege, die »nirgendshin« führen und die Stufen, die ins »Nichts« aufsteigen.
Ihr eigenartiger Zauber ist der Zauber des Zusammenklanges von Menschenwerk mit den feinsten Naturstimmungen von Licht, Form und Farbe, ein Zauber, der sich an regnerischen Tagen verflüchtigt; aber, wenn auch launenhaft, ist er darum nicht weniger wunderbar.
Der Anstieg beginnt vielleicht mit einer sanft aufstrebenden gepflasterten Allee, die sich eine halbe Meile lang hinstreckt und mit Riesenbäumen besäumt ist. In regelmäßigen Abständen bewachen steinerne Ungetüme den Weg. Dann kommt man zu irgend einer großen, durch das Dämmer emporstrebenden Treppenflucht, die zu einer großen, von noch gewaltigeren und älteren Bäumen beschatteten Terrasse hinaufführt; und von dort führen wieder Stufen zu andern Terrassen, die alle im geheimnisvollen Schatten liegen.
Und man klimmt und klimmt, bis endlich über einem grauen »Torii« ein Tor sich zeigt: ein kleiner, leerer, farbloser Holzschrein – ein Shintō-miyia. Der überwältigende Eindruck der Leere in diesem lautlosen Schweigen und dämmernden Schatten nach all der Erhabenheit des langen Anstiegs ist ganz geisterhaft.
Viele solche Offenbarungen des Buddhismus harren desjenigen, der sie suchen will. Ich möchte beispielsweise einen Besuch in Higashi Otani in Kyoto anregen. Eine große Avenue führt zu dem Tempelhof, und von dem Tempelhof führt eine Treppenflucht, massig, bemoost, mit einer prächtigen Balustrade versehen, zu einer gemauerten Terrasse. Der Anblick läßt uns an den Anstieg zu irgend einem italienischen Lustgarten aus den Tagen des Decamerone denken. Aber hat man die Terrasse erreicht, erblickt man bloß ein Tor, das sich in einen Friedhof öffnet!!
Wollte uns der buddhistische Landschaftsgärtner damit sagen, daß aller Pomp und alle Pracht und Schönheit letzten Endes nur zu solchem Schweigen führt? ...
Ich habe drei Tage lang fast die ganze Zeit in der National-Ausstellung zugebracht – aber es genügte kaum zu einem flüchtigen allgemeinen Eindruck des Charakters und der Bedeutung der Ausstellung. Es ist vorwiegend eine Industrie-Ausstellung. Doch fast alles entzückt das Auge: mit so wundervollem Gelingen hat die Kunst alle Industrie-Produkte verschönt. Fremde Kaufleute und schärfere Beobachter als ich sehen in der Ausstellung eine andere düstere Bedeutung: die ausgesprochenste Drohung, die der Handel und die Industrie des Orients jemals gegen das Abendland gerichtet hat. »Mit England verglichen,« schrieb der Korrespondent der Londoner Times, »steht durchweg ein Farthing gegen einen Penny.«
Die Geschichte der japanischen Invasion von Lancashire ist älter als die von Korea und China. Es war eine friedliche Eroberung, – ein müheloser Prozeß der Zurückdrängung, welcher sich tatsächlich vollzogen hat ...
Die Ausstellung in Kyoto ist ein Beweis der fortschreitenden ungeheuern Entwicklung des industriellen Unternehmungsgeistes.
Ein Land, wo der Arbeitslohn drei Shilling die Woche beträgt und die häuslichen Lebensbedürfnisse zu entsprechenden Preisen zu decken sind, muß, da alles sonst gleich ist, einen Konkurrenten schlagen, der das Vierfache des japanischen Bedarfes braucht. Sicherlich wird das industrielle » Jiujutsu« unerwartete Resultate zu Tage fördern.
