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Buchschmuck

Lafcadio Hearn

von Hugo v. Hofmannsthal. Geschrieben unter dem Eindruck von Lafcadio Hearns im Herbst 1904 erfolgten Tode.

 

Buchschmuck Man hat mich ans Telephon gerufen, um mir zu sagen, daß Lafcadio Hearn gestorben ist. Gestorben zu Tokio, gestorben gestern, oder heut nacht, oder heut früh: schnell bringt's der Draht herüber, und heut abends wissen da und dort in Deutschland einige, und weiter westlich ein paar Hunderte, und noch weiter westlich ein paar Tausende, daß ihr Freund gestorben ist, ihr Freund, dem sie vieles dankten und den sie nie gesehen haben. Und auch ich habe ihn nie gesehen und werde ihn nie sehen, und nie wird in seine Hände, die jetzt starr sind, der Brief kommen, den ich oft an ihn schreiben wollte.

Und Japan hat sein Adoptivkind verloren. Tausende seiner Söhne verliert es jetzt Tag für Tag: übereinandergetürmt liegen die Leichen, die Flüsse stauen sich an ihnen, auf dem Grund des Meeres liegen sie mit starren Augen, und in zehntausend Häusern wird in stummer, stolzer Frömmigkeit, ohne Heulen und Weinen für einen Toten ein kleines Mahl gerichtet, ein freundliches Licht entzündet. Und nun ist auch der Fremde gestorben, der Eingewanderte, der Japan so sehr liebte. Der einzige Europäer vielleicht, der dieses Land ganz gekannt und ganz geliebt hat. Nicht mit der Liebe des Ästheten und nicht mit der Liebe des Forschers, sondern mit einer stärkeren, einer umfassenderen, einer selteneren Liebe: mit der Liebe, die das innere Leben des geliebten Landes mitlebt. Vor seinen Augen stand alles, und alles war schön, weil es von innen her mit dem Hauch des Lebens erfüllt war: das alte Japan, das fortlebt in den verschlossenen Parks und den unbetretenen Häusern der großen Herren und in abgelegenen Dörfern mit ihren kleinen Tempeln – und das neue Japan, durchzogen von Eisenbahnen, fiebernd von den Fiebern Europas; der einsame Bettler, der von Buddha zu Buddha zieht, und das große neugeformte, mit uraltem Todesmut erfüllte Heer; der kleine Begräbnisplatz neben der Straße, den spielende Kinder aus Kot und Holzstückchen bauen, und das große Osaka, die gewaltige Industriestadt mit ihren Hunderttausenden, die den Handel leidenschaftlich und hingebend treiben, wie jene anderen den Krieg, mit ihren unermeßlichen Seidenlagern und den Kommis, die monatelang, fahlen Gesichts, hinter den Vorräten kauern, Sklaven eines Pflichtgefühls, das beinahe ein Märchen aus dieser trivialen Realität »Ein Kommis in einem Seidenwarengeschäft« macht.

Und seine Ohren verstanden, was sie redeten: hunderte von Worten von Kindern stehen in seinen Büchern, und Worte, die Großmütter zu Enkeln reden, und zarte Worte, dünn wie Vogelgezwitscher, die, von liebenden Frauen und von gequälten Frauen ausgesprochen, ohne ihn zwischen papierenen Wänden kleiner Gemächer verflogen wären, und die Worte uralter Weiser, frommer Regenten, und die Worte sehr kluger Männer unserer Tage, deren Worte gesetzt sind wie die Worte des klügsten, gebildetsten Europäers, deren Tonfall in nichts sich von dem Tonfall dessen unterscheidet, auf dem die Last unseres ganzen ererbten Wissens lastet.

Unerschöpflich sind diese Bücher. Wie ich sie aufblättere, ist es mir beinahe unbegreiflich, zu denken, daß sie wirklich unter den Deutschen noch fast unbekannt sein sollen. Da stehen sie nebeneinander: »Gleanings from Buddha fields« und »Glimpses of unfamiliar Japan« und das liebe Buch »Kokoro«, vielleicht das schönste von allen. Die Blätter, aus denen sich dieser Band zusammensetzt, handeln mehr von dem inneren als dem äußeren Leben Japans – dies ist der Grund, weshalb sie unter dem Titel »Kokoro« (»Herz«) verbunden wurden. Mit japanischen Charakteren geschrieben, bedeutet das Wort zugleich »Sinn«, »Geist«, »Mut«, »Entschluß«, »Gefühl«, »Neigung« und »innere Bedeutung« – so wie wir im Deutschen sagen: »Das Herz der Dinge.« Ja, wahrhaftig, das Herz der Dinge ist in diesen fünfzehn Kapiteln, und indem ich ihre Titel überlese, sehe ich ein, daß es ebenso unmöglich ist, von ihrem Inhalt eine genaue Vorstellung zu geben als von einem neuen Parfüm, als von dem Klang einer Stimme, die der andere nicht gehört hat. Ja, nicht einmal die künstlerische Form, in der diese Kunstwerke einer unvergleichlichen Feder konzentriert sind, wüßte ich richtig zu bezeichnen. Da ist das Kapitel, das die Überschrift trägt: »Auf einer Eisenbahnstation.« Es ist eine kleine Anekdote. Eine beinahe triviale Anekdote. Eine Anekdote, die nicht ganz frei von Sentimentalität ist. Nur freilich von einem Menschen geschrieben, der schreiben kann, und vorher von einem Menschen gefühlt, der fühlen kann. Und dann ist da die Geschichte der »Nonne im Tempel von Amida«. Das ist fast eine kleine Novelle. Und daneben das Kapitel »Ein Konservativer«. Das ist keineswegs eine Novelle: das ist eine Einsicht, eine politische Einsicht, zusammengedrängt wie ein Kunstwerk, vorgetragen wie eine Anekdote: ich denke, es ist kurzweg ein Produkt: des Journalismus, des höchstkultivierten, des fruchtbarsten und ernsthaftesten, den es geben kann. Und daneben diese unvergleichlichen Gedankenreihen, die überschrieben sind »Die Macht des Karma«, in denen tiefe und schwer zu fassende Dinge wie aus tiefem Meeresgrund ans Licht gebracht und aneinandergereiht sind. Das ist Philosophie, wenn ich nicht irre. Aber es läßt uns nicht kalt, es zieht uns nicht in die Öde der Begriffe. So ist es wohl Religion. Aber es droht nicht, es will nicht allein auf der Welt sein, es lastet nicht auf der Seele. Ich möchte es Botschaft nennen, freundliche Botschaft einer Seele an andere Seelen, Journalismus außerhalb jeder Zeitung, Kunstwerke ohne Prätension und ohne Mache, Wissenschaft ohne Schwere und voll Leben, Briefe, geschrieben an unbekannte Freunde.

Aber nun ist Lafcadio Hearn tot und niemand aus Europa, niemand aus Amerika, keiner von allen seinen unbekannten Freunden wird je ihm antworten, keiner ihm danken für seine vielen Briefe, keiner mehr.

Buchschmuck

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