Der Eintrittspreis für die Ausstellung ist auch charakteristisch: nur fünf Sen! Aber selbst bei diesem minimalen Betrag wird voraussichtlich eine ungeheure Summe eingehen, – so groß ist der Zudrang der Besucher. Massen von Bauern, zumeist Fußgänger, strömen alltäglich in die Stadt, wie zu einer Pilgerfahrt. Und eine Pilgerfahrt ist es auch für Myriaden, denn der größte Sinshu-Tempel wird bei dieser Gelegenheit eingeweiht.
Die eigentliche Kunstausstellung scheint mir viel unbedeutender als die 1890 in Tokio veranstaltete. Es waren dort schöne Dinge, aber nur wenige, – vielleicht ein Beweis, daß die Nation alle ihre Kräfte und Talente auf Gebiete richtet, wo »Geld gemacht werden kann«. Denn in jenen großen Abteilungen, wo die Kunst mit der Industrie kombiniert ist, – wie Keramik, Emailarbeit, Intarsia, Stickereien, – hätte man nicht schönere und kostbarere Arbeiten zeigen können. In der Tat, der hohe Wert gewisser ausgestellter Objekte, veranlaßte einen japanischen Freund zu folgender nachdenklichen Bemerkung:
»Wenn China die abendländische Produktionsmethode adoptiert, wird es in der Lage sein, alle Märkte der Welt zu unterbieten.«
»Vielleicht in billiger Ware,« entgegnete ich. »Aber es ist doch kein Grund vorhanden, warum Japan völlig auf die billige Produktion das Schwergewicht legen sollte. Ich glaube, es könnte vielmehr auf seine Überlegenheit in der Kunst und seinen erlesenen Geschmack bauen. Der künstlerische Geist eines Volkes kann einen speziellen Wert haben, gegen den alle Konkurrenz billiger Produktion nicht aufkommen kann. Unter den europäischen Nationen bietet Frankreich ein Beispiel hierfür. Sein Reichtum liegt nicht in seiner Fähigkeit, seine Nachbaren zu unterbieten. Vielmehr sind seine Waren die teuersten der Welt: es handelt mit Dingen des Luxus und der Schönheit. Aber sie werden in der ganzen Welt gekauft, weil sie die besten ihrer Art sind. Warum sollte Japan nicht das Frankreich des fernen Ostens werden?«
Der schwächste Teil der Kunstabteilung ist die Ausstellung von Ölgemälden in europäischer Manier.
Es ist kein Grund vorhanden, warum die Japaner nicht im stande sein sollten, wunderbar in Öl zu malen, wenn sie dabei ihrer eigenen besonderen Methode des künstlerischen Ausdrucks folgen. Aber ihre Versuche, abendländische Methoden nachzuahmen, können sich selbst bei Studien, die sehr realistische Behandlung erfordern, nicht über die Mittelmäßigkeit erheben.
Ideale Ölgemälde nach abendländischem Kunstkanon, sind noch ganz außer ihrem Bereich. Vielleicht, daß es ihnen noch glückt, für sich selbst eine neue Eingangspforte zum Schönen zu entdecken, – mag sein selbst durch die Ölmalerei, indem sie die Methode den besonderen Erfordernissen des Nationalgeistes anpassen, – aber noch ist kein Anzeichen dafür vorhanden.
Das Bild eines nackten Weibes, das sich in einem großen Spiegel besieht, rief einen sehr ungünstigen Eindruck hervor. Die japanische Presse hatte die Entfernung des Werkes verlangt, und das Verlangen mit wenig schmeichelhaften Worten über die abendländischen Anschauungen begleitet. Und doch war das Bild die Arbeit eines japanischen Künstlers. Es war ein Machwerk, aber man hatte es kühn mit dreitausend Dollars bewertet.
Ich blieb eine Weile neben dem Bilde stehen, um den Eindruck zu beobachten, den es auf die Beschauer – zumeist Bauern – machte. Sie starrten es an, lachten verächtlich, ließen einige wegwerfende Bemerkungen fallen und wendeten sich ab, um einige Kakemonos zu betrachten, die auch weit mehr der Aufmerksamkeit würdig waren, obgleich sich ihr Preis nur zwischen zehn und fünfzig Yen bewegte; Die Bemerkungen richteten sich hauptsächlich gegen die »fremden« Ideen über guten Geschmack (der Künstler hatte die Figur mit einem europäischen Kopf gemalt). Niemand schien das Bild als ein japanisches zu betrachten.
Hätte es eine japanische Frau dargestellt, die Menge würde es zweifellos nicht geduldet haben.
Nun, all die Empörung über das Bild war auch wirklich nicht ungerechtfertigt. Dem Werke fehlte jede ideale Auffassung; es war einfach die Darstellung einer nackten Frau, die etwas tut, wobei keine Frau gesehen werden will. Und die bloße Darstellung eines nackten Frauenkörpers, wie gut sie auch ausgeführt sei, ist nie Kunst, sofern Kunst Idealismus bedeutet. Der krasse Realismus der Darstellung war das Anstößige. Ideale Nacktheit kann göttlich sein, der göttlichste aller menschlichen Träume vom Übersinnlichen. Aber eine nackte Person ist durchaus nicht göttlich. Ideale Nacktheit bedarf keines Gürtels, weil der Zauber in den Linien liegt, die zu schön sind, um verschleiert oder gebrochen zu werden. Der wirkliche lebendige Menschenkörper hat keine solche göttliche Geometrie ...
Frage: Ist der Künstler berechtigt, die Nacktheit um ihrer selbst willen zu schaffen, wenn er diese Nacktheit nicht von jeder Spur des Realen und Persönlichen befreien kann?
Es gibt einen buddhistischen Text, der erklärt, daß nur der weise ist, der die Dinge ohne ihre Individualität sehen kann. Und diese buddhistische Art zu sehen ist es, die die Größe der wahren japanischen Kunst ausmacht.
Diese Gedanken kamen mir:
Eine Nacktheit, welche göttlich ist, welche die Abstraktion der absoluten Schönheit bedeutet, ruft in dem Betrachter eine Erschütterung des Staunens und des Entzückens hervor, in die sich leise Melancholie mischt. Nur von sehr wenigen Kunstwerken geht eine solche Wirkung aus, weil nur sehr wenige Werke der Vollendung nahekommen.
Aber es gibt Marmorschöpfungen und Gemmen und auch gewisse schöne Abbildungen derselben, wie beispielsweise die von der »Gesellschaft der Dilettanti« veröffentlichten Stiche, die eine solche Wirkung hervorrufen. Je länger man sie betrachtet, desto mehr empfindet man das Wunder, denn man entdeckt nicht eine Linie oder auch nur ein Fragment einer Linie, deren Schönheit nicht alle Erinnerung übertreffen würde. Darum wurde das Geheimnis einer solchen Kunst lange für übernatürlich angesehen; und wahrlich, die Empfindung des Schönen, die sie vermittelt, ist mehr als menschlich, ist übermenschlich, in dem Sinne dessen, was außerhalb des existierenden Lebens ist, – demnach übersinnlich, soweit ein dem Menschen bekanntes Gefühl dies sein kann.
Aber wie ist diese Erschütterung beschaffen?
Sie ähnelt seltsam jener Erschütterung, die die erste Liebe bewirkt und ist ihr sicherlich verwandt. Plato erklärt die Erschütterung durch den Schönheitsanblick als eine plötzliche dämmernde Erinnerung der Seele an die Welt göttlicher Ideen. Diejenigen, die hier ein Spiegelbild oder eine Ähnlichkeit der Dinge sehen, die dort sind, erfahren eine Erschütterung wie einen Blitzschlag und sind gleichsam aus sich herausgehoben. Schopenhauer erklärte die Erschütterung der ersten Liebe als die Willensmacht in der Seele der Rasse.
Heute erklärt die positive Philosophie Spencers, daß, wenn die mächtigste aller menschlichen Leidenschaften zum erstenmal auftritt, sie älter ist, als alle individuelle Erfahrung. So stimmt die antike Auffassung und die moderne Metaphysik und Wissenschaft darin überein, daß die erste tiefe Empfindung des Individuums für menschliche Schönheit, überhaupt nicht individuell ist.
Muß nicht dieselbe Wahrheit auch für die Erschütterung gelten, die durch die höchste Kunst bewirkt wird?
Das in einer solchen Kunst ausgedrückte menschliche Ideal appelliert zweifellos an die Erfahrung all der Vergangenheit, die in dem Gefühlsleben des Betrachters eingesargt ist, an etwas, von zahllosen Vorfahren Ererbtes.
Ja wahrlich, zahllos!
Nimmt man drei Generationen für ein Jahrhundert an und schließt blutsverwandte Ehen aus, so schätzt ein französischer Mathematiker, daß jedes; lebende Individuum seiner Nation in seinen Adern das Blut von zwanzig Millionen der Zeitgenossen des Jahres Tausend haben müßte. Oder rechnet man von dem ersten Jahre unserer eigenen Zeitrechnung, so würde das Ahnenerbe eines Menschern von heute die Totalsumme von achtzehn Quintillionen repräsentieren. Aber was bedeuten zwanzig Jahrhunderte gegenüber der Lebenszeit der Menschheit?
Nun, dies Gefühl für die Schönheit ist wie alle unsere Gefühle sicherlich das ererbte Produkt von urdenklichen zahllosen Erfahrungen einer unermeßlichen Vergangenheit. In jeder ästhetischen Empfindung ist das Beben von Trillionen und Abertrillionen von geheimnisvollen Erinnerungen in den magischen Boden des Hirns eingesargt.
Und jeder Mensch trägt in seinem Innern ein Schönheitsideal, welches nur eine unendliche Mischung toter Vorstellungen von Gestalt, Farbe, Form und Anmut ist, deren Anblick einst teuer war. Es schlummert, dieses im wesentlichen latente Ideal, es kann nicht willkürlich vor die Phantasie heraufbeschworen werden, aber es kann durch die Wahrnehmung irgend einer vagen Affinität, die uns unsere äußeren Sinne vermittelten, gleichsam elektrisch aufblitzen. Dann empfindet man jenes geisterhafte, traurige, köstliche Erschauern, das das plötzliche Zurückebben der Fluten des Lebens und der Zeit begleitet.
Nur die Künstler einer Zivilisation, – die Griechen, – waren im stände, das Wunder zu vollbringen, das Rasseideal der Schönheit von ihrer eigenen Seele loszulösen und seine zitternde Umrißlinie in Juwelen und Stein festzuhalten. Sie machten die Nacktheit göttlich, und sie zwingen uns noch heute, ihre Göttlichkeit beinahe so zu empfinden, wie sie es taten. Vielleicht vermochten sie dies nur, weil, wie Emerson annahm, ihre Sinne so vollkommen gewesen. Sicherlich nicht, weil sie selbst so schön waren wie ihre eigenen Statuen.
Kein Mann und kein Weib konnte dies sein. Nur dies ist gewiß, daß sie ihr Ideal klar erkannten und festhielten, – ein Ideal, das aus zahllosen Millionen von Erinnerungen an tote Anmut in Augen, Augenbrauen, Hals und Wangen, Mund und Kinn, Körper und Gliedern erstand.
Der griechische Marmor selbst ist der Beweis, daß es keine absolute Individualität gibt, daß der Geist ebenso eine Zusammensetzung von Seelen ist, wie der Körper eine Zusammensetzung von Zellen.
Das edelste Denkmal religiöser Architektur im ganzen Lande ist soeben vollendet worden. Die: große Tempelstadt wurde um zwei Gebäude bereichert, die wahrscheinlich seit den tausend Jahren, solange die Stadt besteht, niemals übertreffen worden sind. Eines der Wunderwerke ist die Gabe der kaiserlichen Regierung, das andere die des arbeitenden Volkes.
Das von der Regierung ins Leben gerufene Werk ist das Dai-Kioku-Den, erbaut zur Erinnerung an die Thronbesteigung des Kwammu-Tennō, des einundfünfzigsten Kaisers von Japan und Begründers der heiligen Stadt. Dem Geiste dieses Kaisers ist das Dai-Kioku-Den geweiht: es ist also ein Shintotempel, und der herrlichste von allen. Trotzdem ist es aber keine Shinto-Architektur, vielmehr ein Faksimile des ursprünglichen Palastes des Kwammu-Tennō genau nach den Maßstäben des Originals. Die Wirkung, die diese großartige Abweichung von den konventionellen Formen auf das Nationalempfinden ausübt und die tiefe Poesie des ehrfürchtigen Gefühls, das sie inspiriert hat, vermag nur der voll nachzuempfinden, der weiß, daß Japan noch heute tatsächlich von den Toten beherrscht wird. Die Baudenkmäler des Dai-Kioku-Den sind weit mehr als schön. Selbst in dieser altertümlichsten aller japanischen Städte ist der Eindruck ein frappierender. Jede der spitzbogigen Linien ihrer geschweiften Dächer erzählt von einem anderen und phantastischeren Zeitalter. Die am bizarrsten wirkenden Teile des Ganzen sind die zweistöckigen fünftürmigen Tore – verkörperte chinesische Träume, wäre man versucht zu sagen. Der seltsame Reiz der Farbenwirkung ist nicht weniger anziehend, als der der Form. Dies beruht hauptsächlich auf der feinsinnigen Verwendung von antiken grünen Ziegeln für das polychrome Dach. An dieser entzückenden Wiederbelebung der Vergangenheit durch die architektonische Nekromantie könnte der erhabene Geist Kwammu-Tennōs wohl seine Freude haben.
Aber das Geschenk des Volkes an die Stadt Kyoto ist noch grandioser. Es wird durch das herrliche Higashi-hongwanji oder östlichen Hongwantempel (Shinshu) repräsentiert. Abendländische Leser mögen sich vielleicht einen annähernden Begriff von seiner Beschaffenheit machen durch den einfachen Hinweis, daß er acht Millionen Dollars zu bauen gekostet und seine Erbauung sieben Jahre in Anspruch nahm. Rücksichtlich seiner Ausdehnung wird er von anderen, wohlfeileren japanischen Gebäuden übertroffen. Aber jedem, der mit der buddhistischen Tempelarchitektur vertraut ist, leuchtet die Schwierigkeit ein, einen Tempel zu bauen, der hundertundsiebenundzwanzig Fuß hoch, hundertundzweiundneunzig Fuß tief und mehr als zweihundert Fuß lang ist. Seine eigenartige Form und insbesondere die stark geschwungenen Linien seines Daches lassen ihn sogar noch größer erscheinen, als er in Wirklichkeit ist – geradezu bergartig. Aber in jedem Lande würde er als ein wunderbares Baudenkmal gelten. Da sind Tragebalken von zweiundvierzig Fuß Länge und vier Fuß Dicke, und Säulen von neun Fuß im Durchmesser. Von der Innendekoration kann man sich einen schwachen Begriff machen, wenn man hört, daß bloß die gemalten Lotosblumen auf den verschiebbaren Wänden hinter dem Hauptaltar zehntausend Dollars gekostet haben. Fast die ganze Arbeit an diesem Bau wurde aus den in Kupfermünzen dargebrachten Gaben der mühselig arbeitenden Landbevölkerung bestritten. Und doch gibt es Leute, die glauben, der Buddhismus sei im Erlöschen begriffen!
Mehr als hunderttausend Landleute strömten zur Eröffnungsfeier herbei. Myriaden lagerten sich auf den Matten, die in dem ungeheuren Tempelhof ausgebreitet worden waren. So sah ich sie dort um drei Uhr nachmittags. Der Hof war ein lebendiges, wogendes Meer. Aber all die Massen hatten bis um sieben Uhr auf die Eröffnung der Zeremonie im glühenden Sonnenbrand ohne Erfrischung auszuharren. In einen Winkel des Hofes sah ich eine Gruppe von ungefähr zwanzig jungen Mädchen – alle waren sie weiß gekleidet, mit eigentümlichen weißen Hauben. Ich fragte, wer sie seien, und ein Nebenstehender antwortete: »Da alle diese Leute hier viele Stunden warten müssen, ist es zu befürchten, daß einige Übelkeit befallen könnte; man hat deshalb Berufspflegerinnen herbeschieden, damit sie sich im Bedarfsfalle der Kranken annehmen. Es sind auch Tragbahren und Träger in Bereitschaft und viele Ärzte anwesend.« Ich bewunderte die Geduld und die schlichte Gläubigkeit dieser Massen. Aber freilich, diese Landleute haben auch Ursache, diesen wunderbaren Tempel zu lieben, ist er doch in Wahrheit ihre ureigenste Schöpfung sowohl mittelbar wie unmittelbar. Denn kein geringer Teil der tatsächlichen Arbeit daran ist bloß um der Liebe willen von vielen von ihnen gemacht worden. Die mächtigen Dachbalken waren nach Kyoto von weither, von Berghängen herabgewunden worden, mit Seilen, die man aus den Haaren buddhistischer Frauen und Mädchen gedreht hatte. Eines dieser im Tempel aufbewahrten Seile ist mehr als dreihundertundsechzig Fuß lang und beinahe drei Zoll im Durchmesser.
Für mich waren diese zwei herrlichen Monumente des nationalreligiösen Gefühls die sichere Verheißung des zukünftigen Wachstums dieses Gefühls an ethischer Kraft und zugleich der Zunahme des nationalen Wohlstandes. Zeitweilige Armut ist der Grund des scheinbaren zeitweiligen Rückganges des Buddhismus. Aber ein Zeitalter großen Wohlstandes bricht an. Einige äußere Formen des Buddhismus müssen untergehen; einiger Aberglaube des Shintoismus ist dem Verfalle geweiht. Die vitalen Wahrheiten und Erkenntnisse werden sich ausbreiten, erstarken, immer tiefere Wurzeln in den Herzen des Volkes schlagen und es besser für die Kämpfe des größeren und härteren Lebens stählen, das seiner nunmehr harrt.
Ich habe die Fischereiausstellung besucht, sie ist in Hyogo in einem Garten am Meere veranstaltet. Waraku-en ist ihr Name. Das heißt: »Der Garten der Friedensfreuden.« Er ist wie ein Landschaftsgarten aus alter Zeit angelegt und verdient seinen Namen. Über seinen Rand hinweg sieht man die große Bucht, Fischer in Booten, ferngleitende weiße Segel im leuchtenden Licht, und am Horizont hochragende Gipfelreihen, die in der Entfernung in zartvioletten Tönen schimmern.
Ich sah Teiche von seltsamen Formen mit klarem Meerwasser gefüllt, in denen schönfarbige Fische schwammen. Ich ging zu dem Aquarium, in dem sich Fische noch seltsamerer Art hinter Glas tummelten – Fische, die wie kleine Spielzeugdrachen geformt waren, andere wie Schwertscheiden, drollige kleine Fische, die sich fortwährend überschlugen, Fische, die wie Schmetterlingsflügel schimmerten, und Fische, die wie Tänzerinnen ihre ärmelförmigen Flossen hin und her schwenkten. Ich sah Modelle aller Arten von Booten, und Netze und Angeln und Fischfallen und Fackelkörbchen für nächtlichen Fischfang. Ich sah Bilder von allen Arten der Fischerei und sowohl Modelle als Bilder von Menschen, die Walfische töten. Eines der Bilder war fürchterlich – die Todesagonie eines in einem Riesennetz gefangenen Wals und daneben Boote, von einem Wirbel roten Schaums gepeitscht, eine nackte Männergestalt auf dem Rücken des Ungetüms, eine einzige sich vom Himmel abhebende Gestalt, mit der mächtigen Klinge den Todesstoß führend, auch den roten Blutstrahl, der ihm folgte, konnte ich sehen ... Neben mir hörte ich, wie ein japanisches Elternpaar seinem kleinen Knaben das Gemälde erklärte, und die Mutter sagte: »Wenn der Walfisch sein Ende nahen fühlt, fängt er in seiner Todesnot zu sprechen an – er fleht zu Buddha, ihm beizustehen – ›Namu Amida Butsu!‹«
Ich begab mich in einen anderen Teil des Gartens, wo zahme Hirsche, ein »goldener Bär« in einem Käfig, ein Pfau in einer Volière und ein Affe zu sehen waren. Das Volk fütterte den Hirsch und den Bär mit Kuchen, mühte sich, den Pfau zum Radschlagen zu bringen und quälte und neckte den Affen. Ich setzte mich um auszuruhen auf die Veranda eines Lusthauses neben der Volière. Auch die japanische Familie, die das Gemälde vom Walfisch betrachtet hatte, kam hierher, und ich hörte den kleinen Knaben sagen: »Dort in dem Boote ist ein alter, alter Mann, warum geht er nicht in den Palast zum Drachenkönig des Meeres wie Urishima?«
Der Vater antwortete: »Urishima fing eine Schildkröte, die keine wirkliche Schildkröte war, sondern die Tochter des Drachenkönigs. Er wurde also für seine Güte belohnt. Aber dieser Fischer hat keine Schildkröte gefangen, doch gesetzt, er hätte auch eine gefangen, so ist er doch viel zu alt zum Heiraten, – deshalb wird er also nicht in den Palast kommen.«
Der Knabe blickte auf die Blumen und das besonnte Meer mit den weißen gleitenden Segeln und den violettschimmernden Gipfeln darüber und rief: »Vater, glaubst du, daß es in der ganzen Welt einen schöneren Ort geben kann als diesen?«
Das Antlitz des Vaters überflog ein helles Lächeln, seine Lippen öffneten sich zu einer Antwort; aber ehe er sprechen konnte, sprang das Kind vor Freuden auf und klatschte entzückt in die Händchen, weil der Pfau unversehens die schillernde Pracht seines Rades entfaltet hatte. Und alles hastete zu dem Vogelhaus, und so hörte ich nie die Antwort auf die hübsche Frage.
Nachher aber dachte ich, sie könnte vielleicht so gelautet haben:
»Mein Kind, wohl ist dieser Garten wunderschön, aber die Welt ist voll von Schönheit, und so mag es vielleicht noch schönere Gärten geben als diesen.
»Aber der schönste der Gärten ist nicht in unserer Welt, es ist der Garten von Amida im Paradiese des Westens.
»Und wer sein Leben lang kein Unrecht tut, darf nach dem Tode in diesem Garten weilen.
»Dort singt Kuyaku, der Paradiesvogel, von den ›Sieben Schritten‹ und den ›Fünf Kräften‹ und breitet sein leuchtendes Gefieder aus, dessen Glanz den Strahlen der Sonne gleicht.
»Dort sind juwelenschimmernde Gewässer und darin Lotosblumen von unsagbarer Lieblichkeit. Und diesen Blumen entschweben unablässig Regenbogenstrahlen und leuchtende Geister neugeborener Buddhas.
»Und das zwischen den Lotosblumen rieselnde Wasser flüstert zu ihren Seelen von unendlicher Erinnerung und unendlicher Vision und von den ›Vier unendlichen Gefühlen‹.
»Und an diesem Ort ist kein Unterschied zwischen Göttern und Menschen, der Herrlichkeit von Amida müssen selbst die Götter sich beugen. Und alle singen den Lobgesang, der also anhebt:
›0 du von unermeßlichem Licht‹
Aber die Stimme des Himmelsstromes tönt in alle Ewigkeit gleich dem Chorgesang von Tausenden:
›Selbst dies ist nicht hoch, es gibt ein noch Höheres – dies ist nicht Wirklichkeit – ist noch nicht Friede‹.«